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- 1 - Christoph Scheuplein, Berlin Soziale Evolution und räumliche Wirtschaftsstruktur bei Herbert Spencer, William Hearn und Alfred Marshall Herbert Spencer, William Hearn and Alfred Marshall on Social Evolution and Spatial Patterns of the Economy. In contemporary regional economics and economic geography, Alfred Marshall is appreciated as the first economist who described and theorized economic clusters. However, his work has been one-sidedly reduced to his economic rational explorations of the emergence and success of industrial districts. Delving deeper reveals that Marshall was deeply influenced by evolutionary thinking. For him, districts were an organizational pattern arising out of human evolution. Marshall was also influenced by two other earlier scholars: Spencer and Hearn. The founder of socio-evolutionary theory, Herbert Spencer, had already used the spatial allocation of production activities as a important criteria to characterize societal development. William Hearn had integrated the socio-evolutionary terms of organization into economics in order to describe the macro-economy. Alfred Marshall borrowed their concepts and worked them into the wider framework of social science. Due to this, he gained insights into the contingency and the path dependency of spatial processes. 1. Einleitung In der regionalökonomischen und wirtschaftsgeographischen Forschung über räumliche Konzentrationen von Wirtschaftsaktivitäten wurde Alfred MARSHALL in den vergangenen zwei Jahrzehnten allgemein als Ahnherr anerkannt. Nachdem Giacomo BECATTINI (1975, 1990) die Entwicklung der italienischen Cluster mit seinem Begriff der “industriellen Distrikte” interpretiert hatte, wurde sein Ansatz breit diskutiert und seine Distrikt-Theorie rekonstruiert. Allerdings hat sich inzwischen eine Deutung durchgesetzt, nach der MARSHALL sich einseitig auf die ökonomischen Kostenvorteile von Distrikten, vor allem im Bereich der Arbeitskräfte, der Zulieferer und der Wissensproduktion, beschränkt habe. Weitergehende Forschungsansätze in der heutigen Wirtschaftsgeograhie, die den sozialen Kontext und die Interaktion der Akteure als wichtige Einflussfaktoren bei der Raumbindung wirtschaftlicher Prozesse identifizieren, setzen sich von dieser Tradition ab. Sie berufen sich stattdessen unter anderem auf die evolutionäre Wirtschaftstheorie, die ideengeschichtlich nicht mit MARSHALL verbunden wird. Der Beitrag ist erschienen in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 51. Jg., Heft 1, 2007, 1 13

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Christoph Scheuplein, Berlin

Soziale Evolution und räumliche Wirtschaftsstruktur bei

Herbert Spencer, William Hearn und Alfred Marshall

Herbert Spencer, William Hearn and Alfred Marshall on Social Evolution and

Spatial Patterns of the Economy. In contemporary regional economics and economic

geography, Alfred Marshall is appreciated as the first economist who described and

theorized economic clusters. However, his work has been one-sidedly reduced to his

economic rational explorations of the emergence and success of industrial districts.

Delving deeper reveals that Marshall was deeply influenced by evolutionary thinking.

For him, districts were an organizational pattern arising out of human evolution.

Marshall was also influenced by two other earlier scholars: Spencer and Hearn. The

founder of socio-evolutionary theory, Herbert Spencer, had already used the spatial

allocation of production activities as a important criteria to characterize societal

development. William Hearn had integrated the socio-evolutionary terms of

organization into economics in order to describe the macro-economy. Alfred Marshall

borrowed their concepts and worked them into the wider framework of social science.

Due to this, he gained insights into the contingency and the path dependency of spatial

processes.

1. Einleitung

In der regionalökonomischen und wirtschaftsgeographischen Forschung über räumliche

Konzentrationen von Wirtschaftsaktivitäten wurde Alfred MARSHALL in den

vergangenen zwei Jahrzehnten allgemein als Ahnherr anerkannt. Nachdem Giacomo

BECATTINI (1975, 1990) die Entwicklung der italienischen Cluster mit seinem Begriff

der “industriellen Distrikte” interpretiert hatte, wurde sein Ansatz breit diskutiert und

seine Distrikt-Theorie rekonstruiert. Allerdings hat sich inzwischen eine Deutung

durchgesetzt, nach der MARSHALL sich einseitig auf die ökonomischen

Kostenvorteile von Distrikten, vor allem im Bereich der Arbeitskräfte, der Zulieferer

und der Wissensproduktion, beschränkt habe. Weitergehende Forschungsansätze in der

heutigen Wirtschaftsgeograhie, die den sozialen Kontext und die Interaktion der

Akteure als wichtige Einflussfaktoren bei der Raumbindung wirtschaftlicher Prozesse

identifizieren, setzen sich von dieser Tradition ab. Sie berufen sich stattdessen unter

anderem auf die evolutionäre Wirtschaftstheorie, die ideengeschichtlich nicht mit

MARSHALL verbunden wird.

Der Beitrag ist erschienen in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 51. Jg., Heft 1,

2007, 1 – 13

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In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass MARSHALL seine ökonomisch-rationale

Begründung für die Entstehung und den Erfolg von Clustern mit einer

sozialwissenschaftlich angelegten Einbeziehung nicht-ökonomischer Motive und

Handlungsformen von Individuen verband. Für ihn streben wirtschaftlich Handelnde

eine Maximierung ihres Gewinns an, aber sie unternehmen dies in einem konkreten

sozialen und geographischen Raum, der ihr Handeln beeinflußt. Insbesondere die

Raum-Kategorie des “Distrikts” wurde von MARSHALL mit seinem evolutionären

Konzept des menschlichen Handelns verknüpft. Mit diesem Ansatz stand MARSHALL

in einer längeren Tradition des evolutionären Denkens (SCHEUPLEIN 2006).

Im Folgenden wird zunächst auf den Begründer der sozial-evolutionären

Sozialphilosophie, Herbert SPENCER, eingegangen (2.). In seiner Gesellschaftstheorie

kam der räumlichen Verteilung von Produktionsstrukturen eine wichtige

Erklärungsfunktion zu (3.). Der Sozial-Evolutionismus und dessen raum-bezogenen

Aspekte wurden zuerst von William HEARN in die Volkswirtschaftslehre importiert

(4.). Alfred MARSHALL rezepierte beide Autoren intensiv (5.). Er betonte vor allem

die Reflexivität menschlichen Handelns, was sich auch in seiner Konzeptualisierung

industrieller Distrikte auswirkte (6., 7.). Abschliessend sollen einige Bezüge zur

heutigen Theoriediskussion hergestellt werden (8.).

2. Die Evolution des Evolutionsdenkens

Herbert SPENCER schickte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an, die liberale

Tradition in der britischen Sozialphilosophie zu erneuern (TURNER 1985,

WILTSHIRE 1978, SCHALLBERGER 1980). Der Utilitarismus eines Jeremy Bentham

und John Stuart Mill schien ihm wenig gewappnet für den Wertepluralismus und die

gesellschaftlichen Konflikte einer modernen Industriegesellschaft. Die rationalen

Handlungsregeln, die die utilitarische Ethik aus dem hedonistischen Kalkül ableitete,

erwiesen sich vor dem Hintergrund der tatsächlichen gesellschaftlichen

Interessengegesätze als formalistisch und unpraktikabel. Demgegenüber gewannen

kollektivistische Ideen, z. B. der sozialistischen Arbeiterbewegung oder des

philosophischen Idealismus, die das Wohlergehen einer übergeordneten Entität in den

Mittelpunkt stellten, an Boden. Auf der Suche nach einer überzeugenderen

Legitimationsbasis für eine liberale Gesellschaftsordnung wandte sich SPENCER

organizistischen und evolutionionistischen Ideen zu, mit denen demonstriert werden

sollte, dass der Kapitalismus ein naturgemäß-organisches Resultat der menschlichen

Geschichte sei (Jones 2000, 74 ff.). Dieses Anknüpfen an biologische Denkmodelle war

streng anti-kollektivistisch angelegt, denn es ging von den individuellen Motivlagen

aus, deren Zusammenwirken erst ein dauerhaftes gesellschaftliches Regelwerk schuf.

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SPENCER ging diese Aufgabe mit der Formulierung eines einheitlichen

Entwicklungsgesetzes an, das in der gesamten physischen wie sozialen Welt galt.

Zentrale Elemente des utilitaristischen Menschenbildes wie die Annahme eines

nutzenmaximierenden, rational handelnden Individuums wurden in einer

entwicklungstheoretischen Perspektive neu formuliert. Die Gesellschaft wird als eine

weder übernatürlich entstandene, noch aus dem Willen einzelner Individuen bzw.

Kollektivsubjekte begründete Institution charakterisiert. Vielmehr, so SPENCER, sei sie

das nicht-intendierte Resultat vielfacher intentionaler Handlungen, die die Menschen in

ihrem materiellen Leben begehen. Den Kern dieses naturwüchsig entstehenden

Handlungszusammenhangs sah er in der Arbeitsteilung, die er auch als

‚Kardinalwahrheit’ der Gesellschaftswissenschaften bezeichnete. Dabei richtet sich für

ihn die gesellschaftliche Arbeitsteilung von menschlichen Gesellschaften nach den

gleichen Gesetzen wie die von Pflanzen oder Tieren. Angeregt von dem Begriff der

‚physiologischen Arbeitsteilung‘, den der Zoologe Henri Milne-Edwards geprägt hatte,

stellte er allgemeine Aussagen zur Differenzierung und Integration von materiellen

Prozessen zusammen.

Auf diese Art weist SPENCER jede primäre Unterordnung der Individuen unter einen

religiösen oder staatlichen Ordnungsanspruch zurück. So sei z.B. die sektorale und

räumliche Arbeitsteilung weder durch das Kommando von Regierenden, noch aus einer

‚kollektiven Weisheit‘ entstanden, sondern sei allein das Ergebnis menschlicher

Bedürfnisse und daraus entstehender Handlungen. Als Beispiel führte er die damals

bekannten Cluster der englischen Textil- und Metallindustrie in Lancashire, Yorkshire,

Sheffield und Birmingham an. Sie sind für SPENCER (1860, 266), ein Ausdruck der

individuell-autonomen, nicht zentral koordinierten Aktivitäten. Wirtschaftliche

Strukturen folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten und können nicht politischen Strukturen

untergeordnet werden. Dies werde etwa daran deutlich, meint SPENCER, daß die

Grenzen räumlich-sektoraler Zusammenhänge die politischen Grenzen ignorierten. So

erstrecke sich beispielsweise ein wichtiges Zentrum der Eisenproduktion und -

verarbeitung über Teile der Grafschaften Warwickshire, Staffordshire, und

Worcestershire (SPENCER 1860, 289 und 1876, 521 f., 565). In seinem weiteren Werk

baute SPENCER dieses Verständnis der Ökonomie als fundamentale Ebene der

Gesellschaft zu einem umfassenden Konzept aus, wobei er die industrielle

Lokalisierung stets als Erklärungsgrund und beispielhaftes Resultat verwendet.

Nachdem SPENCER sich bereits in den frühen 1850er Jahren mit

evolutionstheoretischen Überlegungen beschäftigt hatte, formulierte er 1857 in dem in

der ‚Westminster Review‘ veröffentlichten Aufsatz ‚Progress: its law and cause‘

erstmals ein allgemeines Entwicklungsgesetz des Universums. In einer später

erweiterten Fassung lautet es: Evolution ist der Übergang von inkohärenten, homogenen

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Strukturen zu kohärenten, heterogenen Strukturen, verbunden mit einem Verlust an

Bewegung und einer Integration von Materie (SPENCER 1867, 360). Mit diesem

Ansatz erreichte SPENCER zwei Erklärungsvorteile. Erstens wird die Gesellschaft hier

abstrakt als funktionaler Zusammenhang betrachtet. Der ‚Erfolg’ einer Gesellschaft

kann hier formal über die Kohärenz der internen Strukturen oder über ihre Fähigkeit

zum Wachstum beschrieben werden. Zweitens kann durch die entwicklungstheoretische

Perspektive gleichzeitig Integration und Konflikt gedacht werden: Der ‚struggle for life‘

produziert eine Anpassung der Arten an die Naturbedingungen, d.h. die

gesellschaftlichen Subjekte produzieren gerade mit ihrem Konkurrenzverhalten

erfolgreiche und somit verbindliche Verhaltensmuster. Die Darstellung von

Marktökonomien, in denen die gesellschaftliche Harmonie aus den spontanen Aktionen

der Individuen hergestellt wird, gelingt hier überzeugender als im klassischen

Utilitarismus. Gleichzeitig werden jedoch auch die Grenzen von SPENCERS

Gesellschaftsbegriff deutlich. Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft sind für ihn der Kern

des gesellschaftlichen Zusammenhangs, andere Vergesellschaftungsformen bleiben

randständig. Dies hat ihm später von seiten der Soziologen Emil Durkheim und Talcott

Parsons den Vorwurf des Ökonomismus eingehandelt (PERRIN 1995).

3. Raumstrukturen in der Menschheitsgeschichte

SPENCER stellte das von ihm aufgestellte Entwicklungsgesetz innerhalb verschiedener

natur- wie gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen dar. In diesem Rahmen wird von

ihm die Raumdimension als eines der abstrakten Elemente eingeführt, mit denen

gesetzmäßige Analogien zwischen den verschiedenen Sachkreisen herstellt werden. Die

räumliche Anordnung von Himmelskörpern in der Astronomie, von Pflanzen in der

Botanik oder von Wirtschaftsakteuren in der Soziologie gilt ihm jeweils als ein

wichtiges Beschreibungskriterium für ihren Entwicklungsstand.

Im Bereich der Gesellschaft identifiziert SPENCER die Evolution als eine Abfolge von

Arten der Arbeitsteilung: Auf die geschlechtliche Arbeitsteilung folge eine einfache

sektorale Arbeitsteilung, die schließlich in eine räumlich-sektorale Spezialisierung

übergehe:

„But there are yet other and higher phases of this advance from the homogeneous to the

heterogeneous in the industrial organization of society. Long after considerable progress

has been made in the division of labour among the different classes of workers, there is

relatively little division of labour among the widely separated parts of the community: the

nation continues comparatively homogeneous in the respect that in each district the same

occupations are pursued. But when roads and other means of transit become numerous

and good, the different districts begin to assume different functions, and to become

mutually dependent. The calico-manufacture locates itself in this county, the woollen-

manufacture in that; silks are produced here, lace there; stockings in one place, shoes in

another; pottery, hardware, cutlery, come to have their special towns; and ultimately

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every locality grows more or less distinguished from the rest by the leading occupation

carried on in it“ (SPENCER 1857, 22, vgl. auch 56).

Die Lokalisierung des Gewerbes ist demnach als eine höhere Form gesellschaftlicher

Differenzierung zu betrachten. Jede Rücknahme der räumlichen Arbeitsteilung, z.B.

durch eine wirtschaftspolitische Intervention, muß als Rückschritt aufgefaßt werden. In

der liberalen Wirtschaftsordnung stellt sich naturwüchsig eine optimale Raumstruktur

her. Damit hat SPENCER die räumliche Arbeitsteilung als fundamentale Kategorie der

Gesellschaftsentwicklung und zugleich als qualitatives Beschreibungsmerkmal von

Gesellschaften gefaßt.

Dies ist zunächst nur eine allgemeine Formulierung der Funktion räumlicher Strukturen

in der sozialen Evolution. Im Weiteren stellt SPENCER sein Evolutionsgesetz dar in

verschiedenen, auf einander aufbauenden Stufen. Auf jeder Stufe illustriert er seine

Argumentation wiederum anhand der räumlichen Lage- und Dichteverhältnisse von

Gegenständen, speziell auch im Bereich der wirtschaftlichen Raumstruktur. Diese

Abfolge werde ich anhand der ‚First Principles’ darstellen, die SPENCER zuerst

zwischen 1860 und 1862 als Artikelserie veröffentlichte. Eine zusammenhängende

Behandlung der Raumstruktur legte er erst Jahrzehnte später in den ‚Principles of

Sociology‘ vor (SPENCER 1896, 334 – 355).

Ausgehend von der Voraussetzung, daß aller Substanz eine Bewegung inne ist, fragt

SPENCER zunächst nach der Richtung dieser Bewegungen (Kapitel 9 der ‚First

Principles’). Sie folgen seiner Ansicht nach der Linie des geringsten Widerstandes.

Hieraus leitet SPENCER für die räumliche Struktur der Wirtschaft ab, daß jede Region

genau die Produkte produziere, die mit dem geringsten Kraftaufwand herzustellen seien

(SPENCER 1867, 241, vgl. 1896, 353 f.). Das Zusammenspiel der wechselseitig

aufeinander einwirkenden Kräfte, so die nächste theoretische Bestimmung, bringt einen

‚Rhythmus‘ der Bewegung hervor. So führen etwa die Austauschbeziehungen zwischen

Regionen zu Oszillationen der Austauschmenge (SPENCER 1867, 267 f.). In Kapitel 14

zeigt SPENCER, daß die Evolution eine Gruppenbildung von vorher vereinzelten

Organismen, wie auch eine Zunahme des Organisationsgrades innerhalb bestehender

Gruppen beinhaltet. Letzterer könne unterschieden werden in eine ‚regulative Ordnung‘,

die bewußt herbeigeführt werde, wie auch in eine ‚operative Ordnung‘, bei der es zu

einer Integration der funktionalen Komponenten durch deren Wachstumsprozesse

komme. Die zweite Ordnungsform zeigt SPENCER an dem Übergang zu einem System

räumlich-sektoral spezialisierter Standorte auf. SPENCER illustriert dies an dem

Wolldistrikt in Yorkshire, der Baumwollindustrie in Manchester, der Töpferindustrie in

Staffordshire und einigen Dienstleistungsclustern in London (SPENCER 1867, 317).

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Parallel zur Integration läuft ein Prozeß der Differenzierung ab (Kapitel 15). Die

Politische Ökonomie habe diesen Übergang zu heterogenen Formen, so SPENCER,

bereits lange an der Teilung in verschiedene Beschäftigungsarten demonstriert. Diese

werde ergänzt durch die höhere Form der räumlichen Arbeitsteilung, die mit dem

Ausbau des Transport- und Kommunikationssystems möglich werde (SPENCER 1867,

346 und 1857, 22). SPENCER greift an anderer Stelle, in den ‚Principles of Sociology‘,

zur Erläuterung die Parallele zwischen physiologischer Arbeitsteilung in Körpern und

der sozialen Arbeitsteilung auf. Ähnlich wie die Organe in einem individuellen Körper

seien in einer Gesellschaft die Cluster durch Systeme der Versorgung und Steuerung

verbunden (SPENCER 1896, 349). Zudem, so seine Argumentation, seien die Cluster

intern strukturiert: Sie weisen Handelsvertretungen auf, die den Vertrieb der Produkte

und die Beschaffung von Rohstoffen organisieren. Sie verfügten über Kontroll- und

Nachrichtensysteme und sie bilden politische und kirchliche Einrichtungen aus, die die

soziale Ordnung aufrecht erhalten (SPENCER 1876, 496).

In den ‚Principles of Sociology‘ behandelt SPENCER zudem die Form der räumlichen

Differenzierung näher. Er unterscheidet zum einen Standortbildungen aufgrund

unterschiedlicher Naturbedingungen (topical division of labour). Zum anderen erkennt

er eine innerhalb der einzelnen Standorte sich entwickelnde lokale Arbeitsteilung, die

etwa in der Spezialisierung von Arbeitsqualifikationen bestehen kann (local division of

labour) (SPENCER 1896, 343 – 350). Die örtliche Arbeitsteilung zwischen den

Standorten ist als Grundlage der lokalen Arbeitsteilung an den einzelnen Standorten

aufzufassen. Die lokale Arbeitsteilung innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe hängt

sowohl von der Interaktion mit anderen Gruppen wie von der Gruppengröße ab. Eine

Verselbständigung von Funktionen kann vorgenommen werden, wenn die

zahlungsfähige Nachfrage einer Gruppe so groß ist, daß mindestens ein Mitglied mit der

spezialisierten Arbeit ausgelastet ist und zugleich ein wirtschaftliches Auskommen

findet. Eine wachsende Gruppengröße ermöglicht somit eine wachsende interne

Heterogenität der Gruppe, speziell eine wachsende Differenzierung der Raumwirtschaft.

In der weiteren Argumentation der ‚First Principles‘ sieht SPENCER eine säkulare

Tendenz zur räumlichen Funktionsspezialisierung, die auf verschiedenen Raumebenen

greift. Die gesamte Menschheit differenziert sich in unterschiedlich spezialisierte

Nationen, die sich in ‚lokale Sektionen‘ gliedern. Diese wiederum beinhalten

verschiedenartig profilierte Standorte (SPENCER 1862, 346 f.). Diese Tendenz sieht

SPENCER als notwendig an, da homogene Zustände stets instabil bleiben (Kapitel 19).

Eine geringe sektorale und räumliche Arbeitsteilung könne nicht von Dauer sein, da in

einigen Regionen eine bessere Anpassung an die Naturbedingungen gelingen werde als

in anderen, wodurch ein Spezialisierungsdruck auf alle Regionen entstehe. Ergänzend

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weist er in den ‚Principles of Sociology‘ darauf hin, daß entwickelte Organismen durch

eine ungleichmäßigere Verteilung ihrer Organe gekennzeichnet sind. Ihr höherer

Integrationsgrad lasse eine freiere Form der Größe und Verteilung einzelner Organe zu;

entsprechend unregelmäßig könne auch die Raumstruktur entwickelter Ökonomien

ausfallen (SPENCER 1876, 521).

Die Durchsetzung der räumlichen Arbeitsteilung folgt dem ‚Multiplikationseffekt’ in

der Evolution (Kapitel 20): Die Differenzierung an einer Stelle hat die Tendenz, weitere

Differenzierungen an anderen Stellen auszulösen. Hat sich etwa an einem Standort

durch eine verbesserte Produktivität die Möglichkeit zu einer räumlichen Ausweitung

des Absatzmarktes ergeben, so kann der Spezialisierungsgrad des Standortes erhöht

werden. Dies schränkt die Absatzchancen anderer Produktionsstandorte ein, wodurch

diese ebenfalls zu einer Spezialisierung auf andere Produkte gezwungen sind und sich

die räumliche Verteilung verschiedener Branchen ändert (SPENCER 1867, 451 - 455).

Schließlich behandelt SPENCER die Segregation in Organismen (Kapitel 21): Wirkt

eine Kraft auf die verschiedenen Einheiten eines Ganzen, so hat dies unterschiedliche

Auswirkungen bei den verschiedenen Einheiten, die sich daraufhin trennen. Aus diesem

Grund führt die gleichartige Kraft des wirtschaftlichen Wettbewerbs, die auf

unterschiedliche Raumausstattungen trifft, zur Segregation der Standorte (SPENCER

1867, 479).

Dieser evolutionäre Prozeß wird solange ablaufen, bis keine verändernden Kräfte mehr

auftreten können (Kapitel 22). Es kommt dann zu einem räumlichen Gleichgewicht, in

dem die sektoralen und räumlichen Spezialisierungen stabil bleiben (SPENCER 1862,

509 f.). SPENCER versteht allerdings ein Gleichgewicht in der Raumwirtschaft nicht

als starren Zustand, sondern wie bei allen Gegenständen, insbesondere bei den lebenden

Organismen, als eine mehr oder weniger elastische Bewegung (moving equilibrium)

(SPENCER 1867, 483 - 490). In dem Aufsatz ‚Social Organism‘ deutet SPENCER an,

daß bezogen auf ein Cluster ein Gleichgewicht durch das Auftreten von

Wachstumsbehinderungen herbeigeführt werden könne. Sobald eine Ausdehnung der

Produktion überproportionale Kosten verursache, ende die Expansionsphase einer

räumlichen Konzentration (SPENCER 1860, 290).

Dieser Prozeß der ‚Equilibration‘ ist die letzte Bestimmung der Evolution in den ‚First

Principles‘. Mit ihr zeichnet sich perspektivisch ein Ende der räumlichen

Veränderungen ab. Wie für die menschliche Evolution im Ganzen, sieht SPENCER

(1862, 548 und 1876, 615) auch für die ökonomische Raumevolution das Ziel in der

nicht mehr steigerbaren Anpassung an die externen Bedingungen. Hier stellt sich die

Frage, inwiefern die Strukturierung des ökonomischen Raumes als naturdeterminiert

gesehen wird. In der Tat besteht das Optimum der Raumstruktur in einer vollständigen

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Abbildung der Naturbedingungen. Sie werden von SPENCER (1876, Kapitel 3)

ausführlicher in den ‚Principles of Sociology‘ skizziert. Dort geht er auf die

Konstitution von Transportwegen und von Clustern ein, die nicht unmittelbar auf

Naturpotentiale, sondern auf historisch herausgebildete wirtschaftliche Zentren und

Transportsysteme zurückzuführen sind. SPENCER entledigt sich des Problems durch

die Unterscheidung einer primären und einer sekundären Lokalisierung von Industrien.

Demnach orientieren sich die rohstofforientierten Branchen zunächst an den Vorteilen

der natürlichen Raumausstattung. Deren Zwischenprodukte werden dann von weiteren

Industrien nachgefragt, für deren Lokalisierung die Transportkosten entscheidend sind.

Eine entsprechende sekundäre Lokalisierung erkennt er für Cluster in Birmingham,

Sheffield und Stourbridge (SPENCER 1876, 519 f.). Für die Naturalisierung

gesellschaftlicher Strukturen, die SPENCERS Sozial-Evolutionismus insgesamt

auszeichnet, scheint er auf dem Feld der Raumwirtschaft somit besonders geeignete

Argumente zu finden.

Als Beitrag der SPENCERSCHEN Sozial-Evolutionismus für eine raumwirtschaftliche

Theorie kann erstens festgehalten werden, daß er die räumliche Verteilung von

Branchen als ein Strukturelement von Gesellschaften einführt. Dies ist bei ihm mit

Aussagen über den Entwicklungsgrad der Gesellschaften verbunden. Zweitens stellt

SPENCER mit seiner Herleitung gesellschaftlicher Strukturen aus den Notwendigkeiten

des Evolutionsprozesses dar, welche Funktionen und welche Geltung der Clusterung

von Branchen zukommt: Wirtschaftliche Cluster sind für ihn eine Form

gesellschaftlicher Organisation, mit der die Gesellschaftsmitglieder einen maximalen

Wirkungsgrad ihrer Arbeit erreichen können. Mit Clustern findet eine Differenzierung

und parallele Integration von Arbeitsarten statt, wodurch eine stabilere

Organisationsform der Arbeit erreicht wird. Die Konzentration von Aktivitäten an

einem Standort kann zu weiteren Konzentrationen von anderen Aktivitäten führen.

Langfristig ist ein Gleichgewicht der aufeinander wirkenden wirtschaftlich relevanten

Kräfte möglich, so daß das Muster der räumlichen Verteilung nicht weiter verändert

wird.

4. Der Faktor Organisation: William E. HEARN

William Edward HEARN, ein seit 1858 an der Universität von Melbourne lehrender

Ökonom, hat als erster die SPENCERSCHE Sozialphilosphie in die

Volkswirtschaftslehre integiert (LA NAUZE 1949, GROENEWEGEN/MC FARLANE

1990, 51 – 56) und sich dabei auch den raumwirtschaftlichen Strukturen zugewandt.

HEARN (1863, 5 –7) geht in seinem volkswirtschaftlichem Hauptwerk ‚Plutology‘

zunächst von einer individualistischen Perspektive aus. Aus den subjektiven

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Präferenzen der Marktteilnehmer werden einfache Grundsätze wirtschaftlichen

Handelns erklärt. Unter anderem betrachtet er vier ‚Hilfsinstrumente‘, die menschliche

Arbeit produktiver gestalten können: das Kapital, die Erfindungsgabe, die Kooperation

und den Austausch. In Anlehnung an SPENCERS Betrachtung der Arbeitsteilung, die

HEARN früh rezepiert hatte (LA NAUZE 1949, 59 – 65), sieht er anschliessend eine

gesamtwirtschaftliche Verknüpfung: Durch die Wechselwirkungen zwischen den

‚Hilfsinstrumenten’ der Arbeit ensteht die ‚industrial organization of society‘ ein, die er

als sektorale Arbeitsteilung charakterisiert. Ein zweiter Aspekt dieser gesellschaftlichen

Organisation ist die räumliche Arbeitsteilung: "It further tends by localizing industry to

extend its organizing influence both to entire localities in the same community, and

even to different communities themselves" (HEARN 1863, 9). Die industrielle

Kapazität der Gesamtheit aller Wirtschaftsakteure wächst, weil sie in einen sozialen

Organismus integriert sind, dessen Teile sich auf einzelne Funktionen spezialisieren

können. Dieser Zusammenhang von Integration und Differenzierung setzt sich sektoral

und räumlich um:

"When in any large community industry has been thus spontaneously organized, and

when the facilities for exchange between the various parts of the community have

increased, a new phenomenon presents itself. The same separation of functions which

takes place between different occupations, takes places also between different localities.

The various branches of industry exhibit a strong tendency to fix themselves in, and

confine themselves to, particular districts. Each district thus acquires a distinctive

character, and at the same time becomes dependent upon the other districts which with it

deals“ (HEARN 1863, 305).

Im Weiteren stellt HEARN (1863, 307 – 314) die Formen und Gründe der

Lokalisierung der Industrie, die er an Beispielen aus London, Holland und Russland

skizziert, ausführlich dar. Als Gründe benennt er die Einsparung von

Produktionskosten, wobei er die Naturbedingungen wie die örtliche Verfügbarkeit von

Rohstoffen und Energie separat betrachtet. Zudem geht er auf die funktionalen

Verknüpfungen der Unternehmen ein. Sie kann in der räumlichen Nähe von

zuliefernden Industrien, in den Lernkurveneffekten und der Wissensdiffusion am

Standort oder in der komplementären Nutzung von Ressourcen bestehen. HEARN

(1863, 308) hebt dabei hervor, daß diese Kostenersparnisse als eine pfadabhängige

Kumulation von Produktionsvorteilen aufzufassen seien.

‚Industrialisierung‘ und ‚Urbanisierung‘ werden von ihm als interdependente Prozesse

der sektoralen und räumlichen Differenzierung und Integration aufgefasst: So müsse in

den gesellschaftlichen Einheiten ähnlich wie beim biologischen Organismus das

Wachstum und die Komplexität von Strukturen gleichermaßen Schritt halten (HEARN

1863, 393). Die Komplexitätssteigerung von Gesellschaften kann dabei gerade in der

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räumlichen Dimension gezeigt werden. Die Entstehung ökonomisch spezialisierter

Regionen und Nationen ist als Abschluß einer naturgesetzlichen Entwicklung zu

verstehen, die mit der ersten Gruppenbildung von Menschen eingesetzt hat (HEARN

1863, 398).

Als Resümee kann festgehalten werden, daß HEARN erstens SPENCERs Interpretation

der wirtschaftlichen Raumstruktur als Ausdrucksform sozial-evolutionärer

Gesetzmäßigkeiten übernimmt. Er ist sich mit ihm auch in der generell positiven

Bewertung räumlicher Konzentration einig. Zweitens nutzt HEARN den Tatbestand

wirtschaftlicher Cluster und spezialisierter Nationen, um kollektive

Handlungszusammenhänge bzw. eine gesamtwirtschaftliche Ebene in die Ökonomie

einzuführen. Hierin unterscheidet er sich signifikant von SPENCER, der alle

kollektiven Entitäten stets auf unmittelbare Intentionen und Handlungen der Individuen

zurückführen wollte. Die räumliche Integration von Wirtschaftsaktivitäten wird von

HEARN genutzt, um den Widerspruch zwischen SPENCERS Organismus-Begriff und

dessen inhaltlichen Individualismus aufzulösen. HEARN legt seine Betrachtung der

Marktteilnehmer methodologisch an, so dass er auch kollektive

Handlungszusammenhänge definieren kann. Im Vergleich zu SPENCER beschreibt

HEARN drittens die funktionalen Verknüpfungen der Unternehmen innerhalb von

Clustern besser.

5. Marshalls evolotionäre Ökonomie

Alfred MARSHALLS ökonomisches Denken wurde stark vom Sozial-Evolutionismus

beeinflusst. So hatte er Herbert SPENCER ausführlich rezepiert, in seinem Hauptwertk

‚Principles of Economics‘ zitiert er SPENCER an prominenten Stellen. HEARN wurde

von MARSHALL in seinen ersten volkswirtschaftlichen Vorlesungen 1873/4 als

Dozent in Cambridge einbezogen (GROENEWEGEN 2003). Ebenso stützte er sich auf

andere sozial-evolutionäre Werke wie Albert Schäffles ‚Bau und Leben des socialen

Körpers‘ und Walter Bagehots ‚Physics and Politics‘. Marshall verschaffte sich einen

eigenen Überblick über die biologische Evolutionsdiskussion, so etwa anhand von Ernst

Häckels ‚Ueber die Arbeitstheilung in Natur- und Menschenleben‘

Mit dieser sozial-evolutionären Orientierung stand Marshall keineswegs allein in der

britischen Volkswirtschaftslehre zwischen 1870 und 1890 (HODGSON 1993, 1995;

LAURENT/NIGHTINGALE 2001). Ein anderer angesehener und vom Sozial-

Evolutionismus beeinflusster Ökonom war beispielsweise MARSHALLS Förderer und

Kollege in Cambridge, Henry Sidgwick. Als Hintergrund für diesen wachsenden

Einfluß des Sozial-Evolutionismus können die zunehmende Komplexität des

ökonomischen Systems in Großbritannien bzw. die steigenden Interdependenzen

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zwischen dem Bildungssystem, der Wissenschaft und der Politik angesehen werden:

"The industrial machine is getting more organic and more sensitive", notierte

beispielsweise der Ökonom William SMART (1888, 701). Mit seiner Eignung zur

Darstellung ‚systemischer‘ Eigenschaften wurde der Sozial-Evolutionismus in einer

Phase der wachsenden wirtschaftlichen Konkurrenz Grossbritanniens zu den

aufstrebenden Industrienationen als ein wichtiger Theoriebeitrag begriffen.

Der Einfluß des Sozial-Evolutionismus ist vor allem deutlich bei MARSHALLS

verhaltenstheoretischen Annahmen, bei seinem Gleichgewichtsbegriff und bei seiner

Methodologie (THOMAS 1991, LIMOGES/MÉNARD 1994, GROENEWEGEN

2001). So wandte er kritisch gegen das Menschenbild der klassischen Politischen

Ökonomie ein, dass die handelnden Akteure immer schon als Angehörige eines sozialen

Zusammenhangs (‚menbers of the social organism‘) zu verstehen seien (MARSHALL

1890, 73). Durch diese soziale Integration sei auch stets von einem breiten

Motivhaushalt der Subjekte auszugehen (CHASSE 1984; ASPERS 1999).

Im Unterschied zu seinen neoklassischen Kollegen William S. Jevons und Léon Walras

reduzierte MARSHALL die Fragen des Wandels und der Dynamik nicht auf logische

Prozesse in einem Modell von Mengen und Preisen. Vielmehr beharrte er auf der

Relevanz der historischen Zeit und vertrat einen elastischen Gleichgewichtsbegriff, der

kumulative und pfadabhängige Prozesse kennt. Speziell in MARSHALLS Markttheorie,

in der er ein Konzept des Lebenszyklus von Unternehmen präsentiert, ist der sozial-

evolutionäre Einfluss nachweisbar.

Methodologisch folgte für ihn aus der Kontinuität und Historizität sozialer Prozesse

eine vorsichtige Balance zwischen deduktiven und induktiven Methoden. Gegen eine

vorschnelle Generalisierung setzte er eine schrittweise Betrachtung abgrenzbarer

sozialer Handlungszusammenhänge („partial equilibrium“). Zu diesen

Handlungszusammenhängen zählte er Nationalökonomien, Branchen, aber auch

industrielle Distrikte.

Zugleich vertrat MARSHALL ein über SPENCER hinausgehendes evolutionäres

Konzept menschlichen Handelns. Dies entwickelte er, wie Tiziano RAFFAELLI

(2003a) gezeigt hat, in seiner frühen „philosophischen“ Phase um 1870. In der

Nachfolge SPENCERS betrachtete er die Mechanismen der Evolution als dauerhafte

Übernahme erworbener Fähigkeiten, berücksichtigte allerdings auch wechselseitige

Änderungen: Menschliche Tätigkeit ist nicht als Anpassung auf eine statische Umwelt

gerichtet, da diese Umwelt in weiten Teilen selbst gesellschaftliches Produkt ist. Zentral

für MARSHALLs Handlungsmodell ist die Annahme der Ko-Evolution. Sowohl die

gesellschaftlichen Individuen, wie auch ihre Umwelt unterliegen einem permanenten

Wandel: „It is true, that human nature can be modified“ (MARSHALL 1890, 47). Er

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verband damit die Hoffnung auf eine Ausdehnung der menschlichen Fähigkeiten und

letztlich einer Verbesserung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung.

Zugleich wird der Gesellschaftsbegriff bei MARSHALL erheblich breiter als bei

SPENCER gefaßt. Zwar ist auch für ihn die Arbeitsteilung eine Schlüsselkategorie der

gesellschaftlichen Entwicklung. Auf diese funktionalistischen Arbietsbeziehungen

bleibt die Sozialität bei ihm jedoch nicht reduziert. Anderen sozialen Fakten, die als

Einstellungen, Werte und Konventionen von Unternehmern und Arbeitnehmern im

Wirtschaftsleben wirksam werden können, widmete er besondere Aufmerksamkeit.

6. Die (Dys-)Funktionalität sozialer Bindungen

MARSHALLS Konzept des industriellen Distrikts hat in seiner Makroökonomie die

Funktion, einen Verlauf der gesamtwirtschaftlichen Angebotskurve mit steigenden

Erträgen zu begründen. Seine Aussagen zu den Entstehungsgründen und der

Funktionweise von Distrikten ist inzwischen ausreichend rekonstruiert worden

(BELLANDI 1989, 2003; QUÉRÉ/RAVIX 1998). An dieser Stelle soll gefragt werden,

wie das ökonomisch-rationale Funktionieren der Distrikte verknüpft ist mit der sozialen

Einbindung der Akteure: Wird der Erfolg von Distrikten durch die sozialen Strukturen

beeinflußt?

Ökonomisches Handeln geschieht nach MARSHALL stets unter der Voraussetzung

unvollständiger Information und orientiert an verschiedenartigen Motiven. Auch wenn

MARSHALL auf der mikroökonomischen Ebene eine Reihe von Annahmen über die

Handlungsweisen der Akteure trifft, so vertritt er nicht das Bild eines rationalen, rein

nutzenmaximierenden ‚homo oeconomicus‘. Jeder Akteur, der ausschließlich seine

eigenen Strategien verfolge, müsse diese an den Strategien anderer Akteure relativieren.

So komme es zu einer wechselseitigen Reflexion über das individuelle Handeln. Die

Akteure schaffen in der Verständigung mit anderen Akteuren soziale Konventionen

(‚habits and customs‘), die ihnen bei künftigen Handlungen als Richtlinie dienen

(MARSHALL 1961, 21). Eine Vorteilnahme auf Kosten anderer wird durch diese

Konventionen gemildert. Gleichzeitig, so MARSHALL, ändern sich die Ziele und

Formen der wirtschaftlichen Tätigkeit mit der gesellschaftlichen Entwicklung. So

unterliegen die ‚egoistischen‘ Verhaltensweisen einem historischem Wandel; insgesamt

zeichnet sich der moderne Kapitalismus vor allem durch eine zunehmende Reflexivität

(‚deliberateness‘) der Individuen aus (MARSHALL 1890, 6).

Die gesellschaftlichen Regel- und Symbolsysteme, die auf diese Weise entstehen, sind

sehr voraussetzungsvoll. Sie setzten eine Akzeptanz der Regeln,

Perspektivenverschränkung und Vertrauen in die Regelerfüllung voraus: „The whole

mechanism of society rests on confidence“ (MARSHALL 1919, 165). Am Beispiel der

- 13 -

Kreditvergabe illustriert MARSHALL, daß das Funktionieren von Vertrauen nicht nur

durch enge personale Beziehungen erklärt werden kann, sondern das Verhalten der

Personen erst durch ihre gemeinsame Verpflichtung auf das gesellschaftliche

Regelsystem zustande kommt. Daher, so MARSHALL, könne auch davon gesprochen

werden, daß ein ‚social credit‘ vergeben werde.

Dieses Verständnis zeigt sich auch in MARSHALLs Konzept räumlicher

Konzentration: „A manufacturing district offers many social advantages“

(MARSHALL/MARSHALL 1879, 47). In den ‚Principles‘ sieht er im Distrikt-Kapitel

explizit an zwei Stellen einen Einfluß gesellschaftlicher Beziehungen. Erstens entstehen

innerhalb der Unternehmen soziale Beziehungen zwischen Arbeitgebern und

Arbeitnehmern: „Social forces here co-operate with economic“ (MARSHALL 1890,

333). National und regional unterschiedliche soziale Verhältnisse können sich auf das

Arbeitsangebot und die Produktivität der Arbeit auswirken. Welche sozialen Aspekte in

diesem Fall relevant werden können – Einstellungen zur Arbeit und zum

Unternehmertum, Heiratsverhalten und Familienstrukturen, religiöse Bindungen – hat

MARSHALL zuvor in seiner Diskussion des Arbeitsangebots aufgezeigt (MARSHALL

1890, 245 – 283). In geclusterten Unternehmen besitzen nun die gesellschaftlichen

Normen und Werte einen anderen Stellenwert als in nicht-geclusterten Unternehmen.

Der größere und flexiblere Arbeitsmarkt in Clustern sorgt für eine schnellere

Verbreitung und Angleichung von sozialen Verhaltensweisen. Negative

Verhaltensweisen brauchen weniger toleriert zu werden, da sowohl Arbeitnehmer wie

Arbeitgeber sich bei Konflikten unkomplizierter ein anderes Unternehmen bzw. einen

anderen Arbeitnehmer wählen können (MARSHALL 1890, 333).

Zweitens wird die Arbeit in einem Cluster permanent von vielen Akteuren

wahrgenommen, diskutiert und bewertet. Entsprechend wird der Einsatz neuer

Technologien oder die Markteinführung neuer Produkte ständig durch die

Meinungsbildung beeinflußt. Die wirtschaftlichen und technischen Strategien der

Unternehmen werden innerhalb dieses Rahmens sozialer Kommunikation gebildet. In

den ‚Principles‘ drückt MARSHALL dies mit der oben zitierten Wendung aus, daß die

Geheimnisse der Industrie in einem Cluster ‚in der Luft‘ lägen. In ‚Industry and Trade‘

wählt er das Bild einer ‚Atmosphäre‘, in der sich die Handelnden bewegen:

„Sheffield and Solingen have acquired industrial >atmospheres< of their own; which

yield gratis to the manufacturers of cutlery great advantages, that are not easily to be had

elsewhere: and an atmosphere cannot be moved“ (MARSHALL 1919, 284; vgl. 1890,

263 f., 332).

Damit entsteht eine soziale Dimension von Clustern, in der die Akteure in ein Netz

persönlicher Verbindlichkeiten und Vertrauensverhältnisse eingebunden sind.

- 14 -

Soziale Normen und Werte sind für MARSHALL allerdings keine autonome Spähre,

die der Ökonomie vorausgesetzt bleibt. Normen und Werte werden selbst durch die

wirtschaftliche Entwicklung verändert. Hier kommt wiederum der sozial-evolutionäre

Charakter von MARSHALLS Gesellschaftstheorie zum Tragen: Menschliche

Verhaltensweisen bilden sich situationsadäquat aufgrund vielfältiger gesellschaftlicher

Stimulierungen und unterliegen einem beständigen Wandel (MATTHEWS 1990, 20 –

30). Von Stabilität kann somit stets nur in Relation zu bestimmten sozialen Kontexten

und Zeithorizonten gesprochen werden. Beispielsweise habe sich das Verhältnis von

Unternehmern und Beschäftigten zwar auch aufgrund der Änderung sozialer

Konventionen (‚changes in sentiment, in domestic habits and in social relations

generally‘) gewandelt, vor allem aber durch die technisch-ökonomischen

Veränderungen (MARSHALL 1975, 43). Diese historisch-praxisorientierte Auffassung

demonstriert MARSHALL zum einen anhand menschlicher Bedürfnisse, indem er auf

die fortwährende Variabilität und Pluralisierung von Bedürfnissen verweist. Zum

anderen zeigt er die Variationsfähigkeit menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten

auf, so etwa bei der Arbeitsdisziplin und dem Bildungsgrad (MARSHALL 1961, 87).

In seinen wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten untersucht MARSHALL, wie

wirtschaftliche Entwicklungen durch den kollektiven Charakter von Milieus beeinflußt

werden und verdeutlicht gleichzeitig deren Entstehungsbedingungen. So weist er in

seinen Ausführungen zur Qualifizierung des Humankapitals auf die Evolution sozialer

Normen in den Regionen hin, wo der industrielle Sektor stark expandierte. Dort seien

Eigenschaften wie Verantwortungsgefühl und Sorgfalt bei der Bedienung aufwendiger

Anlagen besonders ausgeprägt (MARSHALL 1890, 261). In ‚Money, Credit and

Commerce‘ identifiziert MARSHALL (1923, 2) eine ‚lokalpatriotische‘ Tradition

innerhalb einer Region, bei der sich die Bewohner mit den dominanten Industrien eines

Gebietes identifizieren und sich stark für diese engagieren.

Schließlich zeigt MARSHALL auf, daß sich im historischen Strukturwandel der

Stellenwert und die Funktion soziokultureller Momente ändern. Zum einen weist er

darauf hin, daß in modernen Gesellschaften die Bedeutung von traditionellen

Konventionen abnimmt (MARSHALL 1890, 34 – 37, 46). Zum anderen ändern sich die

kulturellen Inhalte mit der gesellschaftlichen Entwicklung und es kommt zu einer

Annäherung von Gewohnheiten und Kulturen unterschiedlicher Länder. Allerdings

besitzen soziale Konventionen auch eine relative Autonomie. Selbst bei Verlust ihrer

ursprünglichen Funktionen können sich soziale Normen und Institutionen im Repertoire

des gesellschaftlichen Handelns vertreten bleiben: „The past lives on for ages after it

has been lost from memory“ (MARSHALL 1919, 6). Diese Dauerhaftigkeit von

Konventionen diagnostiziert MARSHALL (1890, 602) beispielsweise für das moderne

Großbritannien.

- 15 -

Die Transaktionsbeziehungen der Akteure, so kann festgehalten werden, folgen in

einem industriellen Distrikt einer ökonomischen Rationalität. Diese wird jedoch immer

wieder modifiziert und überformt durch die soziale Eingebundenheit aller Akteure.

Durch die intersubjektiv geteilten Formen des sozialen Handelns wird die Interaktion

und Kommunikation der Akteure erleichtert. Dabei sind für MARSHALL die

gesellschaftlichen Normen und Werte nicht autonom und statisch, sondern werden

selbst innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklungen permanent verändert. Die

Bedeutung dieser sozialen Dimension für die räumliche Produktionsstruktur untersucht

MARSHALL nicht systematisch; seine Schilderungen einer sozialen ‚Atmosphäre‘ in

Clustern bleibt eher eine intuitive Eröffnung eines Forschungsfeldes. Für einen Bereich,

der auch heute noch von besonderem Interesse ist, dem Innovationsprozeß, stellte

MARSHALL allerdings eine Reihe von informativen Überlegungen an.

7. Orte der Innovation: Kreativität und Routine

„Knowledge is our most powerful engine of production“ betonte MARSHALL (1961,

138) in den ‚Principles’. Die Herstellung und die Nutzung von Wissen war für ihn ein

zentraler Aspekt moderner Volkswirtschaften (LOASBY 1998; ARENA 2003). In

seinen Untersuchungen über die Verlangsamung des industriellen Wachstums in

Großbritannien seit den späten 1870ern standen für ihn Defizite im Bereich von Bildung

und Wissenschaft im Vordergrund: Er machte das ungenügende Bildungssystem, die

geringe Verknüpfung mit wissenschaftlicher Forschung und die erlahmte

Innovationsorientierung verantwortlich. Stattdessen forderte er seine Landsleute auf, zu

einer Kultur des Lernens zurückzukehren: „(...) the time had passed at which they could

afford merely to teach foreigners and not learn from them in return“ (MARSHALL

1926, 406). Im Folgenden soll näher betrachtet werden, wie MARSHALL

Innovationsprozesse betrachtete und in welcher Weise er Zusammenhänge zur

räumlichen Struktur der Ökonomie herstellte.

Für MARSHALL besaß die gesellschaftliche Evolution weder eine eindeutige

Richtung, noch war sie als ein teleologischer Prozeß aufzufassen, der auf ein

Anpassungsoptimum hin tendiert. Sie ging für ihn nicht zwingend mit einem Gewinn an

gesellschaftlichem Fortschritt einher. Wenn MARSHALL auch von einer langfristigen

Optimierung des gesellschaftlichen Systems überzeugt war, so bleibt der

Anpassungsprozess kontigent und es sind negative Entwicklungen möglich

(RAFFAELLI 2003b, 257). Erstens können als Nebeneffekt evolutionärer

Entwicklungen Eigenschaften auftreten, die neutrale bzw. schädigende Wirkungen für

ihre Umwelt haben. Zweitens kann es zu ‚ökonomischem Parasitismus‘ kommen, wenn

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es Individuen bzw. Gruppen gelingt, leistungslose Einkommen zu erwerben

(MARSHALL 1890, 304 f.). Drittens können Entwicklungen abgebrochen werden, die

langfristig und indirekt die größeren Wohlfahrtseffekte erzielt hätten (MARSHALL

1890, 629 – 631). In der räumlichen Dimension kann z.B. eine problematische

Zunahme von Disparitäten eintreten, gerade weil der evolutionäre Wettbewerb zwischen

Arbeitsqualifikationen erfolgreich verläuft:

„<Natural selection>, while tending to equalize the earnings of work of each order of

efficiency, often increases the inequalities of average earnings in different places“

(MARSHALL 1923, 5).

Kurzum, die Variation und Selektion gesellschaftlicher Organisationslösungen

garantiert nach MARSHALL nicht, daß negative Begleitfolgen ausgeschlossen werden

bzw. optimale Resultate erzielt werden. Damit ist klar, daß MARSHALL diese

‚bewußtlose‘ Form gesellschaftlicher Selbstorganisation gegebenenfalls durch Formen

bewußten gesellschaftlichen Handelns ergänzt wissen möchte, was die Distanz zu

SPENCERS Gesellschafts- und Staatsverständnis deutlich werden läßt.

Im wirtschaftlichen Bereich ist die Produktion von neuen Produkten und Prozessen

mehr als die Optimierung bereits festgelegter Abläufe. Es handelt sich um

Lernprozesse, in denen die Akteure vorher nicht existente Kombinationen von Faktoren

herstellen. So bieten auch Standorte mit ihren unterschiedlichen Ressourcen und

Lagevorteilen einen Möglichkeitsspielraum für effiziente Lösungen:

„Every locality has incidents of its own which affect in various ways the methods of

arrangement of every class of business that is carried on in it. But even in the same place

and the same trade no two persons pursuing the same aims will adopt exactly the same

routes“ (MARSHALL 1890, 517 f.).

Der Korridor für alternative Lösungen ist in den verschiedenen Branchen

unterschiedlich breit, wie MARSHALL mit Blick auf die Textil- und Metallindustrien

erwähnt. Welche Faktorkombinationen realisiert werden, hängt in hohem Grade von

dem Qualifikationsprofil und Beziehungsnetz des Unternehmers ab.

MARSHALL sieht zwei Vorgehensweisen, mit denen der menschliche Geist den

interdependenten Prozeß der Anpassung an die Umweltbedingungen bewältigt. Zum

einen werden Innovationen generiert, zum anderen werden diese Innovationen, wenn sie

sich bewährt haben, zu wiederholbaren Handlungsabläufen standardisiert. Menschliches

Handeln ist also weder reine Spontanität noch ein reiner Automatismus, sondern eine

situationsbezogene Kombination beider Handlungsformen. Während kreatives Handeln

neue Pfade eröffnet, spart das Routine-Handeln Kräfte (RAFFAELLI 2003a, 54 - 57).

Somit sind in MARSHALLs Modell des Handelns permanente Verbesserungen

vorgesehen, aber dies führt nicht zu einer festgelegten Verhaltensrichtlinie. Vielmehr

stellt sich im Wettbewerb eine Vielfalt an Organisationslösungen ein, die wiederum als

Ressource bei Veränderungen des Wettbewerbsrahmens genutzt werden können. „The

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tendency to variation is a chief cause of progress“ führt MARSHALL (1961, 355) aus.

Er weist entsprechend auf die Gefahren einer zu engen Anpassung an ökologische

Nischen hin. Eine zu weitgehende Automatisierung von Handlungsabläufen sei zu

vermeiden. Das menschliche Handlungssystem müsse stets offen bleiben für neuartige

Anpassungssituationen.

Diese allgemeine Logik menschlichen Handelns zeigt MARSHALL auch im

ökonomischen Handeln auf. Ökonomische Organisationsformen müssen in der Lage

sein, eine effiziente Kombination kreativer und routinisierter Handlungsformen zu

verbinden. Diese unterschiedlichen Anforderungen können unter anderem in der

räumlichen Organisationstruktur umgesetzt werden. In räumlichen

Branchenkonzentrationen herrscht eine schnelle Diffusion des Wissens und es treten

spill-over zwischen den Akteuren ein:

„Each man profits by the ideas of his neighbours: he is stimulated by contact with those

who are interested in his own pursuit to make new experiments; and each successful

invention, whether it be a new machine, a new process, or a new way of organizing the

business, is likely when once started to spread and to be improved upon“

(MARSHALL/MARSHALL 1879, 53).

Hier lassen sich Bezüge zu MARSHALLs Ansichten über die Voraussetzungen

politischer Prozesse herstellen (GROENEWEGEN 1995, 450 – 457). Er hielt die

örtliche ‚Community‘ für die entscheidende räumlich-soziale Form, um kollektive

Identitäten herzustellen und eine Kooperation zwischen Staatsbürgern zu stiften.

Innerhalb von Clustern sieht MARSHALL vor allem Vorteile der permanenten

Verbesserung von Produkten und Produktionsprozessen. Dieser Wissensaufbau

innerhalb von Clustern bleibt jedoch ständig durch die räumliche Diffusion dieses

Wissens bedroht. Die wissensintensiven Standortballungen sind daher ständig gefordert,

das Wettrennen zwischen Kreation und Abfluß von Wissen zu gewinnen, was

MARSHALL in einer Denkschrift zur Handelspolitik am Beispiel der Pariser

Luxusindustrien schildert:

„New Parisian goods are sold at high prices in London and Berlin for a short time, and

then good imitations of them are made in large quanitities and sold at relatively low

prices. But by that time Paris, which had earned high wages and profits by making them

to sell at scarity prices, is already at work on other things which will soon be imitated in a

like way“ (MARSHALL 1926, 404).

Industrielle Distrikte sind jedoch nicht als die generell kreativeren Organisationen zu

sehen. Großunternehmen haben Vorteile bei der Initiierung bewußt geplanten radikalen

Wandels, da sie aufgrund ihrer überlegenen Ressourcen ein höheres Aufwandsrisiko

übernehmen können (MARSHALL 1890, 341 – 346). Darüber hinaus sind sie beim

Einsatz standardisierbarer Technologien, d.h. bei der Routinisierung von

Handlungsabläufen überlegen. Cluster sind folglich nur dann eine effiziente

- 18 -

Organisationsform, wenn eine komplexe Mischung von Kreativität und Routine gefragt

ist.

Diese Mischung ist insbesondere bei der Bildung und Bewahrung von Qualifikationen

vorteilhaft. Standortwechsel bzw. Standortkontinuität können je unterschiedliche

Kompetenzen der Arbeitskraft verstärken oder auch schwächen, wie MARSHALL in

den ‚Principles‘ verdeutlicht (MARSHALL 1890, 250 – 255). Generell ermöglicht die

langfristige Beharrung von Arbeitskräften an einem Standort die schrittweise

Weiterbildung von Beschäftigten. Allerdings kann sich dadurch langfristig die

Lernbereitschaft an einem Standort vermindern. Dagegen erkennt MARSHALL bei

einem Standortwechsel von Arbeitskräften einen Gewinn an neuen Fähigkeiten und

Kenntnissen. Neue Lösungswege werden zudem leichter von Ortsfremden akzeptiert.

Um die Gefahr einer mentalen Erstarrung zu vermeiden, sollte jeder Standort offen

bleiben für Ideen von außen:

„In the long run the advance of each locality depends much on the richness of the markets

which neighbouring districts afford to its buyers and sellers, and on the suggestions that it

derives from the rest of the country, as well as on its power on attracting from outside any

men of special attainments, whose aid may be helpful to it“ (MARSHALL 1923, 4).

Allerdings ist ein Standortwechsel auch mit dem Risiko verbunden, spezialisiertes

Wissen und die soziale Stellung zu verlieren. Die ‚Reputation‘, die so wichtig in lokalen

Fachgemeinschaften ist, können Akteure nur begrenzt zu einem neuen Standort

transferieren.

Innovationsprozesse, so ist MARSHALLs Auffassung zu resümieren, können stark

durch die räumliche Struktur der Unternehmen beeeinflußt werden. Dabei erleichtert die

räumliche Nähe in Clustern vor allem die ‚alltägliche‘ Innovation. Räumliche

Konzentration wirkt sich dann positiv aus, wenn in einer Branche Produkte und

Produktionsprozesse permanent und schrittweise geändert werden müssen.

MARSHALLs Behandlung des Innovationsprozesses unterscheidet sich dabei

signifikant von der klassischen Politischen Ökonomie, aber auch von SPENCER und

HEARN. Innovation ist für ihn keine bloße Optimierung betrieblicher Faktoren,

sondern wird durch vielfältige und nur im gesellschaftlichen Kontext erklärbare

Faktoren beeinflusst. Der ‚industrial district‘ ist für MARSHALL eine

Realisierungsform menschlicher Evolution: Er bietet eine institutionelle Umwelt, in der

sich die Fähigkeiten des Lernens und der Gestaltung der eigenen Umwelt anwenden

läßt. Für den Bereich der Innovation hat MARSHALL somit die Bedeutung der sozialen

Dimension von Clustern eingehend nachgewiesen und analysiert.

- 19 -

8. Schlussfolgerungen

Abschliessend sollen einige Anschlussstellen zwischen der sozialevolutionären

Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie aus spät-viktorianischer Zeit, die in diesem

Beitrag rekonstruiert wurde, und der heutigen Theoriebildung in der

Wirtschaftsgeographie aufgezeigt werden.

Zweifellos sind der Aufstieg und der Wiederaufstieg des evolutionären Ansatzes durch

eine gleichartige innerwissenschaftliche Zielstellung motiviert gewesen. Im Kontext der

Volkswirtschaftslehre stellen beide Denkbewegungen eine

„Versozialwissenschaftlichung“ dar, die ein Unbehagen an statischen und wenig

prognosefähigen Theoriemodellen artikulieren. Mit einer ähnlichen Kritik wie sie

Alfred MARSHALL an den verhaltens- und gleichgewichtstheoretischen Annahmen

der klassischen Theorie äußerte, grenzt sich die heutige evolutionäre Theorie, wie sie

etwa von Richard R. NELSON und Sidney G. WINTER (1982, 23 - 48) formuliert

wird, von der neoklassischen Theorie ab. Die Vernachlässigung räumlicher

Unterschiede in der Ressourcenausstattung oder der räumlichen Bindung von

Produktionsfaktoren wird dabei als ein Kritikpunkt genutzt. Hier existieren

Überschneidungen zu MARSHALLS Kritiklinien und zu seiner Methodologie, in der

räumliche Einheiten als Elementen der Partialanalyse eingeführt werden. Im Anschluss

an diese Überlegungen hat der moderne Evolutionismus in der Volkswirtschaftslehre

die Räumlichkeit zügig als theoretisches und empirisches Anwendungsfeld entdeckt

(HERRMAN-PILLATH 2003). Parallel wurden evolutionäre Konzepte in der

Wirtschaftsgeographie rezepiert und weiterentwickelt (ESSLETZBICHLER 2002). Die

Behandlung von Pfadabhängigkeiten, Wissens-Spillover und regionalen

Innovationssystemen zeigt dabei die thematische Nähe zur MARSHALLIANISCHEN

Ökonomie. Hier könnte vermutlich eine vertiefte Befragung z.B. der SPENCERSCHEN

Bestimmungen der räumlichen Lage- und Dichteverhältnisse von Wirtschaftsprozessen

noch einiges zur Systematisierung von evolutionären Erkenntnissen in der

Wirtschaftsgeographie beitragen.

Zugleich könnten bei der heutigen sozialtheoretischen Fundierung der

Wirtschaftswissenschaften einige Fehlentwicklungen der Vergangenheit vermieden

werden. Herbert SPENCERS Darstellung der räumlichen Verteilung von Branchen als

eines Strukturelements von Gesellschaften formuliert einen heute wieder

aufzunehmenden Erklärungsanspruch. Dennoch wird inzwischen kaum einer mehr ein

universales Entwicklungsgesetz von Gesellschaft formulieren möchten. Die

Wirtschaftsgeographie sollte sich zugleich für die Gefahren einer Über-Soziologisierung

bzw. –Anthropologisierung sensibilisieren. Hier warnen Beispiele wie Henry Georges

„Science of Political Economy“ mit seiner Ontologie von Raum und Zeit (1898, 339 –

370). Dessen Tiefenschürfungen nach den menschlichen Seinsbedingungen hat klar den

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Nutzen einer ökonomischen Theorie, die mit den rationalen Handlungskalkülen

individueller Akteure hantiert, vernachlässigt.

Speziell an Alfred MARSHALLS Ansatz können Möglichkeiten eines sinnvollen

Anschlusses von ökonomisch-rationalem Denken an einen komplexeren, soziologisch

begründeten Motivhaushalt studiert werden. MARSHALL vereinbarte seine

mikroökonomischen Erkenntnisse, die bis heute grundlegend für die

Volkswirtschaftslehre sind, mit einer makroökonomischen Betrachtung. Für die heutige

Wirtschaftsgeographie, die zumeist MARSHALLS Konzeptualisierung von

Industriellen Distrikten auf eine Darstellung von Kostenvorteilen innerhalb von

räumlichen Konzentrationen beschränkt, kommt es darauf an, seinen erheblich breiteren

Ansatz wahrzunehmen. Die ökonomischen Transaktionen in Distrikten waren für

MARSHALL gleichzeitig eingebunden in einen sozialen Kontext, der erleichternd oder

auch hemmend wirken kann. Somit grenzte er sich auch von einer ökonomistisch

reduzierten Sichtweise menschlichen Handelns ab, wie sie von JEVONS und WALRAS

vertreten wurde. Die Anknüpfung an diesen volkswirtschaftlichen Mainstream der

letzten Jahrhundertwende, das MARSHALLIANISCHE Forschungsprogramm, kann für

die ‚evolutionäre’ oder ‚institutionelle’ Wirtschaftsgeographie nur fruchtbar sein.

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