The Grass is Greener on the Other Side – Or is it, Really?€¦ · Georges Canguilhem, Robert...

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188 GROSSBRITANNIEN Forschung & Lehre 3|09 I ch bin ein Bulmahn-Flüchtling. Was das ist, fragen mich die Leute immer. Einer von den Heerscharen der Drittmittelforscher, sage ich dann, die sich seinerzeit von Vertrag zu Ver- trag hangelten, in meinem Falle mit selbst eingeworbenem Geld, dabei noch eine Habilitation ergatterten, aber keine feste Stelle im System, und denen Frau Bulmahn den Garaus machen wollte. Oder, die freundlichere Lesart, für die Frau Bulmahn eine Stelle im Universi- tätssystem erstreiten wollte, indem sie die Weiterführung der Verträge schlicht untersagte, in der Hoffnung, die Univer- sitäten würden dann im Keller noch rasch ein paar Stellen finden. Weil die Universität natürlich keine Stelle für mich hatte, musste ich mich also ent- scheiden: aufhören oder weg. Ich bin weg, nach England. Und damit es keine Missverständnisse gibt: Ich bin den Engländern sehr dankbar, dass sie mich aufgenommen haben, und nirgendwo vorher hatte ich so nette Kollegen. Hier konnte ich eine der relativ seltenen Re- search Professorships ergattern. Das ist eine Stelle, die speziell dafür eingerich- tet wurde, das Forschungsportfolio ei- ner Abteilung voranzubringen. Anders als in Deutschland sind Professorenstel- len in England in der Regel nicht „aus- gestattet“. Das heißt, man füllt seine Formulare selber aus und macht auch sonst alles selber. „Full economic costing“ Ich bin hier wieder ein bisschen unty- pisch, weil ich mir meine Drittmittel, die Frau Bulmahn nicht mehr außer- halb eines ordentlichen Professorenver- hältnisses in Deutschland verwaltet se- hen wollte, mitgenommen habe. Davon kann ich mir neben einigen Doktoran- den so eine Art Personal Assistant fi- nanzieren, also ein Sekretariat, halbtags mindestens. Das ist kitzlig. Denn im pu- ritanischen englischen System, wo man eben seine Handbücher im elektroni- schen Dschungel selber zu finden hat und seine Formulare selber ausfüllt, ha- ben nur wirklich wichtige Leute Sekre- tariate, also Dekane, Vice-Chancellors (wie die Rektoren hierzulande heißen) und ähnlich bedeutende Funktionsträ- ger des Systems. Sekretariate einrichten ist nicht ganz so geradlinig wie in Deutschland. Denn hierzulande herrscht „full economic costing“. Das heißt: Stellen werden nicht nur mit den Kosten veranschlagt, die man für Ge- halt und die Gehaltsnebenkosten aufzu- wenden hat, sondern schlagen auch mit unsichtbaren Nebenkosten zu Buche: mit dem Büroraum; mit den Heizkos- ten, die exorbitant sind, weil bekannt- lich Thermostatventile, wirklich effi- ziente Verglasungen oder gar isolierte Wände nach England nur in vereinzel- ten Horden vorgedrungen und rasch in Enklaven versteckt worden sind. Dann braucht ja jede gute Universität eine Verwaltung, versteht sich. Harvard, so habe ich unlängst in Times Higher Edu- cation gelesen, hat angeblich die höchs- te Verwaltungsrate aller Universitäten mit ca. 78 Prozent Verwaltern, Sekreta- riate der Professoren mit eingerechnet. Da waren sie nicht gut informiert, die Freunde von Times Higher. Die höchste Rate haben nämlich wir mit 102 Pro- zent. Jawohl. Jeder Akademiker finan- ziert 1,02 Stellen in der Verwaltung mit (keine Sekretariate für Professoren, wohlgemerkt). All das will ja nun also bezahlt wer- den. Daher kann ich nicht einfach eine Sekretariatsstelle mit meinen Drittmit- teln bezahlen. Sonst müsste ich nämlich das Geld für zwei Stellen aufbringen, um eine zu bekommen. Aber ich bin ja pfiffig. Daher schaffe ich mir kein Sekretariat an, sondern arbeite mit studentischen Kräften. Die muss man nämlich nicht zusätzlich finanzieren, weil die schon im System mitgerechnet sind. Und dann muss ich folgenderma- ßen rechnen: Ich muss irgendwie schauen, dass ich das Geld, das ich als Gehalt erhalte, wieder reinwirtschafte, denn jetzt organisiere ich mir ja mein Gehalt nicht über Drittmittel selber, wie früher. Ein Grund damals für mich hier- herzukommen war ja, dass die Universi- tät mich bezahlt. Dafür will sie etwas zurückhaben. Jetzt, da meine Institution entschieden hat (nicht ich, wohlge- merkt), sich gar nicht um Forschungs- geld über das Research Assessment Exercise (RAE) in meinem Fach zu be- werben, ist die ursprüngliche Rechnung, mit der man meine Stelle geschaffen hat The Grass is Greener on the Other Side – Or is it, Really? Erfahrungen eines Bulmahn-Flüchtlings an englischen Universitäten | H ARALD W ALACH | Angesichts der permanenten Reformen an deutschen Universitäten kommt so manchem Hochschullehrer der Gedanke, sein Glück im Ausland zu suchen. Ob Großbritannien vielleicht das ge- lobte Land sein könnte? Ein Erfahrungsbericht. AUTOR Harald Walach ist Research profes- sor for Psychology an der Univer- sity of Northampton/England. Er ist Präsident der international So- ciety for Complementary Medicine Research. »Ich bin ja pfiffig. Daher schaffe ich mir kein Sekretariat an, sondern arbeite mit studentischen Kräften.«

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Page 1: The Grass is Greener on the Other Side – Or is it, Really?€¦ · Georges Canguilhem, Robert Fossier, Paul Collier u.v.m. Rechercheist in Deutschland und Österreich am Kiosk und

188 G R O S S B R I T A N N I E N Forschung & Lehre 3|09

Ich bin ein Bulmahn-Flüchtling.Was das ist, fragen mich die Leuteimmer. Einer von den Heerscharen

der Drittmittelforscher, sage ich dann,die sich seinerzeit von Vertrag zu Ver-trag hangelten, in meinem Falle mitselbst eingeworbenem Geld, dabei nocheine Habilitation ergatterten, aber keinefeste Stelle im System, und denen FrauBulmahn den Garaus machen wollte.Oder, die freundlichere Lesart, für dieFrau Bulmahn eine Stelle im Universi-tätssystem erstreiten wollte, indem siedie Weiterführung der Verträge schlichtuntersagte, in der Hoffnung, die Univer-sitäten würden dann im Keller nochrasch ein paar Stellen finden. Weil dieUniversität natürlich keine Stelle fürmich hatte, musste ich mich also ent-scheiden: aufhören oder weg. Ich binweg, nach England. Und damit es keineMissverständnisse gibt: Ich bin denEngländern sehr dankbar, dass sie michaufgenommen haben, und nirgendwovorher hatte ich so nette Kollegen. Hierkonnte ich eine der relativ seltenen Re-search Professorships ergattern. Das isteine Stelle, die speziell dafür eingerich-tet wurde, das Forschungsportfolio ei-ner Abteilung voranzubringen. Andersals in Deutschland sind Professorenstel-len in England in der Regel nicht „aus-gestattet“. Das heißt, man füllt seine

Formulare selber aus und macht auchsonst alles selber.

„Full economic costing“Ich bin hier wieder ein bisschen unty-pisch, weil ich mir meine Drittmittel,die Frau Bulmahn nicht mehr außer-halb eines ordentlichen Professorenver-hältnisses in Deutschland verwaltet se-hen wollte, mitgenommen habe. Davonkann ich mir neben einigen Doktoran-den so eine Art Personal Assistant fi-nanzieren, also ein Sekretariat, halbtagsmindestens. Das ist kitzlig. Denn im pu-ritanischen englischen System, wo maneben seine Handbücher im elektroni-

schen Dschungel selber zu finden hatund seine Formulare selber ausfüllt, ha-ben nur wirklich wichtige Leute Sekre-tariate, also Dekane, Vice-Chancellors(wie die Rektoren hierzulande heißen)und ähnlich bedeutende Funktionsträ-ger des Systems. Sekretariate einrichtenist nicht ganz so geradlinig wie inDeutschland. Denn hierzulandeherrscht „full economic costing“. Dasheißt: Stellen werden nicht nur mit denKosten veranschlagt, die man für Ge-halt und die Gehaltsnebenkosten aufzu-wenden hat, sondern schlagen auch mitunsichtbaren Nebenkosten zu Buche:mit dem Büroraum; mit den Heizkos-ten, die exorbitant sind, weil bekannt-lich Thermostatventile, wirklich effi-ziente Verglasungen oder gar isolierte

Wände nach England nur in vereinzel-ten Horden vorgedrungen und rasch inEnklaven versteckt worden sind. Dannbraucht ja jede gute Universität eineVerwaltung, versteht sich. Harvard, sohabe ich unlängst in Times Higher Edu-cation gelesen, hat angeblich die höchs-te Verwaltungsrate aller Universitätenmit ca. 78 Prozent Verwaltern, Sekreta-riate der Professoren mit eingerechnet.Da waren sie nicht gut informiert, dieFreunde von Times Higher. Die höchsteRate haben nämlich wir mit 102 Pro-zent. Jawohl. Jeder Akademiker finan-ziert 1,02 Stellen in der Verwaltung mit(keine Sekretariate für Professoren,wohlgemerkt).

All das will ja nun also bezahlt wer-den. Daher kann ich nicht einfach eineSekretariatsstelle mit meinen Drittmit-teln bezahlen. Sonst müsste ich nämlich

das Geld für zwei Stellenaufbringen, um eine zubekommen. Aber ich binja pfiffig. Daher schaffeich mir kein Sekretariatan, sondern arbeite mit

studentischen Kräften. Die muss mannämlich nicht zusätzlich finanzieren,weil die schon im System mitgerechnetsind. Und dann muss ich folgenderma-ßen rechnen: Ich muss irgendwieschauen, dass ich das Geld, das ich alsGehalt erhalte, wieder reinwirtschafte,denn jetzt organisiere ich mir ja meinGehalt nicht über Drittmittel selber, wiefrüher. Ein Grund damals für mich hier-herzukommen war ja, dass die Universi-tät mich bezahlt. Dafür will sie etwaszurückhaben. Jetzt, da meine Institutionentschieden hat (nicht ich, wohlge-merkt), sich gar nicht um Forschungs-geld über das Research AssessmentExercise (RAE) in meinem Fach zu be-werben, ist die ursprüngliche Rechnung,mit der man meine Stelle geschaffen hat

The Grass is Greener on theOther Side – Or is it, Really?Erfahrungen eines Bulmahn-Flüchtlingsan englischen Universitäten

| H A R A L D W A L A C H | Angesichts der permanentenReformen an deutschen Universitäten kommt so manchem Hochschullehrer derGedanke, sein Glück im Ausland zu suchen. Ob Großbritannien vielleicht das ge-lobte Land sein könnte? Ein Erfahrungsbericht.

A U T O R

Harald Walach ist Research profes-sor for Psychology an der Univer-sity of Northampton/England. Erist Präsident der international So-ciety for Complementary MedicineResearch.

»Ich bin ja pfiffig. Daher schaffe ichmir kein Sekretariat an, sondernarbeite mit studentischen Kräften.«

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– Forscher mit Profil bringt gute RAE-Ergebnisse, bringt neues Geld, finan-ziert sich damit selber und macht erstnoch Lehre, bingo! – nicht aufgegangen.Irgendwie hatte ich das schon geahntund habe darum einen Masterkurs auf-gebaut, in dem ich jetzt unterrichte, unddas finde ich auch nicht weiter schlimm.Jetzt muss ich schauen, dass die Kassestimmt und genügend Studenten mei-nen Kurs belegen. Ja richtig: Werbungist auch mein Job, obwohl wir ein eige-nes Department haben, das für Öffent-lichkeitsarbeit zuständig ist; aber diewerden nur aktiv, wenn ich sie explizitanfrage und mein Dekan die Kostenübernimmt, was er nicht kann, weil erkein Geld hat.

Und dass das mit dem Defizit nichteinfach ein fauler Trick war, hat der De-kan schnell klar gemacht. Indem er ei-nen von unseren Geschichtsprofessorenkurzerhand entlassen hat. Geht nicht,

meinen Sie? Dauerstelle, meinen Sie?Naja, schauen Sie sich die deutsche Au-toindustrie an. Was meinen Sie, passiertdort mit den Ingenieuren, wenn sich dieLeute mal keine BMWs mehr leistenkönnen?

Deutsch und Französisch könnensie zwar nicht, die Engländer, und La-tein auch immer seltener, aber rechnenkönnen sie. So hat sich also unser De-kan ausgerechnet (mutmaßlicher, mög-licherweise unbewusster Gedanken-gang): Wenn er einen Jungen rauswirft,spart er nur ca. 25 000 Pfund. Der Jungemacht ihm aber genauso viel Lehre wieder Alte. Außerdem kann er den Jungen

eher noch ein bisschen herumwaggo-nieren als den Alten. Also gleich einenAlten rausgeschmissen, das spart imPrinzip gleich zwei Stellen, die man an-derswo besser einsetzen kann als in derGeschichte. Das passt sowieso nicht so

gut in die neue Land-schaft, wo sich eine Uni-versität wie die unsere inder Ära nach dem RAE als„locally embedded“ und„business facing“ präsen-tieren muss.

Als mein Kollege die Kündigung er-hielt, war ich nicht schlecht erstaunt. Erhatte mit mir vor knapp vier Jahren an-gefangen. Er wurde angeheuert, weilman sich erwartete, dass unsere Histori-ker gute Ergebnisse beim RAE einwirt-schaften würden. Haben sie auch; dergefeuerte Kollege hatte meines WissensEinstufung 4 erhalten, das höchste Ra-ting, das so viel Geld einbringt, dass sei-

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»Der Dekan hat einen teuerenHistoriker entlassen, für den ersich zwei billigere jungePsychologen leisten kann.«

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ne Stelle und noch mehr locker wiedereingewirtschaftet wird. Allerdings hatteman das nicht abgewartet. Jetzt hat un-ser Dekan zwei Fliegen mit einer Klap-pe geschlagen: Er hat einen teuerenHistoriker entlassen, für den er sichzwei billigere junge Psychologen leistenkann. Und er hat das RAE-Geld für dienächsten fünf Jahre sicher, das ihm derbesagte Historiker eingefahren hat. Gut,dass ich damals im vorauseilenden Ge-horsam meinen eigenen Masterkursaufgebaut habe, der mittlerweile gut be-sucht wird und damit meine Existenz-berechtigung einigermaßensichert. Unser Dekan ist übri-gens persönlich ein netterund umgänglicher Mensch,mit Manieren und Kommuni-kationstraining.

Das Research AssessmentExercise

In England gibt es einige Institutionen,die sind dauerhaft und verlässlich: derLinksverkehr, die Monarchie, der Adelund die Klassengesellschaft, schlechteIsolationen und dazugehörige Klemp-ner. Und es gibt viele Institutionen, diesind dem permanenten Wandel unter-worfen, oder sie sind der manifeste

Wandel. Dazu gehört die Hochschulpo-litik. Einhundertneunundreißig Hoch-schulen hat das Land, in dem etwa 55Millionen Einwohner leben. Um dieseVielfalt überschaubar zu machen undvor allem um die Staatsgelder zu vertei-len, hat man also vor Zeiten das Re-search Assessment Exercise und denWettbewerb der Hochschulen erfunden.Man muss nicht mitmachen. Aber wermitmacht, muss für alle Leute einer Ein-heit, die bewertet wird, z.B. unsere Ge-schichtsabteilung, ein standardisiertesPortfolio abgeben. Neben den vier

wichtigsten Publikationen der letztenfünf Jahre sind das Angaben über Wert-schätzung, die sich ausdrückt in inter-nationalen Einladungen, über interna-tionale Vernetzung und über Drittmit-teleinwerbungen. Da kommt also eini-ges an Material zusammen.

Das ganze RAE ist purer Humbug.Wenn die Kommissionsmitglieder wirk-lich täten, was sie sagen das sie tun,nämlich sich die Forschungsleistung ei-

nes Forschers inhaltlich anzusehen undnicht nur bibliometrisch zu bewerten,dann müssten sie ein volles Jahr jedefreie Minute RAE-Publikationen lesen,kein Fernsehen, kein Roman, keine Zei-tung, nichts anderes. Also können sienur überfliegen, auszugsweise lesen,sich an äußeren Parametern orientierenund mit ihrer Expertenerfahrung Pi-mal-Daumen rechnen. Da kommt eineArt Sankt Matthäus-Prinzip heraus: die-jenigen, die haben, kriegen noch wasdazu. Aber was ist mit denen, die viel-leicht sehr kluge Gedanken entwickel-ten, aber noch nicht ganz das Zentrumdes wissenschaftlichen Konsenses er-reicht haben? Das RAE leistet nicht,was man erhofft hatte. Daher schaffteman es in der bisherigen Form ab. Wasdann kommt, weiß niemand. RAE-lightvielleicht? Simple Bibliometrie. Daskann auch ein Computer.

Damit wir uns jetzt nicht falsch ver-stehen: RAE-Geld ist kein zusätzlichesGeld, sondern das Geld, das der Staatden Universitäten nicht direkt auszahltzur Finanzierung von Forschung, son-dern indirekt über das RAE. Die andereHälfte zahlt er aus, wenn jemand einenForschungsantrag über die sog. Re-search Councils einwirbt. Dann be-

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»Irgendwann schwimmt dieIdee über den Kanal und landetin Friesland.«

Recherche, die Zeitung für Wissenschaft, erscheint alle zwei Monate und bringt Essays, Vorträge, Rezensionen und Gespräche zu Themen der Geistes-, Sozial- und Kultur-wissenschaften.

Inhalt der aktuellen Nummer: Zygmunt Bauman Die Sezession der Erfolgreichen ◆ MartinSchreiber Vannevar Bush und die Technikutopie Memex ◆ Markus Krajewski Der Dienerals Informationszentrale ◆ Daniel Weidner Suchen in heiligen Texten ◆ Michael HagnerDas Hirnbild als Marke ◆ Ernst Strouhal Wissenschaftsparodien ◆ Manfred Faßler /Frank Hartmann Der infogene Mensch ◆ Philipp Sarasin Das Reale der Diskursanalyse ◆Rezensionen zu neuen Büchern von Klaus Theweleit, Pierre Clastres, Eliot Weinberger,Georges Canguilhem, Robert Fossier, Paul Collier u.v.m.

Recherche ist in Deutschland und Österreich am Kiosk und im Abonnement erhältlich.Das Abonnement (10 Ausgaben) kostet € 25, der Einzelpreis beträgt € 2,90.

10 Ausgaben für € 25Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

PLZ und Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E-Mail-Adresse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Unterschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kupon an: Recherche Aboverwaltung, c/o InTime Services GmbH, Bajuwarenring 14, 82041 Oberhaching.Tel.: +49/89/878 06 881-3; Fax: +49/89/858 53-628 66; [email protected]; www.recherche-online.net.

„Eine exzellente Zeitschrift, für die ich im deutschen Sprachraum kein Äquivalent kenne.“JACQUES LE RIDER

Muss man Religiosität respektieren?

Über Glaubensfragen und den Stolz einer säkularen Gesellschaft.

diesen Massenmord nicht mit irgendeinem an-

deren Massenmord in der Geschichte zu verglei-

chen, auch mit dem Holocaust. Wenn man gläu-

biger Katholik ist. An dem Satz des Kardinals ist

gar nichts skandalös. Er hat nur seinen religiösen

Überzeugungen Ausdruck verliehen, so, wie es

seines Amtes ist. Man kann natürlich seine reli-

giösen Überzeugungen skandalös finden. Aber

was dann? Oder: Muss man eine solche Ansicht

respektieren, weil sie Ausdruck einer religiösen

Überzeugung ist? Das heißt, ändert sich etwas an

der Haltung, die man zu einer solchen Meinung

einnehmen kann, sollte oder muss, wenn es sich

bei ihr nicht bloß um eine individuelle Ansicht,

sondern um den Ausdruck eines Bekenntnisses

handelt? Muss man Religiosität respektieren?

Klären wir zunächst den Standpunkt, von dem

aus ich spreche, und den ich Sie, meine Damen

und Herren, bitte einzunehmen, solange ich spre-

che – nicht ihn zu übernehmen, notabene, son-

dern ihn nur auf Zeit einzunehmen. Wer unter

Ihnen von sich sagen würde, dass er oder sie reli-

giös sei, muss dies können, und zwar generell und

immer wieder, denn es ist kein ungewöhnlicher

Standpunkt, nämlich der eines Bürgers einer sä-

kularen Gesellschaft, und das sind wir alle – auch

dann, wenn wir religiöse Überzeugungen haben.

Eine säkulare Gesellschaft zeichnet sich dadurch

aus, dass Religion zwar im privaten wie im öffent-

lichen Raum gelebt werden kann, dass der öffent-

liche Raum aber durch keine Religion bestimmt

wird. Auch wo Religion öffentlich stattfindet, ist

Wo der Mensch sich nicht relativieren

oder eingrenzen lässt, dort verfehlt

er sich immer am Leben: zuerst He-

rodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen

lässt, dann unter anderem Hitler und Stalin, die

Millionen Menschen vernichten ließen, und heu-

te, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder

millionenfach umgebracht.“ So der Kölner Kardi-

nal Joachim Meißner in einer Predigt. Der Satz er-

regte Aufsehen. Der Präsident des Zentrakats der

Juden in Deutschland, Paul Spiegel, sprach von

einer Beleidigung von Millionen von Holocaust-

Opfern und von Frauen, die sich in einer Notlage

entscheiden müssten. Der Kardinal sagte darauf-

hin, er sei missverstanden worden, und ließ bei

der Drucklegung seiner Predigt den Namen Hit-

ler weg. Es wird unter Ihnen, meine Damen und

Herren, wenige geben, die Meißners historische

Reihenbildung billigen würden. Aber warum ei-

gentlich? Weil es skandalös ist, die Ermordung

von Millionen von Menschen gleichzusetzen mit

Abtreibungen? Und damit entweder Frauen, die

abgetrieben haben, mit SS-Mördern gleichzuset-

zen, Ärzte, die in Kliniken Abtreibungen durch-

führen, auf dieselbe moralische Stufe zu stellen,

auf der ein Mengele steht, oder, umgekehrt, das

Leid der in Auschwitz Ermordeten auf dieselbe

Stufe mit der Tötung eines Embryos zu stellen?

Wenn Sie über Meißners Satz empört sind – sind

Sie dann über diesen Vergleich empört? Oder

sind Sie darüber empört, dass Meißner katho-

lisch ist? Für einen gläubigen Katholiken beginnt

das menschliche Leben mit der Empfängnis, das

heißt mit der Verbindung von Spermatozoon und

Eizelle. Für einen gläubigen Katholiken gibt es

hinsichtlich der Verwerflichkeit des Tuns keinen

Unterschied zwischen der Tötung eines Embryos,

eines Kindes oder eines Erwachsenen. Wo hun-

dertfach, tausendfach, millionenfach abgetrieben

wird, wird dieser Auffassung nach Massenmord

begangen, und es gibt überhaupt keinen Grund,

sie Privatsache. In einer säkularen Gesellschaft

findet Religion in der Öffentlichkeit statt, weil sie

Privatsache ist, und weil in einer säkularen Gesell-

schaft – anders als in einer Theokratie – vielerlei

private Ansichten bei der Gestaltung des öffent-

lichen Raumes eine Rolle spielen können.

Was verstehe ich unter Religiosität? Ich brau-

che natürlich einen weiten Begriff, der nicht nur

Christen, Juden und Moslems, sondern auch

Zeugen Jehovas und Animisten einschließt, oder

sagen wir: nicht von vornherein ausschließt. Ich

denke, dieser Begriff ist tauglich: Religiosität be-

steht in der Überzeugung, dass die Welt nicht aus

sich heraus verstanden werden kann. Natürlich

sind auch Nicht-Religiöse meistens derAnsicht,

dass mehr zwischen Himmel und Erde ist, als un-

sere Schulweisheit sich träumen lässt, aber diese

Schulweisheit lässt sich erweitern, auch um das,

was sie sich bis vor kurzem noch nicht hat träu-

men lassen, etwa dass es Vermehrung gibt, die

nicht genetisch vonstatten geht, was bis vor der

Entdeckung der Prionen pure aristotelische Fan-

tastik war, oder dass es möglicherweise unendlich

viele Paralleluniversen gibt, was ein Gedanken-

spiel in irgendwelchen Science-Fiction-Roma-

nen war (ich erinnere mich an einen Roman von

Robert Heinlein, den ich vor nahezu vierzig Jah-

ren gelesen habe) und heute von einem renom-

mierten Physiker als einzig mögliche Interpreta-

tion der Quantenphysik vertreten wird. Aber das

hat mit Religiosität nichts zu tun. Religiös ist auch

nicht derjenige, der meint, neben den uns be-

kannten Naturkräften gebe es noch andere (etwa

die in homöopathischen Arzneien wirksamen,

oder diejenigen, die mit Wilhelm Reichs Orgon-

akkumulatoren eingefangen werden können),

und religiös ist auch nicht derjenige, der meint,

es gebe Geister, Telepathie, Telekinese und was

nicht alles. Leute, die so etwas glauben, sagen nur,

Recherche

Ist eine Gesellschaft ohne religiöses Moment nicht lebensfähig? Russische Tabernakel aus dem 17. Jahrhundert, fotografiert von Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii.

Für einen religiösen Menschen

ist die säkulare Gesellschaft eine

Gesellschaft des Irrtums.

Gefühlte GeschichteBilder haben einen übermächtigen Einfluss auf unsere Vorstellung von Geschichte.

Gegenüber der Vergangenheit sind sie jedoch oft ungerecht.„Man bedenkt niemals genug , daß eine Spracheeigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und dieGegenstände niemals unmittelbar, sondern nurim Widerscheine ausdrückte.“

J. W. GoetheAspekte der NeuropsychologieZu den manchmal als „postmodern“ bezeich-neten Verunsicherungen für Historiker zählen die in den Kulturwissenschaften bislang kaum rezipierten Einsichten der Kognitionspsycholo-gie, dazu die im Übermaß über das Fach herein-brechenden Erkenntnisse der Literaturwissen-schaften, im Besonderen der Textlinguistik. Sie haben die Geschichte im Kontext der Rezeption ethnologischer Fragestellungen und Methoden erreicht. Es geht eigentlich um philosophische Themen: Was Geschichte ist und was wir über sie wissen können, ist letztlich eine Frage nach der Erkennbarkeit von Wirklichkeit überhaupt und ein Problem der Erkenntnistheorie.Die Neuropsychologie belehrt uns darüber,

dass wahrgenommene und erzählte Geschichte nichts anderes sind als neuronale Feuerwerke. Dem Geschehen in der Außenwelt, den Spuren, die es hinterlässt, und dem von Historikerinnen und Historikern gestalteten Texten entsprechen jeweils hochkomplexe Prozesse im Gehirn. Wahrnehmung und Erinnerung geschehen als Codierung der Erscheinungen der „Außenwelt“ als Signale und Symbole; das erfolgt durch phy-sikalische und elektrochemische Prozesse im Innern unterschiedlicher Neuronen. Wie diese Außenwelt wirklich beschaffen ist, wissen wir nicht; wir können ja keinen Standpunkt außer-halb unserer selbst einnehmen. Alles, was der Erkenntnis zugänglich ist, sind Modelle jenes Anderen, die sich in unserem Kopf bilden. Sie hängen völlig von der Beschaffenheit unserer Sinne ab. Unser Universum ist ein menschliches Gebilde, die Dinge und Lebewesen darin sind es ebenso; es steht selbst zu befürchten, dass der Mensch kein Geschöpf Gottes, Gott vielmehr ein Gebilde des Menschen ist.Unser Gehirn ist eine in Dauerbetrieb befind-

liche chemische Fabrik und ein Elektrizitätswerkdazu. Seine Strukturen und die darin ablaufendenVorgänge sind evolutionsgeschichtlich bedingt,dazu wirken kulturelle Erfahrungen auf sie ein.Das Wahrgenommene und Erinnerte wird imGehirn durch genetisch organisierte und durch Erfahrung modulierte neuronale Aktivitätsmusterrepräsentiert. An diesem Konstruktionswerk sindeinzelne Neuronen, aber auch ganze Cluster be-

teiligt; die daran mitwirkenden Neuronen zeigensich in ständiger Aktivität, und sie befinden sichmiteinander in dauernden Wechselwirkungen.Was wir wissen, wessen wir uns entsinnen und waswir vergessen, hängt von Schaltungen im neuro-nalen Netzwerk ab. Sie können von äußeren oderinternen Impulsen aktiviert werden – das nennenwir „erinnern“; werden sie blockiert oder langenicht aktiviert, ist das „vergessen“. Alles Wahrge-nommene wird im Gehirn bewertet; Nebensäch-liches beendet seine ephemere Existenz im senso-rischen Gedächtnis und im Kurzzeitgedächtnis,Wichtiges oder auch wiederholt Erfahrenes wan-dert von dort ins Langzeitgedächtnis, wo es einmanchmal lästiges Bleiberecht gewährt erhält. Ander Selektion sind Emotionen, die im limbischenSystem ihre Zentrale haben, beteiligt: Der Tag, andem ein aufregendes oder erschütterndes Ereignisstattfand, bleibt samt nebensächlichster Details inErinnerung, während wir Abertausende seiner im-mergleichen Brüder schon längst vergessen haben.Der Affekt ist der harte Kern der Erinnerung.Was wir „Wahrnehmung“ und „Erinnerung“

nennen, sind in Wirklichkeit dynamische Pro-zesse. Im Gehirn gleicht das Gespeicherte nicht

einem Buch mit bleiernen, unverrückbar gesetz-ten Lettern, vielmehr erscheint es als Geflimmervon Worten und Bildern, als eine in dauernderMetamorphose befindliche Performance. DieWirklichkeit „draußen“ hinterlässt im autopo-etisch arbeitenden Gehirn, gleichsam im Vo-rübergehen, allein eine funkelnde Gischt elek-trischer Entladungen, die aufleuchten, wiederverglimmen, vielleicht doch schwache Spurenin uns hinterlassend.Das Wahrgenommene wandelt sich unmit-

telbar im Akt der Erinnerung; niemals ist, wasder eine erinnert, genau dasselbe, was sich derandere vergegenwärtigt – selbst wenn es sichum den gleichen Gegenstand handeln sollte.Zwischen den Gehirnwelten zweier Individuenklafft immer ein unüberwindbarer Abgrund.Diese Differenzen und permanenten Verände-rungen sind bereits durch die unterschiedlichenkulturellen Prägungen, die divergierendenVorinformationen und Erwartungen der Indi-viduen bedingt, auch durch ihre unterschied-lichen psychischen Dispositionen.

Bilder, die Affekte mobilisieren: Die düstere Ästhetik der in sich zusammenstürzenden New YorkerWolkenkratzer hat sich tief ins Gedächtnis eingegraben

Die Sezession der Erfolgreichen

Die Formulierung, die diesem Beitragden Titel gibt, geht zurück auf RobertReichs Buch Die neue Weltwirtschaft:

Sie verweist auf die Abtrennung, Distanzie-rung, Ungebundenheit, ja, auf die geistig-mo-ralische Exterritorialität jener, denen es nichtsausmacht, sich selbst überlassen zu bleiben, so-lange die anderen, denen dies allerdings etwasausmacht, sie nicht um ihre Fürsorge ersuchen– und vor allem nicht darum, die Bequemlich-keit ihres „Selfmade“-Lebens aufzugeben. Wie Richard Rorty ausführt, schlugen die Kinderder Generation, die die Große Depression überstand, zunächst individuell Kapital ausdem, was ihre Eltern in kollektiver Solidarität erkämpft hatten, ließen sich dann im Speckgür-tel der Städte nieder und „beschlossen, hintersich die Zugbrücke hochzuziehen“. Tatsächlich verdankt sich der individuelle Aufstieg dieserKinder der gemeinschaftlichen Absicherung gegen persönliche Unglücksfälle, die ihre El-tern durchgesetzt hatten. Sie möchten jedoch nicht daran erinnert werden, wem sie ihre Selbständigkeit verdanken und sehen auch kei-nen Grund dafür, dass andere nicht so werdensollten wie sie, solange sie sich nur so verhaltenwie sie. Aus ihrer Abneigung gegen jegliche „Abhängigkeit“, die für sie nutzlos ist, leiten sie eine universelle moralische Verdammung allerAbhängigkeiten ab, deren weniger Glücklichejedoch so nötig bedürfen wie der Luft zum At-men. Rorty schreibt:

„Unter den Präsidenten Carter und Clinton hat sich die Demokratische Partei über Wasser gehalten,indem sie sich von den Gewerkschaften und jedem Gedanken an Umverteilung lossagte und in ein ste-riles Vakuum begab, das sie die „Mitte“ nannte. [...] Es ist, als wären Einkommens- und Vermögensver-teilung für alle amerikanischen Politiker [...] ein so heißes Eisen geworden, dass man darüber nie ein

Wort verliert. [...] Daher ist die Entscheidung zwi-schen den beiden großen Parteien heruntergekom-men zu einer zwischen zynischen Lügen und erschro-ckenem Schweigen.“

Menenius Agrippa, der einst die Plebejer inflammender Rede aufforderte, in Rom zu bleibenund ihr Vorhaben aufzugeben, die Patrizier sichselbst zu überlassen, hätte wohl kaum mit einersolchen Wendung der Dinge gerechnet. Er wäreerstaunt, wenn er erführe, dass es schließlich nichtdie Plebejer waren, sondern die heutigen Pendantsder römischen Patrizier, die sich (ob aktiv oderdurch Unterlassung, jedenfalls aber ohne Bedau-ern) für die Abspaltung entschieden, von ihren

Verpflichtungen zurücktraten und die Verantwor-tung ablegten. Die heutigen Patrizier benötigen dieDienste der Gemeinschaft nicht mehr; tatsächlichfällt ihnen nichts ein, was das Leben in und mit derGemeinschaft ihnen bieten könnte, das sie sichnicht bereits selbst verschafft hätten oder sich nochaus eigener Kraft zu verschaffen hoffen, währendihnen ziemlich viele Dinge einfallen, die ihnenentgehen würden, müssten sie den Erfordernissengemeinschaftlicher Solidarität genügen.

Dick Pountain und David Robins befassensich mit einem typischen Merkmal des Geistes, der der „Sezession“ der Erfolgreichen zugrun-deliegt: dem „Coolsein“. Als das „Coolsein“ po-

pulär wurde und sich wie ein Lauffeuer unterden Kindern der postdepressiven Wohlstands-gesellschaft ausbreitete, sei es im Gewand vonRebellion und moralischer Erneuerung daher-gekommen: Es symbolisierte die kämpferischeDistanzierung von einem Establishment, dasmit dem Erreichten zufrieden war und kaumnoch neue Ideen entwickelte. Inzwischen je-doch sei das „Coolsein“ zur Weltanschauungder Mehrheit geworden, die in ihrem Tun, den sich darin zeigenden Vorlieben und ihrer un-verhüllten (aber täuschenden) Selbstzufrieden-heit ganz und gar konservativ sei. Diese konser-vative Mehrheit genieße die Unterstützung des mächtigen Verbrauchermarktes und der Über-reste der einst autonomen politischen Instituti-onen. Das „Coolsein“, so Pountain und Robins,„scheint auf die Arbeitsethik überzugreifenund sich als herrschender Gemütszustand desfortgeschrittenen Konsumentenkapitalismuszu installieren“. „Coolsein“ bedeute überdies,„vor Gefühlen [...] vor dem Chaos wirklicherIntimität in die Welt der schnellen Nummern,zwanglosen Trennungen und der Beziehungenohne Besitzanspruch [zu fliehen]“.

„Da jeglicher Glaube an die Möglichkeit radikaler politischer Alternativen fehlt, geht es beim Coolsein nunmehr in erster Linie um Konsum. Konsum ist der „Kitt“, der die aufklaffenden Widersprüche füllt – Coolsein ist die Kunst, mit den gesunkenen Erwar-tungen klarzukommen, indem man shoppen geht [...]. Der persönliche Geschmack wird in den Rang eines Ethos erhoben: du bist, was dir gefällt und was du deshalb kaufst.“

Obwohl die Flucht vor dem „Chaos wirklicher Intimität“ dem Motto „Ich brauche mehr Frei-raum für mich“ folgt und in mancher Hinsicht die persönliche Autonomie zu fördern scheint,

Gated Communities: „Für das Recht, auf Distanz zu gehen und vor Eindringlingen geschützt zu sein, geben ihre Bewohner das letzte Hemd.“

Die globale Elite hat sich von der Gemeinschaft abgespalten. Konsum und „Coolsein“

bilden den Kern ihres „kosmopolitischen“ Lebensstils.

Coolsein ist die Kunst,mit den gesunkenen Erwartungen

klarzukommen, indem manshoppen geht.

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Page 4: The Grass is Greener on the Other Side – Or is it, Really?€¦ · Georges Canguilhem, Robert Fossier, Paul Collier u.v.m. Rechercheist in Deutschland und Österreich am Kiosk und

kommt seine Institution (nicht er!)nochmals bis zu 90 Prozent extra. Dasist genauso, als wenn die Länder inDeutschland den Universitäten keinGeld mehr für Forschung geben wür-den, sondern die Hälfte der DFG zurVerteilung überlassen, die dann jedembewilligten Antrag noch einen 90-pro-zentigen Zuschlag für Infrastrukturkos-ten geben und die andere Hälfte über ei-ne Evaluationsagentur verteilen würde.

Das Dumme ist Folgendes: Die Eng-länder haben oft kluge Ideen, aber oftnicht die Ausdauer, diese Ideen bis zuEnde zu denken. Das dauert dann einpaar Jahre, bis sie merken: „Oops, dieIdee war doch nicht so gut“. Dann wirdes halt anders gemacht und die Ideelandet im Kanal. Irgendwann schwimmtdie Idee aber über den Kanal und landetin Friesland. Dort findet sie dann eindeutscher Verwalter beimStrandspaziergang. Undfängt an zu denken. Undhört gleich gar nicht mehrauf zu Denken. Und wenner fertig ist mit Denken, nach ein paarJahren oder so, dann wird die Idee zurVerordnung. Dann kommt man darauf:Aha, jetzt brauchen wir also Evaluati-onsagenturen. Die Engländer machen’sja auch so (dass die Engländer gar nichtdas machen, was sie sagen, verraten sienatürlich keinem). Und überhaupt, wirmüssen es so machen wie die Englän-der. Die haben ja schließlich Oxfordund Cambridge. Ja, haben sie. Aber diehaben auch die dazugehörige Klassen-gesellschaft, die sich über Jahrhunderteihre Kaderschmieden aufgebaut hat, dieentsprechenden sozialen Schichtungenund die daraus folgenden Unterschiedein den Qualitäten der Schulen. Und siehaben auch Manchester und Liverpool,wo die Schüler mancherorts mit stichsi-cheren Westen in den Unterricht kom-

men, weil sie Angst vor einer Messerste-cherei haben.

Eine ernsthafte Frage an meinedeutschen Kollegen in den Hochschu-len und in den Verwaltungen: meint Ihrdas wirklich ernst, dass man inDeutschland das englische System soweit wie möglich kopieren soll (manch-mal meine ich das aus Verlautbarungenherauszuhören)? Glaubt Ihr immernoch, das Gras sei grüner auf der ande-ren Seite? Margaret Thatcher hat bei al-ler Größe aus meiner Sicht einigeschwere Fehler gemacht.

Kommerzialisierung derBildung

Ein größerer Fehler war die Kommer-zialisierung der höheren Bildung. Siehat dazu geführt, dass Universitäten bisauf einige Ausnahmen geleitet werden

wie Würstchenbuden oder Schuhfabri-ken. Es gibt Dinge, die kann der Marktnicht garantieren. Dazu gehören Ge-rechtigkeit, Gleichberechtigung, guteBildung und die Freiheit von Lehre undForschung sowie ihre materielle Siche-rung. Diese gehören zu den Kernaufga-ben des Staates. Sie können nicht an ei-ne selbsternannte Managerkaste dele-giert werden oder an obskure Evaluati-onskommissionen. Geld kann und darfkein Argument sein. Wie man geradesieht, ist Geld noch virtueller als guteBildung. Es verschwindet nämlich ein-fach im Nichts, wenn es dumm kommt.Was man im Kopf hat, behält man min-destens, solange man diesen nicht ver-liert. Die Engländer waren Weltmeisterim Generieren von Geld in virtuellentertiären und quartären Zirkeln von

Dienstleistungen, etwa von Qualitätssi-cherungsevaluationen oder Finanz-dienstleistungen. Dies funktioniert nur,solange alle in der kollektiven Hypnosedessen verharren, wie wichtig, bedeut-sam und wertvoll das alles sei. Wir be-ginnen langsam aufzuwachen. InDeutschland sind die Weichen nochnicht alle in eine Richtung gestellt unddie Gleiskörper hinter den Zügen nochnicht abgebaut, so dass es kein Zurückmehr gäbe. Interessanterweise habe ichhier in England und auch bei meinenrelativ häufigen Kontakten in die Verei-nigten Staaten noch niemand getroffen,der auf Anhieb verstanden hat, warumin Deutschland diese Hochschulreform-wut um sich gegriffen hat, und wer eseinmal verstanden hat, findet es töricht.

Bei uns in Northampton gibt es einPub, in das wurde irgendwann im 17.Jahrhundert ein Treppenhaus aus Fo-theringhay Castle eingebaut, wo MaryStuart ihre letzten Lebenswochen ver-bracht hat. Angeblich geistert an einsa-men Abenden eine schwarze Frauenge-stalt durch das Treppenhaus. So ähnlichkommt mir manchmal das deutscheHochschulwesen vor. Frau Bulmahngeistert noch immer durch die Land-schaft. Die von ihr angestoßenen Pro-zesse der Kommerzialisierung von Bil-dung, der chronischen Entzündung desBildungswesen – evaluitis bulmahnniadeformans –, der vermeintlich wohltu-enden Hierarchisierung der Hochschu-len, Professoren und Studiengänge, siealle spuken noch munter durch dieLandschaft. In England kann man ech-ten Spuk und seine Auswirkungen be-sichtigen. Manchmal, wenn man genauhinsieht, kommt einem dabei das Grau-sen.

Eine ungekürzte Fassung des Beitrages kannbei der Redaktion angefordert werden.

3|09 Forschung & Lehre G R O S S B R I T A N N I E N 191

»Die Politik ist wohl nur durch einklares Nein zu beeindrucken.«

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