SWR 2 Musikstunde mit Ulla Zierau, 28.6.2013 13‘0011327700/property=download/... · des Federico...
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SWR 2 Musikstunde mit Ulla Zierau, 28.6.2013 13‘00
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Marseille, die rebellische Schöne am Meer - Ein musikalischer
Spaziergang durch die Kulturhauptstadt (5)
Marseille und die Provence
„Die Luft war ruhig, und der würzige Duft der Hügel erfüllte wie ein
unsichtbarerer Dunst die tiefe Schlucht. Thymian, Lavendel und
Rosmarin mischten sich mit dem Geruch des goldgelben Harzes, dessen
lange, unbewegliche Tränen wie Glas auf dem lichten Schatten der
schwarzen Baumrinde glänzten. Ich marschierte lautlos in die Stille
dieser Einsamkeit.“
So beschreibt Marcel Pagnol die Provence und ich versichere Ihnen, die
drei Bücher über seine Kindheit in der Provence sind mit das Schönste
und Abenteuerlichste, was es an Atmosphärischen über diesen
bezaubernden und verzaubernden Landstrich gibt. (0’40)
Musik 1 Francis Poulenc: Matelote provençale
Orchestre National de France / Charles Dutoit
M0048009 012, 1’23
Matelote provençale, ein Tanz von Francis Poulenc. Charles Dutoit
leitete das Orchestre National de France.
Marseille-Provence lautet die Gemeinschaft für das Kulturhauptstadtjahr
2013 – das heißt, neben Marseille sind noch viele andere Städte in der
Region durch das Band der Kultur verbunden, Aix-en-Provence, Arles,
Aubagne, Gardanne, Istres, La Ciotat, Salon-de-Provence – doch die
Gemeinschaft ist nicht immer ganz brüderlich und schwesterlich.
Marseille und Aix sind seit jeher Rivalinnen. Eigentlich sind es nur 30
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Kilometer, die die beiden Städte trennen, aber dazwischen liegen
Welten. Aix ist reicher, vornehmer, bürgerlicher und man ist sich einig,
dass man das Etikett „Kulturhauptstadt“ eigentlich gar nicht nötig hat,
„Wir sind nur aus Solidarität dabei, Aix hat selbst so viel Kultur zu bieten,
wir brauchen keine Kulturhauptstadt“, tönt es von den Verantwortlichen.
Die Stadt lebt von den Gerichten, der Universität, den Sprachschulen,
vom alljährlichen Opernfestival und den Touristen, die ohne hin jedes
Jahr in Scharen kommen. (1’10)
Musik 2 Darius Milhaud: „Le Carneval d‘Aix“, Konzertsuite für Klavier
und Orchester, Michael Korstick,
SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern / Alun Francis
M0062338 W01, 2‘33
Korso und Tartaglia, zwei Sätze aus „Le Carneval d’Aix“ von Darius
Milhaud mit Michael Korstick und dem SWR Rundfunkorchester
Kaiserslautern unter der Leitung von Alun Francis.
Der deutsche Reiseschriftsteller Wolfgang Koeppen hat Aix einmal als
lieblich, freundlich, heiter beschrieben: „Aix, der heilende Ort der
römischen Bäder, das trauliche Nest der Grafen der Provence, die
zufriedene Gemeinschaft der plätschernden Brunnen und rauschenden
Bäume, die akademisch-bohemische Promenade der studierenden
Jugend“, so Koeppen in seinen Reiseberichten aus Frankreich.
Aix en Provence ist klein, aber fein und mit hoch erhobener Haupt setzt
man sich schon ganz gerne ein wenig ab von der schmuddeligen
Hafenmetropole Marseille – immerhin auch Darius Milhaud ist zwar in
Marseille geboren, hat aber dann seine Jugend in Aix verbracht und der
Stadt mit seinem Carneval d‘Aix, eine humorige Hommage geschrieben.
(0’55)
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Musik 3 Darius Milhaud: Carneval d‘Aix, Konzertsuite für Klavier
und Orchester, Michael Korstick,
SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern / Alun Francis
M0062338 W01, 1‘26
Nochmals ein Tanz aus Darius Milhauds Suite „Le Carneval d‘Aix“ mit
Michael Korstick und dem SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern unter
der Leitung von Alun Francis.
Aix und Marseille, keine wahre Freundschaft, eher ein Zusammenraufen
aus Anlass des Kulturhauptstadtjahres, allerdings ein Raufen mit
Blessuren. Die Idee über eine große gemeinsame Ausstellung zu Albert
Camus‘ 100. Geburtstag ist kläglich gescheitert. Politiker und Historiker
wurden sich über das Algerienbild des französischen Schriftstellers nicht
einig, es hatte den Anschein, Camus werde in die Nähe einer gewissen
kolonialen Nostalgie gerückt. Es kam zu Streitereien. Daraufhin zog sich
die Tochter Catherine Camus aus dem Projekt zurück.
Die Ausstellung wurde erst einmal abgesagt und auf November
verschoben, dann wird sie sich sicherheitshalber in veränderter,
konfliktfreier Form präsentieren.
Über ein anderes gemeinsames Projekt gibt es nicht so viel Uneinigkeit –
Aix und Marseille feiern ihre Maler, van Gogh, Cézanne, Matisse in einer
Doppelausstellung „Le grand Atelier du Midi“, die Mitte Juni eröffnet
wurde. Cézanne, einst ungeliebter Sohn der Stadt Aix, hat es immerhin
bis in einen französischen Schlager geschafft, den France Gall
gesungen hat, die Eurovision Song Contest Gewinnerin von 1965.
Cézanne peint – darin begegnet uns Cézanne in seinem Malerkittel
einsam in den Hügeln rund um Aix. (1’30)
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Musik 4: Michel Berger: „Cézanne peint“, France Gal
M0123762 025, 2’37 hinten lange Blende
France Gal mit dem französischen Lied „Cézanne peint“ von Michel
Berger.
Auch in der Figur Cézannes spiegelt sich die Zwietracht der beiden
Städte Marseille und Aix. Cézanne wurde zwar in Aix geboren, hat hier
die meiste Zeit seines Lebens verbracht, aber gemalt hat er immer nur
den Blick aus seinem Atelier auf den Mont Sainte Victor. Rund um
Marseille hat er jedoch unterschiedliche Motive aufgegriffen, wie das
Fischerdorf L’Estaque. Aix hat den avantgardistischen Maler zu
Lebzeiten stiefmütterlich behandelt und es gleicht einer verspäteten
Retourkutsche, dass bis heute im Musée Granet in Aix kein Hauptwerk
Cézannes hängt und zu Sonderausstellungen in seiner Geburtsstadt,
seine Bilder aus der ganzen Welt zusammengetragen werden müssen.
Darius Milhaud behauptete, das gleißende Sommerlicht und die raue
Natur - die er auf den Bildern Cézannes wieder fand - hätten ihn in
seiner Persönlichkeitsbildung beeinflusst und geprägt. Sein erstes
Streichquartett widmete Milhaud, 6 Jahre nach dem Tod Cézannes, dem
Maler, nicht konkret einem Gemälde, sondern der inneren
Wesensverwandtschaft. „Cézanne ist für mich die Landschaft von Aix,
mit der er sich selber identifizierte und die auch ein Teil meines Wesens
ist. Was mich bei Cézanne so ergreift, ist die innere Ausgewogenheit der
provenzalischen Welt.“ (1’25)
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Musik 5 Darius Milhaud: Streichquartett, 2. Satz, Intime, contenu
Petersen-Quartett
M0013273 W01, 002, 5‘20
Das Petersen Quartett spielte den 2. Satz aus Darius Milhauds erstem
Streichquartett, das er Paul Cézanne gewidmet hat.
Was Cézanne in Aix, ist van Gogh in Arles. Vincent van Gogh lebte und
arbeitete längere Zeit in Arles und Umgebung, auch ihm wurde zeit
seines Lebens keine Anerkennung zuteil. Dem braven, biederen
Bürgertum war der seltsame Maler ein Dorn im Auge.
Bei der Stadtbehörde wurde sogar ein Gesuch eingereicht mit der
Aufforderung, van Gogh in eine geschlossene Anstalt einzuweisen.
Erst nach seinem Tod erinnerten sich die Arleser ihres berühmten
Gastes. Das ehemalige Hospital wurde zu einem Kulturzentrum
umgestaltet und seit 1984 gibt es in Arles auch eine Fondation van
Gogh.
Der französische Schriftsteller Alphonse Daudet hingegen wurde schon
zu Lebzeiten in Arles verehrt. Er hat der Stadt ein literarisches Geschenk
bereitet: die Erzählung "L’Arlesienne", die er später auch in ein
Schauspiel umgearbeitet hat.
Eine tragische Liebesgeschichte, Frédéric hat sich leidenschaftlich in ein
Mädchen aus Arles verliebt, er will es heiraten, doch seine Mutter ist
dagegen. Das Geheimnisvolle daran, die junge Arleserin kommt kein
einziges Mal auf die Bühne, der Zuschauer bekommt sie nicht zusehen.
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Das Tragische, Frédérics Liebe bleibt unerwidert, die junge Frau widmet
sich einem anderen. Aus Kummer nimmt sich Frédéric das Leben.
Für die Pariser Uraufführung des Schauspiels komponierte Georges
Bizet eine Bühnenmusik und diese Musik wurde zum Rettungsanker für
das Stück, denn ohne Bizets Klänge wäre das Schauspiel längst
vergessen. Daudets Arlesienne hat lediglich durch Bizets Musik überlebt
und die Musik besteht längst ohne das Schauspiel. (1’40)
Musik 6 Georges Bizet: Arlesienne, Pastorale aus der Suite Nr.1
Philharmonisches Orchester Mexiko / Enrique Bátiz
M0021031 005, 5‘28
Pastorale aus der Musik zu Daudets Schauspiel "L’Arlesienne" von
Georges Bizet. Enrique Bátiz leitete das Philharmonische Orchester
Mexiko.
Während Arles stolz ist auf Alphonse Daudet, hat sich die
provenzalische Stadt Tarascon bis heute nicht mit dem Dichter
ausgesöhnt. In seiner Trilogie über den Tatarain von Tarascon nimmt
Daudet die provenzalische Überheblichkeit auf den Arm, es ist eine
Persiflage auf das südfranzösische Kleinbürgertum. Humoristisch, zum
Teil auch sarkastisch zeichnet er ein Bild seiner Landsleute. Dass es
sich dabei gerade um einen Einwohner aus Tarascon handeln musste,
haben ihm die Tarasconeser nicht verziehen. Daudet wurde zur
unbeliebtesten Figur der Stadt Tarascon. (0’45)
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Musik 7 Georges Bizet: Arlesienne, Farandole aus der Suite Nr.2
Philharmonisches Orchester Mexiko / Enrique Bátiz
M0021031 008, 3‘09
Die berühmte Farandole aus Georges Bizets Bühnenmusik zu Daudets
Schauspiel „‘L Arlesienne“. Nochmals Enrique Bátiz mit dem
Philharmonischen Orchester Mexiko.
Daudets unbekannte Schöne aus Arles hat übrigens auch einen Italiener
begeistert: Francesco Cilea. Auch er hielt sich an das Inkognito der
Arleserin, nach ihr ist zwar die Oper benannt, aber sie taucht nicht
wirklich auf. Und so gehört dem Tenor die schönste Arie, das Lamento
des Federico "e la solita storia del Pastore". Es ist eine Hirtenweise, im
Schlaf will der Arme vergessen suchen, seinen inneren Frieden finden.
(0’35)
Musik 8 Francesco Ciela: Lamento del Frederico,
Luciano Pavarotti / Wiener Opernorchester / Leitung:
Nicola Rescigno
LC 0171 / Decca / 421 123-2, 5‘04
"E la solita storia del Pastore", das Lamento des Federico aus Cileas
"L’Arlesiana", nach Alphonse Daudets Drama. Luciano Pavarotti und das
Wiener Opernorchester unter der Leitung von Nicola Rescigno.
Arles ist die Stadt van Goghs und Daudets, Aix die von Cécanne, des
Festivals der Oper und der klassischen Musik und Marseille – kehren wir
zum Schluss nochmals in die französische Hafenmetropole zurück, sie
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steht zu Recht im Zentrum des Kulturhauptstadtjahres Marseille und
Provence 2013. Sie prosperiert, sie pulsiert, sie begeistert.
In den Marseiller Geheimnissen schreibt der französisch-Schweizer
Blaise Cendrars: „Marseille ist keine Architekturstadt, keine
Religionsstadt, keine Literaturstadt, keine Universitätsstadt, keine Stadt
der schönen Künste – aber nichtsdestotrotz“ so setzt Cendrars
entgegen, „ist Marseille eine der geheimnisvollsten Städte der Welt, und
eine der am schwersten zu ergründenden“. (1’00)
Musik 9 Claude Debussy: Feux d'artifice, Pierre-Laurent Aimard
M0311645 024, 4’33
Pierre-Laurent Aimard spielte das Prélude „Feux d'artifice“ von Claude
Debussy.
Marseille ist eine geheimnisvolle Stadt, sagt Blaise Cendrars, einige der
Geheimnisse haben wir in dieser Woche zu lüften versucht.
Langsam sind wir am Ende unseres musikalischen Spazierganges durch
Marseille angelangt. Bleibt noch ein wenig Zeit, um in einer Hafenkneipe
einen Pastis zu trinken, er gehört hierher wie die Bouillabaisse – Pastis,
der meist getrunkene Aperitif in Frankreich – eine kleine duftige Wolke,
die nach Anis schmeckt und an einer anderen Ecke steigen einem die
Düfte aus dem Morgenland in die Nase, auf dem Marché des Capucins,
Gewürze, orientalische Spezialitäten.
"Ich liebe es zu spüren, wie Marseille unter meiner Zunge vibriert", sagt
der Polizist Fabio Montale in Jean-Claude Izzos Marseille-Romanen.
(0’55)
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Musik 10 Dhafer Youssef: Miel et cendres
Dhafer Youssef, Marilyn Mazur/ Oslo Session String Quartet
M0047459 003, 5‘17
„Miel et cendres“ – Honig und Asche, ein Titel von Dhafer Youssef,
tunesischer Jazzmusiker, der hier zusammen mit dem Oslo Session
String Quartet und der Perkussionistin Marilyn Mazur spielte.
„Ich habe in Marseille an diesem Tag das schönste Lächeln meines
Lebens erlebt“, schreibt Moncef Ghachem. „Jenes zweier junger
Mädchen, die Arm in Arm auf einer Parkbank saßen. Die eine war
afrikanischer Herkunft, sie war ein wenig traurig, ein wenig verloren. Die
andere war einem Stück von Sophokles entstiegen, tiefschwarzes Haar,
Augen einer Gazelle, Lippen von Moschus und Honig, Finger aus Licht.
Sie hatten das Lächeln einer Sonnenrose, das Lächeln einer Venus aus
Zärtlichkeit und Vertrauen auf dieser armseligen Marseiller Parkbank“ –
eine Momentaufnahme von Moncef Ghachem, tunesischer Schriftsteller,
mit ihm kann man auf geheimnisvollen Spuren durch Marseille wandeln.
(1’00)
Musik 11 Germaine Tailleferre: Jasmin de Provence, Cristina Ariagno
M0010599 010, 1’14
Jasmin de Provence, eine Impression von Germaine Tailleferre, am
Klavier, Cristina Ariagno
Kehren wir mit Fred Wander an den Alten Hafen Marseilles zurück, le
vieux port, wo wir am Montag unseren musikalischen Spaziergang
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begonnen haben.
Fred Wander schreibt in seinem autobiographischen Roman Hotel
Baalbek:
„Marseille war verkommen und schön im magischen Licht einer von
feinen Rauchschwaden verklärten Sonne, und durch die engen, von
Fisch riechenden Gassen des Vieux Port wälzte sich eine unglaubliche
Mischung von Menschen, Weiße und Afrikaner, Araber, Vietnamesen,
Malaien, Korsen, Portugiesen, Italiener, Marseille war sozusagen eine
noch offene Hintertür Europas.“ Schreibt Fred Wander in seinem Roman
über jüdische Emigranten, die 1942 in Marseille auf Möglichkeiten zur
Flucht aus Europa sinnen.
Heute trifft man am alten Hafen immer noch alle Nationalitäten. Er ist
Mittelpunkt der Stadt, Ausgangspunkt für fast alle Exkursionen, sei es
per Schiff auf die Inseln, mit dem Bus an die Corniche Kennedy und in
die Calanques oder zu Fuß in die Stadt und für uns ist er jetzt auch das
Ende unserer Erkundungen.
Allez vai Marseille - Also auf nach Marseille.... Charles Aznavour mit
seiner Liebeserklärung an die Stadt.
Trink deinen Pastis und sing die Refrains von Scotto. (1’20)
Musik 12 Charles Aznavour: «Allez vai Marseille»
M0260394 006, 4‘08 zum Ausblenden
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Marseille, die rebellische Schöne am Meer – Das war die SWR 2
Musikstunde mit Ulla Zierau. Zuletzt sang Charles Aznavour „Allez vai
Marseille »
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