Public Health in Europa Soziale Ungleichheit Joy Ladurner Dornbirn, 11. Juni 2010.
Soziale Evolution und räumliche Wirtschaftsstruktur bei ... · - 5 - every locality grows more or...
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Christoph Scheuplein, Berlin
Soziale Evolution und räumliche Wirtschaftsstruktur bei
Herbert Spencer, William Hearn und Alfred Marshall
Herbert Spencer, William Hearn and Alfred Marshall on Social Evolution and
Spatial Patterns of the Economy. In contemporary regional economics and economic
geography, Alfred Marshall is appreciated as the first economist who described and
theorized economic clusters. However, his work has been one-sidedly reduced to his
economic rational explorations of the emergence and success of industrial districts.
Delving deeper reveals that Marshall was deeply influenced by evolutionary thinking.
For him, districts were an organizational pattern arising out of human evolution.
Marshall was also influenced by two other earlier scholars: Spencer and Hearn. The
founder of socio-evolutionary theory, Herbert Spencer, had already used the spatial
allocation of production activities as a important criteria to characterize societal
development. William Hearn had integrated the socio-evolutionary terms of
organization into economics in order to describe the macro-economy. Alfred Marshall
borrowed their concepts and worked them into the wider framework of social science.
Due to this, he gained insights into the contingency and the path dependency of spatial
processes.
1. Einleitung
In der regionalökonomischen und wirtschaftsgeographischen Forschung über räumliche
Konzentrationen von Wirtschaftsaktivitäten wurde Alfred MARSHALL in den
vergangenen zwei Jahrzehnten allgemein als Ahnherr anerkannt. Nachdem Giacomo
BECATTINI (1975, 1990) die Entwicklung der italienischen Cluster mit seinem Begriff
der “industriellen Distrikte” interpretiert hatte, wurde sein Ansatz breit diskutiert und
seine Distrikt-Theorie rekonstruiert. Allerdings hat sich inzwischen eine Deutung
durchgesetzt, nach der MARSHALL sich einseitig auf die ökonomischen
Kostenvorteile von Distrikten, vor allem im Bereich der Arbeitskräfte, der Zulieferer
und der Wissensproduktion, beschränkt habe. Weitergehende Forschungsansätze in der
heutigen Wirtschaftsgeograhie, die den sozialen Kontext und die Interaktion der
Akteure als wichtige Einflussfaktoren bei der Raumbindung wirtschaftlicher Prozesse
identifizieren, setzen sich von dieser Tradition ab. Sie berufen sich stattdessen unter
anderem auf die evolutionäre Wirtschaftstheorie, die ideengeschichtlich nicht mit
MARSHALL verbunden wird.
Der Beitrag ist erschienen in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 51. Jg., Heft 1,
2007, 1 – 13
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In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass MARSHALL seine ökonomisch-rationale
Begründung für die Entstehung und den Erfolg von Clustern mit einer
sozialwissenschaftlich angelegten Einbeziehung nicht-ökonomischer Motive und
Handlungsformen von Individuen verband. Für ihn streben wirtschaftlich Handelnde
eine Maximierung ihres Gewinns an, aber sie unternehmen dies in einem konkreten
sozialen und geographischen Raum, der ihr Handeln beeinflußt. Insbesondere die
Raum-Kategorie des “Distrikts” wurde von MARSHALL mit seinem evolutionären
Konzept des menschlichen Handelns verknüpft. Mit diesem Ansatz stand MARSHALL
in einer längeren Tradition des evolutionären Denkens (SCHEUPLEIN 2006).
Im Folgenden wird zunächst auf den Begründer der sozial-evolutionären
Sozialphilosophie, Herbert SPENCER, eingegangen (2.). In seiner Gesellschaftstheorie
kam der räumlichen Verteilung von Produktionsstrukturen eine wichtige
Erklärungsfunktion zu (3.). Der Sozial-Evolutionismus und dessen raum-bezogenen
Aspekte wurden zuerst von William HEARN in die Volkswirtschaftslehre importiert
(4.). Alfred MARSHALL rezepierte beide Autoren intensiv (5.). Er betonte vor allem
die Reflexivität menschlichen Handelns, was sich auch in seiner Konzeptualisierung
industrieller Distrikte auswirkte (6., 7.). Abschliessend sollen einige Bezüge zur
heutigen Theoriediskussion hergestellt werden (8.).
2. Die Evolution des Evolutionsdenkens
Herbert SPENCER schickte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an, die liberale
Tradition in der britischen Sozialphilosophie zu erneuern (TURNER 1985,
WILTSHIRE 1978, SCHALLBERGER 1980). Der Utilitarismus eines Jeremy Bentham
und John Stuart Mill schien ihm wenig gewappnet für den Wertepluralismus und die
gesellschaftlichen Konflikte einer modernen Industriegesellschaft. Die rationalen
Handlungsregeln, die die utilitarische Ethik aus dem hedonistischen Kalkül ableitete,
erwiesen sich vor dem Hintergrund der tatsächlichen gesellschaftlichen
Interessengegesätze als formalistisch und unpraktikabel. Demgegenüber gewannen
kollektivistische Ideen, z. B. der sozialistischen Arbeiterbewegung oder des
philosophischen Idealismus, die das Wohlergehen einer übergeordneten Entität in den
Mittelpunkt stellten, an Boden. Auf der Suche nach einer überzeugenderen
Legitimationsbasis für eine liberale Gesellschaftsordnung wandte sich SPENCER
organizistischen und evolutionionistischen Ideen zu, mit denen demonstriert werden
sollte, dass der Kapitalismus ein naturgemäß-organisches Resultat der menschlichen
Geschichte sei (Jones 2000, 74 ff.). Dieses Anknüpfen an biologische Denkmodelle war
streng anti-kollektivistisch angelegt, denn es ging von den individuellen Motivlagen
aus, deren Zusammenwirken erst ein dauerhaftes gesellschaftliches Regelwerk schuf.
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SPENCER ging diese Aufgabe mit der Formulierung eines einheitlichen
Entwicklungsgesetzes an, das in der gesamten physischen wie sozialen Welt galt.
Zentrale Elemente des utilitaristischen Menschenbildes wie die Annahme eines
nutzenmaximierenden, rational handelnden Individuums wurden in einer
entwicklungstheoretischen Perspektive neu formuliert. Die Gesellschaft wird als eine
weder übernatürlich entstandene, noch aus dem Willen einzelner Individuen bzw.
Kollektivsubjekte begründete Institution charakterisiert. Vielmehr, so SPENCER, sei sie
das nicht-intendierte Resultat vielfacher intentionaler Handlungen, die die Menschen in
ihrem materiellen Leben begehen. Den Kern dieses naturwüchsig entstehenden
Handlungszusammenhangs sah er in der Arbeitsteilung, die er auch als
‚Kardinalwahrheit’ der Gesellschaftswissenschaften bezeichnete. Dabei richtet sich für
ihn die gesellschaftliche Arbeitsteilung von menschlichen Gesellschaften nach den
gleichen Gesetzen wie die von Pflanzen oder Tieren. Angeregt von dem Begriff der
‚physiologischen Arbeitsteilung‘, den der Zoologe Henri Milne-Edwards geprägt hatte,
stellte er allgemeine Aussagen zur Differenzierung und Integration von materiellen
Prozessen zusammen.
Auf diese Art weist SPENCER jede primäre Unterordnung der Individuen unter einen
religiösen oder staatlichen Ordnungsanspruch zurück. So sei z.B. die sektorale und
räumliche Arbeitsteilung weder durch das Kommando von Regierenden, noch aus einer
‚kollektiven Weisheit‘ entstanden, sondern sei allein das Ergebnis menschlicher
Bedürfnisse und daraus entstehender Handlungen. Als Beispiel führte er die damals
bekannten Cluster der englischen Textil- und Metallindustrie in Lancashire, Yorkshire,
Sheffield und Birmingham an. Sie sind für SPENCER (1860, 266), ein Ausdruck der
individuell-autonomen, nicht zentral koordinierten Aktivitäten. Wirtschaftliche
Strukturen folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten und können nicht politischen Strukturen
untergeordnet werden. Dies werde etwa daran deutlich, meint SPENCER, daß die
Grenzen räumlich-sektoraler Zusammenhänge die politischen Grenzen ignorierten. So
erstrecke sich beispielsweise ein wichtiges Zentrum der Eisenproduktion und -
verarbeitung über Teile der Grafschaften Warwickshire, Staffordshire, und
Worcestershire (SPENCER 1860, 289 und 1876, 521 f., 565). In seinem weiteren Werk
baute SPENCER dieses Verständnis der Ökonomie als fundamentale Ebene der
Gesellschaft zu einem umfassenden Konzept aus, wobei er die industrielle
Lokalisierung stets als Erklärungsgrund und beispielhaftes Resultat verwendet.
Nachdem SPENCER sich bereits in den frühen 1850er Jahren mit
evolutionstheoretischen Überlegungen beschäftigt hatte, formulierte er 1857 in dem in
der ‚Westminster Review‘ veröffentlichten Aufsatz ‚Progress: its law and cause‘
erstmals ein allgemeines Entwicklungsgesetz des Universums. In einer später
erweiterten Fassung lautet es: Evolution ist der Übergang von inkohärenten, homogenen
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Strukturen zu kohärenten, heterogenen Strukturen, verbunden mit einem Verlust an
Bewegung und einer Integration von Materie (SPENCER 1867, 360). Mit diesem
Ansatz erreichte SPENCER zwei Erklärungsvorteile. Erstens wird die Gesellschaft hier
abstrakt als funktionaler Zusammenhang betrachtet. Der ‚Erfolg’ einer Gesellschaft
kann hier formal über die Kohärenz der internen Strukturen oder über ihre Fähigkeit
zum Wachstum beschrieben werden. Zweitens kann durch die entwicklungstheoretische
Perspektive gleichzeitig Integration und Konflikt gedacht werden: Der ‚struggle for life‘
produziert eine Anpassung der Arten an die Naturbedingungen, d.h. die
gesellschaftlichen Subjekte produzieren gerade mit ihrem Konkurrenzverhalten
erfolgreiche und somit verbindliche Verhaltensmuster. Die Darstellung von
Marktökonomien, in denen die gesellschaftliche Harmonie aus den spontanen Aktionen
der Individuen hergestellt wird, gelingt hier überzeugender als im klassischen
Utilitarismus. Gleichzeitig werden jedoch auch die Grenzen von SPENCERS
Gesellschaftsbegriff deutlich. Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft sind für ihn der Kern
des gesellschaftlichen Zusammenhangs, andere Vergesellschaftungsformen bleiben
randständig. Dies hat ihm später von seiten der Soziologen Emil Durkheim und Talcott
Parsons den Vorwurf des Ökonomismus eingehandelt (PERRIN 1995).
3. Raumstrukturen in der Menschheitsgeschichte
SPENCER stellte das von ihm aufgestellte Entwicklungsgesetz innerhalb verschiedener
natur- wie gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen dar. In diesem Rahmen wird von
ihm die Raumdimension als eines der abstrakten Elemente eingeführt, mit denen
gesetzmäßige Analogien zwischen den verschiedenen Sachkreisen herstellt werden. Die
räumliche Anordnung von Himmelskörpern in der Astronomie, von Pflanzen in der
Botanik oder von Wirtschaftsakteuren in der Soziologie gilt ihm jeweils als ein
wichtiges Beschreibungskriterium für ihren Entwicklungsstand.
Im Bereich der Gesellschaft identifiziert SPENCER die Evolution als eine Abfolge von
Arten der Arbeitsteilung: Auf die geschlechtliche Arbeitsteilung folge eine einfache
sektorale Arbeitsteilung, die schließlich in eine räumlich-sektorale Spezialisierung
übergehe:
„But there are yet other and higher phases of this advance from the homogeneous to the
heterogeneous in the industrial organization of society. Long after considerable progress
has been made in the division of labour among the different classes of workers, there is
relatively little division of labour among the widely separated parts of the community: the
nation continues comparatively homogeneous in the respect that in each district the same
occupations are pursued. But when roads and other means of transit become numerous
and good, the different districts begin to assume different functions, and to become
mutually dependent. The calico-manufacture locates itself in this county, the woollen-
manufacture in that; silks are produced here, lace there; stockings in one place, shoes in
another; pottery, hardware, cutlery, come to have their special towns; and ultimately
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every locality grows more or less distinguished from the rest by the leading occupation
carried on in it“ (SPENCER 1857, 22, vgl. auch 56).
Die Lokalisierung des Gewerbes ist demnach als eine höhere Form gesellschaftlicher
Differenzierung zu betrachten. Jede Rücknahme der räumlichen Arbeitsteilung, z.B.
durch eine wirtschaftspolitische Intervention, muß als Rückschritt aufgefaßt werden. In
der liberalen Wirtschaftsordnung stellt sich naturwüchsig eine optimale Raumstruktur
her. Damit hat SPENCER die räumliche Arbeitsteilung als fundamentale Kategorie der
Gesellschaftsentwicklung und zugleich als qualitatives Beschreibungsmerkmal von
Gesellschaften gefaßt.
Dies ist zunächst nur eine allgemeine Formulierung der Funktion räumlicher Strukturen
in der sozialen Evolution. Im Weiteren stellt SPENCER sein Evolutionsgesetz dar in
verschiedenen, auf einander aufbauenden Stufen. Auf jeder Stufe illustriert er seine
Argumentation wiederum anhand der räumlichen Lage- und Dichteverhältnisse von
Gegenständen, speziell auch im Bereich der wirtschaftlichen Raumstruktur. Diese
Abfolge werde ich anhand der ‚First Principles’ darstellen, die SPENCER zuerst
zwischen 1860 und 1862 als Artikelserie veröffentlichte. Eine zusammenhängende
Behandlung der Raumstruktur legte er erst Jahrzehnte später in den ‚Principles of
Sociology‘ vor (SPENCER 1896, 334 – 355).
Ausgehend von der Voraussetzung, daß aller Substanz eine Bewegung inne ist, fragt
SPENCER zunächst nach der Richtung dieser Bewegungen (Kapitel 9 der ‚First
Principles’). Sie folgen seiner Ansicht nach der Linie des geringsten Widerstandes.
Hieraus leitet SPENCER für die räumliche Struktur der Wirtschaft ab, daß jede Region
genau die Produkte produziere, die mit dem geringsten Kraftaufwand herzustellen seien
(SPENCER 1867, 241, vgl. 1896, 353 f.). Das Zusammenspiel der wechselseitig
aufeinander einwirkenden Kräfte, so die nächste theoretische Bestimmung, bringt einen
‚Rhythmus‘ der Bewegung hervor. So führen etwa die Austauschbeziehungen zwischen
Regionen zu Oszillationen der Austauschmenge (SPENCER 1867, 267 f.). In Kapitel 14
zeigt SPENCER, daß die Evolution eine Gruppenbildung von vorher vereinzelten
Organismen, wie auch eine Zunahme des Organisationsgrades innerhalb bestehender
Gruppen beinhaltet. Letzterer könne unterschieden werden in eine ‚regulative Ordnung‘,
die bewußt herbeigeführt werde, wie auch in eine ‚operative Ordnung‘, bei der es zu
einer Integration der funktionalen Komponenten durch deren Wachstumsprozesse
komme. Die zweite Ordnungsform zeigt SPENCER an dem Übergang zu einem System
räumlich-sektoral spezialisierter Standorte auf. SPENCER illustriert dies an dem
Wolldistrikt in Yorkshire, der Baumwollindustrie in Manchester, der Töpferindustrie in
Staffordshire und einigen Dienstleistungsclustern in London (SPENCER 1867, 317).
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Parallel zur Integration läuft ein Prozeß der Differenzierung ab (Kapitel 15). Die
Politische Ökonomie habe diesen Übergang zu heterogenen Formen, so SPENCER,
bereits lange an der Teilung in verschiedene Beschäftigungsarten demonstriert. Diese
werde ergänzt durch die höhere Form der räumlichen Arbeitsteilung, die mit dem
Ausbau des Transport- und Kommunikationssystems möglich werde (SPENCER 1867,
346 und 1857, 22). SPENCER greift an anderer Stelle, in den ‚Principles of Sociology‘,
zur Erläuterung die Parallele zwischen physiologischer Arbeitsteilung in Körpern und
der sozialen Arbeitsteilung auf. Ähnlich wie die Organe in einem individuellen Körper
seien in einer Gesellschaft die Cluster durch Systeme der Versorgung und Steuerung
verbunden (SPENCER 1896, 349). Zudem, so seine Argumentation, seien die Cluster
intern strukturiert: Sie weisen Handelsvertretungen auf, die den Vertrieb der Produkte
und die Beschaffung von Rohstoffen organisieren. Sie verfügten über Kontroll- und
Nachrichtensysteme und sie bilden politische und kirchliche Einrichtungen aus, die die
soziale Ordnung aufrecht erhalten (SPENCER 1876, 496).
In den ‚Principles of Sociology‘ behandelt SPENCER zudem die Form der räumlichen
Differenzierung näher. Er unterscheidet zum einen Standortbildungen aufgrund
unterschiedlicher Naturbedingungen (topical division of labour). Zum anderen erkennt
er eine innerhalb der einzelnen Standorte sich entwickelnde lokale Arbeitsteilung, die
etwa in der Spezialisierung von Arbeitsqualifikationen bestehen kann (local division of
labour) (SPENCER 1896, 343 – 350). Die örtliche Arbeitsteilung zwischen den
Standorten ist als Grundlage der lokalen Arbeitsteilung an den einzelnen Standorten
aufzufassen. Die lokale Arbeitsteilung innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe hängt
sowohl von der Interaktion mit anderen Gruppen wie von der Gruppengröße ab. Eine
Verselbständigung von Funktionen kann vorgenommen werden, wenn die
zahlungsfähige Nachfrage einer Gruppe so groß ist, daß mindestens ein Mitglied mit der
spezialisierten Arbeit ausgelastet ist und zugleich ein wirtschaftliches Auskommen
findet. Eine wachsende Gruppengröße ermöglicht somit eine wachsende interne
Heterogenität der Gruppe, speziell eine wachsende Differenzierung der Raumwirtschaft.
In der weiteren Argumentation der ‚First Principles‘ sieht SPENCER eine säkulare
Tendenz zur räumlichen Funktionsspezialisierung, die auf verschiedenen Raumebenen
greift. Die gesamte Menschheit differenziert sich in unterschiedlich spezialisierte
Nationen, die sich in ‚lokale Sektionen‘ gliedern. Diese wiederum beinhalten
verschiedenartig profilierte Standorte (SPENCER 1862, 346 f.). Diese Tendenz sieht
SPENCER als notwendig an, da homogene Zustände stets instabil bleiben (Kapitel 19).
Eine geringe sektorale und räumliche Arbeitsteilung könne nicht von Dauer sein, da in
einigen Regionen eine bessere Anpassung an die Naturbedingungen gelingen werde als
in anderen, wodurch ein Spezialisierungsdruck auf alle Regionen entstehe. Ergänzend
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weist er in den ‚Principles of Sociology‘ darauf hin, daß entwickelte Organismen durch
eine ungleichmäßigere Verteilung ihrer Organe gekennzeichnet sind. Ihr höherer
Integrationsgrad lasse eine freiere Form der Größe und Verteilung einzelner Organe zu;
entsprechend unregelmäßig könne auch die Raumstruktur entwickelter Ökonomien
ausfallen (SPENCER 1876, 521).
Die Durchsetzung der räumlichen Arbeitsteilung folgt dem ‚Multiplikationseffekt’ in
der Evolution (Kapitel 20): Die Differenzierung an einer Stelle hat die Tendenz, weitere
Differenzierungen an anderen Stellen auszulösen. Hat sich etwa an einem Standort
durch eine verbesserte Produktivität die Möglichkeit zu einer räumlichen Ausweitung
des Absatzmarktes ergeben, so kann der Spezialisierungsgrad des Standortes erhöht
werden. Dies schränkt die Absatzchancen anderer Produktionsstandorte ein, wodurch
diese ebenfalls zu einer Spezialisierung auf andere Produkte gezwungen sind und sich
die räumliche Verteilung verschiedener Branchen ändert (SPENCER 1867, 451 - 455).
Schließlich behandelt SPENCER die Segregation in Organismen (Kapitel 21): Wirkt
eine Kraft auf die verschiedenen Einheiten eines Ganzen, so hat dies unterschiedliche
Auswirkungen bei den verschiedenen Einheiten, die sich daraufhin trennen. Aus diesem
Grund führt die gleichartige Kraft des wirtschaftlichen Wettbewerbs, die auf
unterschiedliche Raumausstattungen trifft, zur Segregation der Standorte (SPENCER
1867, 479).
Dieser evolutionäre Prozeß wird solange ablaufen, bis keine verändernden Kräfte mehr
auftreten können (Kapitel 22). Es kommt dann zu einem räumlichen Gleichgewicht, in
dem die sektoralen und räumlichen Spezialisierungen stabil bleiben (SPENCER 1862,
509 f.). SPENCER versteht allerdings ein Gleichgewicht in der Raumwirtschaft nicht
als starren Zustand, sondern wie bei allen Gegenständen, insbesondere bei den lebenden
Organismen, als eine mehr oder weniger elastische Bewegung (moving equilibrium)
(SPENCER 1867, 483 - 490). In dem Aufsatz ‚Social Organism‘ deutet SPENCER an,
daß bezogen auf ein Cluster ein Gleichgewicht durch das Auftreten von
Wachstumsbehinderungen herbeigeführt werden könne. Sobald eine Ausdehnung der
Produktion überproportionale Kosten verursache, ende die Expansionsphase einer
räumlichen Konzentration (SPENCER 1860, 290).
Dieser Prozeß der ‚Equilibration‘ ist die letzte Bestimmung der Evolution in den ‚First
Principles‘. Mit ihr zeichnet sich perspektivisch ein Ende der räumlichen
Veränderungen ab. Wie für die menschliche Evolution im Ganzen, sieht SPENCER
(1862, 548 und 1876, 615) auch für die ökonomische Raumevolution das Ziel in der
nicht mehr steigerbaren Anpassung an die externen Bedingungen. Hier stellt sich die
Frage, inwiefern die Strukturierung des ökonomischen Raumes als naturdeterminiert
gesehen wird. In der Tat besteht das Optimum der Raumstruktur in einer vollständigen
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Abbildung der Naturbedingungen. Sie werden von SPENCER (1876, Kapitel 3)
ausführlicher in den ‚Principles of Sociology‘ skizziert. Dort geht er auf die
Konstitution von Transportwegen und von Clustern ein, die nicht unmittelbar auf
Naturpotentiale, sondern auf historisch herausgebildete wirtschaftliche Zentren und
Transportsysteme zurückzuführen sind. SPENCER entledigt sich des Problems durch
die Unterscheidung einer primären und einer sekundären Lokalisierung von Industrien.
Demnach orientieren sich die rohstofforientierten Branchen zunächst an den Vorteilen
der natürlichen Raumausstattung. Deren Zwischenprodukte werden dann von weiteren
Industrien nachgefragt, für deren Lokalisierung die Transportkosten entscheidend sind.
Eine entsprechende sekundäre Lokalisierung erkennt er für Cluster in Birmingham,
Sheffield und Stourbridge (SPENCER 1876, 519 f.). Für die Naturalisierung
gesellschaftlicher Strukturen, die SPENCERS Sozial-Evolutionismus insgesamt
auszeichnet, scheint er auf dem Feld der Raumwirtschaft somit besonders geeignete
Argumente zu finden.
Als Beitrag der SPENCERSCHEN Sozial-Evolutionismus für eine raumwirtschaftliche
Theorie kann erstens festgehalten werden, daß er die räumliche Verteilung von
Branchen als ein Strukturelement von Gesellschaften einführt. Dies ist bei ihm mit
Aussagen über den Entwicklungsgrad der Gesellschaften verbunden. Zweitens stellt
SPENCER mit seiner Herleitung gesellschaftlicher Strukturen aus den Notwendigkeiten
des Evolutionsprozesses dar, welche Funktionen und welche Geltung der Clusterung
von Branchen zukommt: Wirtschaftliche Cluster sind für ihn eine Form
gesellschaftlicher Organisation, mit der die Gesellschaftsmitglieder einen maximalen
Wirkungsgrad ihrer Arbeit erreichen können. Mit Clustern findet eine Differenzierung
und parallele Integration von Arbeitsarten statt, wodurch eine stabilere
Organisationsform der Arbeit erreicht wird. Die Konzentration von Aktivitäten an
einem Standort kann zu weiteren Konzentrationen von anderen Aktivitäten führen.
Langfristig ist ein Gleichgewicht der aufeinander wirkenden wirtschaftlich relevanten
Kräfte möglich, so daß das Muster der räumlichen Verteilung nicht weiter verändert
wird.
4. Der Faktor Organisation: William E. HEARN
William Edward HEARN, ein seit 1858 an der Universität von Melbourne lehrender
Ökonom, hat als erster die SPENCERSCHE Sozialphilosphie in die
Volkswirtschaftslehre integiert (LA NAUZE 1949, GROENEWEGEN/MC FARLANE
1990, 51 – 56) und sich dabei auch den raumwirtschaftlichen Strukturen zugewandt.
HEARN (1863, 5 –7) geht in seinem volkswirtschaftlichem Hauptwerk ‚Plutology‘
zunächst von einer individualistischen Perspektive aus. Aus den subjektiven
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Präferenzen der Marktteilnehmer werden einfache Grundsätze wirtschaftlichen
Handelns erklärt. Unter anderem betrachtet er vier ‚Hilfsinstrumente‘, die menschliche
Arbeit produktiver gestalten können: das Kapital, die Erfindungsgabe, die Kooperation
und den Austausch. In Anlehnung an SPENCERS Betrachtung der Arbeitsteilung, die
HEARN früh rezepiert hatte (LA NAUZE 1949, 59 – 65), sieht er anschliessend eine
gesamtwirtschaftliche Verknüpfung: Durch die Wechselwirkungen zwischen den
‚Hilfsinstrumenten’ der Arbeit ensteht die ‚industrial organization of society‘ ein, die er
als sektorale Arbeitsteilung charakterisiert. Ein zweiter Aspekt dieser gesellschaftlichen
Organisation ist die räumliche Arbeitsteilung: "It further tends by localizing industry to
extend its organizing influence both to entire localities in the same community, and
even to different communities themselves" (HEARN 1863, 9). Die industrielle
Kapazität der Gesamtheit aller Wirtschaftsakteure wächst, weil sie in einen sozialen
Organismus integriert sind, dessen Teile sich auf einzelne Funktionen spezialisieren
können. Dieser Zusammenhang von Integration und Differenzierung setzt sich sektoral
und räumlich um:
"When in any large community industry has been thus spontaneously organized, and
when the facilities for exchange between the various parts of the community have
increased, a new phenomenon presents itself. The same separation of functions which
takes place between different occupations, takes places also between different localities.
The various branches of industry exhibit a strong tendency to fix themselves in, and
confine themselves to, particular districts. Each district thus acquires a distinctive
character, and at the same time becomes dependent upon the other districts which with it
deals“ (HEARN 1863, 305).
Im Weiteren stellt HEARN (1863, 307 – 314) die Formen und Gründe der
Lokalisierung der Industrie, die er an Beispielen aus London, Holland und Russland
skizziert, ausführlich dar. Als Gründe benennt er die Einsparung von
Produktionskosten, wobei er die Naturbedingungen wie die örtliche Verfügbarkeit von
Rohstoffen und Energie separat betrachtet. Zudem geht er auf die funktionalen
Verknüpfungen der Unternehmen ein. Sie kann in der räumlichen Nähe von
zuliefernden Industrien, in den Lernkurveneffekten und der Wissensdiffusion am
Standort oder in der komplementären Nutzung von Ressourcen bestehen. HEARN
(1863, 308) hebt dabei hervor, daß diese Kostenersparnisse als eine pfadabhängige
Kumulation von Produktionsvorteilen aufzufassen seien.
‚Industrialisierung‘ und ‚Urbanisierung‘ werden von ihm als interdependente Prozesse
der sektoralen und räumlichen Differenzierung und Integration aufgefasst: So müsse in
den gesellschaftlichen Einheiten ähnlich wie beim biologischen Organismus das
Wachstum und die Komplexität von Strukturen gleichermaßen Schritt halten (HEARN
1863, 393). Die Komplexitätssteigerung von Gesellschaften kann dabei gerade in der
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räumlichen Dimension gezeigt werden. Die Entstehung ökonomisch spezialisierter
Regionen und Nationen ist als Abschluß einer naturgesetzlichen Entwicklung zu
verstehen, die mit der ersten Gruppenbildung von Menschen eingesetzt hat (HEARN
1863, 398).
Als Resümee kann festgehalten werden, daß HEARN erstens SPENCERs Interpretation
der wirtschaftlichen Raumstruktur als Ausdrucksform sozial-evolutionärer
Gesetzmäßigkeiten übernimmt. Er ist sich mit ihm auch in der generell positiven
Bewertung räumlicher Konzentration einig. Zweitens nutzt HEARN den Tatbestand
wirtschaftlicher Cluster und spezialisierter Nationen, um kollektive
Handlungszusammenhänge bzw. eine gesamtwirtschaftliche Ebene in die Ökonomie
einzuführen. Hierin unterscheidet er sich signifikant von SPENCER, der alle
kollektiven Entitäten stets auf unmittelbare Intentionen und Handlungen der Individuen
zurückführen wollte. Die räumliche Integration von Wirtschaftsaktivitäten wird von
HEARN genutzt, um den Widerspruch zwischen SPENCERS Organismus-Begriff und
dessen inhaltlichen Individualismus aufzulösen. HEARN legt seine Betrachtung der
Marktteilnehmer methodologisch an, so dass er auch kollektive
Handlungszusammenhänge definieren kann. Im Vergleich zu SPENCER beschreibt
HEARN drittens die funktionalen Verknüpfungen der Unternehmen innerhalb von
Clustern besser.
5. Marshalls evolotionäre Ökonomie
Alfred MARSHALLS ökonomisches Denken wurde stark vom Sozial-Evolutionismus
beeinflusst. So hatte er Herbert SPENCER ausführlich rezepiert, in seinem Hauptwertk
‚Principles of Economics‘ zitiert er SPENCER an prominenten Stellen. HEARN wurde
von MARSHALL in seinen ersten volkswirtschaftlichen Vorlesungen 1873/4 als
Dozent in Cambridge einbezogen (GROENEWEGEN 2003). Ebenso stützte er sich auf
andere sozial-evolutionäre Werke wie Albert Schäffles ‚Bau und Leben des socialen
Körpers‘ und Walter Bagehots ‚Physics and Politics‘. Marshall verschaffte sich einen
eigenen Überblick über die biologische Evolutionsdiskussion, so etwa anhand von Ernst
Häckels ‚Ueber die Arbeitstheilung in Natur- und Menschenleben‘
Mit dieser sozial-evolutionären Orientierung stand Marshall keineswegs allein in der
britischen Volkswirtschaftslehre zwischen 1870 und 1890 (HODGSON 1993, 1995;
LAURENT/NIGHTINGALE 2001). Ein anderer angesehener und vom Sozial-
Evolutionismus beeinflusster Ökonom war beispielsweise MARSHALLS Förderer und
Kollege in Cambridge, Henry Sidgwick. Als Hintergrund für diesen wachsenden
Einfluß des Sozial-Evolutionismus können die zunehmende Komplexität des
ökonomischen Systems in Großbritannien bzw. die steigenden Interdependenzen
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zwischen dem Bildungssystem, der Wissenschaft und der Politik angesehen werden:
"The industrial machine is getting more organic and more sensitive", notierte
beispielsweise der Ökonom William SMART (1888, 701). Mit seiner Eignung zur
Darstellung ‚systemischer‘ Eigenschaften wurde der Sozial-Evolutionismus in einer
Phase der wachsenden wirtschaftlichen Konkurrenz Grossbritanniens zu den
aufstrebenden Industrienationen als ein wichtiger Theoriebeitrag begriffen.
Der Einfluß des Sozial-Evolutionismus ist vor allem deutlich bei MARSHALLS
verhaltenstheoretischen Annahmen, bei seinem Gleichgewichtsbegriff und bei seiner
Methodologie (THOMAS 1991, LIMOGES/MÉNARD 1994, GROENEWEGEN
2001). So wandte er kritisch gegen das Menschenbild der klassischen Politischen
Ökonomie ein, dass die handelnden Akteure immer schon als Angehörige eines sozialen
Zusammenhangs (‚menbers of the social organism‘) zu verstehen seien (MARSHALL
1890, 73). Durch diese soziale Integration sei auch stets von einem breiten
Motivhaushalt der Subjekte auszugehen (CHASSE 1984; ASPERS 1999).
Im Unterschied zu seinen neoklassischen Kollegen William S. Jevons und Léon Walras
reduzierte MARSHALL die Fragen des Wandels und der Dynamik nicht auf logische
Prozesse in einem Modell von Mengen und Preisen. Vielmehr beharrte er auf der
Relevanz der historischen Zeit und vertrat einen elastischen Gleichgewichtsbegriff, der
kumulative und pfadabhängige Prozesse kennt. Speziell in MARSHALLS Markttheorie,
in der er ein Konzept des Lebenszyklus von Unternehmen präsentiert, ist der sozial-
evolutionäre Einfluss nachweisbar.
Methodologisch folgte für ihn aus der Kontinuität und Historizität sozialer Prozesse
eine vorsichtige Balance zwischen deduktiven und induktiven Methoden. Gegen eine
vorschnelle Generalisierung setzte er eine schrittweise Betrachtung abgrenzbarer
sozialer Handlungszusammenhänge („partial equilibrium“). Zu diesen
Handlungszusammenhängen zählte er Nationalökonomien, Branchen, aber auch
industrielle Distrikte.
Zugleich vertrat MARSHALL ein über SPENCER hinausgehendes evolutionäres
Konzept menschlichen Handelns. Dies entwickelte er, wie Tiziano RAFFAELLI
(2003a) gezeigt hat, in seiner frühen „philosophischen“ Phase um 1870. In der
Nachfolge SPENCERS betrachtete er die Mechanismen der Evolution als dauerhafte
Übernahme erworbener Fähigkeiten, berücksichtigte allerdings auch wechselseitige
Änderungen: Menschliche Tätigkeit ist nicht als Anpassung auf eine statische Umwelt
gerichtet, da diese Umwelt in weiten Teilen selbst gesellschaftliches Produkt ist. Zentral
für MARSHALLs Handlungsmodell ist die Annahme der Ko-Evolution. Sowohl die
gesellschaftlichen Individuen, wie auch ihre Umwelt unterliegen einem permanenten
Wandel: „It is true, that human nature can be modified“ (MARSHALL 1890, 47). Er
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verband damit die Hoffnung auf eine Ausdehnung der menschlichen Fähigkeiten und
letztlich einer Verbesserung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung.
Zugleich wird der Gesellschaftsbegriff bei MARSHALL erheblich breiter als bei
SPENCER gefaßt. Zwar ist auch für ihn die Arbeitsteilung eine Schlüsselkategorie der
gesellschaftlichen Entwicklung. Auf diese funktionalistischen Arbietsbeziehungen
bleibt die Sozialität bei ihm jedoch nicht reduziert. Anderen sozialen Fakten, die als
Einstellungen, Werte und Konventionen von Unternehmern und Arbeitnehmern im
Wirtschaftsleben wirksam werden können, widmete er besondere Aufmerksamkeit.
6. Die (Dys-)Funktionalität sozialer Bindungen
MARSHALLS Konzept des industriellen Distrikts hat in seiner Makroökonomie die
Funktion, einen Verlauf der gesamtwirtschaftlichen Angebotskurve mit steigenden
Erträgen zu begründen. Seine Aussagen zu den Entstehungsgründen und der
Funktionweise von Distrikten ist inzwischen ausreichend rekonstruiert worden
(BELLANDI 1989, 2003; QUÉRÉ/RAVIX 1998). An dieser Stelle soll gefragt werden,
wie das ökonomisch-rationale Funktionieren der Distrikte verknüpft ist mit der sozialen
Einbindung der Akteure: Wird der Erfolg von Distrikten durch die sozialen Strukturen
beeinflußt?
Ökonomisches Handeln geschieht nach MARSHALL stets unter der Voraussetzung
unvollständiger Information und orientiert an verschiedenartigen Motiven. Auch wenn
MARSHALL auf der mikroökonomischen Ebene eine Reihe von Annahmen über die
Handlungsweisen der Akteure trifft, so vertritt er nicht das Bild eines rationalen, rein
nutzenmaximierenden ‚homo oeconomicus‘. Jeder Akteur, der ausschließlich seine
eigenen Strategien verfolge, müsse diese an den Strategien anderer Akteure relativieren.
So komme es zu einer wechselseitigen Reflexion über das individuelle Handeln. Die
Akteure schaffen in der Verständigung mit anderen Akteuren soziale Konventionen
(‚habits and customs‘), die ihnen bei künftigen Handlungen als Richtlinie dienen
(MARSHALL 1961, 21). Eine Vorteilnahme auf Kosten anderer wird durch diese
Konventionen gemildert. Gleichzeitig, so MARSHALL, ändern sich die Ziele und
Formen der wirtschaftlichen Tätigkeit mit der gesellschaftlichen Entwicklung. So
unterliegen die ‚egoistischen‘ Verhaltensweisen einem historischem Wandel; insgesamt
zeichnet sich der moderne Kapitalismus vor allem durch eine zunehmende Reflexivität
(‚deliberateness‘) der Individuen aus (MARSHALL 1890, 6).
Die gesellschaftlichen Regel- und Symbolsysteme, die auf diese Weise entstehen, sind
sehr voraussetzungsvoll. Sie setzten eine Akzeptanz der Regeln,
Perspektivenverschränkung und Vertrauen in die Regelerfüllung voraus: „The whole
mechanism of society rests on confidence“ (MARSHALL 1919, 165). Am Beispiel der
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Kreditvergabe illustriert MARSHALL, daß das Funktionieren von Vertrauen nicht nur
durch enge personale Beziehungen erklärt werden kann, sondern das Verhalten der
Personen erst durch ihre gemeinsame Verpflichtung auf das gesellschaftliche
Regelsystem zustande kommt. Daher, so MARSHALL, könne auch davon gesprochen
werden, daß ein ‚social credit‘ vergeben werde.
Dieses Verständnis zeigt sich auch in MARSHALLs Konzept räumlicher
Konzentration: „A manufacturing district offers many social advantages“
(MARSHALL/MARSHALL 1879, 47). In den ‚Principles‘ sieht er im Distrikt-Kapitel
explizit an zwei Stellen einen Einfluß gesellschaftlicher Beziehungen. Erstens entstehen
innerhalb der Unternehmen soziale Beziehungen zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern: „Social forces here co-operate with economic“ (MARSHALL 1890,
333). National und regional unterschiedliche soziale Verhältnisse können sich auf das
Arbeitsangebot und die Produktivität der Arbeit auswirken. Welche sozialen Aspekte in
diesem Fall relevant werden können – Einstellungen zur Arbeit und zum
Unternehmertum, Heiratsverhalten und Familienstrukturen, religiöse Bindungen – hat
MARSHALL zuvor in seiner Diskussion des Arbeitsangebots aufgezeigt (MARSHALL
1890, 245 – 283). In geclusterten Unternehmen besitzen nun die gesellschaftlichen
Normen und Werte einen anderen Stellenwert als in nicht-geclusterten Unternehmen.
Der größere und flexiblere Arbeitsmarkt in Clustern sorgt für eine schnellere
Verbreitung und Angleichung von sozialen Verhaltensweisen. Negative
Verhaltensweisen brauchen weniger toleriert zu werden, da sowohl Arbeitnehmer wie
Arbeitgeber sich bei Konflikten unkomplizierter ein anderes Unternehmen bzw. einen
anderen Arbeitnehmer wählen können (MARSHALL 1890, 333).
Zweitens wird die Arbeit in einem Cluster permanent von vielen Akteuren
wahrgenommen, diskutiert und bewertet. Entsprechend wird der Einsatz neuer
Technologien oder die Markteinführung neuer Produkte ständig durch die
Meinungsbildung beeinflußt. Die wirtschaftlichen und technischen Strategien der
Unternehmen werden innerhalb dieses Rahmens sozialer Kommunikation gebildet. In
den ‚Principles‘ drückt MARSHALL dies mit der oben zitierten Wendung aus, daß die
Geheimnisse der Industrie in einem Cluster ‚in der Luft‘ lägen. In ‚Industry and Trade‘
wählt er das Bild einer ‚Atmosphäre‘, in der sich die Handelnden bewegen:
„Sheffield and Solingen have acquired industrial >atmospheres< of their own; which
yield gratis to the manufacturers of cutlery great advantages, that are not easily to be had
elsewhere: and an atmosphere cannot be moved“ (MARSHALL 1919, 284; vgl. 1890,
263 f., 332).
Damit entsteht eine soziale Dimension von Clustern, in der die Akteure in ein Netz
persönlicher Verbindlichkeiten und Vertrauensverhältnisse eingebunden sind.
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Soziale Normen und Werte sind für MARSHALL allerdings keine autonome Spähre,
die der Ökonomie vorausgesetzt bleibt. Normen und Werte werden selbst durch die
wirtschaftliche Entwicklung verändert. Hier kommt wiederum der sozial-evolutionäre
Charakter von MARSHALLS Gesellschaftstheorie zum Tragen: Menschliche
Verhaltensweisen bilden sich situationsadäquat aufgrund vielfältiger gesellschaftlicher
Stimulierungen und unterliegen einem beständigen Wandel (MATTHEWS 1990, 20 –
30). Von Stabilität kann somit stets nur in Relation zu bestimmten sozialen Kontexten
und Zeithorizonten gesprochen werden. Beispielsweise habe sich das Verhältnis von
Unternehmern und Beschäftigten zwar auch aufgrund der Änderung sozialer
Konventionen (‚changes in sentiment, in domestic habits and in social relations
generally‘) gewandelt, vor allem aber durch die technisch-ökonomischen
Veränderungen (MARSHALL 1975, 43). Diese historisch-praxisorientierte Auffassung
demonstriert MARSHALL zum einen anhand menschlicher Bedürfnisse, indem er auf
die fortwährende Variabilität und Pluralisierung von Bedürfnissen verweist. Zum
anderen zeigt er die Variationsfähigkeit menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten
auf, so etwa bei der Arbeitsdisziplin und dem Bildungsgrad (MARSHALL 1961, 87).
In seinen wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten untersucht MARSHALL, wie
wirtschaftliche Entwicklungen durch den kollektiven Charakter von Milieus beeinflußt
werden und verdeutlicht gleichzeitig deren Entstehungsbedingungen. So weist er in
seinen Ausführungen zur Qualifizierung des Humankapitals auf die Evolution sozialer
Normen in den Regionen hin, wo der industrielle Sektor stark expandierte. Dort seien
Eigenschaften wie Verantwortungsgefühl und Sorgfalt bei der Bedienung aufwendiger
Anlagen besonders ausgeprägt (MARSHALL 1890, 261). In ‚Money, Credit and
Commerce‘ identifiziert MARSHALL (1923, 2) eine ‚lokalpatriotische‘ Tradition
innerhalb einer Region, bei der sich die Bewohner mit den dominanten Industrien eines
Gebietes identifizieren und sich stark für diese engagieren.
Schließlich zeigt MARSHALL auf, daß sich im historischen Strukturwandel der
Stellenwert und die Funktion soziokultureller Momente ändern. Zum einen weist er
darauf hin, daß in modernen Gesellschaften die Bedeutung von traditionellen
Konventionen abnimmt (MARSHALL 1890, 34 – 37, 46). Zum anderen ändern sich die
kulturellen Inhalte mit der gesellschaftlichen Entwicklung und es kommt zu einer
Annäherung von Gewohnheiten und Kulturen unterschiedlicher Länder. Allerdings
besitzen soziale Konventionen auch eine relative Autonomie. Selbst bei Verlust ihrer
ursprünglichen Funktionen können sich soziale Normen und Institutionen im Repertoire
des gesellschaftlichen Handelns vertreten bleiben: „The past lives on for ages after it
has been lost from memory“ (MARSHALL 1919, 6). Diese Dauerhaftigkeit von
Konventionen diagnostiziert MARSHALL (1890, 602) beispielsweise für das moderne
Großbritannien.
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Die Transaktionsbeziehungen der Akteure, so kann festgehalten werden, folgen in
einem industriellen Distrikt einer ökonomischen Rationalität. Diese wird jedoch immer
wieder modifiziert und überformt durch die soziale Eingebundenheit aller Akteure.
Durch die intersubjektiv geteilten Formen des sozialen Handelns wird die Interaktion
und Kommunikation der Akteure erleichtert. Dabei sind für MARSHALL die
gesellschaftlichen Normen und Werte nicht autonom und statisch, sondern werden
selbst innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklungen permanent verändert. Die
Bedeutung dieser sozialen Dimension für die räumliche Produktionsstruktur untersucht
MARSHALL nicht systematisch; seine Schilderungen einer sozialen ‚Atmosphäre‘ in
Clustern bleibt eher eine intuitive Eröffnung eines Forschungsfeldes. Für einen Bereich,
der auch heute noch von besonderem Interesse ist, dem Innovationsprozeß, stellte
MARSHALL allerdings eine Reihe von informativen Überlegungen an.
7. Orte der Innovation: Kreativität und Routine
„Knowledge is our most powerful engine of production“ betonte MARSHALL (1961,
138) in den ‚Principles’. Die Herstellung und die Nutzung von Wissen war für ihn ein
zentraler Aspekt moderner Volkswirtschaften (LOASBY 1998; ARENA 2003). In
seinen Untersuchungen über die Verlangsamung des industriellen Wachstums in
Großbritannien seit den späten 1870ern standen für ihn Defizite im Bereich von Bildung
und Wissenschaft im Vordergrund: Er machte das ungenügende Bildungssystem, die
geringe Verknüpfung mit wissenschaftlicher Forschung und die erlahmte
Innovationsorientierung verantwortlich. Stattdessen forderte er seine Landsleute auf, zu
einer Kultur des Lernens zurückzukehren: „(...) the time had passed at which they could
afford merely to teach foreigners and not learn from them in return“ (MARSHALL
1926, 406). Im Folgenden soll näher betrachtet werden, wie MARSHALL
Innovationsprozesse betrachtete und in welcher Weise er Zusammenhänge zur
räumlichen Struktur der Ökonomie herstellte.
Für MARSHALL besaß die gesellschaftliche Evolution weder eine eindeutige
Richtung, noch war sie als ein teleologischer Prozeß aufzufassen, der auf ein
Anpassungsoptimum hin tendiert. Sie ging für ihn nicht zwingend mit einem Gewinn an
gesellschaftlichem Fortschritt einher. Wenn MARSHALL auch von einer langfristigen
Optimierung des gesellschaftlichen Systems überzeugt war, so bleibt der
Anpassungsprozess kontigent und es sind negative Entwicklungen möglich
(RAFFAELLI 2003b, 257). Erstens können als Nebeneffekt evolutionärer
Entwicklungen Eigenschaften auftreten, die neutrale bzw. schädigende Wirkungen für
ihre Umwelt haben. Zweitens kann es zu ‚ökonomischem Parasitismus‘ kommen, wenn
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es Individuen bzw. Gruppen gelingt, leistungslose Einkommen zu erwerben
(MARSHALL 1890, 304 f.). Drittens können Entwicklungen abgebrochen werden, die
langfristig und indirekt die größeren Wohlfahrtseffekte erzielt hätten (MARSHALL
1890, 629 – 631). In der räumlichen Dimension kann z.B. eine problematische
Zunahme von Disparitäten eintreten, gerade weil der evolutionäre Wettbewerb zwischen
Arbeitsqualifikationen erfolgreich verläuft:
„<Natural selection>, while tending to equalize the earnings of work of each order of
efficiency, often increases the inequalities of average earnings in different places“
(MARSHALL 1923, 5).
Kurzum, die Variation und Selektion gesellschaftlicher Organisationslösungen
garantiert nach MARSHALL nicht, daß negative Begleitfolgen ausgeschlossen werden
bzw. optimale Resultate erzielt werden. Damit ist klar, daß MARSHALL diese
‚bewußtlose‘ Form gesellschaftlicher Selbstorganisation gegebenenfalls durch Formen
bewußten gesellschaftlichen Handelns ergänzt wissen möchte, was die Distanz zu
SPENCERS Gesellschafts- und Staatsverständnis deutlich werden läßt.
Im wirtschaftlichen Bereich ist die Produktion von neuen Produkten und Prozessen
mehr als die Optimierung bereits festgelegter Abläufe. Es handelt sich um
Lernprozesse, in denen die Akteure vorher nicht existente Kombinationen von Faktoren
herstellen. So bieten auch Standorte mit ihren unterschiedlichen Ressourcen und
Lagevorteilen einen Möglichkeitsspielraum für effiziente Lösungen:
„Every locality has incidents of its own which affect in various ways the methods of
arrangement of every class of business that is carried on in it. But even in the same place
and the same trade no two persons pursuing the same aims will adopt exactly the same
routes“ (MARSHALL 1890, 517 f.).
Der Korridor für alternative Lösungen ist in den verschiedenen Branchen
unterschiedlich breit, wie MARSHALL mit Blick auf die Textil- und Metallindustrien
erwähnt. Welche Faktorkombinationen realisiert werden, hängt in hohem Grade von
dem Qualifikationsprofil und Beziehungsnetz des Unternehmers ab.
MARSHALL sieht zwei Vorgehensweisen, mit denen der menschliche Geist den
interdependenten Prozeß der Anpassung an die Umweltbedingungen bewältigt. Zum
einen werden Innovationen generiert, zum anderen werden diese Innovationen, wenn sie
sich bewährt haben, zu wiederholbaren Handlungsabläufen standardisiert. Menschliches
Handeln ist also weder reine Spontanität noch ein reiner Automatismus, sondern eine
situationsbezogene Kombination beider Handlungsformen. Während kreatives Handeln
neue Pfade eröffnet, spart das Routine-Handeln Kräfte (RAFFAELLI 2003a, 54 - 57).
Somit sind in MARSHALLs Modell des Handelns permanente Verbesserungen
vorgesehen, aber dies führt nicht zu einer festgelegten Verhaltensrichtlinie. Vielmehr
stellt sich im Wettbewerb eine Vielfalt an Organisationslösungen ein, die wiederum als
Ressource bei Veränderungen des Wettbewerbsrahmens genutzt werden können. „The
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tendency to variation is a chief cause of progress“ führt MARSHALL (1961, 355) aus.
Er weist entsprechend auf die Gefahren einer zu engen Anpassung an ökologische
Nischen hin. Eine zu weitgehende Automatisierung von Handlungsabläufen sei zu
vermeiden. Das menschliche Handlungssystem müsse stets offen bleiben für neuartige
Anpassungssituationen.
Diese allgemeine Logik menschlichen Handelns zeigt MARSHALL auch im
ökonomischen Handeln auf. Ökonomische Organisationsformen müssen in der Lage
sein, eine effiziente Kombination kreativer und routinisierter Handlungsformen zu
verbinden. Diese unterschiedlichen Anforderungen können unter anderem in der
räumlichen Organisationstruktur umgesetzt werden. In räumlichen
Branchenkonzentrationen herrscht eine schnelle Diffusion des Wissens und es treten
spill-over zwischen den Akteuren ein:
„Each man profits by the ideas of his neighbours: he is stimulated by contact with those
who are interested in his own pursuit to make new experiments; and each successful
invention, whether it be a new machine, a new process, or a new way of organizing the
business, is likely when once started to spread and to be improved upon“
(MARSHALL/MARSHALL 1879, 53).
Hier lassen sich Bezüge zu MARSHALLs Ansichten über die Voraussetzungen
politischer Prozesse herstellen (GROENEWEGEN 1995, 450 – 457). Er hielt die
örtliche ‚Community‘ für die entscheidende räumlich-soziale Form, um kollektive
Identitäten herzustellen und eine Kooperation zwischen Staatsbürgern zu stiften.
Innerhalb von Clustern sieht MARSHALL vor allem Vorteile der permanenten
Verbesserung von Produkten und Produktionsprozessen. Dieser Wissensaufbau
innerhalb von Clustern bleibt jedoch ständig durch die räumliche Diffusion dieses
Wissens bedroht. Die wissensintensiven Standortballungen sind daher ständig gefordert,
das Wettrennen zwischen Kreation und Abfluß von Wissen zu gewinnen, was
MARSHALL in einer Denkschrift zur Handelspolitik am Beispiel der Pariser
Luxusindustrien schildert:
„New Parisian goods are sold at high prices in London and Berlin for a short time, and
then good imitations of them are made in large quanitities and sold at relatively low
prices. But by that time Paris, which had earned high wages and profits by making them
to sell at scarity prices, is already at work on other things which will soon be imitated in a
like way“ (MARSHALL 1926, 404).
Industrielle Distrikte sind jedoch nicht als die generell kreativeren Organisationen zu
sehen. Großunternehmen haben Vorteile bei der Initiierung bewußt geplanten radikalen
Wandels, da sie aufgrund ihrer überlegenen Ressourcen ein höheres Aufwandsrisiko
übernehmen können (MARSHALL 1890, 341 – 346). Darüber hinaus sind sie beim
Einsatz standardisierbarer Technologien, d.h. bei der Routinisierung von
Handlungsabläufen überlegen. Cluster sind folglich nur dann eine effiziente
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Organisationsform, wenn eine komplexe Mischung von Kreativität und Routine gefragt
ist.
Diese Mischung ist insbesondere bei der Bildung und Bewahrung von Qualifikationen
vorteilhaft. Standortwechsel bzw. Standortkontinuität können je unterschiedliche
Kompetenzen der Arbeitskraft verstärken oder auch schwächen, wie MARSHALL in
den ‚Principles‘ verdeutlicht (MARSHALL 1890, 250 – 255). Generell ermöglicht die
langfristige Beharrung von Arbeitskräften an einem Standort die schrittweise
Weiterbildung von Beschäftigten. Allerdings kann sich dadurch langfristig die
Lernbereitschaft an einem Standort vermindern. Dagegen erkennt MARSHALL bei
einem Standortwechsel von Arbeitskräften einen Gewinn an neuen Fähigkeiten und
Kenntnissen. Neue Lösungswege werden zudem leichter von Ortsfremden akzeptiert.
Um die Gefahr einer mentalen Erstarrung zu vermeiden, sollte jeder Standort offen
bleiben für Ideen von außen:
„In the long run the advance of each locality depends much on the richness of the markets
which neighbouring districts afford to its buyers and sellers, and on the suggestions that it
derives from the rest of the country, as well as on its power on attracting from outside any
men of special attainments, whose aid may be helpful to it“ (MARSHALL 1923, 4).
Allerdings ist ein Standortwechsel auch mit dem Risiko verbunden, spezialisiertes
Wissen und die soziale Stellung zu verlieren. Die ‚Reputation‘, die so wichtig in lokalen
Fachgemeinschaften ist, können Akteure nur begrenzt zu einem neuen Standort
transferieren.
Innovationsprozesse, so ist MARSHALLs Auffassung zu resümieren, können stark
durch die räumliche Struktur der Unternehmen beeeinflußt werden. Dabei erleichtert die
räumliche Nähe in Clustern vor allem die ‚alltägliche‘ Innovation. Räumliche
Konzentration wirkt sich dann positiv aus, wenn in einer Branche Produkte und
Produktionsprozesse permanent und schrittweise geändert werden müssen.
MARSHALLs Behandlung des Innovationsprozesses unterscheidet sich dabei
signifikant von der klassischen Politischen Ökonomie, aber auch von SPENCER und
HEARN. Innovation ist für ihn keine bloße Optimierung betrieblicher Faktoren,
sondern wird durch vielfältige und nur im gesellschaftlichen Kontext erklärbare
Faktoren beeinflusst. Der ‚industrial district‘ ist für MARSHALL eine
Realisierungsform menschlicher Evolution: Er bietet eine institutionelle Umwelt, in der
sich die Fähigkeiten des Lernens und der Gestaltung der eigenen Umwelt anwenden
läßt. Für den Bereich der Innovation hat MARSHALL somit die Bedeutung der sozialen
Dimension von Clustern eingehend nachgewiesen und analysiert.
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8. Schlussfolgerungen
Abschliessend sollen einige Anschlussstellen zwischen der sozialevolutionären
Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie aus spät-viktorianischer Zeit, die in diesem
Beitrag rekonstruiert wurde, und der heutigen Theoriebildung in der
Wirtschaftsgeographie aufgezeigt werden.
Zweifellos sind der Aufstieg und der Wiederaufstieg des evolutionären Ansatzes durch
eine gleichartige innerwissenschaftliche Zielstellung motiviert gewesen. Im Kontext der
Volkswirtschaftslehre stellen beide Denkbewegungen eine
„Versozialwissenschaftlichung“ dar, die ein Unbehagen an statischen und wenig
prognosefähigen Theoriemodellen artikulieren. Mit einer ähnlichen Kritik wie sie
Alfred MARSHALL an den verhaltens- und gleichgewichtstheoretischen Annahmen
der klassischen Theorie äußerte, grenzt sich die heutige evolutionäre Theorie, wie sie
etwa von Richard R. NELSON und Sidney G. WINTER (1982, 23 - 48) formuliert
wird, von der neoklassischen Theorie ab. Die Vernachlässigung räumlicher
Unterschiede in der Ressourcenausstattung oder der räumlichen Bindung von
Produktionsfaktoren wird dabei als ein Kritikpunkt genutzt. Hier existieren
Überschneidungen zu MARSHALLS Kritiklinien und zu seiner Methodologie, in der
räumliche Einheiten als Elementen der Partialanalyse eingeführt werden. Im Anschluss
an diese Überlegungen hat der moderne Evolutionismus in der Volkswirtschaftslehre
die Räumlichkeit zügig als theoretisches und empirisches Anwendungsfeld entdeckt
(HERRMAN-PILLATH 2003). Parallel wurden evolutionäre Konzepte in der
Wirtschaftsgeographie rezepiert und weiterentwickelt (ESSLETZBICHLER 2002). Die
Behandlung von Pfadabhängigkeiten, Wissens-Spillover und regionalen
Innovationssystemen zeigt dabei die thematische Nähe zur MARSHALLIANISCHEN
Ökonomie. Hier könnte vermutlich eine vertiefte Befragung z.B. der SPENCERSCHEN
Bestimmungen der räumlichen Lage- und Dichteverhältnisse von Wirtschaftsprozessen
noch einiges zur Systematisierung von evolutionären Erkenntnissen in der
Wirtschaftsgeographie beitragen.
Zugleich könnten bei der heutigen sozialtheoretischen Fundierung der
Wirtschaftswissenschaften einige Fehlentwicklungen der Vergangenheit vermieden
werden. Herbert SPENCERS Darstellung der räumlichen Verteilung von Branchen als
eines Strukturelements von Gesellschaften formuliert einen heute wieder
aufzunehmenden Erklärungsanspruch. Dennoch wird inzwischen kaum einer mehr ein
universales Entwicklungsgesetz von Gesellschaft formulieren möchten. Die
Wirtschaftsgeographie sollte sich zugleich für die Gefahren einer Über-Soziologisierung
bzw. –Anthropologisierung sensibilisieren. Hier warnen Beispiele wie Henry Georges
„Science of Political Economy“ mit seiner Ontologie von Raum und Zeit (1898, 339 –
370). Dessen Tiefenschürfungen nach den menschlichen Seinsbedingungen hat klar den
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Nutzen einer ökonomischen Theorie, die mit den rationalen Handlungskalkülen
individueller Akteure hantiert, vernachlässigt.
Speziell an Alfred MARSHALLS Ansatz können Möglichkeiten eines sinnvollen
Anschlusses von ökonomisch-rationalem Denken an einen komplexeren, soziologisch
begründeten Motivhaushalt studiert werden. MARSHALL vereinbarte seine
mikroökonomischen Erkenntnisse, die bis heute grundlegend für die
Volkswirtschaftslehre sind, mit einer makroökonomischen Betrachtung. Für die heutige
Wirtschaftsgeographie, die zumeist MARSHALLS Konzeptualisierung von
Industriellen Distrikten auf eine Darstellung von Kostenvorteilen innerhalb von
räumlichen Konzentrationen beschränkt, kommt es darauf an, seinen erheblich breiteren
Ansatz wahrzunehmen. Die ökonomischen Transaktionen in Distrikten waren für
MARSHALL gleichzeitig eingebunden in einen sozialen Kontext, der erleichternd oder
auch hemmend wirken kann. Somit grenzte er sich auch von einer ökonomistisch
reduzierten Sichtweise menschlichen Handelns ab, wie sie von JEVONS und WALRAS
vertreten wurde. Die Anknüpfung an diesen volkswirtschaftlichen Mainstream der
letzten Jahrhundertwende, das MARSHALLIANISCHE Forschungsprogramm, kann für
die ‚evolutionäre’ oder ‚institutionelle’ Wirtschaftsgeographie nur fruchtbar sein.
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