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I Jahrgang 8 I Ausgabe 8 I www.interculture-journal.com online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien Inhalt Klaus P. Hansen Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation Jörg Scheffer Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur Stefanie Rathje The Definition of Culture - An Application-Oriented Overhaul Mario Schulz Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben, ohne unzulässig die Komplexität zu reduzieren? 2009 Herausgeber: Jürgen Bolten Stefanie Rathje Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft Wir, die oder alle? Kollektive als Mittler einer komplexen Kulturwirklichkeit Gastherausgeber: Jörg Scheffer Tagungsband der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft

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I Jahrgang 8 I Ausgabe 8 I www.interculture-journal.com

online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien

Inhalt

Klaus P. HansenZulässige und unzulässige

Komplexitätsreduktion beimKulturträger Nation

Jörg SchefferEntgrenzung durch neue Grenzen:

Zur Pluralisierung von Kultur

Stefanie RathjeThe Definition of Culture -

An Application-Oriented Overhaul

Mario SchulzKann man komplexe

transnationale Kollektive beschreiben, ohne unzulässig

die Komplexität zu reduzieren?

2009Herausgeber:Jürgen BoltenStefanie Rathje

Forschungsstel leGrundlagen Kulturwissenschaft

Wir, die oder alle?Kollektive als Mittler einer komplexen Kulturwirklichkeit

Gastherausgeber: Jörg Scheffer

Tagungsband der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft

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Herausgeber:Prof. Dr. Jürgen Bolten (Jena)Prof. Dr. Stefanie Rathje (Berlin)

Wissenschaftlicher Beirat:Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Ahrens (Würzburg)Prof. Dr. Manfred Bayer (Danzig)Prof. Dr. Klaus P. Hansen (Passau)Prof. Dr. Jürgen Henze (Berlin)Prof. Dr. Bernd Müller-Jacquier (Bayreuth)Prof. Dr. Alois Moosmüller (München)Prof. Dr. Alexander Thomas (Regensburg)

Chefredaktion und Web-Realisierung:Mario Schulz

Editing:Susanne Wiegner

Fachgebiet:Interkulturelle WirtschaftskommunikationFriedrich-Schiller-Universität Jena

ISSN: 1610-7217www.interculture-journal.com

Tagungsband der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft

Gastherausgeber: Dr. Jörg Scheffer (Passau)

Forschungsstel leGrundlagen Kulturwissenschaft

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Einleitung: Auf der Suche nach neuen Kulturträgern

Jörg Scheffer

Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation

Klaus P. Hansen

Entgrenzung durch Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur

Jörg Scheffer

The Definition fo Culture: An Application-Oriented Overhaul

Stefanie Rathje

Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben,ohne unzulässig die Komplexität zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung

Mario Schulz

Inhalt

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Scheffer: Einführung

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Auf der Suche nach neuen Kulturträgern

Die Kulturwissenschaften schreiben traditionell kulturelle Er-scheinungen bestimmten Kulturträgern zu. Zu den häufigsten zählen Ethnie, Volk, Nation, Raum, Region oder Staat. Auf-grund ihrer klaren Konturen, ihrer Geschlossenheit und Iden-tität verleihen sie Kultur Prägnanz. Sie fixieren das Fluide, konkretisieren das Abstrakte und kategorisieren das Mehr-deutige. Ihren Stellenwert erhalten sie nicht zuletzt in der Funktion, jeden kulturbezogenen Diskurs mit Verständnis för-dernden Begriffen zu versorgen. Ob Maori, Mailänder oder Mexikaner, die unterlegten Träger suggerieren und transpor-tieren Evidenz: Das Bezeichnete erscheint als gegebener, ganzheitlicher und konkreter Gegenstand unserer Wirklich-keit.

Spätestens seit den neunziger Jahren wird diese übersicht-liche Kulturwelt jedoch angezweifelt. Die zunehmende Glo-balisierung zeigt sich als Entankerungsprozess, der kulturelle Differenzen teilweise abstandslos werden lässt. Die über-kommenen Klassifizierungsgewohnheiten geraten infolge ei-ner neu entdeckten Kulturwirklichkeit unter Beschuss. Homo-genes entpuppt sich als Konstrukt, Ganzheit als Fiktion. Da-mit einher geht die wachsende Kritik an den theoretischen und methodischen Prämissen einstiger Zuweisungen. Die bis-herigen Kulturträger, so die gewonnene Erkenntnis, sind Konstruktionen allzu weit gehender Komplexitätsreduktion. Die Suggestion ihrer Gegenständlichkeit ist durch methodisch manipulierte Verdinglichung zustande gekommen.

Ihr suchen die Kritiker mit neuen und fast trägerlosen Kon-zepten zu begegnen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich dabei ein weites Spektrum alternativer Deutungsmus-ter entfaltet, das zwischen dem traditionellen Verharren und dem radikalen Verzicht auf Kultur (u.a. Abu Lughod 1991) große Varianz zeigt (stellvertretend genannt seinen Appadu-rai 1996, Bhabha 1994, Hannerz 1996). Hatte Wimmer (1996) in Anlehnung an Gellner die kulturelle Welt metapho-risch als Bild beschrieben, dessen Konturen sich bei näherer Betrachtung auflösen, geht es Globalisierungstheoretikern unlängst auch darum, den Prozess des Verlaufens frischer Farbe einzufangen: Der von Wimmer beschriebene Wechsel „von Modigliani zu Kokoschka“ (Wimmer 1996:404), so ließe sich ergänzen, kann neben kaum fixierbaren Momentauf-nahmen auch völlige Konturlosigkeit aufweisen. Entspre-chend werden die klassischen Kulturträger im Zeichen einer Kontextualität, Transkulturalität, Hybridität, Multilokalität o-der Relationalität dekonstruiert. Das einst „komplexe Ganze“ (Tylor 1871) gerät gänzlich komplex.

Einführung des Gesamt-

herausgebers

Dr. Jörg Scheffer

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Scheffer: Einführung

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So fortschrittlich diese unterschiedlichen Konzeptionen in ih-rem theoretischen Anspruch erscheinen, so wenig hilfreich erweisen sie sich allerdings häufig für die praktische For-schung. Zum einen deuten sie im Selbstlegitimierungsprozess die kulturelle Wirklichkeit nun unter ihrem Blickwinkel mit der gleichen Konsequenz und Dogmatik aus, die sie bei den klas-sischen Trägerkonzepten noch kritisierten. Dabei geraten per-sistente Erscheinungen oder gemeinschaftliche Prägungen oft ebenso aus dem Blick, wie das verbreitete (interkulturelle) Interesse, lediglich vorherrschende Muster zu erfassen.

Zum anderen lassen sich die neuen Konzepte nur in geringer Dosierung empirisch konkretisieren. Zwei- oder dreifache Dif-ferenz oder die Dynamik zwischen zwei oder drei Faktoren lässt sich noch bewältigen, nicht aber Differenz oder Dynamik schlechthin. Wissenschaftliche Beschreibung kommt nicht ohne Komplexitätsreduktion, aus und kulturwissenschaftliche Beobachtungen müssen ihre Ergebnisse an einem Träger festmachen. Diese Grundvoraussetzungen praktischer For-schung sind bei den neuen Ansätzen aber nicht mehr gege-ben. Sie müssen mit dem (impliziten) Rekurs auf die Träger-konzepte - und sei es nur in semantischer Hinsicht - erkauft werden. Als „Zombie-Kategorien“ (Beck 2002:24), die in ih-rem traditionellen (scheinbar beerdigten) Beschreibungsmo-dus den aktuellen sozialen und kulturellen Gegebenheiten nicht mehr Rechnung tragen, finden sie stets (lebendig) Ein-gang in unsere kulturbezogene Kommunikationspraxis.

In jüngerer Zeit wurde mit dem Konzept der Transdifferenz ein weiterer Neologismus ins Spiel gebracht, das die Klassifi-zierungslogik auch für Phänomene jenseits des Differenten öffnet (Breining et al. 2002, Allolio-Näcke et al. 2005). Dabei werden die gängigen binären Unterscheidungen anerkannt, die für kulturelle Benennungen, Zuteilungen und Orientie-rungen unerlässlich sind. Gleichzeitig aber soll Transdifferenz all das Widerspenstige und Abweichende mit einschließen, das sich in dieses Raster nicht fügen lässt. Lösch (2005:28f.) bemüht hier die Metapher eines gepflegten Gartens, der ne-ben allen geordneten Phänomenen auch Unkraut aufweist. Als transdifferente Erscheinung läuft es - gleich ungetrockne-ter Farbe in einem Bild - durch bestehende Ordnungen hin-durch.

Der heuristische Wert des „Sowohl-als-auch-Denkens“ mani-festiert sich bereits in diversen Veröffentlichungen. Was je-doch in theoretischer Hinsicht kreative Freiräume zur Be-schreibung des „Querliegenden“ geschaffen hat, beschneidet den Nutzen in der analytischen Praxis. Letztlich birgt jede Operationalisierung erneut die Gefahr eines Reduktionismus (vgl. dazu auch Breining / Lösch 2005:454). In dem Zusam-menhang bleibt auch zu fragen, wie die konzeptionelle Tren-

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nung von Differentem und Transdifferentem in der Praxis vorgenommen wird. Auch Unkraut lässt sich - je nach Blick-winkel - als gewolltes Element in die Ordnung eines Gartens bringen.

Die Beiträge der vorliegenden Ausgabe widmen sich einem weiteren Trägerkonzept, das in den vergangenen Jahren vor allem durch Hansen (2003:158ff., 2009) in seinem analyti-schen Potenzial weiter erschlossen und ausdifferenziert wur-de: Kollektivität. Jenseits der Ganzheit von Kultur bieten Kol-lektive Differenzierungsangebote, die der komplexen Kultur-wirklichkeit variabel begegnen, sie in Abhängigkeit vom Er-kenntnisinteresse unterschiedlich strukturieren und dabei ein breites Angebot an Beschreibungstermini einbringen können. Im Rahmen einer Tagung, die von der Forschungsstelle

Grundlagen Kulturwissenschaft am 16.11.2007 unter dem Titel „Komplexe Ganzheit oder gänzliche Komplexität - die neuen Paradigmen der Kulturwissenschaft“ in Passau durch-geführt wurde, griffen die Referenten und Autoren des Hef-tes diese Optionen in unterschiedlicher Weise auf:

Klaus P. Hansen widmet sich dem Kollektiv Nation. Er zeigt, dass nicht die oft unterstellte Homogenität diese zusammen-hält, sondern vielmehr kollektive Mehrfachzugehörigkeiten oder „Polykollektivität“. Hansen veranschaulicht wie Interak-tionsregeln und Institutionen den Kollektiven Kohäsion verlei-hen und wie sie in präkollektiven und pankollektiven Zusam-menhängen funktionieren. Auf Grundlage dieser Prozesse können Nationen letztlich als Unikatskonglomerate analysiert werden.

Jörg Scheffer beschreibt kulturelle Kategorisierungen als Pra-xis der Grenzziehung. Da sich diese auf ein vorgegebenes Ar-senal räumlich-semantischer Vorkategorisierungen bezieht, ist sie für eine Kulturwirklichkeit außerhalb dieser Einteilungen strukturell blind. Sein „selektives Kulturkonzept“ sieht statt-dessen eine Verortung von Kollektiven vor, die interessenab-hängig den aktuellen kulturellen Gegebenheiten Konturen verleihen. Kultur folgt dabei nicht mehr räumlichen Einteilun-gen sondern umgekehrt.

Stefanie Rathje setzt in ihrer Kritik am traditionellen Kultur-konzept und dessen Kohärenzpostulat den Kollektivbegriff ebenfalls als Differenzierungsmittel ein: In der Unterschei-dung von Kollektiv und Kultur einerseits und Individualität und Pluralität andererseits, entwickelt sie eine Vier-Felder-Matrix, mit der sich sowohl das Kohärenz-Paradigma über-winden, als auch eine präzise Beschreibung der kulturellen Gegebenheiten vornehmen lässt. Letzteres macht sie anhand konkreter Praxisbeispiele und aktueller Anwendungsbezüge deutlich.

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Mario Schulz analysiert schließlich die Komplexität des Kollek-tivs der deutsch-tschechischen bzw. der deutsch-slowakischen Historikerkommission. Um die Arbeits- und Wirkungsweise dieses transnationalen Akteurs mit Hilfe quali-tativer Experteninterviews herauszuarbeiten, greift er auf Hansens Konzept der Multikollektivität zurück. Überzeugend wird belegt, dass eine zunächst methodisch notwenige Kom-plexitätserhöhung dazu dienen kann, kulturelle Komplexität in einem zweiten Schritt Verständnis fördernd zu senken. Die Perspektive Kollektivität erweist sich dabei erneut als viel ver-sprechender Mittler einer komplexen Kulturwirklichkeit.

Jörg Scheffer

Passau im Juli 2009

Literatur

Abu Lughod, L. (1991): Writing against Culture. In: Fox, R. G. (Hrsg.): Re-

capturing Anthropology. Working in the present. Santa Fe: School of American Research Press, S. 137-162.

Allolio-Näcke, L, Kalscheuer, B. / Manzeschke, A. (2005): Differenzen an-

ders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frank-furt/M.: Campus.

Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural dimensions of glob-

alization. Minnesota: University of Minnesota Press.

Beck, U. (2002): The Cosmopolitan Society and its Enemies. Theory, Culture

& Society 19 (1-2), S. 17-44.

Bhabha, Homi K. (1994): The Location of Culture. London: Routledge.

Breining, H. / Gebhardt, J. / Lösch, K. (Hrsg.) (2002): Multiculturalism in

Contemporry Societies. Perspectives on Difference and Transdifference. Erlangen: Universitätsbund.

Breining, H. / Lösch, K. (2005): Lost in Transdifference. Thesen und Anti-Thesen. In: Allolio-Näcke, L. / Kalscheuer, B. / Manzeschke, A. (Hrsg.): Diffe-

renzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/M.: Campus, S. 454-455.

Hannerz, Ulf (1996): Transnational Connections: Cultures, people, places. London: Routledge.

Hansen, K. P. (2003): Kultur und Kulturwissenschaft. Tübingen, Basel: UTB.

Hansen, K. P. (2009): Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Stutz.

Lösch, K. (2005): Begriff und Phänomen der Transdifferenz. Zur Infragestel-lung binärer Differenzkonstrukte. In: Allolio-Näcke, L. / Kalscheuer, B. / Manzeschke, A. (Hrsg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer

Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/M.: Campus, S. 26-49.

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Scheffer: Einführung

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Tylor, Edward B. (1871): Primitive culture. Researches into the development

of mythology, philosophy, religion, language, art and custom. London: J. Murray.

Wimmer, A. (1996): Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologi-schen Grundbegriffs. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48 (3), S. 401-425.

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Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation

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Abstract

Once again the question is raised, what is a nation? It is not as usually is taken for granted a homogenous object. This in-correct premise is of venerable age, but strongly cherished today by the bulk of interculturalists. It is high time to discard this premise. This does not mean, however, that we have to do without the concept of nation. Without doubt a nation is an object of distinctiveness and singularity. But how might it be described? The article offers suggestions how it could be done.

1. Quantitative und qualitative Reduktion

Kultur schwebt nicht über den Wassern, sondern wird kon-kret an Gegenständen angetroffen, die man Kulturträger nennen könnte. Der wichtigste, weil am häufigsten bemühte von ihnen ist das ethnische Kollektiv mit seinen Erscheinungs-formen Stamm, Volk und Nation. Die Ethnologie, die Erfinde-rin des wissenschaftlichen Kulturbegriffs, wandte ihn in ihren Anfängen ausschließlich auf solche Stämme und Völker an, die damals primitiv genannt wurden. Sie erforschte archai-sche, noch nicht modernisierte Gesellschaften. Diese Ein-engung wurde ab 1930 überwunden. Die amerikanische Eth-nologie, die dort cultural anthropology heißt, entwickelte ab diesem Zeitpunkt das Paradigma national character, welches davon ausging, dass nicht nur überschaubare Stämme und Völkerschaften, sondern auch moderne Nationen eine ein-heitliche Kultur besitzen (Mead 1951). Man begründete diese Annahme über die identische Sozialisation, die alle Landsleute im Stadium der Kindheit durchlaufen haben sollen (Mead 1928). Neben der Theorie lieferte dieser Ansatz, der sich auch culture and personality school nannte, praktische Ergebnisse, die, da der 2. Weltkrieg kurz bevor stand, auch von Militär-strategen zur Kenntnis genommen wurden (Gorer 1948, Pot-ter 1954).

Die Renaissance des Kulturbegriffs, die ab 1980 einsetzte und die moderne Kulturwissenschaft ins Leben rief, führte zu ei-ner Ethnologisierung vieler Disziplinen. Gegenüber der Mut-terwissenschaft kamen jetzt neue Kulturträger hinzu. Nicht mehr nur ethnischen Kollektiven wurde Kultur zugesprochen, sondern man erweiterte den Kulturbegriff und wandte ihn auf alle denkbaren Kollektive an (Subkultur, Unternehmens-kultur etc. galten als Kulturträger) (Nünning / Nünning 2003). Dennoch blieb die Nation, obwohl ihre ethnischen Ursprünge fragwürdig geworden waren, weiterhin der wichtige Kultur-träger, der bei den Disziplinen Landeskunde, cultural studies

und Interkulturelle Kommunikation unangefochten im Vor-

Zulässige und unzulässi-

ge Komplexitäts-

reduktion beim

Kulturträger Nation

Prof. Dr. Klaus P. Hansen

Universität-Passau/ Forschungs-stelle Grundlagen Kulturwissen-schaft

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Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation

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dergrund stand. Seit der Renaissance des Kulturbegriffs ist die Ethnologie zweigeteilt. Die Traditionalisten erforschen wei-terhin nicht-westliche und nicht-modernisierte Völkerschaften - beispielsweise in Süd-Ost-Asien - die Fortschrittlichen aber, die sich Europäische Ethnologie nennen und worin sich teil-weise die alte Volkskunde (Hartinger 1993) verbirgt, analysie-ren mit Hilfe des Kulturbegriffs den Alltag moderner Nationen (Warneken 2000).

Um Kollektive als Kulturträger zu erforschen, muss – wie ei-gentlich immer in der Wissenschaft – eine gewisse Komplexi-tätsreduktion vorgenommen werden. Aufgrund der schieren Quantität gilt das für den Kulturträger Nation umso mehr. Doch Reduktion ist nicht Reduktion: Es gibt zulässige, die nur die Quantität verringern, und unzulässige, welche darüber hinaus die Qualität des Gegenstandes antasten. Quantitative Reduktionen sind unvermeidlich, und sie sind solange nicht schlimm, wie sie Strukturen und wesentliche Merkmale nicht antasten. Genau diesen Vorwurf muss man aber den qualita-tiven Verfahren machen, die Wesentliches weglassen und de-ren Ergebnisse insofern nicht durch die Wirklichkeit gedeckt sind.

Der Kulturträger Nation ist ein beliebtes Opfer qualitativer Komplexitätsreduktion, die in Form der Homogenitätsprämis-se auftritt. Konkret besteht sie darin, dass man 8 Millionen Österreichern oder den fast 300 Millionen Amerikanern ein partielles Gleichverhalten unterstellt. Zum Beispiel gleiche Werte, gleiche Wahrnehmungsformen, gleiche Symbole und eine gleiche Denkweise, die man Mentalität nennt. Die Ho-mogenitätsprämisse reduziert die Qualität der Heterogenität, die ein wesentliches Merkmal pluralistischer Nationen dar-stellt, und diese Reduktion ist nötig, damit der Moloch Nation dem Kulturbegriff zugänglich wird.

2. Die Homogenitätsprämisse

Die Homogenitätsprämisse besitzt eine lange Geschichte und tritt in verschiedenen Formen auf. Entweder kommt sie me-taphysisch spekulativ daher oder als pseudo-empirische Theo-rie. Die antiken Geschichtsschreiber neigten der zweiten Form zu und führten das Gleichverhalten innerhalb der Völker ent-weder auf das Klima oder die politischen Institutionen zurück. Beide Annahmen gehen davon aus, dass eine vorgeordnete Gegebenheit, die auf alle Volksgenossen einwirkt, eine so weit gehende, prägende Kraft besitzt, dass sich die Gepräg-ten gleichen. Aufgrund der Polis und der von ihr ausgehen-den Freiheitsliebe hielten Isokrates und Herodot die Griechen für kampfesstärker als die Perser, denen durch die Staatsform der Tyrannei jeder Mannesmut genommen sei. Im Unter-

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Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation

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schied dazu begründete Aristoteles die griechische Überle-genheit aus dem milden Klima seiner Heimat.1

Die Mehrheit der Autoren, die sich über Unterschiede zwi-schen den Völkern äußern und dabei Homogenität vorausset-zen, macht sich gar nicht die Mühe, eine zu Ende gedachte Begründung zu liefern. Man geht davon aus, dass sich Völker und Nationen aus einer ethnischen Urzelle entwickelten2, tut dann aber nicht den nächsten nahe liegenden Schritt, die Homogenität auf genetische Verwandtschaft zurückzuführen. Vielleicht schwingt es unterschwellig mit, aber laut und deut-lich sagt das niemand, denn bewiesen wäre es erst, wenn man aus deutschen Testpersonen das Pünktlichkeits-Gen iso-liert hätte.

Im 18. Jahrhundert konnte Herder da noch mutiger sein. Er hob die Homogenitätsprämisse ins Religiöse und metaphy-sisch Spekulative. Gott schuf nicht den Menschen, so ließe sich verschärft sagen, sondern die Völker. Mit diesem Schach-zug konnte er das Miteinander von Gleichheit und Ungleich-heit erklären. Als Volksgenossen unterscheiden sich die Men-schen, was schon bei Hautfarbe und Körperbau beginnt, um dann darüber wieder zusammen zu finden, dass Völker Vari-anten des Menschlichen sind. Herder, das wäre genauer zu untersuchen, spricht weniger von Kultur als vom Völkischem: von "völkischer Seele" oder "völkischer Ganzheit" (vgl. Wil-loweit / Fehn 2007). Der Kulturbegriff kommt indes selten vor. Ihn bringen erst später die Ethnologen ins Spiel, indem sie das Völkische Kultur nennen. Seitdem erscheint die Ho-mogenitätsprämisse unter diesem Namen, dem aber lange, da Herders spekulative Philosophie moderneren Maßstäben nicht mehr genügte, eine Theorie fehlte. Sie wurde erst im 20. Jahrhundert durch die bereits erwähnte culture and per-sonality school geliefert. Im Rahmen des Paradigmas national character wurde auf wissenschaftlich ernst zu nehmendem Wege die Homogenitätsprämisse zu begründen versucht. Die Antwort lautete, Nationalkultur und Nationalcharakter ent-stehen durch Sozialisation. Weil die Eltern ihre Kinder auf gleiche Weise erziehen, soll es zur charakterlichen Anglei-chung kommen. Seitdem haben wir dicke Bücher über den amerikanischen Nationalcharakter, deren Thesen heute noch zu finden sind. Das Ganze besitzt aber einen Schönheitsfeh-ler: Die Homogenität wird nicht durch die Erziehung geschaf-fen, sondern liegt ihr voraus.

Eine Minderheit der modernen Kulturwissenschaftler bezwei-felte jedoch die Homogenitätsprämisse, wobei zwei Argu-mente ins Feld geführt wurden. Clifford Geertz, der heraus-ragende Kulturanthropologe Amerikas, schrieb seiner Zunft ganz grundsätzlich ins Stammbuch, dass sie mit einem de-terministischen Kulturbegriff arbeite. Ethnologie und sonstige

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Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation

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Kulturwissenschaften betrieben ihr Geschäft so, als würde Kultur normativ Verhaltensweisen vorschreiben, die, wenn man dazu gehören wollte, befolgt werden müssten. Dieser Determinismus-Vorwurf trifft natürlich auch die Homogeni-tätsprämisse, denn nur Determinanten erzeugen Gleichheit. Gegen diesen falschen Ansatz hebt Geertz den Angebots-charakter von Kultur hervor. Sie stelle Zeichen und Verhal-tensmöglichkeiten bereit, die von den Individuen verschieden – also nicht homogen - realisiert würden (Geertz 1973). Die Kritik des Soziologen Ulrich Beck nimmt ihren Ausgang von folgender Überlegung. Kultur, so seine Metapher, sei kein fest verschlossener Container, aus dem nichts heraus oder in den nichts hinein gelange. Beim Kulturträger Nation sei das besonders offensichtlich. In unserer globalisierten Welt stün-den alle Länder weit offen und es finde ein permanenter Transfer zwischen ihnen statt. Da alles im Fluss sei, so Becks Resultat, wäre Homogenität nicht möglich (Beck 1998).3 Wolfgang Welsch (1995) sekundiert mit dem Zusatz, dass sie noch nie möglich war und verweist auf ältere Globalisierun-gen wie das römische Reich und die Völkerwanderung.

So richtig diese Kritik ist, schießt sie doch über das Ziel hin-aus. Im Grunde stellen Geertz und Beck, wenn man ihre Schriften genau liest, die Gegenständlichkeit des Kulturträ-gers Nation in Abrede. Für sie ist Nationalität Konstruktion und Einbildung. Das aber läuft unserem Empfinden zuwider. Wenn wir in Spanien sind, kommt uns alles spanisch vor, und wenn wir einen Film sehen, der in Deutschland spielt, erken-nen wir die Heimat. Nationen, das ist nicht nur eine Erfah-rung, sind erkennbar. Sie zeigen nationalspezifische Beson-derheiten, die sie von anderen Nationen unterscheiden. Wenn sie aber erkennbar sind, müssen sie Gegenständlichkeit besitzen, die aber eben nicht in Homogenität besteht. Daher sollte man den Nationenbegriff nicht auf die Halde menschli-cher Irrtümer werfen, sondern nur die verfälschende Homo-genitätsprämisse aufgeben. Die qualitative Komplexitätsre-duktion müsste rückgängig gemacht und durch eine quanti-tative ersetzt werden.

3. Neukonzeption des Begriffs Nation

Dazu stellt sich als erstes die Frage, was für eine Art Kollektiv

ist die Nation? Ich unterscheide Kollektive ersten Grades von solchen zweiten Grades. Die ersteren bestehen aus Individu-en; die letzteren über diese hinaus vor allem aus Kollektiven. Ein Tennisclub besteht aus Mitgliedern; der Deutsche Ge-werkschaftsbund hingegen, ein Kollektiv zweiten Grades, be-steht aus Einzelgewerkschaften, also aus Kollektiven ersten Grades.

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Nationen sind Kollektive zweiten Grades in einem noch wei-teren Sinne als mein Gewerkschaftsbeispiel. Der Deutsche Gewerkschaftsbund setzt sich aus stark ähnlichen Kollektiven ersten Grades zusammen, die man Zwillingskollektive nennen könnte. Unter dem Dach der Nation hingegen finden wir nicht nur unendlich viele, sondern vor allem auch unendlich verschiedene Kollektive. Unter dem deutschen Dach drängeln sich Briefmarkensammler, Esoteriker, Neonazis, Schützen- und Karnevalsvereine, Hobbyclubs, Wirtschaftsunternehmen, terroristische Vereinigungen und, besonders deutsch, die Ge-sellschaft zur Rettung des Genetivs. Selbst Kollektive zweiten Grades wie Innungen und Interessenverbände sind darunter. Das hervorstechende Merkmal einer modernen Nation nenne ich deshalb Polykollektivität. Sie setzt Pluralismus voraus, denn die einzelnen Kollektive verfolgen andere Interessen und leben nach anderen Werten.

Das entscheidende Merkmal der Polykollektivität, aus dem die Staatsform Demokratie ihre Legitimation bezieht, wird von der Homogenitätsprämisse unterschlagen. Diese entschei-dende Qualität wird durch die Komplexitätsreduktion elimi-niert, wodurch der Kulturträger Nation in einem seiner we-sentlichsten Punkte entstellt wird. Nationen werden nicht durch Homogenität bestimmt, sondern durch Heterogenität. Von der Basis Heterogenität und Polykollektivität lassen sich weitere Merkmale ableiten. So die Funktion von Kollektiven zweiten Grades, die darin besteht, das Miteinander der Kol-lektive zu regeln. Das gilt um so mehr für das Dachkollektiv Nation, das für die Erhaltung, Steuerung und Zähmung von Polykollektivität verantwortlich ist.

Diese Funktionen wird auf vielfache Weise erfüllt. Dabei kommt ihm folgendes Phänomen zur Hilfe. Die meisten der das Dachkollektiv ausmachenden Kollektive sind nicht so scharf und hermetisch von einander abgegrenzt, wie wir meinen. Da Individuen vielen Kollektiven angehören, sind die-se irgendwie miteinander verschränkt oder ragen gegenseitig in sich hinein. In einem Tennisclub, genauso wie in einer Ein-zelgewerkschaft, treffen Katholiken auf Protestanten, Vegeta-rier auf Schnitzelfreunde, Schwaben auf Bayern. Das liegt an der Multikollektivität der Individuen, wie ich es nenne, d.h. an der Tatsache, dass der Einzelne vielen Kollektiven angehört. Ich bin bekennender Rheinländer, Volvo-Fahrer, Atheist, Hochschullehrer, Tennisspieler und Hausbesitzer.

Die Multikollektivität sorgt dafür, dass die Mehrzahl der Kol-lektive präkollektiv mit einander verbunden ist. Der Begriff präkollektiv betont dabei, dass diese Vernetzung nichts mit dem Konstitutionsgrund und Kollektiv-Zweck zu tun hat, sondern davon unabhängig existiert. Die Religionszugehörig-

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Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation

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keit der Mitglieder eines Tennisclubs hat nichts mit der ei-gentlichen Kollektivität dieses Clubs zu tun; aber dennoch ist sie vorhanden und die Religionen ragen in den Club hinein, was Virulenz bekommen würde, wenn ein Muslim um Auf-nahme nachsuchte. Wie wichtig die präkollektiv greifende Multikollektivität für ein Gemeinwesen ist, sehen wir am Bei-spiel derjenigen, die ihm den Rücken kehren wollen. Mit allen Mitteln versuchen Sekten Außeneinflüsse fern zu halten und alle präkollektiven Elemente zu reduzieren. Man wohnt zu-sammen, verbringt zusammen die Freizeit und heiratet nur untereinander. Sekten verweigern sich den Prinzipien der Kol-lektivität, indem sie die unterschwelligen Verbindungen zu anderen Kollektiven kappen.

Die Multikollektivität der Individuen fungiert als Gegenmittel zur Polykollektivität der Nation, die immer der Gefährdung ausgesetzt ist, in ihre Bestandteile auseinander zu fallen. Mul-tikollektivität setzt einerseits Polykollektivität voraus, sonst hätte das Individuum keine Auswahl, dämpft andererseits aber ihre atomisierende Tendenz. Auch bewusst und geplant reguliert das Dachkollektiv Nation seine uneinheitliche Viel-falt. Zum einen durch Bereitstellung von Interaktionsregeln und zum anderen durch Überwachung der Kommunika-tionsmittel. Im Vereins- und Körperschaftsrecht bietet der Na-tionalstaat Formen der Kollektivbildung an und regelt durch die verschiedensten Gesetze den Umgang sowohl der Indivi-duen miteinander als auch der Kollektive. Bei Verstößen da-gegen droht das Strafrecht mit Sanktionen. Man erkennt: Die Funktionen der Nation ergeben sich aus ihrem Hauptmerkmal der Polykollektivität.

Nationen sorgen aber auch für Kommunikation zwischen all den Individuen und Kollektiven. Jede Nation besitzt ihre staat-lich überwachte Nationalsprache. In besonderen Fällen kön-nen das, wie in der Schweiz, mehrere Sprachen sein. Über Dia- und Soziolekte hinweg sichert das Dachkollektiv auf ver-schiedene Weise die Verständigungsfähigkeit, damit die ver-schiedenen Kollektive kommunizieren können. Was sich pau-schal so einfach sagt, ist in der Wirklichkeit höchst kompliziert und beschäftigt den linguistisch orientierten Teil der Interkul-turellen Kommunikation (vgl. Kiesling / Paulston 2005). Das Gleiche gilt für Umgangsformen und die non-verbale Kom-munikation. Auch sie besitzen über die verschiedenen Verhal-tensgewohnheiten der Kollektive und Kollektiv-Gruppen hin-weg einen Kern des Gemeinsamen, sozusagen eine Etikette des Normalen. Kurzum: Im Bereich der Kommunikation im weitesten Sinne übt die Nation eine, wie ich es nenne, pan-kollektive Funktion aus, sodass sich Professor und Penner ver-ständigen können. Die pankollektive Funktion ermöglicht Po-lykollektivität als kommunikatives Handeln.

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An dieser Stelle taucht folgender Einwand auf. Nachdem die Homogenitätsprämisse verworfen wurde, erkennt man nun, dass sowohl im Bereich der Gesetze und Institutionen als auch in jenem der Kommunikation Homogenität herrscht. Deutschland ist dahingehend einheitlich, dass sich eine Mehrheit an bestimmte Gesetze hält, sich in bestimmte Insti-tutionen einfügt und sich derselben Kommunikationsmittel im weitesten Sinne bedient. Ist das aber jene Homogenitäts-prämisse, die der traditionelle Kulturbegriff meint? Ja und Nein! An die Sprache, die Teil der Kultur ist, denkt man wohl, nicht aber an Gesetze und Institutionen, die Gleichverhalten nicht kulturell vorgeben, sondern sozusagen geplant erzwin-gen. D.h. die Kritik am Homogenitätspostulat muss differen-ziert werden. Bei aller Polykollektivität muss das Dachkollektiv Nation als Mischung aus Homogenität und Heterogenität ge-sehen werden. Da der homogene und heterogene Bereich funktional verschieden sind, führt diese Aussage in keinen Widerspruch. Die Heterogenität rührt von der Polykollektivität her, während die Homogenität auf einer pankollektiven Ebe-ne diese Polykollektivität regelt. Heterogen sind die Kommu-nikationspartner, homogen aber Kommunikationsmittel und die Modalitäten ihres Umgangs mit einander. Wenn ein deut-scher Katholik mit einem deutschen Kommunisten streitet, sind sie bezüglich ihrer Interessen und Denkinhalte hetero-gen; homogen jedoch ist, dass sie deutsch sprechen und ge-wisse Benehmensvorschriften wahren. Das muss so sein, denn sonst wäre eine funktionierende Kollektivität unter dem Dach Nation nicht möglich.

Aber müsste nicht auch die Geschichte, die eine Nation er-lebt, Homogenität verbürgen. Wiederum lautet die Antwort Ja und Nein. Sicherlich sind die historischen Fakten für alle Volksgenossen dieselben. Daneben aber gehört zur Geschich-te auch die Deutung dieser Fakten, nachdem sie geschehen ist. Bei ihr jedoch hört die Homogenität sofort auf, denn hier wirkt sich wieder die Polykollektivität aus. Es gibt nicht nur eine Deutung, sondern je nach Interessenlage der Betroffe-nen verschiedene und widersprüchliche. Die rivalisierenden Interessen der Kollektive führen zunächst zu rivalisierenden Deutungen der Geschichte. Sobald diejenigen, die das histori-sche Ereignis erlebten, gestorben sind, hört der Deutungs-streit meistens jedoch auf und mündet in eine Mehrheitsdeu-tung, die oft offiziellen Charakter annimmt. Wir sehen das am Beispiel des Nationalsozialismus. Der Deutungsstreit ist vorüber und im Großen und Ganzen setzte sich eine kritische und nichts beschönigende Sicht durch wie an der landeswei-ten Ablehnung der Neonazis und anderer Unbelehrbarer sichtbar wird. Im Bereich Geschichte zeigt sich insofern das gleiche Miteinander von Homogenität und Heterogenität, das ebenfalls in keinen Widerspruch mündet, da sie hinter einan-

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der angeordnet sind. In der zeitlichen Nachbarschaft der his-torischen Ereignisse herrscht Heterogenität und Streit, der dann mit zeitlichem Abstand in Homogenität mündet.

4. Die Nation als Unikatskonglomerat

Ich kehre zum Ausgangsproblem zurück: Wenn man den Na-tionenbegriff nicht verwerfen will, muss eine neue Gegen-ständlichkeit präsentiert werden. Die traditionelle bestand aus zwei Komponenten: Eine Nation galt erstens als besonderes und also einmaliges Gebilde, das zweitens in sich homogen war. Die Homogenität haben wir relativiert, an der Besonder-heit und Singularität der Nationen aber können wir festhal-ten. Wir müssen sie nur eben als Miteinander von Homogeni-tät und Heterogenität begreifen.

Worin aber konstituiert sich Besonderheit? Eine, und zwar eine homogene, stellten wir bereits fest: die Kommunikati-onsmittel, die Sprache und die Umgangsformen. Die haben die Nationen für sich und sind dem Angehörigen einer ande-ren Nation verschlossen. Wenn interkulturelles Training eine Berechtigung hat, dann hier, in diesem homogenen Bereich.

Den homogenen Besonderheiten stehen die heterogenen ge-genüber, die sich aus der Polykollektivität ergeben. Jede Nati-on besitzt Kollektive, die es in dieser Ausprägung nur unter ihrem Dach gibt. Ich nenne sie Unikatskollektive. Die Gesell-schaft zur Rettung des Genetivs gibt es nur in Deutschland; genauso wie Schützen- und Karnevalsvereine. Solange es noch den Meisterbrief gab, war der deutsche Handwerker einmalig auf der Welt, ebenso wie – ebenfalls aussterbend - der habilitierte Professor. Unikatskollektive müssen keine Randerscheinungen sein. Die amerikanische National Rifle

Association etwa ist ein ebenso einmaliges wie höchst ein-flussreiches Kollektiv. Dennoch sind Unikatskollektive selten, und das liegt daran, dass die westlichen Nationen nah bei einander liegen.

Zwischen diesen Nationen besteht eine weitgehende Kollek-tiv-Analogie, die aber trotz grundsätzlicher Gleichheit Variati-onsmöglichkeiten erlaubt. Jede demokratische Nation braucht Parteien, welche die in allen modernen Gesellschaften vor-handenen Interessen vertreten. Dass es Parteien geben muss, ist durch transnationale Faktoren wie Demokratie und Marktwirtschaft vorgegeben, bei der Ausgestaltung dieser Kollektive stehen jedoch Spielräume offen. Die deutsche SPD hat Einiges mit der Labour Party gemeinsam, ohne ihr aber gänzlich zu entsprechen. Wenn man die Partei als Ganzes sieht, präsentiert sie sich als singuläres deutsches Kollektiv. Betrachtet man indes ihre Bestandteile, treten transnationale oder pankollektive Elemente zutage.

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Trotz der Kollektiv-Analogien, wie sie in bestimmten Gruppie-rungen von Nationen zu finden sind, reicht der übrigbleiben-de Rest an Unterschiedlichkeit, um dem Dachkollektiv Nation Besonderheit im Sinne von – das Englische besitzt ein treffen-deres Wort – distinctiveness zu verleihen. Wenn man sich die gesamte Polykollektivität vor Augen hält, leuchtet das umso mehr ein. Zum einen addieren sich die Unterschiedlichkeiten der einzelnen Kollektive und zum anderen resultieren Bezie-hungen zwischen ihnen, die ebenfalls durch die Unterschied-lichkeiten geprägt sind. Nationalspezifisch sind ja nicht nur die Kollektive selbst, sondern ebenso, das folgt stringent, die Beziehungen, Feindschaften, Differenzen und Rivalitäten zwi-schen ihnen. Dabei schaukeln sich die Unterschiedlichkeiten weiter auf. Labour und Conservative Party unterscheiden sich in vielen Punkten von SPD und CDU. Diese Punkte schlagen sich ebenfalls in ihrem Verhältnis zu einander nieder, sodass sich die englischen Parteien gegenseitig anders empfinden als die deutschen. Wie sehr sich die Unterschiedlichkeiten auf-schaukeln, sehen wir gerade am Beispiel des Lokführerstreiks, der für einen Amerikaner schwer zu verstehen ist. Jede west-liche Nation hat Lokführer und Gewerkschaften, doch was wir gerade ohnmächtig beobachten, ist urdeutsch. Die Lok-führer sind Teil unseres effektiven Transportsystems, das von vielen Menschen täglich benutzt wird, und wenn hier die Rä-der still stehen, tut es der Gesellschaft weh. In den USA wür-de dem Streik diese schmerzhafte Komponente fehlen. Eine weitere Facette des Streiks fehlte in den USA ebenfalls: Die deutschen Gewerkschaften sind in Dachorganisationen zu-sammengefasst, woraus die GDL ausgescherte. Dadurch kämpft sie an zwei Fronten, gegen die Bahn einerseits und andererseits gegen die anderen Bahn-Gewerkschaften.

Damit zum letzten Punkt meiner Aufzählung nationalspezifi-scher Bereiche. Ich nenne ihn die nationale Agenda. Wenn wir die Nachrichten einschalten, werden wir mit einem Mix an Themen konfrontiert, der einerseits eine gewisse Zeit kon-stant bleibt, sich andererseits permanent ändert. Dieser Mix muss nicht hauptsächlich aus deutschen Themen bestehen. Selbst wenn internationale dominieren, besitzt jede Nation ihre eigene Zusammenstellung. Daneben gibt es aber auch rein deutsche Themen wie derzeit die Eisbären Knut und Flo-cke.

Nationaltypisch ist die Agenda vor allem bei den langfristigen Dauerthemen, welche die besonderen Differenzen innerhalb einer Nation klar hervortreten lassen. Für Amerika heißen die-se Themen gun control, Abtreibung, Todesstrafe. An ihnen zeigen sich immer wieder die tiefen kollektiven Risse, die durch die USA gehen. Wenn ich ein landeskundliches Buch über die USA zu schreiben hätte, würde ich mich auf solche spezifischen und singulären Differenzen konzentrieren, weil

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an ihnen die besondere Polykollektivität wohl am besten er-kennbar ist.

Aber nicht nur das Was der nationalen Agenda ist entschei-dend, sondern auch das Wie. Jeder deutsche Zeitungskiosk ist insofern ein Abbild deutscher Polykollektivität, als an ihm die verschiedenen deutschen Kollektivinteressen medial bedient werden. Wenn der Lokführerstreik deutsch ist, dann wird er durch die Berichterstattung noch ein Stück deutscher, denn den Fakten gesellen sich jetzt die typischen Wahrnehmungen deutscher Kollektive hinzu. Die FAZ wird den Streik in erster Linie als Vernichtung von Arbeitsplätzen sehen, wohingegen die Frankfurter Rundschau eine Gefährdung des traditionellen Gewerkschaftssystems erkennen wird.

Fazit: Wenn Dachkollektive eine empirisch beschreibbare Sin-gularität besitzen, muss ihnen irgendeine Art an realer Ge-genständlichkeit zugrunde liegen. Ihr Hauptmerkmal besteht in der Polykollektivität, die nicht als Zufallsaddition oder Cha-os zu sehen ist, sondern als zusammenhängendes Konglome-rat, dem bestimmte Faktoren Kohäsion verleihen. Solche Fak-toren sind einmal die Interaktionsregeln und Institutionen; des Weiteren bestehen sie in präkollektiven und pankollekti-ven Zusammenhängen. Nicht nur äußere politische Grenzen halten folglich das Konglomerat zusammen, sondern diese inneren Kohäsionskräfte. Nationen sind wie ein Mikadospiel, das man auf den Tisch kippt. Die Stäbchen liegen scheinbar zusammenhanglos über einander. Wenn man aber versucht, eins zu entfernen, wackelt der ganze Haufen. Jeder Politiker wird das bestätigen: Wenn er das Gesetz, das Kollektiv A wollte, erlässt, schreit Kollektiv B.

Nationen sind Unikatskonglomerate. Der erste Teil dieser Be-griffsbildung soll auf die Besonderheit und Singularität von Dachkollektiven verweisen; der zweite sowohl auf die Polykol-lektivität als auch auf die eigentümliche Art der Kohäsion, die trotz aller Verschiedenheit herrscht. Diese Kohäsion ist ein paradoxes Phänomen und beruht auf mindestens drei Fakto-ren. Den ersten und einfachsten erkennen wir in den Homo-genitätsinseln der für alle geltenden Gesetze und Institutio-nen, der gemeinsamen Kommunikationsmittel und dem ebenso gemeinsamen Schicksal der Geschichte. An zweiter Stelle ist die über die einzelnen Kollektive hinausgreifende Multikollektivität zu berücksichtigen, die auf präkollektive Weise Kollektive verklammert. Wenn ich im Turnverein und im Literaturzirkel Mitglied bin, hängen diese beiden Kollekti-ve, zumindest latent, durch das Bindeglied meiner Person zu-sammen. Ähnlich wirkt das pankollektive Element. Dass wir Deutschen in einer Demokratie leben, verbindet uns sowohl unter einander als auch über die politischen Grenzen hinaus mit unseren westlichen Nachbarn. Ansonsten herrscht in Uni-

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katskonglomeraten aber die Differenz der Polykollektivität, die ja eher der Tendenz zur Entzweiung huldigt. Sie kommt aber insofern nicht zum Tragen, als die Differenzen genau auf einander abgestimmt, sozusagen in einander verhakt und da-durch miteinander verwoben sind.

Noch eine letzte Anmerkung. Die Theorie, dass die Gegen-ständlichkeit von Nationen als Unikatskonglomerat bestimmt werden kann, relativiert die Ergebnisse der modernen Natio-nenforschung (Gellner 1983, Anderson 1983, Hobsbawn 1991, Wehler 2001). Sie setzte 1983 durch die Bücher von Gellner und Anderson sowie 1991 von Hobsbawm ein, die bis auf wenige Abweichungen alle drei in die gleiche Richtung gehen. Nationen, so ließe sich zusammenfassen, sind keine natürlich gewachsenen Gruppierungen, wie noch Smith (1986) in seinem Beharren auf "ethnic origins" meinte, son-dern dem Zufall zu dankende, machtpolitische Gebilde. Auf diese künstlich erzeugte Realität wird ein ebenso künstliches wie falsches Bild der Nation aufgepfropft. Die Realität ist eth-nisch uneinheitlich und auch ansonsten heterogen; das Bild aber gibt sie als völkische Einheit und homogene Kultur aus. Anderson (1983) fügt mit seinem Begriff "imagined commu-nities" dem eine weitere Facette hinzu4. Wir sehen die Na-tion, die ja eigentlich eine amorphe Masse bildet, wie eine überschaubare Gemeinschaft. Bei diesen Neuansätzen, wel-che die traditionelle Nationenvorstellung als Konstruktion bloßstellen, wird leicht der Eindruck erweckt, dass die Nation nur eine eingebildete Gegenständlichkeit besitzt und keine reale. Dem wurde hier mit Hilfe des Begriffs Unikatskonglo-merat entgegen getreten.

Literatur

Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. London: Verso.

Beck, Ulrich (1998): Was ist Globalisierung? Frankfurt: Suhrkamp.

Gellner, Ernest (1983): Nations and Nationalism. Oxford: Blackwell.

Geertz, Clifford (1973): The Interpretation of Cultures. New York: Basic Books.

Geertz, Clifford (1996): Die Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. Wien: Passagen-Verlag.

Gorer, Geoffrey (1948): The American People. A Study in National Charac-ter. New York: W. W. Norton.

Hartinger, Walter (1993): Volkskunde zwischen Heimatpflege und kritischer Sozialarbeit. In: Hansen, Klaus P. (Hrsg.): Kulturbegriff und Methode. Der stille Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften. Tübingen: Narr, S. 41-58.

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Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation

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Hobsbawm, Eric J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Reali-tät seit 1780. Frankfurt: Campus-Verlag.

Isaac, Benjamin (2005): The Invention of Racism in Classical Antiquity. Princeton: University Press.

Kiesling, Scott F. / Paulston, Christina B. (Hrsg.) (2005): Intercultural Dis-course and Communication. The Essential Readings. Malden: Blackwell.

Mead, Magaret (1928): Coming of Age in Samoa. New York: Morrow.

Mead, Magaret (1951): The Study of National Character. In: Lerner, Daniel (Hrsg.): The Policy Sciences. Recent Developments in Scope and Method. Standford: Standford University Press, S. 70-85.

Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (2003): Konzepte der Kulturwissenschaf-ten. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag.

Potter, David M. (1954): People of Plenty. Economic Abubdance and the American Character. Chicago: University of Chicago Press.

Renan, Ernest (1990): What is a Nation? (englische Übersetzung) In: Bhab-ha, Homi K. (Hrsg.): Nation and Narration. London / New York: Routledge, S. 8-22.

Smith, Anthony D. (1986): The Ethnic Origins of Nations. Oxford / New York: Oxford University Press.

Warneken, Bernd Jürgen (2000): Zum Kulturbegriff der Empirischen Kul-turwissenschaft. In: Fröhlich, Siegfried (Hrsg.): Kultur. Ein interdisziplinäres Kolloquium zur Begrifflichkeit. Halle: Landesamt für Archäologie, S. 207-214.

Wehler, Hans-Ulrich (2001): Nationalismus. Geschichte, Folgen, Formen. München: C.H. Beck Verlag.

Welsch, Wolfgang (1995): Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt: Suhrkamp.

Willoweit, Dietmar / Fehn, Janine (Hrsg.) (2007): Johann Gottfried Herder, Staat, Nation, Humanität. Ausgewählte Texte. Würzburg: Königshausen und Neumann.

1 Eine genauere Darstellung der antiken Homogenitätsthesen

gibt Benjamin Isaac (2004) in „The Invention of Racism in Classical Antiquity“. Der Titel ist etwas irreführend, da Isaac vor allem zeigt, dass in der Antike Xenophobie zu erkennen ist, nicht aber Rassismus. 2 Das hält sich bis zu Anthony D. Smith (1986). 3 Die gleiche Argumentation trägt Clifford Geertz (1996) vor. 4 Diese von Benedict Anderson 1983 aufgestellte Behauptung geht übrigens auf Ernest Renan und dessen Vorlesung "Qu'est-ce qu'une nation?" von 1882 zurück (Renan 1990).

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Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur

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Abstract

In an age characterised by globalisation, there is an inherent contradiction between, on the one hand, the theory-driven deconstruction of cultural boundaries and, on the other, the perpetuation of cultural classifications that are founded in patterns shaped by real-life practice – and this is a contradic-tion that creates conflicts between some of the fundamental concepts used in cultural studies disciplines. Culture is in this sense often described in the distinctive borders of nations or as a dynamical entity, where differences and intercultural comparisons are unworkable.

In an attempt to overcome this discrepancy, we will present a new approach to defining what constitutes culture, an ap-proach that comprehends culture as something intimately related to a specific spatial context and area of research in-terest. This enables us to undertake a variable regionalisation of cultural characteristics, with the aid of which archetypal paradigms and modes of action rooted in prevailing spatial concepts can be investigated. The pluralisation of such cul-tural regions helps us to break out of a way of thinking that is shaped by pre-defined cultural areas and provides us with a conceptional alternative with which the nation-state ap-proach to Intercultural Communication can be supplemented.

1. Einführung: Grenzen, Raumbilder und Kultur

Alltäglich ist von räumlichen Grenzen die Rede. Als Struktu-rierungsmerkmal einer komplexen Welt haben sie nicht nur Eingang in die Sprache gefunden, sondern sind tief im kollek-tiven Bewusstsein verankert. Ist in den Medien von chinesi-schem Wirtschaftswachstum, europäischer Außenpolitik oder bayerischer Bierzeltverordnung zu hören, so ist implizit eine Abgrenzung im Spiel, die unserem Diskurs einen konkreten Gegenstand beschert und die Kommunikationsfähigkeit dar-über gewährleistet. Auf Grundlage einer gesellschaftlich ge-teilten Vorstellung des räumlichen Gegenstandes ist entspre-chend klar, was dazu gehört und was nicht, wo sich das „In-nen“ und das „Außen“ befindet und welche grundlegenden Merkmale den Gegenstand kennzeichnen. Ohne all dies stets neu definieren zu müssen, schaffen Grenzen in semantischen Regionalisierungen Verständnis und Orientierung, sie fungie-ren allgemein als probates Mittel der Komplexitätsreduzie-rung.

Die Etablierung räumlicher Kategorisierungen in der Kommu-nikation hat jedoch auch dazu geführt, dass der Zusammen-hang zwischen dem räumlich Bezeichneten und dessen Merkmalen oft nicht mehr kritisch hinterfragt wird. Dies wird

Entgrenzung durch neue

Grenzen: Zur Pluralisie-

rung von Kultur

Dr. Jörg Scheffer

Lehrstuhl für Anthropogeo-graphie, Universität Passau

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besonders dann problematisch, wenn die Ursprungskriterien einer Abgrenzung in den Hintergrund geraten und die Eintei-lung für andere Attribute pauschal herhalten muss.

Im Umgang mit kultureller Differenz ist der Bezug zu Unter-teilungskriterien, die nicht unmittelbar mit Kultur im Zusam-menhang stehen, besonders virulent: Wer von französischer Lebensart oder Wiener Mentalität spricht, bezieht sich implizit auf eine politisch oder administrativ – nicht unbedingt aber kulturell – begründete Einteilung eines Landes oder einer Stadt. Erst in dem vorab festgelegten Rahmen kommen schließlich kulturelle Attributierungen zur Geltung. Sie signali-sieren spezifisch vorherrschende Eigenschaften, die dann leicht als eigentliches Regionalisierungsmerkmal missdeutet werden.

Auch die in der interkulturellen Kommunikation üblichen na-tionalen Kulturzuweisungen bedienen sich einer politischen Vorregionalisierung, die dann vereinheitlichend mit kulturel-len Merkmalen aufgefüllt wird. Entsprechend sind auch die Kulturgrenzen, entlang derer verschiedene Ausprägungen benannt und verglichen werden sollen, a priori (fremd)definiert.

In Folge dieser Praxis kommt es zur permanenten Reprodukti-on bestehender Einteilungen, bei der auf Dauer politische Ka-tegorisierungen in kulturelle Kategorisierungen transformiert werden. Begleitet wird die Verwechselungsgefahr von einer Homogenisierung der bezeichneten Einheit nach innen und einer Distanzierung nach außen. Der „Italiener“ oder der „Koreaner“ – so das Implikat – teilt kulturelle Eigenschaften exklusiv mit seinen Landsleuten; spezifisch italienische (oder koreanische) Denk- und Handlungsweisen konzentrieren sich exakt auf das Staatsgebiet (oder auf jene, die dem Staatsge-biet angehören). Damit pressen die etablierten Beschrei-bungstermini kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten in festgelegte Grenzen, während kulturelle Formationen jen-seits dieser Grenzen unberücksichtigt bleiben. Hingegen schwindet mit dem Verzicht auf entsprechende Kultur-Begrenzungen auch die Möglichkeit ihrer Unterscheidung.

Der folgende Beitrag setzt sich mit dieser Kategorisierungs-praxis von Kultur kritisch auseinander, indem die eher theo-riegeleiteten Argumente einer Entgrenzung von Kultur (Kap. 2) der pragmatischen Begrenzungspraxis in der Interkulturel-len Kommunikation gegenüber gestellt werden (Kap. 3). Zwi-schen den scheinbar unvereinbaren Positionen einer Begren-zung und Entgrenzung von Kultur soll schließlich ein selekti-ves Kulturverständnis als konzeptionelle Alternative vorge-stellt werden (Kap. 4 und 5). Dabei ist zu zeigen, dass der er-wähnte Raumbezug kultureller Kategorisierungen nicht nur

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Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur

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die Ursache sondern auch die Lösung des Problems einer kul-turellen Verabsolutierung darstellen kann (Kap. 6).

2. Grenzen und die Verabsolutierung von Kollektivität

Die Gefahr, kulturelle Unterschiede in absolute Grenzen zu setzen, ist bereits im Verständnis des (allgemein gefassten) Kulturbegriffs angelegt. Begreift man Kultur üblicherweise als etwas gemeinschaftlich Geteiltes, als überindividuelle Denk- und Handlungsmuster, so beinhaltet dies eine partielle Gleichheit (oder zumindest Vergleichbarkeit) aller Kollektiv-mitglieder. Es sind kollektiv geteilte Eigenschaften oder „Standardisierungen“ (Hansen 2003), die eine spezifische Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit bestimmen. Diese Zu-ordnung enthält Gewicht, wenn man als weiteres Kennzei-chen von Kultur akzeptiert, dass diese im Verlauf eines länge-ren Enkulturationsprozesses lernend angeeignet wird und da-durch nicht spontan oder beliebig wechselbar ist. Obwohl sich beispielsweise die Sprache, ein bestimmtes Geschmacks-empfinden, der Kommunikationsstil oder eine andere Stan-dardisierung bei Personen grundsätzlich ändern kann, nimmt dies, abhängig von der Internalisierung, doch gewisse Zeit-spannen in Anspruch. Eine solche Stabilität verschafft Kultur Distinktionskraft und festigt die Kollektivzugehörigkeit.

Das Merkmal der (lernend angeeigneten) Kollektivität verdich-tet Kultur zu einer umgrenzbaren Einheit, indem es in räumli-cher Kontingenz gedacht wird. Gleich Punkten auf der Erd-oberfläche, bilden dabei die Kollektivmitglieder ein geschlos-senes Gebiet. Auf diese Weise kommt es zu einer Homogeni-sierung der entsprechenden Region, in welcher scheinbar die gesamte Bevölkerung die gleichen Standardisierungen teilt. Mit dieser Vorstellung sind auch die Voraussetzungen einer übergreifenden Benennung dieser vermeintlichen Einheit ge-geben.

Eine weitere Grenzziehung wird schließlich erreicht, wenn die über einzelne Standardisierungen unterschiedenen Kollektive zu „Kulturen“ verabsolutiert werden. Ein nach spezifischen kulturellen Kriterien („Lebensfreude brasilianischer Einwoh-ner“) oder auch anderen politischen oder administrativen Vorgaben (der „Staat Brasilien“) benannter Rahmen wird in eine kulturelle Ganzheit („die brasilianische Kultur“) umge-deutet. Alle Kollektive, die darüber hinaus existieren und viel-fach staatliche Grenzen überschreiten (z.B. portugiesische Sprache, katholischer Glaube), müssen sich infolge der rah-mengebenden Benennung („brasilianisch“) in diese Passform fügen. Im Ergebnis wird eine kulturelle Entität („Brasilien“) konstruiert, deren Grenzen sich aber auf Grundlage kulturel-ler Einzelmerkmale mehrheitlich nicht belegen lassen (vgl. da-

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Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur

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zu Scheffer 2003). Die vieldiskutierte Weltgliederung Hun-tingtons (1996), der ebenfalls mehrere Einzelkriterien in holis-tische „Civilizations“ umdeutet, steht hierfür ebenso Pate, wie eine Vielzahl älterer Weltgliederungen aus der Disziplin-geschichte der Geographie (im Überblick Böge 1997).

Obwohl die Interkulturelle Kommunikation gerade das Ziel verfolgt, kulturelle Unterschiede zu vermitteln, haftet ausge-rechnet ihr die Problematik verabsolutierender Grenzziehun-gen an. Bekannt ist in diesem Zusammenhang die Kritik von Wolfgang Welsch an dem Konzept der Interkulturalität (Welsch u.a. 1992, 1999). Danach kennzeichnet das interkul-turelle Kulturverständnis ein separatistischer Charakter, der – in Anlehnung an Herders Kugel- oder Inselanalogie – noch immer von der veralteten Vorstellung innerer Homogenität und äußerer Abgrenzbarkeit herrührt. In dem Bestreben, die-se Unterschiedlichkeit durch wechselseitige Bezüge und Ver-gleiche zu vermitteln, perpetuiert das interkulturelle Denken ausgerechnet die unterstellten Kulturgrenzen. Aus der binä-ren Logik des Innen und Außen resultiert laut Welsch eine strukturelle Kommunikationsunfähigkeit, die eine tatsächliche Annäherung der Kulturen verhindert. Dasselbe Problem er-kennt Welsch in dem Konzept der Multikulturalität, da auch hier vom Zusammenleben bereits verschiedener Kulturen ausgegangen wird. Um den grenzüberschreitenden Konturen und der aktuellen Vielfalt der Lebensformen Rechnung zu tragen, tritt Welsch für das Konzept der Transkulturalität ein, das die alten – meist nationenbezogenen – Klassifikations-schemen überwindet: Transkulturalität soll anzeigen, „dass wir uns jenseits der klassischen Kulturverfassung befinden; und dass die neuen Kultur- und Lebensformen durch diese alten Formationen wie selbstverständlich hindurchgehen“ (Welsch 1992:5). Gelöst von den oben beschriebenen kontin-genten Kollektivmustern, ist damit die kulturelle Vielfalt in den neuen Denkformen und Metaphoriken des Gewebes, der Verflechtung oder der Vernetzung zu begreifen (vgl. Welsch 1992:18).

In ähnlicher Weise bestrebt, einerseits den dynamischen Glo-balisierungsprozessen in ihren komplexen Auswirkungen auf Kultur zu entsprechen sowie andererseits die problematischen Homogenisierungs- und Distinktionsmechanismen überkom-mener Kulturmodelle aufzubrechen, sind in den vergangenen Jahren diverse Konzeptalternativen entstanden (im Überblick Jackson / Crang / Dwyer 2003, Mitchell 2003). Sie kommen in den unterschiedlichen Terminologien der Hybridität, Mélange, Créole, Flüsse oder Netzwerke zum Ausdruck. Unabhängig von ihrer jeweiligen Akzentuierung ist ihnen eine klare Dis-tanz zum starren, raum- und nationenbezogenen Kultures-

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Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur

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senzialismus und der Idee der kulturellen Territorialisierung gemeinsam.

Während dabei stets der Gefahr einer Verabsolutierung von Kultur begegnet wird, ist jedoch als Kehrseite der Verlust der eingangs genannten kollektiven Unterscheidungsmöglichkei-ten zu beklagen. Denn wahrgenommene Kulturunterschiede können ohne Grenzen weder verortet noch räumlich katego-risiert werden. Streng genommen verliert dann auch eine raumbezogene Terminologie („Brasilien“, „China“, „Bayern“) für Kultur an Plausibilität. Dass selbst die schärfsten Kritiker kulturräumlicher Kategorisierungen in ihren Beiträgen auf eben jene zurückgreifen, zeigt überdeutlich, wie stark diese Kategorisierungen in unseren Sprach- und Denkmustern ver-wurzelt sind. Ihre Dekonstruktion untergräbt nicht nur kul-turbezogene Differenzierungen im Alltag, sondern gefährdet letztlich auch die Fähigkeit zur sprachlichen Verständigung.

3. Grenzen und ihre Mängel im interkulturellen Ver-

gleich

Im Gegensatz zu den Dekonstruktions- und Entgrenzungsbe-strebungen vieler Kulturtheoretiker, orientieren sich die An-sätze aus der interkulturellen Praxis weiterhin an territoriali-sierbaren Kulturunterschieden. Die globalisierungsbedingte Annäherung der Kulturen wird hier weniger als grenzüber-schreitender Vermischungsprozess antizipiert, sondern viel-mehr als Vermittlungsaufgabe: Globalisierung macht kulturel-le Fremdheit erst spürbar und löst sie nicht auf. In den vielen Feldern der interkulturellen Kommunikation gilt es diese Fremdheit in ihrer relativen Unterschiedlichkeit zu erfassen. So interessieren sich Marketingexperten bei der Erschließung neuer Absatzmärkte für die dort geltenden Farbsymboliken, sprachliche Konnotationen oder das spezifische Humorver-ständnis, während sich im Ausland tätige Manager mit den kulturspezifischen Do’s und Don’ts bei Geschäftskontakten vertraut machen oder Designer die besonderen Geschmacks-vorlieben der ausländischen Zielgruppen ins Visier nehmen. Die jeweils zu analysierenden „Kulturen“ sind dafür vorab klar umrissen. Sie folgen in der Regel nationalen Grenzen, die eine einfache Orientierung bieten. Der Adressat kann nach Maßgabe seiner Interessen jedem Ort bestimmte Standardi-sierungen zuordnen. In seinem kulturellen Homogenitätsan-spruch ist er dabei ungleich toleranter als die genannten Kri-tiker kulturräumlicher Kategorisierungen, da ihm bereits Hin-weise auf vorherrschende Kulturmerkmale weiter helfen. Dass einzelne Personen oder Gruppen von der vorgenommenen Generalisierung abweichen, ist für eine auf die Mehrheit der potentiellen Konsumenten ausgerichtete Markterschließung

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oder für die Berücksichtigung gesellschaftlich akzeptierter Handlungsweisen unerheblich. Jede Kategorisierung erfolgt zweckspezifisch und i.d.R. nicht nach Maßgabe einer adäqua-ten Repräsentation der Minderheiten.

Die ständig wachsende Nachfrage an „Kulturinformationen“ in der Praxis korrespondiert mit einer kulturvergleichenden Methodologie, die ebenso kulturräumliche Kategorisierungen mit klaren Grenzen voraussetzt. Dies lässt sich für die zwei grundlegenden Vergleichsperspektiven, die etische, kultur-übergreifende ebenso wie die emische, kulturangepasste Per-spektive, zeigen (vgl. dazu Berry 1980, Helfrich 1999).

Der etische Ansatz sucht für Kulturen einheitliche Ver-gleichsmaßstäbe anzuwenden, die universell gültig sind. Da-für müssen die Kulturmerkmale kulturübergreifend ausge-prägt und dem Forscher ex-ante bekannt sein. Vorab be-stimmt der Forscher dabei Kollektivität nicht nur sachlich, sondern auch räumlich. Standardisierungen werden in ein vorgegebenes (staatliches) Raster gezwängt und erst in dieser Einteilung mit Hilfe quantitativer Erhebungstechniken ermit-telt und verglichen. Die in Indexwerten erfassten Standardisie-rungen stehen im Ergebnis meist für nationale Kulturunter-schiede, deren Grenzen selbst dann nicht hinterfragt werden, wenn die Indexwerte pro Land gleich ausfallen. So beschei-nigt beispielsweise Geert Hofstede in seinen Studien den Staaten Indonesien und Indien eine ähnliche Ausprägung in der Kulturdimension „Machtdistanz“ und Deutschland und Großbritannien die Übereinstimmung in der Dimension „Maskuliniät/Feminität“ (Hofstede 2001:500). Wenn es dar-um geht, die kulturelle Vielfalt der Erde in adäquaten räumli-chen Termini zu strukturieren, greift Hofstedes Praxis der na-tionalen Vorregionalisierung offensichtlich zu kurz, da sich die gewählten Einheiten über die gewählten Kulturdimensionen kulturell nicht begründen lassen. Hofstede und andere Vertre-ter einer etisch-quantitativen Kulturvergleichsforschung neh-men lediglich eine (partielle) Kulturerfassung für jede einzelne Nation vor (etwa die Standardisierung Machtdistanz in Groß-britannien), nicht jedoch eine Erfassung von Kollektivität (et-wa das Kollektiv mit einer bestimmten Machtdistanz).

Demgegenüber begründen der leichte Zugriff auf etablierte Vergleichseinheiten und statistisch-pragmatische Aspekte die nationenspezifische Vereinheitlichung der Stichproben. Ent-sprechend räumt beispielsweise Triandis für die empirische Arbeit der kulturvergleichenden Psychologie ein,

“[that] cultures and societies are enormously heterogeneous. This is espe-cially the case when large national entities are mentioned as substitutes for culture. Strictly speaking, nations and cultures are very different concepts, but it is convenient to use the nation label to describe a sample if the data have been collected in one place and there is no adequate other informa-tion about the sample.” (Triandis 1984:8)

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Dass faktisch die meisten Kulturvergleiche in nationalen Be-zügen vorgenommen werden, verdeutlicht den Nutzen dieser Generalisierungspraxis auch unabhängig von der Datenver-fügbarkeit. Sie wird freilich mit einem erheblichen Informati-onsverlust erkauft, der sich bei der Erforschung von Gemein-samkeiten und Unterschieden jenseits der Staatsgrenzen deutlich abzeichnet (vgl. dazu Hermans / Kempen 1998, Straub 2003, Smith 2004).

Obwohl die emische gegenüber der etischen Perspektive nicht auf eine universale Vergleichbarkeit kultureller Eintei-lungen ausgerichtet ist, kommt auch sie nicht ohne eine ex-ante vorgenommene Grenzziehung aus: Der emische Ansatz forscht innerhalb eines kulturellen Kontextes nach Aspekten, die für dessen Struktur oder Funktion Bedeutung haben. Weil diese Aspekte nur von innen heraus verstanden und spezi-fisch erfasst werden können, ist ein vergleichender Bezug zu allen anderen Kulturen auf der Welt per se nicht gegeben. Kultur erschließt sich vielmehr über eine relative Differenz, die sich über die Sammlung kritischer Interaktionssituationen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen zu einzel-nen Kulturstandards schrittweise verdichten lässt (vgl. Thomas 2003). Weil jedoch auch hierbei vorab feststeht, welche Kul-turen in ihrer Unterschiedlichkeit kontrastiert werden, ist er-neut eine räumliche Prädestination mit nationalen Konturen im Spiel. Bedingte die universale Vergleichbarkeit der Kultur-dimensionen bei Hofstede eine inhaltliche Einengung von Kultur, ist es bei der emischen Vergleichspraxis gerade die Voraussetzung einer nationalen Unterschiedlichkeit, die po-tenzielle Kulturstandards reglementiert. Der in der Praxis als Nationenvergleich konzipierte Kulturvergleich kann aus-schließlich die Kulturstandards aufdecken, die zwei Länder in ihrer Gegensätzlichkeit prägen. Folglich entgehen auch der emischen Perspektive kleinräumige, grenzüberschreitende und überregionale Ausprägungen, so wie es zuvor bereits für die etische Perspektive moniert wurde. Es wird nicht der Exis-tenz oder der räumlichen Formation von Kollektiven empi-risch nachgegangen, sondern lediglich der kulturellen Eigen-heit einer vorab bestimmten Bevölkerung.

Zusammenfassend lässt sich für die kulturvergleichende For-schung ein Rückgriff auf räumliche Grenzen und Einheiten konstatieren, der sich forschungslogisch aus der notwendigen Festlegung des kulturellen Vergleichsgegenstandes begrün-det. Damit trägt sie jedoch ungewollt zu der erwähnten Ver-wechselung von kulturellen und nationalen Grenzen bei. Mit der räumlich identischen Platzierung von einzelnen Standardi-sierungen in immer denselben (ursprünglich nationalen) Grenzen wird auf Dauer eine problematische Festigung nati-onal-kulturräumlicher Einheiten im oben kritisierten Sinne er-

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reicht. Mag man dies und die damit einher gehenden Gefah-ren (u.a. Überhöhung nationaler Unterschiede, Stereo-typisierung) noch in Kauf nehmen, sind es vor allem die einer starren Generalisierung geschuldeten Erkenntnisdefizite, die gegen den schematisierten Einsatz nationenbezogener Ver-gleichskonzepte in der interkulturellen Praxis sprechen.

4. Zum Verständnis selektiver Kulturräume

Mit den diversen interkulturellen Tätigkeitsfeldern sind spezi-fische Anliegen verbunden, die sich auf unterschiedliche As-pekte einer Fremdkultur beziehen. Wurde oben bereits für das interkulturelle Marketing und Management beispielhaft auf die jeweilige Relevanz einzelner Standardisierungen ver-wiesen (Humor, Sprache, Geschmack), so zeigt sich darin ein gerichtetes, selektives Interesse, das von einer ganzheitlichen Kulturbetrachtung wegführt. Interkulturelle Fragestellungen gehen von Akteuren oder Akteursgruppen aus, die in Abhän-gigkeit von den Tätigkeitsfeldern und Aufgabenbereichen jeweils vollkommen unterschiedliche Ansprüche an die Aus-wahl der Standardisierungen stellen.

Angesichts der Vielfalt potenziell relevanter Standardisierun-gen ist keineswegs davon auszugehen, dass all diese Stan-dardisierungen die gleichen Bevölkerungsteile kennzeichnen. Die über eine gemeinsame Sprache definierten Kollektive müssen nicht kongruent mit jenen sein, die sich über einen spezifischen Geschmacks- oder ein Humorverständnis eintei-len lassen. Folglich erscheint es wenig sinnvoll, vorab benann-te Gemeinschaften („die Franzosen“), vorgegebene Räume oder räumliche Semantiken („Frankreich“) für Kulturverglei-che heranzuziehen. Die eingangs kritisierte Verabsolutierung von kulturellen Einzelmerkmalen zu kulturellen Einheiten um-kehrend, gilt es vielmehr die jeweils variierende Verbreitung kultureller Spezifika in den Blick zu nehmen. Diese Spezifika sind ausschließlich an den interkulturellen Interessen einzelner Akteure zu orientieren. Entsprechend kann es nicht die objek-tive und allgemein gültige Repräsentation von Kultur geben, sondern lediglich verschiedene, interessensabhängige Reprä-sentationen. Zielsetzung eines selektiven Kulturraumkonzep-tes ist es, solche Repräsentationen in räumlicher Perspektive zu erfassen (vgl. Scheffer 2007).

Bislang wurde die traditionelle Verknüpfung von Kultur und Raum insbesondere darin kritisiert, dass stets vorgegebene Grenzen (und seien sie nur semantischer Art) zum Einsatz kamen, die die kulturellen Gegebenheiten in immer dieselben räumlichen Einteilungsmuster fügten. Da aber Räume und Grenzen die kulturellen Gegebenheiten keineswegs festlegen, gilt es die Raumzentrierung kultureller Kategorisierungen auf-

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zugeben. An ihre Stelle tritt die interessenabhängige Erfas-sung einzelner Standardisierungen. Im Rückgriff auf die ter-minologische Vielfalt erdräumlicher Kennzeichnungen wer-den so variable Repräsentationen möglich, die den kulturellen Gegebenheiten und Forschungsfragen spezifisch Rechnung tragen können. Indem Kultur von politischen, administrativen oder naturräumlichen Fixierungen befreit wird, kann sie als eigentliches Regionalisierungskriterium in den Mittelpunkt rücken.

Die Logik eines räumlichen Kulturdenkens dreht sich damit um: Statt vorregionalisierte Kulturen in ihren Merkmalen zu betrachten, ist nach der räumlichen Verbreitung dieser Merkmale selbst zu fragen. Statt die nationale Ausprägung einer bestimmten Standardisierung (wie etwa Machtdistanz) zu fokussieren, zählt das Interesse der geographischen Vertei-lung dieser Ausprägung. Grenzen orientieren sich somit an Kollektivität und nicht umgekehrt. Die Kriterien für Kollektivi-tät gehen allein von den spezifisch thematischen und den spezifisch regionalen Interessen der Akteure aus.

In dieser skizzierten Grundperspektive eines selektiven Kultur-konzeptes lassen sich nun die aufgeworfenen Kritikpunkte in Theorie und Praxis neu diskutieren:

• Homogenisierung und Verabsolutierung von Kultur

In der Gegenwart ist die Evidenz von kulturellen Mischungen

unbestreitbar, wenngleich sich die globalisierungsbedingten Auswirkungen auf Kultur in regionaler und substantieller Hin-sicht stark unterscheiden. Noch immer verweist die regionale Erfahrung spezifischer Standardisierungen auf die Existenz räumlich benachbarter Bevölkerungen mit einer bestimmten kulturellen Prägung (vgl. dazu auch Moosmüller 1997). Eine pauschale Verkennung dieser Unterschiede, wie sie wieder-holt unter Betonung der globalen Kontaktmöglichkeiten vor-getragen wird, müsste das große wissenschaftliche wie auch praxisbezogene Interesse an kulturellen Unterschieden negie-ren und der Disziplin der Interkulturellen Kommunikation in weiten Bereichen den Forschungsgegenstand absprechen. Vielmehr stellt sich angesichts der Komplexität kultureller Un-terschiede die Frage, in welchem Kontext Unterscheidungen, die stets mit einer Vereinheitlichung des Bezeichneten ein-hergehen, angemessen sind. Dies kann freilich nicht generali-sierend festgestellt, sondern nur in Abhängigkeit eines jeweils bestehenden Interesses beurteilt werden. Mit der Aufgliede-rung und Perspektivengebundenheit der Standardisierungen begegnet ein selektives Kulturverständnisses der Gefahr frü-herer Verabsolutierungen. Es relativiert die Bedeutung der jeweiligen Repräsentation im Anbetracht ihrer vielfältigen Al-ternativen. Kontextgebunden wird es jeweils möglich, eine

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Bestimmung, Abgrenzung und Generalisierung von Kultur nachvollziehbar zu gestalten und ihre zeitliche und räumliche Dynamik abzuschätzen.

• Binäre Logik von Ein- und Ausschluss

Da Kulturträger verschiedene Standardisierungen teilen, sind sie verschiedenen Kollektiven von unterschiedlicher Größe und in unterschiedlicher räumlicher Kontingenz zurechenbar. So impliziert das Konzept einer selektiven Kulturregionalisie-rung eine globale kulturelle Zusammengehörigkeit in mannig-fachen, jeweils unterschiedlichen Standardisierungen bei gleichzeitiger Differenz in anderen Merkmalen. Die Zugehö-rigkeit oder Nichtzugehörigkeit ist selektiv und führt in Ab-hängigkeit vom jeweiligen Kriterium zu jeweils unterschiedli-chen Formationen. Damit erhält die von Kritikern wie Welsch geforderte Überwindung eines Denkens von Ein- und Ein-schluss eine Option, die mit der begrenzenden, interkulturel-len Vergleichspraxis kompatibel ist.

• Fehlende räumliche und sachliche Spezifikation in der Vergleichspraxis

Als methodologisches Manko der etischen und emischen Vergleichskonzepte ist neben der räumlichen Prädestination der Vergleichseinheit wiederholt die inhaltlich-sachlichen Ver-allgemeinerungen kritisiert worden. Am Beispiel der Arbeit Hofstedes lässt sich stellvertretend die Frage aufwerfen, ob Untersuchungsergebnisse etwa aus einem multinationalen Computerkonzern auch außerhalb des untersuchten Unter-nehmens hinreichende Gültigkeit besitzen und „Kultur“ adä-quat repräsentieren kann (vgl. z.B. Layes 2003, Hansen 2003). Die übliche Forschungsorientierung an nationalen Grenzen verleiht der Frage nach einer angemessenen Reprä-sentation weiteres Gewicht, da die kontextabhängigen For-schungsergebnisse nun auf die Lebensbereiche eines Landes ausgedehnt werden. Solange der umfassende Anspruch be-steht, Kulturen über Kulturdimensionen oder Kulturstandards allgemein und dauerhaft zu repräsentieren, werden diese Einwände Berechtigung haben. Beschränkt sich der Anspruch hingegen auf einen spezifischen Bereich (z.B. einen Compu-terkonzern), für den die erhobenen Kulturmerkmale aus-schließlich ihre Gültigkeit beanspruchen, dann kann diese Kri-tik nicht verfangen. Das Konzept einer selektiven Kulturregio-nalisierung reduziert in diesem Sinne seinen Geltungsan-spruch von vorneherein. Im Kontext sachlicher und beliebig formulierbarer räumlicher Interessen wird deutlich, nach wes-sen und welcher Maßgabe Standardisierungen betrachtet werden. Selektive Kulturräume sind somit Produkte von kon-textgebundenen Differenzierungen, die sich jedoch in dieser Relationierung empirisch nachvollziehbar gestalten lassen.

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5. Anwendungsbereiche und Potenziale selektiver Kul-

turräume

Die einzelnen sachlichen und räumlichen Interessen, die den Blick auf Kultur vorgeben, können als spezifischer kultur-räumlicher Kontext bezeichnet werden. Er beschreibt den je-weils gültigen individuellen Anforderungskatalog einer Regi-onalisierung. Er trifft naturgemäß auf vollkommen unter-schiedliche kulturelle Gegebenheiten, die Differenzierungen erleichtern oder erschweren können.

In dem Versuch, die Regionalisierungsbedingungen für ver-schiedene Anforderungen zu schematisieren, werden zwei Hauptkriterien angesetzt (vgl. Abb. 1): Zum einen gilt es zu berücksichtigen, wie komplex und heterogen sich der spezifi-sche kulturräumliche Kontext ausnimmt. Fremdkulturell stark beeinflusste Kontexte werden eine Differenzierung von Stan-dardisierungen erschweren und häufig unmöglich machen, relativ einheitliche Kontexte hingegen erleichtern. Zum ande-ren ist für eine Differenzierung bedeutsam, auf welche Raum-dimension mit welcher Anzahl von Kulturträgern das Akteurs-interesse abstellt. Nicht alle kleinräumigen Kontexte mit we-nigen Kulturträgern sind ungeachtet ihrer Differenzierbarkeit für eine Regionalisierung auch sinnvoll. Beide Kriterien lassen sich in ihren extremen Ausprägungen kombinieren und in Hinblick auf eine räumliche Differenzierbarkeit abschätzen.

Regionalisierung von Unterschieden nur nach „außen“ möglich; nach „innen“ Suche von Gemeinsamkeiten (Standardisierungen C).

kleinräumige Erfassung, nur wenige Personen von der Regionali-sierungbetroffen

geringe Komplexi-tät, geringe Ver-

mischung der relevanten

Eigenschaften

A

C

B

Regionalisierung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten nach „innen“ und „außen“möglich (Standardi-

sierungen A-C).

hohe Komplexi-tät, starke Ver-mischung der

relevanten Eigenschaften

großräumige Erfassung, größere Personenzahl von der Re-gionalisierungbetroffen

Abb. 1. Kriterien und Möglichkeiten einer selektiven Kulturregionalisie-rung

Auf der linken Seite des Schemas ist die Kombination von ei-ner großräumigen, stark generalisierenden Erfassung und ei-ner geringen Komplexität der kulturellen Gegebenheiten

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wiedergegeben. Sie begünstigt eine selektive Kulturregionali-sierung. Konzentrierte Standardisierungen können dabei häu-fig sowohl nach „innen“ als Unterschiede in einem Untersu-chungsgebiet wie auch nach „außen“ als Gemeinsamkeiten gegenüber einem abweichend geprägten Umfeld unterschie-den werden. Als interkulturelles Forschungsziel bietet sich die Erfassung von spezifisch relevanten Gemeinsamkeiten und Unterschieden in sog. ausländischen, vermeintlich fremdkul-turellen Regionen an, die etwa für das Nachfrageverhalten, den Umgang mit Behörden, die Bedienung von lokalen Märk-ten, die Kundenkontakte oder generell die konfliktfreie Kommunikation Bedeutung tragen. Während erkannte Ge-meinsamkeiten das Verständnis mit den Interaktionspartnern grundlegend erleichtern, halten die erkannten Differenzen zu einem kultursensiblen Handeln und einer Verständnis för-dernden Vermittlung an. Einen zusätzlichen Aufschluss geben räumliche Kulturunterschiede, wenn es gelingt, ihren Erklä-rungsgehalt für bestimmte Fragestellungen einzubringen. Disziplinübergreifend wird die Forschung in jüngster Zeit ver-stärkt auf kulturelle Parameter als Explanans für regionale (Wirtschafts-)Entwicklung aufmerksam (vgl. z.B. Landes 1999, Harrison / Huntington 2002, Faschingeder 2004). Eine Erfor-schung räumlicher Korrelationen bestimmter Denk- und Handlungsmuster mit ökonomischen oder auch sozialen Vari-ablen kann u.a. regionalwirtschaftlichen und entwicklungs-politischen Fragestellungen zu neuen kulturbezogenen Er-klärungszusammenhängen verhelfen. Gelingt es, die spezi-fische Wirksamkeit regional vorherrschender Standardisierun-gen aufzudecken, so lassen sich endogene Stärken stra-tegisch nutzen und relative Schwächen besser bewältigen.

Auf der rechten Seite des Schemas sind thematische Akteurs-interessen wiedergegeben, die sich auf einen heterogenen und kleinräumigen Forschungskontext mit einer geringen An-zahl von Personen beziehen. Die Seite beschreibt interkultu-relle Interaktionssituationen, wie sie etwa im innerbetriebli-chen Miteinander von größeren Unternehmen, in multikultu-rellen Teams global tätiger Organisationen oder in internatio-nal zusammengesetzten Forschergruppen auftreten. Eine räumliche Erfassung bestehender Unterschiede nach „innen“ ist in diesem Kontext wenig hilfreich. Es besteht aber weiter-hin die Möglichkeit, im Sinne des selektiven Kulturverständ-nisses Gemeinsamkeiten zu eruieren, um eine Unterschei-dung nach „außen“, gegenüber einem selektiv unterscheid-baren „Anderem“ vorzunehmen. Erkannte Gemeinsamkeiten können hier trotz aller vordergründigen Unterschiedlichkeit der Betroffenen eine einigende Klammer schaffen. Sie erleich-tern mitunter die Verständigung und bieten Anknüpfungs-punkte für ein kollektives Bewusstsein und eine gemeinsame Identität.

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In das weite Feld zwischen den beschriebenen Polen „Groß- und Kleinräumigkeit“ sowie „hohe und geringe Komplexität“ lassen sich diverse interkulturelle Forschungsfragen einhän-gen, die sich über räumliche Differenzierungen von Kultur viel versprechend angehen lassen. Im Verständnis des Konzeptes kann Kultur als charakteristisches Merkmal von Regionen ein-gesetzt oder als Merkmal bestehender Regionen hinterfragt werden. Aufschlüsse über die Wirkung bestimmter Standardi-sierungen machen es aussichtsreich, nach der regionalen Ver-teilung und Häufung solcher Merkmale gezielt zu forschen und ihre Grenzen auszuloten, während auf umgekehrtem Wege die Bevölkerungen ausgewählter Räume nach beliebi-gen Kriterien analysiert werden können. Auch die unter-schiedliche Wirksamkeit der Globalisierung lässt sich über einzelne Standardisierungen und nach individuellen Homoge-nitätskriterien differenziert betrachten. Zugleich lassen sich jene Einflussfaktoren, ob physischer oder anthropogener Art, regionsspezifisch reflektieren, die einer Uniformierung trot-zen.

In allen Fällen ist entscheidend, dass erst über die variierbaren Raumbezüge die Voraussetzungen erbracht werden, Denk- und Handlungsweisen aus der traditionellen Verzahnung mit fixen Kultur-Raum-Einheiten herauszulösen. Erst jetzt können sie vollkommen variabel auf unterschiedlichste regionale und sachliche Forschungsanliegen übertragen werden.

6. Fazit: Entgrenzung durch neue Grenzen

Eine Entgrenzung von Kultur ist nur unter Verzicht auf kollek-tiven Unterscheidungen zu erreichen. Diese - nicht zuletzt für die interkulturelle Praxis problematische - Konsequenz ergibt sich allerdings nur dann, wenn kulturelle Unterschiede auf holistische Ganzheiten bezogen werden und die Berücksichti-gung von Einzelmerkmalen ausbleibt. Transkulturelle, hybride oder homogenisierte Kulturphänomene allein geben wenig Anlass, die Idee räumlich differenzierbarer Kulturunterschiede konzeptionell zu verwerfen, solange regionale Unterschiede in einzelnen Standardisierungen fortbestehen und die Krite-rien für diese Unterschiede an den Adressaten ihrer Erfassung Maß nehmen. Diese Adressaten können aus den Feldern der interkulturellen Wirtsschaftskommunikation ebenso stam-men, wie aus der interkulturellen Bildungsarbeit, der Mediati-on, angewandten Entwicklungsarbeit oder der kulturwissen-schaftlichen Grundlagenforschung. Mit den diversen Anwen-dungsmöglichkeiten gehen stets unterschiedliche Kulturregio-nalisierungen einher, welche die Grenzen traditioneller Kul-turzuweisungen jeweils aufbrechen, präzisieren oder auch in groben Zügen bestätigen können. Als transnationale oder

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transregionale Formationen stellen sie den üblichen Raum- und Begriffsbildern alternative Kulturrepräsentationen entge-gen, statt sie immer wieder zu bestätigen. Damit Kollektive über Standardisierungen nach den verschiedenen Ansprüchen differenziert werden können, sind neue und ungewohnte Raum- und Sachbegriffe zur Kulturerfassung einzubringen. Während in räumlicher Hinsicht das Gesamtinventar geogra-phischer Positionsbestimmungen offen steht, geht es in sach-licher Hinsicht um die Aufnahme teils neuer originärer Cha-rakterisierungen.

Auf diese Weise vervielfältigen sich auch jene kulturbezoge-nen Grenzziehungen, die allen (emischen oder etischen) Un-terscheidungsmethodiken zugrunde liegen. So bleibt die bi-näre Ordnungslogik bestehen, um sich zugleich aber stets im Zeichen ihrer Pluralisierung zu relativieren.

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Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul

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Abstract

This article revisits traditional definitions of culture to estab-lish a sound criticism of existing coherence-based approaches. By expanding the one-dimensional concept of culture to a four-field-matrix, a likewise contemporary and practical con-cept of culture is formulated which is also likely to supply rea-sonable answers to disputed questions regarding the forma-tion of cohesion in society. It is finally argued that the preva-lent diagnosis of multicollectivity should be expanded to a desideratum of radical multicollectivity, the goal of providing increasing individual access to ever more collectives, leading to an increase in both social stability and developmental dy-namics.

1. The paradigm of coherence in the traditional con-

cept of culture: that which unifies

Our everyday understanding of culture is characterized by an

expectation of uniformity.

The most common understanding of culture is one that imag-ines a high level of internal uniformity within a social system. Previously, this concept was limited to contexts of ethnicity or nationality (e.g. "Italians dress smartly"), while today com-mon characteristics are often ascribed to quite different social systems of various sizes (e.g."the liberal values of the Chris-tian-European West," "Our customer-oriented corporate cul-ture," "The cooperative leadership culture among women"). These formulations share a similar understanding of culture as an expression of coherence. The contradictory nature of these assertions becomes clear when we, for example, meet a sloppy Italian, when it occurs to us that the local janitor with dictatorial tendencies is indeed a European, when we reflect on the immense complexity of international companies, or even on our authoritarian class teacher who was far from co-operative and yet a woman, but this does not prevent us from continuing to seek that which unifies these groups.

The idea of cultural coherence has a long tradition. Herder imagined cultures based upon a unifying principle he called the Volksseele ("spirit of the people"), leading to comprehen-sive social homogeneity. The works of respected ethnologists from the first half of the 20th century continued this notion of uniformity, which led them to define culture in terms of "internal coherence" (Kluckhohn 1949:35) or as a "consis-tent pattern of thought and action" (Benedict 1934:42) within human groups. Even under later thinkers, culture is described as the "collective programming of the mind" (Hofstede 1984:13) or as a "universal organization and typi-

The Definition of

Culture:

An application-oriented

overhaul

Prof. Dr. Stefanie Rathje

Professur für Unternehmensfüh-rung und Kommunikation, Hochschule für Technik und Wirt-schaft Berlin

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Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul

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cal orientation system for a given society" (Thomas 2003: 138). These so-called cultural standards appeared to provide a consistent description of structured general principles. Co-herence as a sign of culture even drives certain managers within large corporate organizations as they attempt to stan-dardize their corporate culture in the name of competitive advantage (cf. Peter / Waterman 1982) through the estab-lishment of certain shared assumptions, values and artefacts (Schein 1995:30).

The concept of cultural uniformity has already been persua-

sively criticized within various scientific disciplines

In the field of sociology, Max Weber describes the fragmenta-tion of social units due to internal functional specialization into a variety of "of ultimate positions toward the world" (Weber 1922/1980:499, translation by author). Cultural transfer research in the fields of linguistics and history has illuminated "various penetration and adoption processes" between national cultures (Espagne / Greiling 1996:13) and reveals national territories to be "artificial things whose own identity is legitimized not only through the foreignness evi-dent between the categories of 'at home' and 'abroad,' but also through the appropriation of particular aspects of that very foreign thing" (Espagne / Greiling 1996:10). The post-modern philosophers also recognize a radical plurality of gen-eral cultural principles and lifestyles within contemporary so-cieties (Lyotard 1986, Welsch 1991).

Subsequently, the bearers of culture to which the concept of cultural uniformity was usually attached have been disman-tled or "deconstructed." This is especially clear in the nar-rower field of postcolonial studies in which cultural phenom-ena exist as the results of complex historical processes (Bhabha 1997:182) and the vehicle of civilization known as the "nation" is revealed to be a purely discursive construct (cf. Bhabha 1990). In the organizational sciences the concept of uniform business cultures is exposed as little more than the wishful thinking of managers seeking simplicity in a compli-cated and even contradictory corporate environment (Martin 1992). Even the assumed bastions of cultural consistency such as the division of human beings into two discrete gen-der groups with certain "cultural" signs has been called into question as a social construct by feminist research (Butler 2003).

To be able to examine cultural phenomena in an environment lacking uniformity, therefore, dynamic and highly-flexible concepts must be employed. Bhabha, for example, describes such a process in the communicative negotiation that takes place within cultures in defiance of internal uniformity as "hybridization" (Bhabha 1997:182ff.). Welsch likewise comes

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to the conclusion that cultures are "internally characterized by the pluralization of possible identities" and externally show "contours that transcend traditional borders." (Welsch 1995:42, translation by author) As a result, Welsch offers a new perspective beyond existing limitations of cultural com-position in his formulation of "transculturality."

2. The Stubbornness of the Coherence Paradigm - The

lure of simplicity

"Today [the] assumptions of the traditional concept of culture

have become untenable." (Welsch 1995:39, translation by

author)

Although contemporary scientists - even in unrelated disci-plines - would agree with the above statement, the coher-ence paradigm of the traditional definition of culture remains stubbornly in place. Besides the obvious fact that simple structures are easier to grasp than complex or even contradic-tory ones, two further reasons for the remarkable ‘stickiness’ of the coherence concept must be considered:

Cultural uniformity is politically expedient.

This assertion is nicely illustrated by two opposing concepts found in contemporary political discourse today, both being rooted in cultural models based on coherence.

The concept of Leitkultur, introduced by the political scientist Bassam Tibi (2002), describes the desideratum of a consensus in social values, that is, a homogeneity of shared values within a society. The term "German Leitkultur," for example, has been employed by conservative politicians in Germany in the context of the immigration debate to elicit feelings of a disappearing common national tradition and a longing for a presumably more pristine and homogeneous world.

The multicultural approach, however, frequently associated with the Canadian philosopher Charles Taylor (1993), is aimed at the protection and the recognition of cultural differ-ences by the state. This approach would, at first glance, ap-pear to stand in clear opposition to demands of cultural uni-formity and the notion of a Leitkultur. The connotations of exoticism and the implicit fascination with the foreign along with the strengthening of the rights of suppressed or margin-alized groups have likewise become politically attractive espe-cially on the political left. Few have made the observation, however, that multiculturalism is essentially a kind of "Leit-

kultur in sheep's clothing." Taylor's understanding of culture is anchored in the same traditional coherence paradigm, pre-ferring "substantive agreement on value" and "sufficient in-

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tellectual homogeneity" (Taylor 1991:52) while reducing so-cial differences to the level of ethnic groups. Individuals are therefore always the "bearers of one and only one perspec-tive" (Reckwitz 2001:183). They are unable to deny their membership in a discrete group, and they are forced to per-petuate this group's identity for the purposes of cultural preservation. "As an official codification of identities and tra-ditions," multiculturalism demands, "not the preservation of negotiated forms of mutual recognition" but instead prevents the "debate between cultural groups regarding accepted or appropriate interpretations" (Bienfait 2006:38, translation by author).

In the political context, the implementation of either a Leit-

kultur or multiculturalism approach – both of which are obvi-ously built upon a foundation of culture as coherence – is an easy one indeed. On the one hand, both can be implemented in policy without difficulty while both eliminate the need for potentially difficult discussions with external (i.e. "foreign" or "incompatible") elements.

Existing criticism of the coherence approach to culture is in-

adequate.

Another reason for the continued existence of the cultural coherence paradigm can be found in the very criticism of co-herence itself. As mentioned above, much of the resistance to coherence as a viable approach to understanding culture rests upon the work of deconstructionists:

“Unlike those forms of critique which aim to supplant inadequate concepts with, 'truer' ones, [...] the deconstructive approach puts key concepts‚ un-der of 'erasure' [...] But since they have been superseded dialectically, and there are no other, entirely different concepts with which to replace them, there is nothing to do but to continue to think with them.” (Hall 1996:1)

The existing criticism of the coherence approach has convin-cingly revealed the obsolescence of older definitions of cul-ture and, at the same time, that of the associated political structures they support. However, the deconstructionists rarely offer positive alternative models from which social de-siderata might then be derived.

To the critics themselves, this lack is also frequently evident. Reactions such as that of Spivak’s Strategic Essentialism ap-proach (Spivak 1993:3) betray an awareness of the inade-quacy of their intellectual tools, while allowing them to be employed to offer discriminated groups a purely pragmatic means to empowerment. Spivak permits, therefore, the use of deconstructed approaches under certain political circum-stances. In the long term, of course, such a model will remain ineffective because it describes no mechanisms for social de-velopment.

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Another attempted solution to the coherence dilemma can be found in the supporters of hybrid or transcultural ap-proaches. These perspectives recognize the quite plausible characterization of culture as a heterogeneous and dynamic product of communication. Rather than attributing this dy-namic to the myriad influences that cultures exercise upon one another or through their mutual contact generally, pro-ponents of the hybrid or transcultural approaches imagine idealized social and political phenomena: individuals should recognize that since cultures do indeed flow into and perme-ate one another, people should likewise be more tolerant and open (cf. Mae 2001 on Japanese society). In principle this po-sition cannot be disputed. However, the illogical linking of a plausible diagnosis to (perhaps well-intentioned) social desid-erata, it will be shown, ignores the familiar processes of hu-man group formation while offering in its place little more than political pandering.

The goal of this article, therefore, will be the establishment of a sounder criticism of coherence-based approaches and, linked to this criticism, the formulation of a likewise contem-porary and practical concept of culture which is also likely to supply reasonable answers to the questions regarding the formation of cohesion in society.

3. Differentiation of the Cultural - A Practical Analysis

Matrix

A single definition for the concept of culture is insufficient.

The heated debates around "Leitkultur" and "multicultural-ism" reveal the following: the concept of culture is charged with connotations both of belonging and of disenfranchise-ment, of inclusion and of overreaching (cf. Huntington 2006). When excessively politicized, the term exaggerates each sim-ple folkloric characteristic into either elite criticism or a threat of impending loss. The tiny word "culture" bears extreme burdens of social order as well as delusions of every kind, so that it is hardly adequate any more for use in reasonable dis-cussions. As a countermeasure, one could try to reduce the concept of "culture" again simply to the barest traditions of discrete groups, but the masking of the social power struc-ture components that are always present in cultural practices would then lead to a purely descriptive understanding of cul-ture that likewise would offer no clues for political action.

If culture as a single concept is pitched either too far or too narrowly, it becomes unsuitable for social debate. Therefore, in the following description, broader conceptual categories will necessarily be juxtaposed with the word "culture" in an

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effort to formulate a more practical approach to the term. The inclusion of additional aspects provides an opportunity to reduce the overinflated idea of "culture" to a manageable scale and forms a more differentiated basis for further inves-tigation.

In addition to standard cultural customs, an application-

oriented cultural concept must also consider the collective

aspects of belonging and participation.

The first conceptual addition which seems necessary in the reworking of the general understanding of culture is the broadening of the cultural perspective of human coexistence to include a collective perspective. Collectivity will here refer to the "formal and structural" aspects of human groups (Hansen 2009, translation by author). Employing this ap-proach, the "cultural" can then be (carefully and self-consciously) reduced to its content, to the "customs" (or "habits" as in Tylor 1871:1) of individuals in interaction. This distilled understanding of culture is related to the pragmatic approach of Wittgenstein in which culture is most evident where one finds "shared practices" (Welsch 1995:43). The emphasis on customs and habits is a broad formulation and includes cognitive resources such as common knowledge ref-erences (Wissensvorrat) as well as patterns of behavior. Such customs may be inconsistent or even contradictory while be-ing constantly subject to change. It is not necessary for the members of certain collectives to internalize these habits, nor do they have to be put into practice or even be generally ac-cepted. In order for them to be called "culture," habits simply need to be familiar to the individuals in interaction. In con-trast to personal idiosyncrasies, cultural peculiarities are a plu-ral phenomenon. Culture begins, therefore, where people interact in groups. It ends with the characteristics of the indi-vidual.

In order to defend such a pared-down formulation of culture against accusations of simplicity or naiveté, it must be sup-plemented by a collective perspective which itself deals (in contrast to the simple group customs) with issues of group affiliation. Which criteria are employed to determine whether an individual is accepted as a legitimate and respected mem-ber of a group, a collective, or a society? Who possesses the authority and the influence to make such a decision, and conversely who lacks the same authority? Who controls ac-cess to the resources that empower people to make such de-cisions?

Questions of affiliation and participation have frequently been at the center of cultural criticism. Bourdieu's capital

theory with its description of the malleability of economic, social, and symbolic capital delivers a set of tools useful in the

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explanation of social power differences arising from the un-just distribution of cultural authority (Bourdieu 1982). Fraser's model of status recognition likewise distinguishes the author-ity of economic exclusion from its cultural value hierarchy in the disenfranchisement of certain groups despite their pos-session of economic capital (Fraser 1995).

These and similar attempts will not be treated here in detail. What is, however, crucial for the development of an applica-tion-oriented concept of culture is, above all, the division be-tween an understanding of culture at the level of cultural cus-toms and the related collective perspective at the level of be-longing. Such a division is, of course, problematic since cul-tural practices as communicative codes always contain rela-tionship cues that reach back to the collective level. Neverthe-less, this division seems to be necessary from a theoretical perspective, since both levels do not necessarily develop in concert. Cultural customs can influence collective affiliations, however - as in the example of purely economic access condi-tions to groups –they do not necessarily have to. Further-more, group theory demonstrates that shared cultural charac-teristics are not a prerequisite for the development of a group identity and the resulting phenomena of exclusion and de-valuation of outsiders (Tajfel 1982).

Also from a practical standpoint, the separation of cultural and collective perspective makes sense because their mixture frequently leads to impasses in discussions of social matters. This is well illustrated by the recent headscarf (hijab) debates in France and Germany, for example. A headscarf can act, of course, on the level of the cultural, simply as a practical article of clothing like a baseball cap, protecting the individual who wears it from sun, wind, or rain. It may be nothing more than a fashionable accessory that fits nicely with the other articles of clothing an individual chooses to wear or, like a turban or a hood in certain instances, may indicate an adherence to certain religious doctrines. On the collective level, the head-scarf may be interpreted like the team scarves common among European football fans as a tangible political sign of affiliation with a specific group or the rejection of another.

The social debate on this topic is seldom about the cultural custom of wearing a certain type of clothing, but rather about its assumed symbolic power, signifying either the de-marcation of one group or the oppression of another. Mixing the cultural and collective levels leads to passionate discus-sions about headscarf bans (a serious encroachment into the cultural level), thus preventing - at the collective level - the necessary political examination of the suspected underlying problem: the social marginalization or oppression of groups.

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An application-oriented concept of culture must furthermore

distinguish between plural and individual perspectives.

Supplementing an understanding of the cultural with the col-

lective alone does not supply a sufficient theoretical approach for a more sophisticated criticism of the coherence-based un-derstanding of culture. Because culture, as explained above, refers to individuals in the plural, the traditional perception of culture often excludes the individual completely from exami-nation. It thus avoids dealing with the dilemma that on a group level, the concreteness of cultural phenomena cannot be denied, while each individual member of a culture, how-ever, is equipped with the freedom to process those cultural offers in a completely unique way.

The reduction of culture to the plural perspective alone hence encourages the well-justified criticisms of essentialism and totalitarianism. The radical deconstruction of culture as a col-lective phenomenon to a form that allows only individual claims elicits, however, accusations of naiveté, as it neglects the hard factors of collective membership.

Therefore, an application-oriented concept of culture must acknowledge the fact that belonging to specific cultures bears great influence on the individuals, but this influence is in no way deterministic. "Every element of a group (is) not only the member of a society, but is moreover, something beyond that " (Simmel 1983:283, translation by author), the individual is never completely subsumed in the group. It is, instead, "simultaneously inside and outside" (Ritsert 2000:71). To adequately illustrate this dialectic of individual and group, hence, the traditional plural perspective of culture must be supplemented (and not replaced) by an individual perspective.

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Exh. 1: Culture as a matrix – The expansion of the traditional usage of

the term "culture" to include the collective and individual per-spectives

Considering these terminological requirements of the word culture, the result is not a single definition of the word that, as has been shown here, will be either too narrow or too broad. What becomes clear instead is in one sense an expan-sion of the scope of the cultural to include the collective. In another sense, the standard plural understanding of culture will include the individual as well. Culture as a complex holis-tic phenomenon can then be analyzed through the use of the four-field matrix shown above. Employing this tool, questions regarding the customs of certain collectives are addressed in the cultural/plural field while the collective/plural field can be used to investigate the rules of membership and participation in collectives. The cultural/individual field is dedicated to the interdependencies between individuals and culture, while the collective/individual field describes the individual's member-ship in discrete collectives. This article will demonstrate that such a differentiation of culture (rather than reliance on a one-dimensional definition) allows a much more precise de-scription of cultural phenomenon while furthermore provid-ing a more sound critical foundation against the traditional coherence-oriented understanding of culture.

4. Revision of the Coherence Paradigm - Almost Com-

pletely Wrong

In order to more clearly understand the mistakes of tradi-tional interpretations of the term "culture," the assumptions of the existing coherence paradigm will be applied to each of

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the single fields in the four-dimensional matrix. The second step then will be to replace the inadequate answers with more viable models.

The traditional understanding of culture is characterized by

congruence between the cultural and collective levels.

Initially, it must be said that the traditional understandings of culture do not address the differentiation between the level of customs and that of membership or affiliation. Instead, a great deal of congruence between culture and collective is assumed. This then leads to the assumption that, on the one hand, customs or traditions end where the collective ends, while on the other hand there is little overlap between collec-tives and therefore smaller collectives arise within larger ones. This approach then assumes that a certain collective, like the German nation for example, could be adequately understood through certain attributes that are common to all Germans and are shared by members of no other collectives. Further-more, one could claim that membership in a certain collective – a Bavarian shooting club, for example – necessitates the membership in certain other collectives as well: in this exam-ple, the Catholic Church, adult men, the Bavarian conserva-tive political party, and fans of folk music.

The plural perspective of the traditional concept of culture is

marked by internal coherence as well as border coherence.

Because the congruence of the cultural and collective levels is frequently assumed, findings that originate in a traditional, coherence-based understanding of culture are often the same for both levels. It is then often assumed that collectives and, by extension, cultures, are characterized by very clear and non-porous borders to other collectives and cultures. This will hereafter be referred to as border coherence. In the context of cultural customs, there is an expectation of homogeneity and assumed acceptance that hereafter will be referred to as internal coherence. According to these premises, it is not only absolutely clear who is German and who is not, who is a Ber-liner and who is not, who is a police officer and who is not, but it is also clear what values or behavior each group will display. According to the traditional understanding of coher-ence, therefore, if it says "German," "Berliner," or "police officer," on the package, there must be a "German," "Ber-liner," or "police officer," inside.

Internal coherence is assumed to be the foundation of cul-

tural continuity.

The traditional coherence paradigm further extends the diag-

nosis of internal coherence to include the idea of coherence in attitudes or behavior as a necessary demand to preserve the group’s continuity. This notion has become especially ap-

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parent in the recent Leitkultur debates in Germany. On the one hand, it is postulated that a certain system of values ac-tually exists to which everybody who can be identified as German subscribes. On the other hand there is a demand that everyone recognize this canon of values since failure to do so would lead to German culture going downhill. Another illustration of this same perspective can be found in the con-text of corporate culture that on the one hand presents itself in terms of coherence ("Our company is marked by certain values which all our employees share") while at the same time demanding that internal coherence be practiced ("Our enterprise can only be successful if all our employees live our culture") (cf. Rathje 2009 for a detailed representation of the coherence paradigm in the corporate culture debate). The logical contradiction contained in the above statements that indeed something self-evident cannot be demanded at the same time is simply ignored.

The individual perspective of the traditional concept of cul-

ture is marked by primary collectivity and attributive congru-ence.

As has already been demonstrated, the traditional under-standing of culture is rarely concerned with the role of the individual. Accordingly, its findings concerning the individ-ual’s perspective turn out to be quite simple.

At the level of the collective, the traditional perspective pre-fers a diagnosis of primary collectivity which can be imagined as the individual's main collective allegiance – normally un-derstood as the membership in a national collective. This as-sumption is so deeply rooted in daily experience that it is rarely questioned. Management guidebooks offering intercul-tural advice, for example, typically describe the "Czechs" or the "Chinese" without considering other group memberships such as academics, blue-collar workers, philosophers, engi-neers, thirty-somethings, or retirees. The German son of Viet-namese immigrants, for example, despite his passing of the bar exam, years of work in national politics, and lacking any experience with the homeland of his parents will still be asked by interview partners how he can cope with being "Vietnamese" in Germany. Even theoretical approaches like multiculturalism are founded upon the same primary collec-tive assumptions in which an individual is assigned to one single collective.

At the cultural level, the traditional understanding presumes an observable attributive congruence in the individual. This is the assumption that since the characteristics within a collec-tive are themselves coherent and furthermore, since an indi-vidual belongs primarily to one collective, it must follow that the characteristics of an individual are compatible with his or

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her primary collective. Therefore, knowing that someone has grown up in the tradition of the "Christian/European West", certain assumptions could be made regarding his or her opin-ions on parliamentary democracy or on the Ten Command-ments. Although this assumption would be rejected by most people as a terrible generalization, it dominates our day to day understanding of culture. It forms the basis for political assumptions comparable to the "Leitkultur" model and sometimes fosters some odd offspring indeed. In an informal study carried out by a television station on the quality of piz-zerias in Berlin, for example, only the nationality of the cooks was examined based on the assumption that only Italian cooks – and all Italian cooks without exception – would be capable to make a reasonable pizza dough.

Exh. 2: The coherence paradigm in the traditional concept of culture

The following segment will be dedicated to the revision of the traditional concept of culture and its representations of border coherence, internal coherence, primary collectivity and attributive congruence.

The relationship between cultures and collectives is character-

ized by incongruence.

The starting point for this critical discussion will be an exami-nation of the assumption of congruence between cultures and collectives. As mentioned above, there is already substan-tial evidence found, for example in the fields of Cultural and Post-colonial Studies, for the mutual influence and interpen-etration of human customs. Such customs are not bound by the borders that tend to be drawn around discrete collectives. Likewise, these customs are not exclusively attached to cer-tain collectives, but instead permanently branch out, evolve, fray, and create hybrid forms. They are capable of practically everything except for stopping at the borders between collec-tives. The well established concepts of interculturality and transculturality, which themselves were created in order to

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illustrate and describe the processual nature of culture, are actually tautological terms since cultural processes always oc-cur "between" or "through" others. The effects of such in-teraction are amplified today in an environment rich with novel opportunities for collective membership and collective cross fertilization. While it may have been possible in the past to assume that a West German coal miner will vote for the social democratic labor party, increasing social variety, geo-graphical mobility, and access to global communication net-works cause the borders of collectives to shift and overlap: Not all Bavarian Catholics will vote for the Bavarian Christian conservative party. Brazilian teenagers go crazy for a German pop group whose style is rooted in a Japanese youth move-ment. A woman and an African American can become the German chancellor or the US president. The assumption of congruence between collective and culture has simply be-come untenable.

Differentiation and multicollectivity must be accepted as

characteristics of a viable concept of culture rather than in-ternal coherence and primary collectivity.

Further analysis of the traditional concept of culture within the four-field matrix will begin in the "cultural/plural" field which has typically been characterized by a coherence of col-lective customs. This assumption has already been dislodged by the existing critique of the coherence concept. Acknowl-edged approaches that describe the development and per-petuation of culture - the concept of "cultural memory" (Assmann 1992) for example - have demonstrated that mem-bers of a culture have access to a heterogeneous pool of cul-tural resources. Depending on current needs of their groups they recall pieces of the past respectively. The content of a culture at any given moment can therefore never be catego-rized as coherent.

This principle can be illustrated with the variety of political orientations within a society. When, for example the various parties in Germany - including banned parties - recall ele-ments of their common past, they reflect a wide spectrum of political orientations that influence German socio-political life. If, on the one hand, the German political landscape and the parties that inhabit it can be considered an integral compo-nent of German culture, it must also be accepted on the other hand that a fundamental feature of this culture is inter-nal differentiation. This proof of heterogeneity, contradiction, and variety among the cultural customs also finds application in all other contexts of human interaction. Fundamental dif-

ferentiation, therefore, must be recognized as a counter-thesis to any postulation of internal coherence.

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The claim of differentiation as a characteristic of cultural cus-toms is closely related to the developments in the field of in-dividual collective membership. While the traditional concept of culture understood this relationship between individuals and their collectives to be one marked by primary collectivity, the accelerating increase in the number of available collec-tives and their mutual influence demands a fundamental revi-sion of this perspective. In the past, if an individual were born into a specific collective, he or she - under normal circum-stances - would remain there as one of its members. Today it is increasingly difficult to predict how many or precisely to which collectives an individual may belong. Membership in the collective "German professors," for example, does not allow for further assumptions about whether a member of that collective also belongs to the collective of "news maga-zine readers," and/or "tabloid readers;" whether he or she is part of the "classical music fan" collective and/or the "rock music fan" collective. An American hedge fund manager can be an active member of the Catholic Church, he can vote left-progressive, and in his free time take a course in gourmet cooking with a world-famous French chef. Hansen terms the rather simple assumption that an individual belongs to many collectives at the same time "multicollectivity" (2000: 196). This finding is opposed to traditional models that prefer pri-mary collectivity. Taken to its logical conclusion, the model of multicollectivity leads away from monolithic and essentialist views of individual identity that appears to be constantly en-dangered by variety and contradiction. Instead, multicollectiv-ity offers an additive understanding of collective membership and cultural practices. Individuals are able to add collective memberships and cultural customs without having to sacrifice existing ones.

Collective cohesion is nourished by an individual's multicollec-

tive identification with a variety of groups and the resulting

familiarity with differences.

While the traditional concept of culture looks to internal co-

herence as a source of stability, a revised understanding of culture, which assumes differentiation among cultural cus-toms and individual multicollectivity, must find new explana-tions for the apparent cohesion of groups. The intuitive plau-sibility of the traditional perspective ("The more alike we are, the less likely there will be conflicts."), a familiar assumption easily gained from personal experiences in small groups like bowling clubs or work teams, certainly makes the exploration of questions regarding the cohesion of complex collectives be they businesses or nations very difficult indeed.

Nevertheless, closer consideration reveals that the sources of cohesion are to be found precisely in the concepts of multi-

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collectivity and differentiation themselves. In this way the or-ganizational sciences long ago were able to demonstrate that individuals who simultaneously belong to several organiza-tional entities act as "Linking Pins" (cf. Likert 1967) between the groups they represented. Accordingly, individual multicol-

lectivity, through its very variety, provides a network-like sta-bility of greater group connections (Hansen 2000:196f.). Re-cent organizational science has furthermore been able to prove that familiarity with cultural differences forms a stable basis for organizational cohesion (cf. Rathje 2004). Trans-ferred to a social context, these findings would indicate that it is not the internal coherence of customs that is vital for co-hesion, but rather the familiarity with the differences creating a framework of normality that alone is sufficient for identifi-cation: "We recognize [...] [divergent] points of view, and when we hear them, we know that we are at home" (Hansen 2000:232, translation by author).

Radical individuality is the result of differentiation and multi-

collectivity.

Adhering to the claims of cultural differentiation and multi-

collectivity, attachments to the traditional assumptions re-garding individual attributive congruence must also be aban-doned.

The fact that individuals are simultaneously part of numeous collectives that produce divergent cultural practices will result in a radically individual processing of cultural offers due to reciprocal interaction with their unique biological and bio-graphical foundations.

In this way, the collective memberships of an individual only allow for the conclusion which cultural practices that individ-ual is familiar with, which patterns of behavior or rational concepts he or she is conversant with. What that individual makes of this peculiar constellation of influences, however, remains an open question. It is possible, for example, that a middle-class youth who takes cello lessons and learns Latin may grow up to become a star lawyer or possibly an urban squatter. A civil servant might begin as an idealistic patriot who thrives in the bureaucratic process or else he might se-cretly despise the inefficiency of the system and dream to himself of revolution.

Furthermore, studies on the effects of migration show that effectively processing cultural differences may not be the challenge it seems to be at first glance. Instead it belongs to an individual's "daily bread" of self-assurance and shaping one’s identity. Thus the navigation of contradictory cultural norms or values by no means leads to confusion or disorien-tation (Auernheimer 1988, Hill 1990). It only becomes stress-

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ful or otherwise burdensome if accompanied by discrimina-tion or disenfranchisement on the collective level (Badawia 2002).

The diagnosis referred to as border coherence must be re-

tained in its traditional form.

After internal coherence, primary collectivity and attributive

congruence are replaced by differentiation, multicollectivity and radical individuality, the collective/plural field still remains to be examined.

The traditional concept of culture postulated the existence of border coherence, that is, the assumption that collective membership (but not cultural membership) is unambiguously regulated. Unfortunately, no modifications to this approach can be made within the broad revision of the traditional con-cept of culture. The diagnosis of cultural differentiation, mul-

ticollectivity, and radical individuality do not allow the borders between collectives to be seen as blurrier, more porous or even non-existent. Precisely this was the greatest flaw in re-cent coherence criticism: the posit of free-floating collective membership means throwing out the baby with the bath wa-ter. In order to be part of a culture, it is sufficient to be famil-iar with that culture's customs. In order to be the member of a collective, palpable criteria must be fulfilled.

Groups attach quite varied (explicit or implicit; standard or erratic) requirements to the membership and acceptance of the individuals within them. The investment in appropriate clothing or a cool story, for example, might gain an individual access to an exclusive club. A person's gender might support preferred placement in high-level management. Having aca-demic parents facilitates access to higher education later in life. The result, however, the granting of recognition, partici-pation, and respect is always unambiguous: one is either part of the collective or one is not. The mechanisms that, on the level of culture, are complex and blurry, following a kind of "x as well as y" logic, are indeed quite well-defined on the level of the collective. An individual can simultaneously be the member of many collectives, he or she can lose or refuse membership, but the same individual cannot be simultane-ously part of and not part of the same collective. Either he has access to the group or he does not. Either she is accepted or she is not. Although the coherence paradigm is an obso-lete tool in the understanding of culture it retains its useful-ness in a collective context. Cultures overlap, intertwine, and influence one another, but the borders drawn by collectives are firm.

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Exh. 3: Diagnoses of a contemporary concept of culture

5. Conclusions - the levers of radical multicollectivity

The expansion of the traditional, one-dimensional concept of culture to include three other fields in a larger matrix has en-abled a thorough revision of the coherence paradigm. In the segment to follow it will become clear in what ways this new understanding of culture can be put to use in practical discus-sions of social issues. Special emphasis will be placed on much-discussed issues related to migration. An application-oriented concept of culture must be able to supply substantial starting points for the creation of more humane social condi-tions. The question then becomes, in which of the four fields of the matrix political efforts can be enacted to strengthen social cohesion.

Encroachment on the cultural/plural field is illogical and coun-

terproductive.

The concept of Leitkultur is associated with the cultural/plural field and requires internal coherence or the adaptation of a certain group's customs to the customs of the supposed ma-jority in the larger population. This demand for adaptation goes beyond the mere observance of laws that apply to every member of a society. Instead, it requires the acceptance of certain opinions, positions on specific issues, expressive flu-ency or even the acquisition and presentation of certain clothing styles.

Irrespective of the fact that such an approach that embraces uniformity is to be rejected under the diagnosis of differentia-

tion, there are additional arguments against attempts to exert influence over the cultural/plural field.

Ethically such encroachment should be considered extremely problematic simply because it would represent an inadmissi-

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ble interference with the freedom of various groups to estab-lish their own lifestyles.

Here Habermas speaks of a "decoupling" of two "levels of integration:" a political level that protects legal behavior, and a cultural level. Only at the first level, a constitutional state may exercise influence, or demand conformity from its citi-zens (Habermas 1993:183ff.). Demands that themselves se-cure "the dominance of a particular Leitkultur," (Bienfait 2006:157) however, must be recognized as fundamentally illegitimate.

The recent example of the debates on headscarf bans in sev-eral European nations illustrates this fact especially clearly. The intention of a woman wearing a headscarf - how freely or how unwillingly she wears the garment and furthermore how this act is publicly interpreted is neither possible to de-termine nor is it justifiable. Even arguments of unjust oppres-sion must end at the woman's own undeniable claim of indi-vidual autonomy. Otherwise, extending the faulty logic, un-healthy high-heeled shoes would also have to be forbidden arguing that they express women's status as victims of male sexual domination (despite the fact that they subject them-selves to this obvious torture quite willingly) limiting their per-ception so strongly that they wear their chains with pride.

The rejection of organized interference on the level of culture should not lead to the assumption that cultural practices of all kinds should be embraced and are themselves off limits to criticism. On the contrary, cultural customs on the collective level frequently represent, as should already be quite clear, an expression of the dominance of one group over another. Nevertheless, changes in one group cannot be accomplished through the interference of another. Ethical considerations aside, such attempts have a specific practical limitation: they don’t work. Social-psychological theories on the formation of social identity and group conflict (among others Tajfel / Turner 1995) prove convincingly that interventions at the cul-tural level lead to defensive actions within the subordinate group, accompanied by feelings of inferiority and separation from the dominant out-group. Typical consequences include an increased demand for internal conformity, disruption of communication and radicalization by depersonalizing the out-group.

Interference on the cultural level, therefore, typically elicits the opposite of what was intended.

Approaches in the cultural/individual field possess a patroniz-

ing character.

The same is true of potential approaches in the cul-tural/individual field. It has already been shown that the re-

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sults of radical individuality originate in the unique processing of exposure to cultural differentiation. This can be considered as an individual's own initiative that "can neither be collec-tively shaped nor influenced politically" (Bienfait 2006:172, translation by author). This finding contradicts traditional multicultural perspectives that "cultivate political care of the individual identity and hold the government responsible for the successful self-discovery of the individual" (Bienfait 2006:172). Instead, the individuals create their own identities.

The well-known idea postulated by so many social scientists (cf. Wierlacher 2003) of something “third” evolving from the processing of two opposites is thus neither necessary nor helpful. To find their own identity, individuals need no "third spaces" (cf. Bhabha / Rutherford 1990) or "third chairs" (Badawia 2002) which implicitly recognize the outdated models of primary collectivity and internal coherence. Indi-viduals add memberships and process cultural practices at-tached to them into something unique. Employing the above metaphors, they are constantly adding new space and stack-ing multiple chairs onto one another. Any efforts to interfere externally will be interpreted as a form of paternalism.

Influence in the collective/plural field possesses a purely ap-

pellative character.

Having demonstrated that interference with the cultural level is doomed to fail, the same must be said of any intervention in the collective/plural field. This has been the classical do-main of critical theory that defends its position against the diagnosis of border coherence with its demands for equal discourse in the absence of dominance or oppression.

As noble and desirable as the demands of critical theorists are, they do not promise to be ever successful, because they fight against social conditions that appear to be a universal product of human group processes and thus cannot simply be abolished. Political influence in the collective/plural field that seeks to limit group dominance and in turn demands tolerance and openness has thus often been accused of en-couraging "discursive civil utopia" (Eder 1995:276) lacking practical solutions:

"The public discussion forums are not openly accessible, nor are the institu-tionalized decision processes themselves free of bias or party influence. One reason for the problems of recognition and acceptance is that the public debates are characterized by political marginalization which itself excludes any objection and contradiction of the subordinate group in question." (Bienfait 2006:153, translation by author)

Reasonable approaches promote multicollectivity.

Finally, we are left with a single field in which external politi-cal influence may indeed be possible: the collective/individual

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field. While it seems impossible to change the amoral rules of collective membership, it may indeed be possible to offer an individual access to a broader range of collectives. The diag-nosis of multicollectivity is thus expanded to the desideratum of radical multicollectivity, the goal of providing increasing individual access to ever more collectives.

Multicollectivity as a goal then offers an effective diagnostic foundation for the evaluation of political efforts. Concepts worthy of political support therefore, are those that promote and expand an individual's inclusion into additional groups. Conversely, programs that prevent or limit individual access to certain collectives should be recognized as counterproduc-tive.

Accordingly, the existence of certain concentrations of ethnic or other groups - Turkish communities or graduate student housing - is to be considered as "neutral" in a multicollective sense, as long as members of these groups have the ability and means to come and go freely. A demand for political ac-tion arises when it comes to a concentration of poverty and high crime rates preventing e.g. children from getting access to higher education and thus isolating and locking them out from membership in a range of collectives from the start. En-couraging access to civic activities by, for example, promotion of plural citizenship represents an effort to increase multicol-

lectivity and therefore should be worthy of support. Forbid-ding the headscarf, on the other hand - irrespective of the previous discussion of the ineffectiveness of manipulation on the cultural level - should be recognized as a mistake, since it would lead to the elimination of access for a certain group (in this case women) to certain social functions (schools and pub-lic places). Efforts to bring children of different social and na-tional background together in common projects - be they vio-lin lessons, soccer matches or even efforts to encourage girls to become more active in math and science - should be en-couraged as they foster multicollectivity without disenfran-chising other groups, and so forth.

As a political concept, the encouraging of multicollectivity fosters and accelerates a variety of desirable social processes.

Multicollectivity, on the one hand, provides stability and co-hesion. As the collective memberships of a single individual increase, the stabilizing strength of the collective network likewise increases. The familiarity of the cultural differences within society is multiplied and the likelihood that another individual will be looked upon as a possible member of a shared collective is also intensified. Tolerance and willingness to compromise rise accordingly since individual radicalization is only possible through extreme limitation of collective mem-bership. It is no accident, for example, that cults and terrorist

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organizations isolate their members and prevent them from engaging with groups outside their own.

On the other hand, encouraging multicollectivity increases the developmental dynamic of a society. The more access in-dividuals have on the collective level to a wide variety of so-cial groups, the more intensive the competition among cul-tural customs will become. The expansion of access to collec-tives allows individuals to develop familiarity with alternative ways of life leading to a constant examination of one's own. They are provided with the possibility to autonomously ap-propriate something that fits or reject it if it doesn’t. Thus, the selection of customs that themselves have been able to withstand repeated testing is accelerated. Collectives, then, that are committed to their own customs (and which collec-tive isn’t?) cannot rely on missionary work to persuade oth-ers. They can instead offer access to others and trust that their practices will prevail when they are made known and acquire a level of familiarity. Likewise, they must accept if this does not happen. For radical multicollectivity cannot be ideo-logically manipulated: The result of expanded collective membership always remains open and its effect on the indi-vidual stays radically individualized.

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Acknowledgement

The author wishes to thank Dr. James McDonald (University of Jena) for his translation support.

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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexi-tät zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung

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Abstract

The question how to describe complex collectives without unduly reducing their complexity gains in importance when dealing with transnational expert committees that are developing outputs with high societal relevance.

This article takes the example of the German-Czech and German-Slovak historics commission to examine the mode of operation in such organizations and explains how complex collectives can produce robust solutions, that have not been possible in usual political interaction.

Based on Hansen’s concept of collectives the author suggests a new model to describe the functioning of complex collectives that stays manageable while not falling into the trap of oversimplifying interactional dynamics.

1. Problemstellung

Im Zuge weltweiter politischer, sozialer und ökonomischer Verflechtungstendenzen entstanden als eine Folge in den letzten Jahren komplexe transnationale Kollektive aus Wis-senschaftlern, deren primäre Aufgabe es ist, tragfähige Lö-sungen für aktuelle Herausforderungen zu erarbeiten. Neben den klassischen (internationalen) Politikfeldern1, wie z.B. Um-welt, Energie und Sicherheit (Windhoff-Héritier 1987:21ff.), in denen die Expertise sogenannter Expertenkommissionen (zur allgemeinen Systematik siehe weiter bei: Siefken 2003, Burckhardt 2005:27ff.) genutzt werden, gewann als eine Fol-ge der Verflechtungen in den letzten Jahren das Politikfeld „Gemeinsame Geschichte“ an Bedeutung. In der Folge ent-standen auch historisch orientierte transnationale Experten-kommissionen. So entschieden sich aktuelle die Tschechische Republik und das Fürstentum Liechtenstein im Juni 2009 (!) für die Einrichtung einer gemeinsamen Historikerkommission zur Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte. Dies ist umso mehr von Interesse, da beide Länder bis dato, aufgrund der ungelösten historischen Fragen, noch keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen haben (o.A. 2009).2

Einen idealtypischer Vertreter – und für den tschechisch-liechtensteinischen Fall auch ein Vorbild - stellt die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission (im Weiteren auch Historikerkommission oder Kommission) dar. Als wissenschaftlich hochkarätig besetztes Gremium, be-stehend aus tschechischen, slowakischen und deutschen His-torikern, agiert sie auf dem konfliktbeladenen Politikfeld deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Gemeinsame

Geschichte. Sie „produziert“ im „Verborgenen“ (Kohler

Kann man komplexe

transnationale Kollektive

beschreiben ohne unzu-

lässig die Komplexität zu

reduzieren?

Einige Anregungen zu

einem neuen Modell zur

Kollektivbeschreibung

Mario Schulz

Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft Passau

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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexi-tät zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung

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1995) von der Öffentlichkeit „robuste Ergebnisse“3, die die „historisierten Konflikte“4 (Schulz 2009) zwischen den betei-ligten Ländern „löst“ (zur allgemeinen Kritik gegenüber Expertenkommissionen siehe: Meister 2004:31ff.).

Trotz seines vielfältigen Einsatzes und seiner konstruktiven Lösungen ist das Expertenkommissionsmodell5 im Politikfeld Gemeinsame Geschichte im Allgemeinen (Cattaruzza / Sacha 2007) und die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Kommission im Besonderen, ein weitgehend „unbekanntes Instrument“ (Schulz 2006). Dies liegt – neben der Tatsache, dass die Kommission bewusst nicht im Rampenlicht der Öf-fentlichkeit agiert – auch in der Tatsache begründet, dass sie ein wissenschaftlich schwer zu beschreibendes Kollektiv dar-stellt.

Die Mitglieder der Kommission sind von nationalen Gremien berufene Wissenschaftler, was ihre Zugehörigkeit zu einem nationalen Kollektiv quasi festschreibt. Gleichzeitig gehören sie in ihrer Funktion als Experten kleinen geschlossenen Fach-communities an, die spezielle „Standardisierungen“ im Sinne von Hansen (Hansen 2003:140-141, 2009a:66) ausgeprägt haben, die sich häufig nationalen Verortungen entziehen. Neben den fachlichen und organisatorischen Determinanten sind die Mitglieder auch Individuen mit jeweils einzigartigen Biographien (Siefken 2003:490, Burckhardt 2005). Als Trans-

nationaler Akteur hat sich die Gesamtheit der Mitglieder als Historikerkommission im Laufe ihres Bestehens gegenüber anderen Akteuren im Politikfeld Gemeinsame Geschichte je-doch darüber hinaus auch eine eigene Handlungsmächtigkeit (Kaiser 1969, Olbers 2009) geschaffen.

Eine angemessene Beschreibung der Arbeits- und Wirkungs-weise des Kollektivs Historikerkommission, die ihre Erfolge erklärt, ohne die Komplexität ihres Zustandekommens unzu-lässig zu reduzieren, erweist sich als problematisch. Politikwis-senschaftliche akteurzentrierte Ansätze liefern zur Beantwor-tung der Frage vorwiegend Erklärungsmuster zur Konstitution und der Bestimmung der Handlungsressourcen (siehe ausführlich Schneider / Janning 2006:92-94). Bei der Beant-wortung der Frage, wie trotz der Heterogenität der Mitglieder tragfähige Ergebnisse produziert werden können, stoßen die-se allerdings an ihre methodischen Grenzen. Vor allem die Interaktionen innerhalb des komplexen sozialen Gebildes und die hierdurch entstehenden Kultur- und Kollektivkonstruktio-nen bei der Lösungsfindung bleiben weitestgehend unbe-leuchtet. Hier setzen in den letzten Jahren verstärkt Kultur- und Kommunikationswissenschaftler an. Ausgehend von ei-nem erweiterten Kommunikationsbegriff (Luhmann 1984:193) interpretieren sie die produzierten Ergebnisse von Kollektiven als kulturelle Kommunikationsprodukte (vgl.

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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexi-tät zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung

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Bolten 2000). So postuliert z.B. Bolten, dass kulturelle Eigen-schaften „nicht anders als auf kommunikativem Weg geäu-ßert werden können“ (Bolten 2001:135). Nach diesem Ver-ständnis ist jedes menschliche Kollektiv als Kulturproduzent zu verstehen (siehe z.B. Hansen 2000:206-216), dessen Er-gebnisse als prozesshafte Kommunikationsprodukte analysiert werden können. Aus dieser Perspektive können die Ergebnis-se der Kommission als konkrete „Lösungen“ (Watzlawick, Weakland et al. 2001) verstanden werden, da sie ihre kollek-tive Entstehung und die individuelle Verarbeitung als wesent-liches Merkmal in sich tragen.

Sowohl Kommunikations- als auch Kulturwissenschaftler ste-hen allerdings vor der Herausforderung, die Entstehung sol-cher Lösungen prozessual zu beschreiben, ohne dabei auf der einen Seite unzulässige Komplexitätsreduktionen vorzuneh-men, die zu einer Verfälschung der Ergebnisse führen, und auf der anderen Seite die Komplexität der kollektiven Prozes-se ins Unendliche zu steigern und so verständliche und über-tragbare Erklärungsmodelle unmöglich zu machen.

Eine These, die im Rahmen dieser Untersuchung vertreten wird, lautet daher: Um komplexe Kommunikationsprodukte eines Kollektivs, wie z.B. die Lösungen der Kommission erklä-ren zu können, ist es notwendig, zunächst die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes zu erhöhen. Erst dann ist im zweiten Schritt wieder eine Komplexitätsreduktion in Form von realitätsnahen Ergebnissen möglich.

Um die Komplexität des Kollektivs Historikerkommission sicht-bar zu machen, wird im Folgenden die Historikerkommission als Transnationaler Akteur vorgestellt. Neben der Geschichte der Kommission und deren wesentlichen Ergebnissen liegt der Fokus auf der Offenlegung der Heterogenität der Mitglie-der. In einem zweiten Schritt werden ihre Lösungen mit Hilfe traditioneller kulturwissenschaftlicher Modelle analysiert und deren Schwächen hinsichtlich unzulässiger Komplexitätsre-duktion herausgearbeitet. Darauf aufbauend werden dann Anregungen für ein angemesseneres Erklärungsmodell in Form von Hypothesen vorgestellt.

Die folgenden Analysen basieren auf den Ergebnissen einer empirischen Studie aus dem Jahr 2007 (Schulz 2010). Dabei wurden aktive und ehemalige Mitglieder der Historikerkom-mission im Rahmen ausführlicher Experteninterviews zu ihrer Arbeit in der Kommission befragt. Die Interviews wurden mit Hilfe qualitativer Methoden kodiert und ausgewertet.

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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexi-tät zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung

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2. Transnationaler Akteur Historikerkommission

Die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Histori-kerkommission kann als Transnationaler Akteur im Politikfeld Gemeinsame Geschichte auf eine 20jährige Geschichte zu-rückblicken. Aufgrund ihrer Aufgabe, „historisierte Konflikte“ zu lösen, stehen neben ihrer Entwicklung auch die während dieser Zeit „produzierten“ Ergebnisse als wichtige Referenz-punkte für das Verständnis der Arbeits- und Wirkungsweise dieser Kommission zur Verfügung.

2.1. Entwicklung der Historikerkommission

Die Historikerkommission wurde 1990 auf beiderseitigen Wunsch des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel und des deutschen Staatspräsidenten Richard von Weizsäcker und auf Initiative vom damaligen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher und dem damaligen ersten nichtkommunistischen Außenminister der Tschechoslowakei Jiří Dienstbier als deutsch-tschechoslowakische Historikerkommission ins Leben gerufen. In der Erklärung der beiden Außenminister nach ihrem Grün-dungstreffen in Nürnberg am 2. Februar 1990 wurde ihr Auf-trag der folgendermaßen formuliert:

„Aufgabe der Kommission soll es sein, die gemeinsame Geschichte der Völker beider Länder, vor allem in diesem Jahrhundert, gemeinsam zu er-forschen und zu bewerten. Die Kommission sollte alle diese Fragen in brei-ten historischem Kontext erforschen, einschließlich der positiven Seiten des gegenseitigen Zusammenlebens, aber auch der tragischen Erfahrungen der Völker beider Länder in Zusammenhang mit dem Beginn, dem Verlauf und den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges.“ (Genscher / Dienstbier 1990, Historikerkommission 1990-2007).

Durch die Formulierung des Auftrages wurde zugleich die Grundlage für die Entstehung einer transnationalen, politik-beratenden Kommission gelegt. Es wurden keine „neuen“ nationalen Institute gegründet, sondern es wurde eine Neu-gründung initiiert, die sich aus deutschen und tschechoslo-wakischen „nahmhafte[n] Fachwissenschaftler[n]“ (Genscher / Dienstbier 1990) rekrutiert, die angehalten wurden, koope-rativ zusammenarbeiten. Bereits zuvor wurde die Historiker-kommission schon durch den Regierungsbeschluss der ČSFR Nr. 51/ 90 vom 25. Januar 1990 bestätigt, in dem die Minis-ter für Auswärtige Angelegenheiten verpflichtet werden, die Arbeit finanziell zu unterstützen (Biman 2001:450).

Die Historikerkommission nahm nach anfänglichen Diskussio-nen bezüglich ihrer Besetzung im Rahmen einer Tagung vom 14.-16. Juni 1990 in Prag die Arbeit auf. 6 Auf dieser „Grün-

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dungstagung“ wurde im Schlusskommunique festgehalten, dass

„die Katastrophen der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts in größeren historischen Zusammenhängen und insbesondere vor dem Hin-tergrund des langfristigen Zusammenlebens von Tschechen, Slowaken, Deutschen und Juden gesehen werden müssen. Dabei gilt es, den Blick nicht nur auf das Trennende, sondern auf das Verbindende zu lenken“. (Historikerkommission 1990b)

Die Historikerkommission (1990b) setzte sich zum Ziel, „die historische Forschung in beiden Ländern auf längere Zeit zu fördern“. Ebenfalls wurde festgehalten, dass die Kommission hierfür eine Reihe von Kolloquien für die nächsten Jahre anvi-siert, die die weitere Arbeit der Historikerkommission struktu-rieren sollten (Historikerkommission 1990b). Diese Liste wur-de auf dem zweiten Treffen konkretisiert. Als Arbeitsmodus einigte man sich zunächst auf die Etablierung von sektionalen Arbeitsgruppen. Diese sollten aber in „enger Kooperation“ (Historikerkommission 1990a) zusammenarbeiten. Arbeits-themen sollten weitestgehend im Konsens beschlossen wer-den.

Die bilaterale Kommission wurde im Vertrag zwischen der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Februar 1992 im Artikel 27 nochmals verankert:

„Die Vertragsparteien werden alle Aktivitäten unterstützen, die zu einem gemeinsamen Verständnis der deutsch-tschechoslowakischen Geschichte, vor allem dieses Jahrhunderts, beitragen. Dazu gehört auch die Arbeit der gemeinsamen Historikerkommission und der unabhängigen deutsch-tschechoslowakischen Schulbuchkonferenzen.“ (Freundschaftsvertrag 1992)

Die Trennung der Tschechischen und der Slowakischen Repu-blik 1993 dokumentiert sich auch in der veränderten Konsti-tution der Kommission. Die tschechoslowakische Seite teilte sich in eine Tschechische und eine Slowakische Sektion auf. Die Mitglieder der Deutschen Sektion sind in beiden Kommis-sionen vertreten (Historikerkommission 1993). Die Deutsch-Tschechische Erklärung aus dem Jahr 1997 unterstrich noch einmal den besonderen Stellenwert der Kommissionsarbeit:

„Beide Seiten stimmen darin überein, dass die historische Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen insbesondere in der ers-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Erforschung bedarf und treten daher für die Fortführung der bisherigen erfolgreichen Arbeit der deutsch-tschechischen Historikerkommission ein.” (Erklärung 1997)

Auf Basis dieser beiden Verträge arbeitet die Kommission bis heute zusammen. Die Entwicklung der Kommission lässt sich insgesamt in zwei Phasen zusammenfassen: Während in der ersten Phase von 1990-1995 die chronologische Sichtung der

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deutsch-tschechisch-slowakischen Beziehungen im Vorder-grund stand, liegt der Fokus der Arbeit seit 1996 auf der konkreten Analyse der in der ersten Phase identifizierten The-men (Biman 2001:452-453). Dies spiegelt sich auch in der Wahrnehmung der selbst definierten Aufgaben und den Er-gebnissen wieder.

Hans Lemberg, langjähriges Mitglied und ehemaliger Vorsit-zender der Deutschen Sektion, formuliert die Aufgaben, die die Historikerkommission aus dem politischen Auftrag für sich abgeleitet hat, folgendermaßen:

• „heiße Eisen im bilateralen Verhältnis anzupacken […] und dicke Bretter mit Geduld zu bohren;

• über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus auf ein breite-res Publikum zu wirken […] aber auch auf dem uns (ge-meint sind die Mitglieder der Historikerkommission) we-nig geläufigen Weg über die Medien;

• durch Konferenzen [...] Tagungsbänden und weiteren Publikationen [...] den Fundus von Erkenntnissen zu er-weitern und den Forschungsstand voranzubringen;

• Forschungen anderer zu stimulieren oder zu ermuntern;

• zu einer stärkeren Vernetzung der academic community auf dem Gebiet der vergleichenden Beziehungsgeschichte (auch wenn jeweils nur bilateral) beizutragen – bis hin zu den im Fachgespräch geförderten persönlichen Beziehun-gen“ (Lemberg 1998:7)

Hieraus ergeben sich auch die Ziele, die die Kommission seit der Gründung verfolgt:

“Die Ziele haben sich grundsätzlich nicht geändert. Es geht darum, durch unabhängige wissenschaftliche Arbeit indirekt zur Verständigung zwischen Deutschland und Tschechien und den Deutschen und Slowaken beizutra-gen. Das heißt, dass es nicht das Ziel ist, eine Geschichtsschreibung zu pro-duzieren, die keine neuralgischen Themen mehr anspricht. Im Gegenteil, es geht darum, durch unabhängige wissenschaftliche Arbeit eine Kultur des ständigen Kontaktes zwischen Deutschen und Tschechen und Slowaken Geschichtswissenschaft zu einer Ressource zu machen, die indirekt der Verständigung dient.” (Interview Mitglied 1)

Die Umsetzung der Ziele gestaltete sich in der Vergangenheit durch die Komplexität des Akteurs und des Politikfeldes Ge-

meinsame Geschichte zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken“ nicht immer leicht.

Da die Kommission als eine unabhängige Expertenkommissi-on von den Politikern aus den beteiligten Ländern eingesetz-tes wurde, ist sie als Akteur in verschiedenen, sich teilweise überlagernden und bedingenden Regelsystemen eingebun-den. So steht sie auf der einen Seite als Akteur, der sich mit dem Thema der Gemeinsamen Geschichte beschäftigt, im

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Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Als politikberatende Institution muss sie sich mit den besonderen Regeln der poli-tischen Systeme auseinandersetzen. Diese Problematik poten-ziert sich, da es sich um eine originär wissenschaftliche Insti-tution handelt, die wiederum eigene Regelsysteme aufweist. Letztendlich steht die Kommission als öffentlicher Akteur auch unter Beobachtung der Medien (ausführlich: Schulz 2009).

Die Komplexität der Historikerkommission als wissenschaftli-cher, politik- und öffentlichkeitsberatender Transnationaler

Akteur im Politikfeld Gemeinsame Geschichte, mit der Auf-gabe, historisierte Konflikte zu lösen, erhöht sich zusätzlich durch die Heterogenität der Mitglieder innerhalb der Kom-mission. Diese kommen aus den drei beteiligten Nationen: Deutschland, Tschechien und der Slowakei. Vor allem die na-tionale Zugehörigkeit spielt für Historiker im Allgemeinen eine nicht zu unterschätzende Rolle, wie folgende Beobachtung von Christoph und Sebastian Conrad (2002:19) verdeutlicht: „Das ‚Nationale’ und der Nationalstaat prägten die Ge-schichtswissenschaft in sehr verschiedenen Formen und in den einzelnen Ländern auch nicht in gleichen Maße“. Wenn „Historiker auf internationalen Kongressen zusammen“ ka-men, „taten sie es [in der Regel] als Vertreter von Nationen, was auch immer sie sonst noch verband. Niemand empfand stärker den Druck zur nationalen Identifikation, als diejeni-gen, die aus ‚Nationen ohne Staat’ kamen“ (zur grundlegenden Problematik siehe hierzu Conrad / Conrad 2002:20-23 und zur speziellen Situation in Ostmitteleuropa: Hadler: 2002).

Gleichzeitig sind die Mitglieder Historiker, mit unterschiedli-chen Forschungsschwerpunkten und Zugängen. Daneben gehören sie aufgrund ihrer individuellen Biografien unter-schiedlichen Milieus an. Das Bild nationaler „homogener Ein-heiten“ im Bezug auf geschichtswissenschaftliche Interpreta-tionen ist daher trotz der kohäsiven Kraft des Nationalen auf-grund der aufgezeigten Heterogenität zu einfach (vgl. Conrad / Conrad 2002:20-21).

2.2. Ergebnisse der Historikerkommission

Trotz der beschriebenen Komplexität kann die Historiker-kommission auf eine Vielzahl von Ergebnissen verweisen. Um den Unterschied zwischen rein quantifizierbaren Produkten und den Produkten als Kommunikationsprodukte deutlich zu machen, wird im Folgenden eine begriffliche Trennung von „Ergebnissen“ und „Lösungen“ vorgenommen. Von „Ergeb-nissen“ wird immer dann gesprochen, wenn das konkrete Resultat der Forschungstätigkeit gemeint ist, „Lösungen“

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verweisen demgegenüber auf den kommunikativen Entste-hungs- und Wirkungsprozess der Ergebnisse.

Insgesamt sind bisher 16 Tagungsbände, wobei fünf in Vor-bereitung bzw. in Bearbeitung sind, entstanden, die einen tiefen Einblick in die komplexe Beziehungsgeschichte von Deutschen, Tschechen und Slowaken liefern. Darüber hinaus veröffentlichte die Kommission sechs weitere Publikationen in Form von Erklärungen bzw. Stellungnahmen oder von He-rausgeberschaften (Stand Ende 2007). Neben den anfangs zweimal und jetzt aktuell einmal jährlich stattfindenden Tref-fen veranstaltete die Historikerkommission weiterhin eine Vielzahl weiterer Veranstaltungen, wie Runde Tische, Journa-listenseminare oder Podiumsdiskussionen.

Die Jahrestreffen der Kommission sind zugleich mit öffentlich zugänglichen Tagungen verbunden, die in zunehmendem Maße auch unter Beteiligung internationaler Wissenschaftler durchgeführt werden. Die Tagungen finden alternierend ein-mal in Tschechien, dann der Slowakei und dann wieder in Deutschland statt. Ein weiterer Pfeiler der Kommissionsarbeit ist die jährliche Vergabe von Stipendien an Nachwuchswis-senschaftler (ein aktuellen Überblick gibt die Homepage der Historikerkommission: Historikerkommission 1990-2007).

Hervorzuheben aus dieser quantitativen Aufzählung von Er-gebnissen sind vor allem drei, die aufgrund ihrer kommunika-tiven Wirkung als Lösungen bezeichnet werden können.

Eine Publikation, die sog. „Skizze“ nimmt in der Vielzahl von Sammelbänden und Veröffentlichungen, die das gesamte Spektrum deutsch-tschechischer, deutsch-slowakischer Bezie-hungen abdecken, eine Sonderrolle ein (Gemeinsame Deutsch-Tschechische Historikerkommission 1996). Die Skizze wurde 1995 als eine Art Zwischenfazit von der Kommission in Angriff genommen. Entstanden ist eine gemeinsame Über-blicksdarstellung deutsch-tschechischer Geschichte, in der deutsche und tschechische Historiker festhalten, was bisher schon gesichert vertretbar ist.

Eine weitere, sehr wichtige Lösung ist die gemeinsame Fest-legung einer Opferzahl der Vertreibung / Aussiedlung der Deutschen (Historikerkommission 1996). Auf tschechoslowa-kischer Seite wurde bis zu diesem Zeitpunkt eine Zahl von max. 10.000 Opfern offiziell vertreten, während auf deut-scher, und hier vor allem auf sudetendeutscher Seite, von 250.000 Opfern gesprochen wurde. Die große Diskrepanz der nationalen Perspektiven machte die Festlegung einer his-torisch gesicherten Zahl zu einem brisanten Politikum. Die Historikerkommission ermittelte eine Zahl von max. 30.000 Opfern, die mittlerweile auch von politischen Interessenver-

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bänden in beiden Ländern weitestgehend Ländern akzeptiert wurde.

Eine dritte Lösung stellt eine gemeinsame Sprachregelung für die schmerzhaften Vorgänge der Nachkriegszeit dar: Wurden die Sudetendeutschen nach dem Krieg „vertrieben“ oder (nur) „ausgesiedelt“? Sollte man für diesen Prozess einen neutralen Begriff verwenden oder einigt man sich auf einen der in den Ländern bekannten Begriffe der Vertreibung oder Aussiedlung? Die Historikerkommission einigte sich schließlich auf das Begriffspaar „Vertreibung / Aussiedlung“ (Historikerkommission 1995).

Die Lösungen der Historikerkommission haben einerseits in ihrer kommunikativen Wirkung unbestreitbar zu einer Annä-herung der beteiligten Staaten beigetragen. Andererseits ist bislang wenig erforscht, wie solche erfolgreichen Lösungen, die auf politischer Ebene offensichtlich nicht möglich waren, zustande kommen. Eine angemessene Beschreibung der Ar-beits- und Wirkungsweise des Transnationalen Akteurs Histo-rikerkommission kann daher auch Modellcharakter für die allgemeine kulturwissenschaftliche Beschreibung heteroge-ner, komplexer Kollektive besitzen.

Im Folgenden sollen daher zur Verfügung stehende kulturwis-senschaftliche Ansätze auf ihr Erklärungspotential hin unter-sucht werden, bevor in einem nächsten Schritt Grundzüge eines neuen Modells präsentiert werden.

3. Traditionelle kulturwissenschaftliche Erklärungsan-

sätze

Zur Beschreibung des Kollektivs Historikerkommission steht eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher Ansätze bereit. So exis-tieren einerseits statische Modelle, die Individuen primär ei-nem Kulturträger, z.B. Ethnie, Nation, Milieu oder Schicht, zuordnen und damit die Heterogenität eines Transnationalen

Akteurs vor allem als Aufeinandertreffen bzw. Aufeinander-prallen unterschiedlicher (national-)kultureller Gruppen be-schreiben.

Zum anderen entstehen trägerlose Konzepte von Kultur, die demgegenüber eher kulturelle Dynamik, Differenzen, Hybridi-tät, Entgrenzung, Entankerung und Relationalität betonen und innerhalb eines Transnationalen Akteurs eine Durchdrin-gung, bzw. Auflösung von Nationalkulturen diagnostizieren würden.

Beide Ansätze sollen im Folgenden anhand des Beispiels der Historikerkommission auf ihre Anwendbarkeit überprüft wer-den.

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3.1. Trägerlose Modelle

Die Historikerkommission ist als heterogener Transnationaler

Akteur im Politikfeld Gemeinsame Geschichte aktiv. Eine erste naheliegende Vermutung lautet, dass die Mitglieder im Sinne trägerloser Kulturmodelle als „transkulturell“ (Welsch 2002) zu charakterisieren seien. Im Gegensatz zum traditionellen Verständnis von Kulturen als homogenen, abgeschlossenen „Containern“ (Beck 1998) konstatiert Welsch „eine Pluralisie-rung möglicher Identitäten“ innerhalb von Kulturen, die „ex-tern grenzüberschreitende Konturen“ aufweisen (Welsch 2002:1). Kulturen werden so tendenziell für alle anderen Kul-turen zu Binnengehalten oder Trabanten: „ Es gibt nicht nur kein strikt Eigenes, sondern auch kein strikt Fremdes mehr. “ (Welsch 2002: 2). Das Konzept der Transkulturalität schafft einen synergetischen Handlungskontext, der eine Hybridkul-tur als Gemeinschaftliches über kulturelle Grenzen hinweg erzeugt (Bolten 2006:149-150.)

Übertragen auf die Historikerkommission bedeutet dies, dass deren Mitglieder sich selbstverständlich innerhalb der deut-schen, tschechischen und slowakischen Geschichte bewegen könnten. Sie seien aufgrund ihrer „transkulturellen“ Formati-on in der Lage, ihre Ideen kritisch mit anderen Traditionen zu vergleichen. Die vermutete Transkulturalität der Mitglieder ist aus der Perspektive von Welsch eine Folge des veränderten Zuschnitts heutiger Kultur in Folge von Vernetzung, Hybridi-sierung, Umfassendheit der kulturellen Veränderungen (kultu-relle Mischung) und der Auflösung der Fremd-Eigen-Differenz (Welsch 2002).

Zweifel an der Passgenauigkeit dieses Konzeptes ergeben sich allein schon aus der Betrachtung der Entwicklung der Histori-kerkommission. Seit gut 20 Jahren versammeln sich jährlich Professoren aus 3 Nationen und finden „Lösungen“, die sie selber teilweise als „Kompromiss“ oder „kleinster gemeinsa-mer Nenner“ zwischen den beteiligten nationalkulturellen Grupen bezeichnen. Diese Prävalenz nationaler Zugehörigkeit unterstreicht folgendes Zitat:

“[...] und die Arbeit an dem Bändchen verlangte natürlich viele Kompromis-se. Und dieses ‚Grüne Heft’ atmet förmlich diese Kompromisse, wo dann natürlich auch viele von uns sagten: ‚Verflucht, da haben wir uns über den Tisch ziehen lassen’ und die anderen haben sich natürlich auch so gefühlt und gesagt, dass auch sie teilweise über den Tisch sich haben ziehen las-sen. Wenn jemand das selber formuliert hätte, dann hätte er es bestimmt anders formuliert. Das ist aber natürlich etwas, was wir gemeinsam getan haben, und wir wollten das ja auch gemeinsam abschließen. Und um das zu dokumentieren, haben wir ja auch diese demonstrative Form des Ne-beneinanderstehens des Textes (deutsch-tschechisch) gewählt, der inhalt-lich identisch ist... Die gemeinsame Arbeit an dem Grünen Buch hat zwar viel Redaktionsarbeit und viel Feilen an einzelnen Begriffen verursacht, aber es war dann aber auch ein gemeinsamer Konsens.“ (Interview Mitglied 7)

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Auch die Tatsache, dass es scheinbar notwendig war, eine gemeinsame Sprachregelung zu finden, die beide Seiten, die tschechoslowakische und die deutsche mit einbezieht, lässt an dem Konzept der Transkulturalität in dieser Radikalität zweifeln.

Noch deutlicher werden diese Zweifel, wenn man sich die Beschreibung der Arbeitsmethode zur Erstellung der „Skizze“ anschaut: Ferdinand Seibt, ein langjähriges Mitglied, formu-lierte vor den Beratungen den Wunsch an die Teilnehmer, dass sie doch daran denken sollen, dass es zwar zwei Fuß-ballmannschaften gebe, es aber durchaus erlaubt sei, Eigen-tore zu machen (Interview Mitglied 22). Die Mitglieder der Kommission besitzen also ein ausgeprägtes Selbstverständnis als Vertreter nationaler Geschichtsinterpretationen. Diese na-tionale Zugehörigkeit besitzt für die Mitglieder hohe Bedeu-tung und kann nicht als Folklore oder simulierte Einheit abge-tan werden. Die Schärfe kollektiver Trennung zwischen Ei-genkultur und Fremdkultur, also zwischen tschechischer, deutscher und slowakischer Geschichtsauffassung, bleibt auch über Jahre sichtbar bestehen.

Eine Interpretation der Historikerkommission als transkulturell erweist sich damit als unzulässig, da sie impliziert, kollektive Zugehörigkeiten z.B. zu Nationen könnten von den beteilig-ten Individuen problemlos abgelegt werden, um in etwas Neuem wie der Kommission aufzugehen. Zum anderen lie-fern sie keine Erklärungen für die größtenteils schmerzhaften Prozesse der Zusammenarbeit.

3.2. Statische Modelle

Das Gegenteil zur Hypothese der Transkulturalität stellen tra-ditionelle statische Modelle dar, die Individuen primär als Ver-treter eines bestimmten Kollektivs verstehen. In diesem Fall würden die beteiligten Historiker der Kommission vor allem als Vertreter dreier Nationalkulturen agieren und die jeweilige nationale Auffassung von Geschichte vertreten (exemplarisch: Schwarz 2002). Die Kommission als Transnationaler Akteur

dient nach diesem Verständnis nur dazu, dass die Streitigkei-ten nicht nach außen dringen. Dieses Bild wird vor allem von den Medien und Interessengruppen des Öfteren gezeichnet. Exemplarisch hierfür kann die Aussage vom Zeit-Redakteur Thomas Kleine-Brockhofff aus dem Jahr 1996 herangezogen werden. Er schreibt, dass

„ein Besuch bei der gemeinsamen Historikerkommission [....] ein verstören-des Erlebnis sein [kann]. Er bietet einen Blick in eine Werkstatt der Verstän-digung und zugleich ein Schlachtfeld der Nationalismen“ (Kleine-Brockhoff 1996).

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Die Ursachen für Auseinandersetzungen innerhalb der Kom-mission sind nach Aussagen der interviewten Mitglieder je-doch vielschichtig. Sie reichen von fachlichen und methodi-schen Differenzen bis hin zu individuellen Verhaltensweisen einzelner Mitglieder. Die Auseinandersetzungen „verlaufen auch nicht auf dem Niveau der deutsch-tschechischen Bezie-hungen“, wie ein Mitglied dies pointiert formuliert (Interview Mitglied 10). Die Konfliktlinien können quer durch nationale Lager gehen. Selten stimmen nationale Positionen und Kon-fliktpositionen überein, wie die Mitglieder in den geführten Interviews erklärten.

Der gescheiterte Versuch der Kommission, eine Art zweiter „Skizze“ zu entwerfen, die darlegen sollte, in welchen Berei-chen die beteiligten Nationen in ihrer Auffassung gemeinsa-mer Geschichte noch keine Einigung erzielt haben, demonst-riert eindrücklich, dass die Vermutung eines Aufeinandertref-fens von drei Nationen, bzw. drei nationalen Geschichtsinter-pretationen die Realität verfehlt.

So scheiterte dieses Projekt nicht etwa an unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen den deutschen, tschechischen und slowakischen Historikergruppen:

„Der Versuch ist daran gescheitert, weil es in den nationalen Sektionen schon unmöglich war, sich auf eine nationale Position zu einigen, die man dann sozusagen als nationalen Standpunkt gegenüber der anderen Seite vertreten könnte.“ (Interview Mitglied 7)

Die Homogenitätserwartung an Primärkollektive, wie sie sta-tische Konzepte nahelegen, in diesem Fall die Vorstellung ei-ner nationalen Geschichtsinterpretation, welche die beteilig-ten Historiker prägte, verfängt also ebenfalls nicht. Es wird deutlich, dass die Verwendung solcher Modelle zu einer un-zulässigen Komplexitätsreduktion führt, die keine nachvoll-ziehbaren Erklärungsansätze für die Arbeitsweise der Kom-mission liefert (siehe auch zum Verhältnis Homogenität und Nation (Homogenitätsprämisse) in diesem Heft: Hansen 2009b).

Insgesamt wird deutlich: Weder traditionelle, statische Model-le noch die neueren, trägerlosen Konzepte sind in der Lage, die Arbeits- und Wirkungsweise der Historikerkommission in ihrer Komplexität angemessen zu beschreiben, da sie keine Erklärungsgrundlage anbieten, wie innerhalb des transnatio-nalen, heterogenen Kollektivs Historikerkommission Ergebnis-se, bzw. Lösungen erarbeitet werden, die in der Folge zu ei-ner Verständigung der drei Staaten beitragen.

Weiterhin wird deutlich, dass sich die Fragen nach dem Kul-turträger (in diesem Fall die Historikerkommission) und die Frage nach der Kulturproduktion (Entstehung von Lösungen) unmittelbar bedingen. Ein Modell, das den komplexen Ge-

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genstand Historikerkommission erklären will, muss daher bei-de Aspekte – auch in ihrer Wechselwirkung – betrachten.

4. Anregungen zu einem neuen Modell

Nachdem die Aussagekraft traditioneller kulturwissenschaft-licher Modelle zur Beantwortung der Frage, wie eine komple-xe transnationale Kommission zusammenarbeitet und Lösun-gen produziert, relativiert wurde, soll im Folgenden ein alter-natives Modell vorgestellt werden, das einerseits die Komple-xität des Kulturträgers nicht unzulänglich reduziert und ande-rerseits schlüssige Erklärungen für die Entstehung von Lösun-gen innerhalb des Kollektivs (Kulturproduktion) liefert.

Grundlage des Modells bildet ein Kulturbegriff, der zwischen dem Begriff der Kultur (in diesem Fall z.B. den nationalkultu-rellen Sichtweisen auf Geschichte, aber auch die in der Kom-mission entwickelten Lösungen) und dem Begriff des Kultur-trägers (in diesem Fall z.B. die beteiligten Nationen, aber auch die Kommission selbst) unterscheidet.

Als Kulturträger definiert Hansen das Kollektiv, welches durch die „Ansammlung von Individuen mit gleichen Gewohnheiten oder gleichen Merkmalen“ gekennzeichnet ist. Während der Kollektivbegriff sich nach Hansen dabei auf das „Formale und Strukturelle konzentriert, fokussiert der Kulturbegriff wieder-um auf das Inhaltliche. Kultur und Kollektiv sind nach diesem Verständnis zwei Seiten einer Medaille“ (Hansen 2009a:16). Durch diese Trennung wird der Begriff Kultur auf seine ei-gentliche Bestimmung reduziert, indem mit Kultur die Ge-wohnheiten („habits“, nach Tylor 1871:1) von Menschen be-schrieben werden, „die miteinander zu tun haben“ (Rathje 2009a:170, vgl. auch 2009b)7.

Übertragen auf den Kontext der Historikerkommission bedeu-tet dies, dass seinen Mitgliedern als Mitglieder von National-kollektiven natürlich deren politische Interessen und offiziell vertretene Standpunkte bekannt sind. Als Individuen sind sie jedoch gleichzeitig in der Lage, diese zu befürworten aber auch abzulehnen, bzw. andere Standpunkte aufzunehmen und ihre eigenen ggf. zu modifizieren.

Wie am Beispiel der Historikerkommission deutlich wird, er-schöpft sich die Kollektivität eines Menschen dabei nicht in der Zugehörigkeit zu einer einzelnen Gruppierung. Menschen sind in vielen Kollektiven gleichzeitig verortet. Viele Kollektiv-zugehörigkeiten, wie Geschlecht oder Hautfarbe, sind wei-testgehend – wenn auch nicht unumkehrbar - vorgegeben, andere Kollektive lassen sich dazu gewinnen (Interessenkol-lektiv) oder werden durch schicksalhafte Ereignisse geprägt (Schicksalskollektiv). Die individuelle Identität setzt sich somit

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aus vielen Eigenschaften, Überzeugungen, Standpunkten und Vorlieben zusammen, die kollektiv unterstützt werden. Nach diesem Verständnis ist die persönliche Identität eine Addition von einerseits vorgegebenen und andererseits frei gewählten Kollektiven. Hansen beschreibt diese an sich einfache Tatsa-che als „Multikollektivität“ (siehe ausführlich bei Hansen 2009a:20-26.).

Individuen sind somit nicht als Baumaterial von Kollektiven zu verstehen und Kollektive selbst bestehen nicht aus Individuen. Sie können nur auf den Teil eines ihnen zugerechneten Indi-viduums zurückgreifen, der für das Kollektiv relevant ist. Die-se „partielle Gemeinsamkeit“ ist somit der einzige grundle-gende Konstitutionsfaktor der Kollektivität8 (Hansen 2009a:27).

Für die Beschreibung des komplexen transnationalen Kollek-tivs der Historikerkommission eröffnen sich durch diesen Zu-gang Erklärungsmöglichkeiten für das Zustandekommen von tragfähigen Lösungen, die auf politischer Ebene über Jahr-zehnte unmöglich schienen.

So konnten auf Basis der beschriebenen Untersuchung drei Hypothesen entwickelt werden, die zu einem verbesserten Verständnis der Arbeits- und Wirkungsweise der Historiker-kommission beitragen und als Modell zur Beschreibung ande-rer komplexer Kollektive herangezogen werden können.

Hypothesen:

1. Multikollektivität: Die Multikollektivität der Mitglieder ist kein Störfaktor, sondern eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen von Lösungen.

2. Optionalität: Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder wer-den situativ virulent.

3. Iterative Stabilität: Das Erreichen gemeinsamer Lösungen führt nicht zur Homogenisierung des Kollektivs, sondern trägt rückwirkend zur Erhaltung der Multikollektivität der Mitglieder und damit zum Fortbestand des Kollektivs bei.

4.1. Multikollektivität

Die Multikollektivität der Mitglieder ist kein Störfaktor, son-

dern eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen von

Lösungen.

Ausgehend von dem Befund individueller Multikollektivität erhöht sich die Beschreibung der Historikerkommission in ih-rer Komplexität zunächst deutlich, da ihre Mitglieder in einer Vielzahl für die Kommission relevanten Kollektiven gleichzei-tig verortet sind. Sie gehören jeweils dem Kollektiv der Deut-schen, Tschechen oder Slowaken an. Gleichzeitig sind sie Wissenschaftler, innerhalb dieses Kollektiv fühlen sie sich un-

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terschiedlichen Subkollektiven zugehörig, z.B. den Bohe-misten, Kunsthistorikern oder Nationalismusforschern. Einige bezeichnen sich als historische Spezialisten, andere als Gene-ralisten. Einige Mitglieder lassen sich dem Kollektiv der alten Generation europäischer Bildungsbürger zuordnen. Einige Mitglieder haben den gleichen Geburtsort, aber unterschied-liche Pässe.

Konsens

Beispiel: Opferzahlen

Konsens

Beispiel: Opferzahlen

Nichtentscheidbarkeit

Begriffspaar Vertreibung/Aussiedlung

Nichtentscheidbarkeit

Begriffspaar Vertreibung/Aussiedlung

LösungenLösungen

Kleinster gemeinsame Nenner

Beispiel: Skizze

Kleinster gemeinsame Nenner

Beispiel: SkizzeAlte Generation

Freunde

MultikollektivitätMultikollektivität

Wissenschaftler

Bohemisten

TschechenSlowaken

Deutsche

Abb. 1: Multikollektivität

Am Beispiel der Lösung der gemeinsamen Sprachregelung „Vertreibung/Aussiedlung“ wird deutlich, welche bedeutende Rolle die individuelle Multikollektivität der Mitglieder für die Arbeits- und Wirkungsweise der Historikerkommission spielt.

Während sich in Deutschland der Begriff „Vertreibung“ mehr oder weniger im öffentlichen Sprachgebrauch durchgesetzt hatte, wurde in Tschechien und in der Slowakei in diesem Zusammenhang jedoch der Begriff odsun (Aussiedlung) ver-wendet (Witte 2002).

Die Kommission stand vor der schwierigen Aufgabe, hier ei-nen allgemein anerkannten Begriff vorzuschlagen, der die historischen Geschehnisse angemessen beschreibt. Da sich die von den Nationalkollektiven präferierten Begriffe unter-schieden, konnte keiner der Begriffe allein verwendet wer-den. Eine Möglichkeit wäre gewesen, stattdessen auf den neutralen Begriff „Transfer“ zurückzugreifen, der auf der Potsdamer Konferenz von den Alliierten verwendet wurde. Diese Lösung wurde von den Mitgliedern jedoch abgelehnt, da diese „neutrale“ Perspektive ohne Bezug zu den beteilig-ten Kollektiven (in diesem Fall den drei Staaten) gewesen wä-re.

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Eine Lösung, die allen drei Nationalkollektiven gerecht wird, konnte nur gefunden werden, in dem sich die beteiligten Mit-glieder ihrer gemeinsamen Kollektivzugehörigkeit als Histori-ker bewusst wurden.

Ein Mitglied der Kommission beschreibt dies folgendermaßen:

“Wenn die deutsche Seite den Begriff Vertreibung verwendet, so sprechen wir [die Tschechen] von ‚odsun’, gemeinsam verwenden wir gegebenenfalls das Wort ‚Transfer’. Der Begriff ‚Vertreibung’ bezieht sich auch auf die wilden Vertreibungen, ‚Aussiedlung’ oder ‚Zwangsaussiedlung’ auf die organisierte Vertreibung (odsun). Wir bemühen uns, diese Begriffe nicht zu emotionalisieren, sondern daraus historische Fachtermini zu machen, die möglichst genau das erfassen, was geschehen ist.“ (Štepánková 1996: 5)

Die Kommission einigte sich schließlich auf die Doppelbe-zeichnung „Vertreibung/Aussiedlung“, die zum einen auf das Schicksalskollektiv gemeinsamer Geschichte zurückgreift, in dem ein neutraler Begriff vermieden wurde, zum anderen den unterschiedlichen Perspektiven der Nationalkollektive Rechnung trägt und schließlich das Bemühen um geschichtli-che Präzision der Mitglieder als Historiker in sich trägt.

Als erstes Fazit lässt sich also festhalten: Da sich die Mitglie-der in der Kommission durch Multikollektivität auszeichnen und kein Mitglied gesamthaft z.B. in seinem Nationalkollektiv aufgeht, sind konsensuale Lösungen möglich, die von allen Beteiligten getragen werden können. Keine der gefundenen Lösungen ist monokollektiv zu erklären. Die Lösung zeigt darüber hinaus, dass die Multikollektivität der Individuen be-sonders durch die schützende Hülle, welche sich durch die Konstitution als transnationale Kommission ergibt, wirksam werden kann.

4.2. Optionalität

Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden situativ viru-

lent.

Die oben dargestellte individuelle Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven erweist sich nicht zu jedem Zeitpunkt als gleich-zeitig relevant. In bestimmten Situationen überwiegt die Zu-gehörigkeit zu Nationalkollektiven, in anderen die Zugehörig-keit zur Kommission oder als Wissenschaftler.

Die gemeinsame Lösung hinsichtlich der Opferzahlen der Ver-treibung/Aussiedlung von max. 30.000 wird von den Mitglie-dern der Kommission als Konsens bezeichnet. Bei der Beurtei-lung dieser Lösung stehen vor allem die Kollektivzugehörig-keiten Wissenschaftler / Historiker im Vordergrund.

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Kommunikative Funktion

Kommunikative Funktion

Möglichkeit zur Kommunikations-fortschreibung

Möglichkeit zur Kommunikations-fortschreibung

Erzeugung von EinigkeitErzeugung von Einigkeit

Akzeptanz von DifferenzenAkzeptanz von Differenzen

Konsens

Beispiel: Opferzahlen

Konsens

Beispiel: Opferzahlen

Nichtentscheidbarkeit

BegriffspaarVertreibung/Aussiedlung

Nichtentscheidbarkeit

BegriffspaarVertreibung/Aussiedlung

LösungenLösungen

Situation: Kommissionsmitglieder wollen Thema der Opferzahlen endgültig klären, damit die Diskussion in der Kommission aber auch in den Ländern versachlicht wird.

Situation: Kommissionsmitglieder wollen Thema der Opferzahlen endgültig klären, damit die Diskussion in der Kommission aber auch in den Ländern versachlicht wird.

Kleinster gemeinsame Nenner

Beispiel: Skizze

Kleinster gemeinsame Nenner

Beispiel: Skizze

AlteGeneration

Slowaken Tschechen

Freunde

Deutsche

WissenschaftlerWissenschaftler

MultikollektivitätMultikollektivität

Abb. 2: Optionalität

„Wir sind unabhängige Wissenschaftler, Historiker [...]. In so einer Frage gibt es keinen Kompromiss“ (Interview Mitglied 1). „Wir haben erkannt, dass Konsens nicht (nationale) Identi-tät bedeutet“ (Interview Mitglied 22).

Das nationale Kollektivempfinden ist somit bei dieser Frage in den Hintergrund getreten. Die nationale präkollektive Prä-gung hat weniger eine Rolle gespielt, als die Differenzen, die durch die intrakollektive Heterogenität in der Gruppe der Wissenschaftler entstanden sind. Diese intrakollektiven Hete-rogenitäten, wie unterschiedliche Auffassungen über Metho-den der Datenanalyse, sind als Wissenschaftler im Gegensatz zu nationalen Perspektiven jedoch lösbar. Es erscheint daher folgerichtig, dass in diesem Fall das Kollektiv Wissenschaftler in den Vordergrund getreten ist. Ein weiterer interessanter Aspekt des Kollektivs Wissenschaftler wird deutlich, wenn man sich seine Adjektivierung durch die Mitglieder ansieht: „Wir entstammen doch eigentlich alle einer mitteleuropäi-schen Wissenschaftstradition“ (Interview Mitglied 7).

Diese Bewusstwerdung gemeinsamer Traditionen bzw. die Entdeckung pankollektiver Zugehörigkeit führt wiederum da-zu, dass der Begriff „Konsens“ mit Leben gefüllt werden kann: Was bedeutet Konsens in der mitteleuropäischen Wis-senschaftstradition? Man stimmt nicht etwa ab über einen Kompromiss, sondern man tauscht Argumente aus und führt den Diskurs so lange, bis eine Einigung im Sinne allgemeiner Anerkennung der Ergebnisse erzielt wird.

Unterschiedliche Kollektivzugehörigkeiten, so ist zu vermuten, werden in einem heterogenen Kollektiv situativ virulent. Da-bei erfüllen sie kommunikative Wirkungen: Wenn in diesem Fall das Kollektiv Wissenschaft hervorgehoben wird, dient es

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dazu, Einigkeit zwischen Deutschen, Tschechen und Slowa-ken zu erzielen, indem an das Selbstverständnis der Mitglie-der als Wissenschaftler appelliert wird. Diese führt zu vergrö-ßertem Handlungsspielraum, da das Interesse, eine gemein-same Geschichte zu schreiben, für die Mitglieder in der Histo-rikerkommission wichtiger war, als das vorhandene Trennen-de. Kollektive oder Kollektivkonstruktionen werden situati-onsabhängig mal mehr, mal weniger wichtiger. Die Mitglie-der sind in der Lage, ihre Kollektivzugehörigkeiten unter-schiedlich virulent werden zu lassen. In diesem Sinne erhöht die Konstellation als Transnationaler Akteur den Handlungs-spielraum der Mitglieder, da Kollektivzugehörigkeiten situativ je nach gesuchter Lösung angesprochen werden können.

4.3. Iterative Stabilität

Das Erreichen gemeinsamer Lösungen führt nicht zur Homo-

genisierung des Kollektivs, sondern trägt rückwirkend zur Er-

haltung der Multikollektivität der Mitglieder und damit zum

Fortbestand des Kollektivs bei.

Warum war die Erzeugung von Konsens in Fall der Opferzah-len wichtig? Was wäre passiert, wenn z.B. ein rechnerischer Kompromiss gefunden worden wäre, also z.B. 125.000 Op-fer, um zu verhindern, dass die gute, freundschaftliche Atmo-sphäre innerhalb der Kommission gestört wird?

Kommunikative Wirkung

Kommunikative Wirkung

Möglichkeit zur Kommunikations-fortschreibung

Möglichkeit zur Kommunikations-fortschreibung

Erzeugung von EinigkeitErzeugung von Einigkeit

Akzeptanz von DifferenzenAkzeptanz von Differenzen

Konsens

Beispiel: Opferzahlen

Konsens

Beispiel: Opferzahlen

Nichtentscheidbarkeit

BegriffspaarVertreibung/Aussiedlung

Nichtentscheidbarkeit

BegriffspaarVertreibung/Aussiedlung

LösungenLösungen

Kleinster gemeinsame Nenner

Beispiel: Skizze

Kleinster gemeinsame Nenner

Beispiel: Skizze

AlteGeneration

Slowaken Tschechen

Freunde

Deutsche

WissenschaftlerWissenschaftler

Alte Generation

Slowaken Tschechen

Freunde

Deutsche

Bohemisten

Wissenschaftler

MultikollektivitätMultikollektivität

Abb. 3: Iterative Stabilität

Eine mögliche Antwort lautet: Die gefundenen Lösungen wir-ken auf die Kollektive selbst zurück.

So wäre es für viele Mitglieder aufgrund ihrer Kollektivzuge-hörigkeit als Historiker in der Frage der Opferzahlen nicht hin-nehmbar gewesen, einen „faulen“, da historisch nicht gesi-

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cherten Kompromiss einzugehen, der ihr Selbstverständnis als Wissenschaftler in Frage gestellt hätte.

“Kompromisse kann es in der Geschichtswissenschaft eigentlich gar nicht geben. Oder nur in ganz simplen Fällen. Wenn es aber unterschiedliche Vorstellungen über Opferzahlen gibt, ist es praktisch unmöglich: ‚Wir neh-men jetzt an, dass die Opferzahlen in der Mitte liegen’. Das macht nie-mand, da das unseriös ist. Dann bleibt man lieber dabei, dass es unter-schiedliche Vorstellungen darüber gibt.” (Interview Mitglied 1)

Ein Kompromiss in dieser oder ähnlichen Fragen hätte ent-sprechend zur Folge, dass Mitglieder, die gegen ihre Über-zeugung gehandelt haben, sich von den Mitgliedern der je-weils anderen Gruppe (in diesem Fall den nationalen Kollekti-ven) übervorteilt fühlen, sich entsprechend zurückziehen und ihre nationalkollektiven Zugehörigkeiten virulent werden las-sen. Es kommt in der Folge zu Verhärtungen an den virulen-ten Kollektivgrenzen, der zukünftige Handlungsspielraum und damit auch die Möglichkeit, weitere Lösungen zu erzielen, schränken sich ein.

Eine gemeinsame Lösung führt also nicht dazu, dass in Zu-kunft Heterogenitäten weniger relevant werden bzw. die Gruppe vereinheitlicht, sondern im Gegenteil die Flexibilität der individuellen Multikollektivität weiter bestehen bleibt. Stabilität eines komplexen Kollektivs wie der Historikerkom-mission entsteht also gerade nicht aus ihrer Einheitlichkeit, sondern ihrer Fähigkeit die Multikollektivität ihrer Mitglieder langfristig zu erhalten. Nur dann ist es dem Einzelnen immer wieder möglich, andere Kollektive als das Nationale virulent werden zu lassen und „ein Eigentor zu schießen.“

Zur Erklärung von Konfliktlösungen innerhalb heterogener Kollektivs müssen daher immer zwei Perspektiven betrachtet werden: Welche Wirkung haben die beteiligten Kollektive auf das Finden von Lösungen und welche Wirkung haben die Lö-sungen auf die Kollektive.

5. Schlussfolgerungen und Ausblick

Aus den dargestellten Ergebnissen einer Untersuchung der His-torikerkommission lassen sich folgende Schlussfolgerun-gen für die Beschreibung komplexer heterogener Kollektive ziehen.

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Iterative StabilitätDas Erreichen gemeinsamer Lösungen führt nicht zur Homogenisierung des Kollektivs, sondern trägt rück-wirkend zur Erhaltung der Multikollektivität der Mit-glieder und damit zum Fortbestand des Kollektivs bei.

Iterative StabilitätDas Erreichen gemeinsamer Lösungen führt nicht zur Homogenisierung des Kollektivs, sondern trägt rück-wirkend zur Erhaltung der Multikollektivität der Mit-glieder und damit zum Fortbestand des Kollektivs bei.

OptionalitätKollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden situativ virulent.

OptionalitätKollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden situativ virulent.

MultikollektivitätDie Multikollektivität der Mitglieder ist kein Störfaktor, sondern eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen von Lösungen.

MultikollektivitätDie Multikollektivität der Mitglieder ist kein Störfaktor, sondern eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen von Lösungen.

KomplexitätsreduktionKomplexitätsreduktion

Ko

mplexitätserh

öhu

ng

Ko

mp

lexitätserhöh

un

g

Darstellbarkeit von Wirkungen der Lösungen auf die Kollektive

Darstellbarkeit von Wirkungen der Lösungen auf die Kollektive

Darstellbarkeit von kollektiven Funktionen auf die Findung von Lösungen

Darstellbarkeit von kollektiven Funktionen auf die Findung von Lösungen

Darstellbarkeit von Kollektivzugehörigkeiten

Darstellbarkeit von Kollektivzugehörigkeiten

Kommunikative Wirkung

Kommunikative Wirkung

Möglichkeit zur Kommunikations-fortschreibung

Möglichkeit zur Kommunikations-fortschreibung

Erzeugung von EinigkeitErzeugung von Einigkeit

Akzeptanz von DifferenzenAkzeptanz von Differenzen

Konsens

Beispiel: Opferzahlen

Konsens

Beispiel: Opferzahlen

Nichtentscheidbarkeit

BegriffspaarVertreibung/Aussiedlung

Nichtentscheidbarkeit

BegriffspaarVertreibung/Aussiedlung

LösungenLösungen

Kleinster gemeinsame Nenner

Beispiel: Skizze

Kleinster gemeinsame Nenner

Beispiel: Skizze

AlteGeneration

Slowaken Tschechen

Freunde

Deutsche

WissenschaftlerWissenschaftler

Alte Generation

Slowaken Tschechen

Freunde

Deutsche

Bohemisten

Wissenschaftler

MultikollektivitätMultikollektivität

Abb. 4: Komplexitätsreduktion durch Komplexitätserhöhung

Methodisch scheint bei der Beschreibung solcher Kollektive zunächst eine gewisse Komplexitätserhöhung notwendig zu sein, um alle relevanten beteiligten Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder zu erfassen. Es wird deutlich, dass Konflikte und Lösungen nicht vollständig erklärbar sind, wenn man zu einfache statische Kulturträgerkonzepte verwendet: Man be-nötigt eine differenziertere Betrachtungsweise, die die Gleichzeitigkeit von Kollektivzugehörigkeit (Multikollektivität), ihre situative Ausprägung und auch die Rückwirkungen be-stimmter gemeinsamer Erfahrungen (Lösungen) auf das Kol-lektiv berücksichtigen. Dies bedeutet jedoch auf der anderen Seite nicht, dass dadurch eine unüberschaubare Komplexität geschaffen würde, wie sie trägerlose Konzepte nahelegen.

Im Gegenteil führt die vorgenommene Perspektiverweiterung letztlich zu übersichtlichen und nachvollziehbaren Erklärungs-ansätzen, wie es zu bestimmten Prozessen innerhalb des Kol-lektivs kommt.

Als Fazit lässt sich daher im Hinblick auf die Möglichkeiten allgemeiner Kulturbeschreibung festhalten: Gezielte und

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„was politische Akteure tun, warum sie es tun uns was sie letztlich bewirken“ (Dye 1972:1, Schneider / Janning 2006:11). Als anwendungsorientierte Wissenschaft reagiert die Politikwissenschaft mit dem Ansatz auch auf das Bedürf-nis der politischen Akteure, wissenschaftliche Beratung in komplexen Politikfeldern zu bekommen. Die Gründe hierfür sind die zunehmende Komplexität sozialer und ökonomischer Sachzusammenhänge, der Steuerungsverslust des Staates durch externaliserte Entscheidungszusammenhänge, ein ge-ringes Fachwissen (Expertisen) von gewählten Entscheidungs-trägern, der Wunsch nach Komplexitätsreduktion, eine Irrita-tionsvermeidung von Lobbying, die Legitimation von politi-schen Zielen bzw. Entscheidungen und letztlich auch eine Ef-fektivitätssteigerung des politischen Outputs. Das Hauptau-genmerk der Politikfeldanalyse richtet sich dabei auf die in-haltliche Dimension von Politik, die mit dem englischen Beg-riff „Policy“ erfasst wird (Schneider / Janning 2006:15). 2 Als ein weiteres Beispiel kann die türkisch-armenische Histo-rikerkommission angeführt werden. Die Einrichtung wird von Seiten der Bundesrepublik des Öfteren gefordert, wie an dem interfraktionellen Antrag: „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Ar-meniern beitragen“ (Bundestag 2005) deutlich wird. In dem Antrag wird die Bundesregierung explizit aufgefordert, eine Historikerkommission zu unterstützen. Das Dokument ver-weist darauf, dass der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bereits selbst die Einrichtung einer bilateralen türkisch-armenischen Historikerkommission vorgeschlagen hat. Neben den Historikerkommissionen existieren als zweite Form Schulbuchkommissionen. Exemplarisch hierfür kann die deutsch-französische und die deutsch-polnische Schulbuch-kommission (Strobl 2005, Schulz 2006) angeführt werden. 3 „Robuste Ergebnisse“ sind nach der Definition von Star (2004:60):„komplexe von Handlungen, die jede für sich allein genommen nicht als gültig oder zuverlässig standhalten wür-den, gemeinsam jedoch die Welt für eine Reihe von Zwecken hinreichend gut beschreiben und handhaben. Die Robustheit eines Ergebnisses oder Ansatzes wird durch die Veränderung einzelner Elemente nicht beeinträchtigt. Sie besteht aus von-einander abhängigen Teilen. In diesem Sinne robuste [...] [Er-gebnisse] sind charakterisiert durch historische Kontinuität und durch eine ausreichende Zahl politischer Verbündeter, um ihr Überleben zu garantieren.“ 4 „Historisierte Konflikte“ sind Konflikte, die sich an aktuellen Meinungsverschiedenheiten (zwischen Nationen) entzünden, deren Ursprünge jedoch in Konflikten der Vergangenheit lie-

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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexi-tät zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung

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gen, die zumindest auf einer Seite zu gravierenden Verlusten von Menschenleben oder Besitzstand geführt haben und nie ausgeglichen werden konnten. Diese ausgesprochenen oder unausgesprochenen Verluste wirken in der Beziehung zwi-schen den Nationalstaaten wie Altlasten und verleihen ihr ei-ne schwer kontrollierbare Eigendynamik: Jede Kommunikati-on zwischen den Beteiligten muss sich implizit immer wieder auf den zurückliegenden Konflikt beziehen, der auf diese Weise in seiner historischen Unlösbarkeit perpetuiert wird und aktuelle Beziehungen latent belastet (Schulz 2009). 5 Das Modell der „Expertenkommission“ und das Konzept des „Transnationalen“ scheinen sich idealtypisch zu bedingen. Die Vorwürfe, die gegen Expertenkommissionen und transna-tional agierende Akteure vorgebracht werden, scheinen die gleichen zu sein, wie z.B. Intransparenz und Abgeschlossen-heit. Auch der Vorwurf, dass trilaterale Kommissionen eine Art Global Governance anstreben, welches dem Konzept der „Governance without Government“ entspricht, steht als Vorwurf gegenüber Expertenkommissionen ebenfalls im Raum. Trotz der zum Teil sicherlich nicht ganz unberechtigten Vorwürfe scheint es, als ergebe gerade die Konstellation einer transnational organisierten Expertenkommission nach der ein-fachen Formel: Vorwurf + Vorwurf = Vorteil vielseitige Vortei-le zur Lösung internationaler Konflikte. 6 Gründungsmitglieder waren von deutscher Seite der Vorsit-zende der deutschen Sektion Rudolf Vierhaus (Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen), Detlef Brandes (Universi-tät-Oldenburg), Ludolf Herbst (Institut für Zeitgeschichte München), Hans Lemberg (Universität Marburg), Hans Mommsen (Universität Bochum) und Ferdinand Seibt (Colle-gium Carolinum). Von tschechoslowakischer Seite waren un-ter dem Vorsitz von Jan Křen die Historiker Toman Brod, Jozef Jablonický, Jíří Kořalka, Dušan Kováč, Rudolf Kučera und Vác-lav Kural vertreten. 7 „Der Begriff der Gewohnheiten enthält kognitive Ressour-cen bzw. auch (historische) Wissensvorräte genauso wie Ver-haltensweisen. Sie sind permanenter dynamischer Verände-rung unterworfen und können uneinheitlich und wider-sprüchlich sein. Mitglieder müssen sie weder besonders ver-innerlichen oder gar explizit für gut befinden, noch selbst ü-bernehmen oder praktizieren. Um den Tatbestand „Kultur“ zu erfüllen, genügt es, dass diese Gewohnheiten Menschen, die mit einander zu tun haben, bekannt oder vertraut sind. Im Gegensatz zu individueller Idiosynkrasie beziehen sich kultu-relle Gewohnheiten also immer auf mehrere: Kultur beginnt dort, wo mehrere Menschen miteinander interagieren, sie

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endet bei den Eigenheiten des Einzelnen.“ (Rathje 2009a:170) 8 Die Einschränkung der partiellen Gemeinsamkeit klammert den individuellen Überschuss, wie er bei Simmel beschrieben ist, aus. Damit dem Individuum weitere Kollektive offen ste-hen, darf es in jedem nur partiell verankert sein: „Jedes Ele-ment einer Gruppe [ist] nicht nur Gesellschaftssteil, sondern außerdem noch etwas“ (Simmel 1983:283). Hieraus folgt, dass der Einzelne zugleich innerhalb wie außerhalb steht, o-der anders formuliert, „die soziale Umfassung als solche be-trifft eben Wesen, die nicht völlig von ihr umfasst sind“ (Ritsert 2000:71, siehe auch Rathje 2009a).