Winter Ade - 5/2016

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      srasseneger | Nr. | März | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraßenzeiung srasseneger  wird vom Verein mob – obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des srasseneger  is: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srasseneger  wird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-seneger  biee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMöglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie können selbs enschei-den, wo und wann sie den srasseneger  anbieen. Die Verkäuer erhaleneinen Verkäuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau d es srasseneger  soziale Projeke wie die Noübernachung und den sozialen Treffpunk»Kaffee Bankrot« in der Sorkower Sr. 139d.Der Verein erhäl keine saaliche Unersüzung.

    Liebe Leser_innen, jetzt ist er da! Zumindest der meteorologische Frühlingsanfang. Seitdem 1. März weicht die kalte Jahreszeit dem Lenz. Die Tage werdenlänger, die Natur erwacht, es entsteht neues Leben, Blumen begin-nen zu blühen, die Vögel zwitschern und der Winter, die kalte unddunkle Jahreszeit, neigt sich dem Ende zu. Das bringt jede Menge

    Glückshormone zum Tanzen. Finden Sie nicht auch?

    Grund genug, die aktuelle Ausgabe des strassenfegers dem Früh-ling zu widmen. Unser Autor Detlef Flister beispielsweise be-schreibt, was mit uns passiert, wenn die Temperaturen steigen unddie Sonne lacht. Die Frühlingsgefühle kommen! Es wird geflirtet,was das Zeug hält (S. 15).

     Wollten Sie schon immer mal gründlich ausmisten? Jetzt ist dieZeit! Unser Autor Andi P. beschreibt seine Variante des Frühjahrs-putz’ und wie er sich nachhaltig von unnötigem Ballast befreit, umRaum für Neues zu schaffen (S.7).

    Vielleicht gehören Sie aber auch zu den Menschen, die vom Regenin die Traufe kommen. Viele erleben im Frühjahr das Gefühl einerallgemeinen Müdigkeit, die so genannte Frühjahrsmüdigkeit. Da-mit unsere Lebensgeister aus dem Winterschlaf erwachen, müssenwir einiges tun. Haben Sie es schon mal mit Musik versucht (S.8)?Schon die alten Minnesänger sahen im Frühling eine gefühlsför-dernde Jahreszeit und besangen ihn ausgiebig.

    Unsere Autoren berichten in dieser Ausgabe weiterhin über dieerneut von der Bundes-CDU abgelehnte Wohnungslosenstatistik(S.24) und über das erste »Wohnzimmer-Konzert« im Kaffee Ban-krott (S.26). Im Brennpunkt schreibt Jan Markowky über die Qua-lität in Einrichtungen der Kältehilfe (S.25).

    Ganz wichtig: Der Frühling ist auch eine Zeit des Gebens. Die Pro- jektleiterin der Notübernachtung unseres Vereins, Mara Fischer,berichtet über ein neu eingerichtetes Familienzimmer in der Notun-terkunft. Hilfesuchende Familien können dort übergangsweise un-

    tergebracht werden. Sie bekommen dort die Möglichkeit, in einemwarmen und sauberen Bett zu schlafen (S. 18).

    Das gesamte Team des strassenfegers wünscht Ihnen ein schönesLesevergnügen!

    Nadin Schley

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    WINTER ADÉVom Winerschla zur Frühjahrsmüdigkei

    Himmelsbilder – Vorrühling über Berlin

    Gu, dass der Winer vorbei is

    Jedes Jahr wieder: Behalen oder wegweren?Frühling als Moiv in der Musik

    Eine Liebesgeschiche

    Von Kopien, Rien und Zeremonien

    Rückkehrende Zugvögel erobern Berlin

    Vorausschau au das Ende der Kälehile

    Meine Frühlingsgeühle

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    TAUFRISCH & ANGESAGTB r e n n p u n k tEin Schwede gründe eine Sraßenzeiung

    in Bukares/Rumänien

    Qualiä in Kälehile-Einrichungen

    V e r e i nEs gib jez ein Familienzimmer in der

    Noübernachung des Vereins

    Erahrungen eines Ehrenamlers

    Wohnzimmerkonzer – eine Rückschau

    K u l t u r t i p p sskurril, amos und preiswer!

    A k t u e l lCDU lehn erneu Wohnungslosensaisik ab

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rABM ür Sozialricher?

    K o l u m n eZwischen Sraße egen und Thermoskanne

    V o r l e t z te S e i t eLeserbriee, Vorschau, Impressum

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    stras senfeger | Nr. | März  WINTER ADÉ |

    »Die Tage werden wieder länger und rozdem bin ich müde.« (Foo: Pixabay, public domain)

    Vom Winterschlaf zur

    FrühjahrsmüdigkeitSchläfst du noch, oder bist du schon wach?B E T R A C H T U N G : A s t r i d

    »Ich habe einen Traum«, sagte der ameri-kanische Prediger Martin Luther King Jr.Er sprach von dem Traum, dass Weißeund Schwarze gleich sind. Nun, manch-

    mal habe ich in der vergehenden Jahreszeit aucheinen Traum – den Traum, ein Winterschläfer zusein. Sie nicht auch? Nicht rauszumüssen, wenndraußen Schmuddelwetter ist und die S-Bahnennach Gutdünken fahren und nicht nach Fahr-plan. Es sich auf der Couch mit Decken, einemwarmen Getränk und etwas zu knabbern gemüt-

    lich zu machen. Ach, wäre das schön. Es bleibtaber nur ein Traum.

     Winterschläfer gibt es eigentlich nur bei den Tie-ren. Da die Tage langsam länger werden und auchdie Sonne schon mal vorkommt, tauchen die Win-terruher wie Eichhörnchen ab und zu mal auf, umNahrung zu sich zu nehmen. Deshalb versteckensie ja diese im Herbst, damit sie, wenn sie im Win-ter und Vorfühjahr aufwachen, etwas zu knabbernhaben. Echte Winterschläfer schlafen tief und festbis Ende April oder Anfang Mai. Zu den echten

     Winterschläfern gehören Igel und Fledermäuse,die brauchen Insekten oder Schnecken zur Nah-rungsaufnahme. Die finden sie im Moment nochnicht. Eichhörnchen knabbern Nüsse, Samen undfrische Triebe von den Bäumen. Daher wachen siefrüher auf und wir können sie sehen.

    Mal kurz zurück zu uns Menschen. Wir sind we-der Winterschläfer noch Winterruher. Was sindwir dann? Eigentlich nur Lebewesen, denen esgefallen würde, die dunkle Jahreszeit im Bett zuverbringen. Doch es gibt Ausnahmen. Diejenigen,die nicht glücklich sind, bis endlich ein halber Me-ter Schnee unter ihren Füßen ist und sie dann denHang hinunterjagen können. Aber, wenn es nebe-lig, regnerisch oder gar beides ist, hört sich einBett oder eine Couch doch besser an, oder? 

    Laut einigen Wissenschaftlern ist daran ein Hor-mon schuld, dass unseren Körper auf »Winter-schlaf« einstellt. Wir sind wegen der kürzerenTage im Winter, eher müde eingestellt. Helle,sonnige Tage spiegeln uns Frühjahr oder garSommer vor und lassen uns diesen »Winter-schlaf« vergessen. Aber sobald es wieder regnet,oder Nebel auftaucht, gähnen wir vor uns hin.Glauben Sie nicht? Machen Sie doch einfacheinen Test. Stehen Sie mal um die gleiche Zeitan einem sonnigen Tag und einem trüben Tagauf. Am sonnigen Tag kommen Sie schneller inSchwung und gähnen auch weniger. Und sindabends weniger geschafft.

    Nun werden die Tage wieder länger und trotz-dem bin ich müde. Tja, das kann die berühmteFrühjahrsmüdigkeit sein. Wieder soll ein Hor-

    mon schuld daran sein. Noch kämpft unser Kör-per mit der dunklen Jahreszeit oder dem wech-selhaften Wetter, da werden die Tage länger unddas Wetter manchmal auch nicht besser. Mansagt, viel bewegen hilft, frisches Obst und mage-res Fleisch oder auch einfach mal einen aktivenTag mit einem gemütlichen Abend ausklingenlassen. Also auf der Couch rumlümmeln. Hm,das wollte ich schon im Winter tun, jetzt habeich wenigstens eine Entschuldigung.

    Schließlich frage ich mich, gibt es nur den Win-terschlaf oder die Frühjahrsmüdigkeit? Nein,laut Hermann Lahm nicht. Denn er hat 1948 be-hauptet: Winterschlaf geht über in die Frühjahrs-müdigkeit, Frühjahrsmüdigkeit wird im Sommerzur Hitzemattigkeit, Hitzemattigkeit mutiertim Altweibersommer zur Herbstschlappheit,Herbstschlappheit wandelt sich im Spätherbstdann zum Winterschlaf.

    Also sind Tage, an denen wir einfach nur mal faulliegen wollen, nicht an den Winter oder an dasFrühjahr gebunden, auch im Sommer oder Herbstkönnen diese auftreten. So wie wir keine Winter-ruher oder Winterschläfer sind, sind unsere fau-len Tage über das ganze Jahr verstreut. In diesemSinne, einfach mal alle Fünfe gerade sein lassenund es sich auf der Couch gemütlich machen.

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    stras senfeger | Nr. | März  WINTER ADÉ |

    Dachspize und Baum mi Knospen in Charlotenburg

    Roe Ampel vor einem wolkenlosen Himmel, Kansraße

    Dachspize mi lu figer Wolkenormaion, Leonhardsraße

     Ausblick von einem Innenho, Leonhardsraße

    Die Siegessäule im Sonnenlich

     Spiegelung des Himmels im Liezensee

    Obere Hälfe d es Brandenburger Tores

    Neubau, Albau und Baumspizen am Liezensee

     Saue an der Sraße des 17. Juni

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      stras senfeger | N r. | März | WINTER ADÉ

    Gut, dass der Wintervorbei ist!Wie schwer es Straßenzeitungs-Verkäufer in der Kälte habenT E X T : C a r s t e n D a h l e k e

    J

    edes Jahr kommt nach dem Herbst mit seinen buntenBlättern der Winter mit Kälte. Das wissen schon die Kin-der, die sich auf den Winter mit Schnee freuen. Erwach-sene denken beim Winter eher an den Winterurlaub oderauch an ihre eigene Kinderzeit im Winter.

    Aber die wenigsten Erwachsenen denken an die Menschen,die während dieser Jahreszeit im Freien arbeiten müssen. Soll-ten sie es doch tun, fallen ihnen zuerst Berufe ein, die sich nurschwer bis gar nicht in warme Räume verlegen lassen wie zumBeispiel das Gärtnern. An die Menschen, die obdachlos sindoder an die Verkäufer von Straßenzeitungen denken die Er-wachsenen, wenn überhaupt, zuletzt. Kein Verkäufer von Ob-dachlosenzeitungen macht diese Arbeit freiwillig. Die meistenhaben keine Wahl. Dahinter steckt eine Notwendigkeit. Sei es,dass die Rente oder die staatlichen Hilfen wie Arbeitslosen-geld nicht ausreichen. Viele haben diese Menschen schon im Berliner Stadtbild ge-

    sehen. Es sind die Verkäufer von der »motz« und vom »stras-

    senfeger «. Sie stehen vor Banken, Supermärkten und Kauf-häusern. Selbst in der S-oder in der U-Bahn, auch wenn derVerkauf dort nicht erlaubt ist. Nicht jeder Verkäufer hat dieGeduld und Ausdauer, sich einen Verkaufsplatz auf der Straßeaufzubauen. Während die Verkäufer auf offener Straße jeder

     Witterung ausgesetzt sind, bei Kälte, Eis und Schneetreibenim Freien arbeiten, haben es die Verkäufer in den S- und U-Bahnzügen bis relativ warm, vorallem in der U-Bahn, wo dieVerkäufer keiner Witterung ausgesetzt sind, so lange die Bahnim Untergrund bleibt. Kollegen, die im Freien verkaufen, sindbei Minus-Graden zum Beispiel darauf angewiesen, mehrereLagen Kleidung (bis hin zu Socken oder Strümpfen) zu tra-gen, da sie sonst bei drei bis vier Stunden (unter dieser Zeitbringt der Verkauf kaum etwas) im Freien stehen, schnell aus-kühlen und frieren.

    Selbst mit dicker Kleidung ist es nicht gänzlich ausgeschlos-sen, dass sich die Verkäufer eine Erkältung holen. Die meis-ten Kollegen, die ich in meiner Verkäuferzeit kennenlernen

    durfte, haben alle eine gewisse Summe, die sie pro Tag verdie-nen wollen oder müssen. Ich habe bisher keinen kennenge-lernt, der über diese Summe hinausgegangen ist.

    Der Verkauf von Obdachlosenzeitungen wird schwerer. VieleMenschen geben nur wenige Cents und kaufen keine Zeitung.Sie nehmen selten ein Exemplar mit nach Hause. Damit helfensie dem Verein mob e.V. nicht weiter, der hinter der Straßen-zeitung strassenfeger  steht. Jeder Verkäufer geht mit 60 Centpro Ausgabe in Vorkasse. Er verdient dann an einer verkauf-ten Ausgabe 90 Cents als regulären Verdienst - ehrlich undohne betteln zu müssen.

    Es ist mittlerweile so, dass viele Menschen aus Rumänien als Wirtschaftsflüchtlinge, die als EU-Bürger ihr Freizügigkeits-

    recht in Anspruch nehmen, in unser Land und unsere Stadtkommen. Hier müssen sie dann feststellen, dass keine gebra-tenen Tauben durch die Luft fliegen. Sie müssen aktiv wer-den, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Viele sind derdeutschen Sprache nicht mächtig. Manche verbünden sichmit ihren Landsleuten und bauen Mafia-ähnliche Strukturenauf, um offen oder versteckt zu betteln. Sie ziehen Menschenin ihre Kreise, die aufgrund fehlender Sprachkenntnisse kei-nen strassenfeger -Verkäuferausweis bekommen, und gebenZeitungen an diese weiter. Der Verein mob – Obdachlose ma-chen mobil e.V., der den strassenfeger  herausgibt, hat leiderwenige Möglichkeiten, gegen solches Verhalten vorzugehen.Leider wird dieses Verhalten von vielen Käufern der Zeitung,auch von Stammlesern, noch unterstützt - zum größten Teilwohl aus Unwissenheit. Reguläre Verkäufer tragen besten-falls ihren strassenfeger -Verkäuferausweis um den Hals undstellen sich nicht mit Bettelbecher und einer eingeschweißtenZeitung auf die Straße.srasseneger-Verkäuer und -Auor Carsen Dahleke (Foo: Juta Herms)

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    stras senfeger | Nr. | März  WINTER ADÉ |

    Das könnte man janoch gebrauchen . . .Doch es kann auch so befreiend sein, sich von Dingen zu trennen!E R F A H R U N G S B E R I C H T : A n d r e a s P e t e r s

     Was sich im Laufe eines Jahres an-sammelt, kommt erst im Winter,wenn wir Zeit zu Hause verbrin-gen, zum Vorschein. Es sind die

    vielen kleinen Dinge, die uns umgeben, unsereAufmerksamkeit einfordern, obwohl wir sie nichtmehr nutzen. Hier ein Brettspiel, das keinen mehrzum Spielen verleitet, dort ein Buch, das einmalgelesen wurde und nun vor sich hin staubt. Erstsind es zwei, vielleicht drei Dinge, die uns auf-fallen. Mit der Zeit werden es aber mehr. Grundgenug, sich von Altlasten zu befreien - und dasvor dem eigentlichen Frühjahrsputz.

    Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Ich neigedazu, Dinge zu horten. Das gibt mir ein Gefühlvon Sicherheit. Ich rede mir zusätzlich ein, dieDinge hätten einen besonderen Wert. Das eine er-innert mich an den schönen Urlaub, das andere istein Geschenk von einem guten Freund gewesen.

     Wer weiß, ob man es nicht noch mal gebrauchen

    könnte? Zum Aussortieren ist Trick 17 nötig. Ichfrage mich weniger, warum soll ich das weggeben,sondern mehr, warum soll ich das behalten?

    In der Regel bereite ich so meinen jährlichenFlohmarkt vor. Das heißt, ich hole mir zwei bisdrei Umzugskartons aus dem Keller und beginne,sie zu füllen. Meistens fange ich in der Küche an.Dann geht es Richtung Wohnzimmer. Dort war-teten dieses Jahr DVD’s, CD’s und Schallplattenauf einen neuen Besitzer. Letztes Jahr habe ichsie noch verschont, weil ich sie unbedingt nochmein Eigen nennen wollte. Doch dieses Malwerde ich mich von diesen Erinnerungen be-freien. Was mittlerweile über das Internet ver-

    fügbar ist, fliegt raus. Mein erster Karton war soschnell voll. Und meine mir verbliebene Samm-lung wurde dadurch wunderbar wertvoll. Ich be-hielt ganz bewusst nur das, was mir wichtig war.

    Gleichermaßen ging ich mit meinen Büchern vor.Das Buch, das ich kein zweites Mal lese, weil ichden Ausgang kenne, das keine gebundene Erst-ausgabe ist, oder zu meinen ideellen Schätzengehört, sollte in andere Hände kommen. Ist derBücherkarton voll, lasse ich ihn abholen und ma-che damit andere Leser glücklich.

    Der erste volle Flohmarktkarton wurde von mirin den Keller verbannt. Ich fühlte mich dabeiseltsam erleichtert. Es ist wie beim Ballonfahren;

     je mehr Ballast ich abwerfe, umso höher steigtmeine Laune, weiterzumachen. Und so stelle ich

     jedes Jahr aufs Neue fest, dass ich vieles, wasmich umgibt, nicht brauche.

    Das ändert nichts daran, dass Sammeln zu mei-nen Leidenschaften gehört. Vielleicht, um mitder damit verbundenen Sicherheit gut über den

     Winter zu kommen. Ich bin vor Kurzem auf einewissenschaftliche Studie zu diesem Phänomengestoßen. Darin wird belegt, dass der Wert vonetwas davon abhängt, ob wir es besitzen odererst in den Besitz dessen gelangen wollen. Ich

    dachte dabei sofort an Versteigerungen bei Ebay.Ich male mir vorher einen Preis aus und danngeht es nicht mal für die Hälfte weg. Dennoch,mit den Jahren fällt es mir nicht mehr so schwer,mich von geliebten Sachen zu trennen. Als rati-onal denkender Mensch, versuche ich auf diese

     Weise, meiner Verlustangst ein Schnippchen zuschlagen. Vermutlich schafft das jeder andereauch, indem er sich dieser Angst stellt und denVerlust öfter mal bewusst zulässt. Doch Vor-sicht, es tut kurz weh. An das befreiende Gefühldanach kann man sich aber gewöhnen. Und zuwissen, dass ein anderer das, was man ohnehingerne weggeben möchte, besser gebrauchenkann, macht das Loslassen einfacher. Im Übri-gen ist nicht zu unterschätzen, welchen Platz dasGanze in einem selbst schafft, für Neues und dieZeit nach dem Winter.

     Selber einen Flohmarksand zu machen is eine Möglichkei, sich von alen Sachen zu rennen 

    (Foo: Wikimedia Commons, Danrok, CC BY 2.0)

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      stras senfeger | N r. | März | WINTER ADÉ

    Musikalische Frühlings-

    AnekdotenDER FRÜHLING ALS MOTIV IN DER MUSIKT E X T : G u i d o F a h r e n d h o l z

    Jedes Jahr aufs Neue weckt der Wechsel der Jahreszeitendie unterschiedlichsten Sehnsüchte. Im Sommer wollenwir ans Meer, klingt er aus, hoffen wir auf den berühmtenIndian Summer. Fallen die ersten Schneeflocken, knistertim Kopf schon das Kaminfeuer. Aber der Frühling ist wie

    keine andere Jahreszeit mit dem Neubeginn und dem Wunschnach Nähe verbunden. Liebe und Fruchtbarkeit, sind die Mo-

    tivation, das kommende Jahr zu überstehen. Poesie und Musiksind ihre Ausdrucksmittel und das bereits seit Jahrhunderten.

    R o b e r t S c h u m a n n - F r ü h l i n g s sy m p h o n i e

    Es ist der Februar 1841. Vor nicht einmal einem halben Jahrkonnte der berühmte Komponist und Dirigent der deutschenRomantik, oder, wie er sich selbst oft bezeichnete, der Ton-dichter Robert Schumann, endlich seine geliebte Clara ehe-lichen. Fünf lange Jahre hatte deren Vater Friedrich Wieckmit allen erdenklichen Mitteln versucht, diese Verbindungzu verhindern. Letztendlich nur durch eine gerichtliche Zu-stimmung von Amtes wegen war es dem Liebespaar über-haupt möglich, in der Gedächtniskirche Schönefeld beiLeipzig zu heiraten. Nun sitzt Robert Schumann in ihrer

    gemeinsamen Wohnung in Leipzig am Flügel, erfüllt mitLebensfreude und unbändigen Schaffensdrang. In nur vierTagen skizziert er das Gesamtwerk seiner Frühlingssympho-nie. »Ich schrieb die Symphonie in jenem Frühlingsdrang,der den Menschen wohl bis ins höchste Alter hinauf und in

     jedem Jahre von Neuem überfällt.«Ein geradezu klassisches Beispiel dafür, dass der Inhalt

    eines Werkes und die Motivation zu seiner Erschaffung nichtzwangsläufig in direktem Bezug zueinander stehen müssen.Doch Parallelen sind unübersehbar. Im Fall Robert Schu-manns, auf Seiten der Realität, der übermächtige zukünftigeSchwiegervater. Ständig bemüht, die seines Erachtens nach zu-kunftslose Verbindung seiner Tochter Clara mit dem geschei-terten Pianisten Schumann zu unterbinden. Er kontrollierte ihrTagebuch. Ständig sandte er sie auf durch ihn selbst begleiteteKonzertreisen. Unterwegs und auch zu Hause in Leipzig ent-wendete er ihr die Tinte, damit sie keine Briefe an Schumannschreiben konnte. Auf kurze Momente der Nähe folgten lange

    Trennungsphasen der seit 1837 Verlobten. Alseine gemeinsame Zukunft der Beiden ungewisserdenn je erschien, dann der Triumph, die Hochzeitgegen alle Widerstände.

    In der Frühlingssymphonie widmet Schu-mann dem alljährlich wiederkehrenden Kampfder Jahreszeiten den ganzen ersten Satz. Hier

    drängt der Winter mit Stürmen, Kälte und Eis-kristallen den sich ankündigenden Frühlingimmer wieder zurück. Er verdunkelt die Sonnemit seinen Wolken und bedeckt die Landschaftmit einer Schneedecke. Ein Kampf den er indem Moment gegen den Lebensdrang des Früh-lings verlieren wird, wenn die ersten Blumen dieSchneedecke durchbrechen.

    K o m m l i e b e r M a i u n d m a c h e

     Wohl jeder kennt diese Zeile, kann die Melodiemitsummen oder pfeifen und nicht wenige neh-men wohl auch an, es handelte sich dabei um einVolkslied. Tatsächlich aber ist diese Frühlings-

    weise ein frühes Paradebeispiel für nachhaltigesRecycling in der Musik. Der Text stammt aus derFeder des Lübecker Bürgermeisters, Freimau-rers und Dichters Christian Adolph Overbeck.Er beschreibt darin die Sehnsucht eines Kindesnach dem Frühling und die damit verbundenenSpiele in freier Natur. Passend trug es zu jenerZeit deshalb auch noch den Titel »Fritzchen anden May«. Später wurden die zweite und dritteStrophe, unter dem Verleger Joachim HeinrichCampe, für dessen Ausgabe seiner »Kleinen Kin-derbibliothek«, nicht nur überarbeitet, sondernvollkommen neu verfasst. Nicht bekannt ist, obdiese Version durch Overbeck selbst geändertoder auch nur autorisiert wurde. Fest steht aber,er selbst gab das Gedicht bis zu seinem Tod im-mer nur in der ursprünglichen Fassung heraus.

    Mozart besaß ein Exemplar der zweiten

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    Clara und Rober Schumann, ein Paar gegen alle Widersände

    Igor Srawinsky, vor dem Welruhm flieh er durch ein Fenser 

    Chrisian Adolph Overbeck, sein Gedich wird zur Volksweise

    Wolgang Amadeus Mozar, nich eine vergeudee Noe, kein ungenuzer Tak

    stras senfeger | Nr. | März  WINTER ADÉ |

    winsky thematisierte und vertonte einen heidni-schen Opferkult zu Ehren der Frühlingsgötter. DieKomposition ist so eindeutig erotisch, rhythmischund leidenschaftlich, fast schon schamlos sexuell,dass sie das Pariser Publikum überforderte. DerChoreograph Wazlaw Nijinky markierte dazu ei-nen ersten Schritt zum abstrakten Ballett. Zu gu-ter Letzt das sich vor den Augen des Publikums

    entwickelnde Bühnenbild. Im Kreis sitzende alteMänner schauen dem Todestanz eines jungenMädchens zu, das geopfert werden soll.

     Wer nun tatsächlich zum Premierenpubli-kum gehörte, bekam folgendes Spektakel gebo-ten: Das Orchester spielt an, die Tänzer sindin Position, der Vorhang hebt sich und von daan dauert es kaum noch hundert Takte, bis dasPublikum beginnt, im Theatersaal zu rebellie-ren. Den ersten Buhrufen folgen Handgemenge.Strawinsky flüchtet von seinem Platz in der fünf-ten Reihe in die Kulisse und verbringt den Restdes Abends im Graben neben dem Orchester.Aus dem Handgemenge im Parkett, wird nuneine handfeste Schlägerei. Die Musiker spielen

    tapfer weiter, die Tänzer lassen sich scheinbarnicht irritieren. Die Beteiligten an den Prüge-leien entern daraufhin Orchestergraben undBühne und beginnen nun, Musiker und Tänzerzu vermöbeln. Als die gerufene Polizei den Ortdes Geschehens erreicht und den Mob ausei-nandertreibt, hat sich Igor Strawinsky bereitsdurch ein Fenster hinter der Bühne gezwängtund streift etwas derangiert und desillusioniertdurch die Straßen von Paris.Später wird sich herausstellen: Die jeweiligenParteien im Publikum waren auf den Konflikteingestellt und schon im Vorfeld der Aufführungdementsprechend im Theatersaal platziert wor-den. Das Werk hatte somit, zumindest für die

     Welturaufführung, niemals eine Aussicht auf Er-folg. Seinen späteren Weltruhm freilich hat nichtzuletzt gerade auch dieser Skandal begründet.

    Ausgabe von Campes Kinderbibliothek. Am 14.Januar 1791, etwas weniger als ein Jahr vor sei-nem Tod, hatte der Komponist wohl einen seinerletzten außerordentlich produktiven Tage undzumindest drei Lieder durchkomponiert. Over-becks Gedicht vertont unter dem Titel »Sehn-sucht nach dem Frühlinge« (Köchelverzeichnis596), dann »Der Frühling«(KV 597) und »Das

    Kinderspiel«(KV 598). Aber zumindest dieSehnsucht nach dem Frühling muss WolfgangAmadeus Mozart schon einige Zeit mit sich he-rum getragen haben. Wenige Tage zuvor hatteder Meister die Arbeit am Klavierkonzert Nr. 27in B-Dur (KV595) erfolgreich beendet. DessenSchlusssatz diente dem Künstler später auch alsMotiv für die Melodie des berühmten Mai-Liedes.

    Viele weitere Musiker und Komponisten ih-rer Zeit versuchten sich in der Folge an einer Neu-vertonung von Overbecks kleinem Gedicht. Nochvor Mozart waren es G.H.L. Wittrock (1777),Marie Adelheid Eichner (1780), Johann FriedrichReichardt (1781), Gotthelf Benjamin Flaschner(1789) und Franz Seydelmann (1790). Danach

    noch Wilhelm Baumgartner (1848) und RobertSchumann (1849). Aber keine erlangte die Popu-larität und Anerkennung von Mozarts Werk

    I g o r S t r a w i n s k y – L e S a c r ed u P r i n t e m p s

    Sinngemäß bedeutet der Titel Frühlingsopfer.Eine passende Umschreibung für den Beginneines beispiellosen Erfolgs. Am Ende des Pre-mierentages, den 29. Mai 1913, wird GiacomoPuccini sinnieren: »Die Choreographie ist lä-cherlich, die Musik reine Kakophonie. Gewisssteckt in dem Stück einige Originalität und einbeträchtlicher Anteil an Talent. Aber zusammen-genommen erinnert es an das Werk eines Wahn-sinnigen.« Nur was hat Puccini so aufgebracht?

    Zum einen war es das Thema. Igor Stra-

    (Alle Abbildungen: public domain)

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    Felix machtFrühlingsgefühleoder ein bisschen Liebe ist immer drin.T E X T : M i c h a e l K l a u s - J ü r g e n

    Er war in die Mitte des Lebens geraten,ohne es richtig bemerkt zu haben. Auf-grund berechtigt gestiegener Erwartun-gen an die Länge eines menschlichen

    Lebens in Europa kokettierte er stets mit einerdreistelligen Zahl an Lebensjahren, die er würdeerreichen können. Oder müssen, wenn ihn gele-gentlich die Umstände seines aktuellen Seins zuheftig piesackten.

    Von seinen zweiunddreißig Zähnen warenihm noch vierundzwanzig geblieben.Seine vier

     Weisheitszähne hatte er, noch ehe sie hervorge-kommen waren, vor einem längeren Auslands-aufenthalt, gleich nach Abschluss der Schule,entfernen lassen. Zuvor hatte er erleben müssen,

    wie seiner Mutter im Rahmen eines wenig fach-männischen Noteingriffes ein entzündetes Ex-emplar hatte herausgebrochen werden musste.Die Ausstattung mit medizinischen Geräten undKenntnissen in einem fremden Land ließ deut-lich zu wünschen übrig.

    Vier weitere Zähne waren mangelnder Pflege inwenig geordneten Lebensverhältnissen zum Op-fer gefallen. Er hatte in der Osterzeit Geburtstag,war vor 55 Jahren an einem Gründonnerstag aufdie Welt gekommen. Eine Woche zuvor war einlieber Bekannter 74 geworden. Wenn er wollte,konnte er sich neben ihm wunderbar jung fühlen.Er gehörte zu dem Menschenschlag, der bevor er

    angekommen war, bereits das Wiederfortgehengeplant hatte.

    In einer Broschüre der Obdachlosenhilfe hatteer einen Hinweis auf die Suppenküche einer Kir-chengemeinde in Schöneberg gefunden. Er warauf dem Weg dorthin, kam dann am Adolf-Kurtz-Haus, an der Apostelkirche, an. Die Szenerie imzur Neige gehenden Tageslicht berührte ihn. Eswaren Bilder aus dem Film, dem Christiane F.seinen Namen gab, die jetzt in Brandenburg zu-hause war und einen Sohn hatte. »Möbel Hüb-ner« warb weiterhin an der Hauswand hintereiner Freifläche. Im Keller des gegenüberliegen-den evangelischen Gemeindehauses wurden dieaus gespendeten Nahrungsmitteln zubereitetenSpeisen gereicht, die Nutzung der Kleiderkam-mer regelten zwei Mitarbeiter.

    Er wiederholte seine Besuche, registrierte vonMal zu Mal intensiver einen gleichfalls blonden,

     jüngeren Herrn, von dem er erfuhr, dass er eine Waldorf-Schule besucht und begonnen hatte zustudieren. Eines Abends machte jener wiederein wenig den Cerberus bei der Suche nach et-was Passendem zum Anziehen. Übergezogenhatte der Herr, wie gewohnt, ein kurzärmeligesschwarzes Oberteil, das den Kirchengemeinde-namen »Mittwochsinitiative e. V.« aufgedruckt

    trug, den er ebenfalls tatkräftig unterstützte. DerBeachtete hatte erneut die Sportschuhe an, diemit überwiegend neon-orange-farbenen Schnür-senkeln gebunden waren. Er war sofort in denAchtziger Jahren.

    Dieses Mal tippte er ihm beim Betreten der Such-zone zaghaft zur Unterstützung der verbalen Be-grüßung auf die Schulter. Der Beglückte reagiertebetroffen. Deutliche Hinweise auf ein ausge-hängtes Regelwerk waren die Folge. KörperlicheKontakte zwischen Gastgebern und Gästen, warzu hören, waren verboten. Der Begehrte kehrtezum »Sie« zurück. Ein anderer Bekannter unterden Mitarbeitern, der sich vor Jahren mit einemmännlichen Namen vorstellte, jetzt einen weibli-chen verwendete, konnte an diesem Abend denvon ihm Ins-Auge-Gefassten hingegen, nicht nur

    Die Aposelkirche in Schöneberg (Foo: Wikimedia Commons, Orderinchaos CC-BY-SA 4.0)

    kollegial, zum Abschied lange in die Arme neh-men. Vorher war dem Gehenden derartiges stetsnicht in den Sinn gekommen.

    Er mutmaßte, dass die kurze, aber gewichtigeQuerele auch diesem Mitarbeiter aufgefallenwar. Vielleicht hatte dieser nunmehr auch diePerle entdeckt, über die er anfing, ins Stolpernzu geraten. Laut und deutlich verabschiedeteer sich, selbstverständlich unter Verzicht auf

    »Du« und mehr Interessensbekundung. BeimVerlassen bemerkte er, wie die umsichtigeHerrin der Kochtöpfe begann, Felix‘ Berüh-rungsängste zu thematisieren. Er konnte nochhinterlassen, wie gut ihm das entdeckte Flirtengetan hätte.

    Heute macht der Jüngere häufig seinem Namensehr viel Ehre, der Ältere kommt nicht sehr häufigdazu, das Gleiche mit seinem Familiennamen zutun, der nicht süß ist. Sie sind seit Jahren verhei-ratet. Nach Abschluss seines Studiums arbeitetder Eine für Menschen, die früher als verhalten-sauffällig etikettiert, später mit herausfordern-dem Verhalten verbunden wurden und heute alsMenschen mit spürbar anderen Umgangsformenwahrgenommen werden. Der Andere ist Künst-ler, Kaufmann und Rentner.

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    stras senfeger | Nr. | März  WINTER ADÉ |

    Korridor. Bei der Rückkehr in die Brutgebietekommt es hier allerdings nicht zu so großen An-sammlungen rastender Kraniche wie im Herbst.

    Erwartet werden auch bald die ersten Weiß-störche aus den afrikanischen Überwinterungs-quartieren. In Brandenburg konnten schon dieersten Adebare gesichtet werden. Wenn die

    Störche nach Tausenden Kilometern in bran-denburgischen Ort Linum und im angrenzendenRhinluch gelandet sind, bietet sich dem Besucherein imposantes Bild. Die Großvögel nisten aufdem Kirchturm, auf Schornsteinen, Masten undauf der alten Dorflinde. Im Kampf um die bestenNester und Weibchen ist bald das charakteristi-sche Klappern zu hören. Im Frühling lohnt sichein Besuch in der NABU-NaturschutzstationStorchenschmiede Linum. Ende März begrüßtdie Station die hoffentlich dann schon einge-troffenen ersten Weißstörche mit einem Will-kommensfest und bietet den Besuchern nebender ständigen Ausstellung Exkursionen zu denHorsten im Dorf Linum und Umgebung an.

    K o m m e n u n d G e h e n

    Die ersten Feldlerchen singen schon! Ab MitteMärz, Anfang April erwarten wir Zilzalp,Mönchsgrasmücke, Buchfink. Die Singdrosselist jetzt schon da. Die Singvögel unter den Kurz-streckziehern erfreuen uns dann von Tag zu Tagmehr mit ihrem morgendlichen Gesang.

     Während die einen aus dem Süden kommendmit den Vorbereitungen fürs Brutgeschäft begin-nen, ziehen die nordischen Gäste wieder ab, die inunseren Breiten vor den eisigen Wintern in ihrerHeimat abgeflogen sind. Zu ihnen gehören Saat-und Blessgänse, ferner Saatkrähen und Dohlenaus dem osteuropäischen Raum. Auch unterden Rotkehlchen, die jeder vom Futterhäuschenkennt, sind neben hiesigen Standvögeln auch sol-

    che mit »Migrationshintergrund« zu finden. In West-, Süd- und Mittleueropa überwintern dieRotkehlchen in der Nähe ihrer Brutgebiete. DieRotkehlchen-Populationen im Norden und OstenEuropas sind jedoch Zugvögel, die in unseren

    Gärten und Parks überwintern. Sie kehren vor-aussichtlich im März in ihre Brutgebiete zurück.

    L a n g s t r e c k e n z i e h e r t r e f f e na b M i t t e A p r i l e i n

     Wie alle Langstreckenzieher überwintert bei-spielsweise auch die Nachtigall südlich derSahara. Schon in mehreren Wochen, ab MitteApril, wird uns ihr Gesang wieder erfreuen. Ingebüschreichen Parkanlagen wie dem BerlinerTiergarten und an Gewässer- und Waldrän-dern lässt sie ihre facettenreiche Melodie in derAbenddämmerung erklingen. Spätankömmlingesind ferner der Kuckuck oder der in Berlin inzwi-schen äußerst seltene Pirol.

    Zu den in Berlin bekanntesten Langstre-ckenziehern (Brutgebiete über 4 000 Kilometer

    entfernt) zählen die Mauersegler. Mauerseglerwerden vom ungeübten Beobachter gerne fürSchwalben gehalten. Tatsächlich sind die nächs-ten Verwandten der Segler die exotischen Ko-libris. Der Mauersegler ist ein sehr besonderer

    Vogel und Berlin hat eine besondere Verantwor-tung für ihn. Fast sein ganzes Leben verbringter in der Luft, er schläft sogar in der Luft! Nurzur Brutzeit, wenn die Tiere in den Berliner Dä-chern ihre Brutplätze aufsuchen, unterbrechensie ihren den Non-Stop-Flug, um ihre Eier aus-zubrüten und ihre Jungen aufzuziehen. Mauer-segler sind nur von Ende April bis Mitte Augustin Mitteleuropa. Den Rest des Jahres verbringensie über 10 000 Kilometer entfernt, in Südafrika.Eine beachtliche Leistung für einen Vogel, derim Durchschnitt weniger wiegt als 12 Gummi-bärchen, nämlich 46 Gramm.

    Die alljährliche Ankunft der Mauerseglermit ihren »Srii, sriii«- Stimmen erfreut schließ-lich besonders viele Menschen. Hört man dieersten Mauersegler-Rufe, dann ist mit ihnen un-übersehbar der Sommerbeginn angezeigt.

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      stras senfeger | N r. | März | WINTER ADÉ

    Wie weiter?Am 31. März schließen die Einrichtungen der Berliner KältehilfeK O M M E N T A R : J a n M a r k o w s k y

    Am 1. April werden die Einrichtun-gen der Berliner Kältehilfe schließen.Planmäßig. Das aktuelle Angebot derNotübernachtungen und Nachtcafés

    schwankt zwischen 768 und 833 Plätzen. 717Plätze werden in den Notübernachtungen und51 Plätze am Mittwoch in Nachtcafés bereitge-stellt. Am Donnerstag sind es 116 Plätze in denNachtcafés. Nachtcafés öffnen nur an einzelnen

     Wochentagen, deshalb schwankt das Angebot.Ab dem 1. April stehen den Menschen ohne

     Wohnung noch 103 Plätze in Notübernachtun-gen zur Verfügung. Donnerstags lädt Obdache.V. in die Gemeinderäume der evangelischenSamaritergemeinde 25 Obdachlose zum Über-nachten ein. Damit erhöht sich das Angebotan diesem Wochentag auf 128 Notschlafplätze.Doch am 1. April müssen sich etwa 700 Men-schen einen neuen Platz zum Schlafen suchen.

    I s t d a s A n g e b o t d e r B e r l i n e rK ä l t e h i l f e a u s r e i c h e n d ?

    Tatsache ist, dass Obdachlosigkeit in den letztenJahren sichtbar geworden ist. Auch für Touris-ten. Auch für die Mitarbeiter des Kanzleramts.Doch Berlin zählt seine Obdachlosen nicht, esbleibt beim Schätzen. 3 000 bis 6 000 Menschenleben demnach ohne Obdach in Berlin. Nichteinmal ein Viertel der Obdachlosen haben dieEinrichtungen der Kältehilfe dauerhaft genutzt.Die Einrichtungen der Kältehilfe waren im Ja-nuar 2016 mit 95,4 Prozent nach Angaben desKältehilfetelefons nicht voll ausgelastet. Nur aneinem Tag im Januar war die Nachfrage deutlichgrößer als das Angebot an Notschlafplätzen.

    Der letzte Winter war ein milder Winter.Viele Obdachlose sind nicht in die Einrichtungen

    der Kältehilfe gegangen. Wenn zehn Menschen ineinem Raum übernachten, ist immer ein Schläferdabei, der laut ist. Schnarchen hält viele Obdach-lose von der Nutzung der Notschlafplätze ab.

    Outdoor-Man Hermann hatte mir deshalbvor vielen Jahren mit »um Himmelswillen« ge-antwortet. Streit unter den Gästen bleibt nie aus.Meist geht es um die Belegung eines bestimmtenSchlafplatzes. Ich habe erlebt, wie ein unbetei-ligter Obdachloser bei einem Streit erklärte, dasser die restliche Saison auf seiner Platte (Schlaf-platz) bleiben wolle. »Da hab ich meine Ruhe«,sagte er. Ein großer Teil der Obdachlosen ist anein bestimmtes Revier gebunden. Wenn es dortkeine Notübernachtungsplätze gibt, kommt ernicht auf den Gedanken, die Kältehilfe zu nut-zen. Ein langjähriger Mitarbeiter einer kleinenNotübernachtung, der auch am Runden Tisch

    in Kreuzberg teilnahm, berichtete von der altenForderung, in jedem Kiez in jeder Nacht Ob-dachlose einzuladen. In diesem Fall würden 800Schlafplätze bei weitem nicht reichen.

    Es war ein milder Winter. Trotzdem gibt esHinweise für einen Kältetoten in Berlin. Am 17.

    Januar 2016 ist ein Mann leblos an der Ecke Kur-fürstendamm, Joachimsthaler Straße gefundenworden. Die Polizei gibt in Berlin die Todesursa-che nicht bekannt. Datenschutz. In diesem Fallwäre der Sozialsenator für das Informieren der Öf-fentlichkeit über den Kältetoten verantwortlich.

    W i e w e i t e r ?Selbst bei 3 000 Obdachlosen sind 700 zusätz-liche Schlafplätze weniger als 25 Prozent. Ob-dachlose aus Osteuropa agieren oft in Gruppen.Auch nachts. Sie tragen regelmäßig untereinan-der Konflikte aus, oft mit der Faust. Die Gruppebietet in einer fremden Stadt, in einem fremdenLand, Schutz. In Gruppen im Freien schlafenmindert die Konkurrenz um die Schlafplätze. EinEinzelgänger macht nicht unbedingt dort Platte,wo sich eine Gruppe hinlegt. Viele Obdachlose

    schlafen tagsüber aus Angst vor Überfällen in derNacht. Das mindert natürlich auch die Konkur-renz um den Platz für die Platte.

    U n d i m E i n z e l f a l l ?Für einen bedürftigen Menschen kann die Sache

    ganz anders aussehen. Als ich wohnungslos war,wurde ich als Kenner der Kältehilfe gefragt, wodenn ein Schlafplatz zu finden sei. Einen Men-schen mit guter Ausrüstung konnte ich raten,einen Platz in der ganzen Stadt zu suchen. Dochnicht jeder Obdachlose ist gut ausgerüstet. Auchnicht in Berlin. Längst nicht alle Obdachlosenfühlen sich auf der Straße wohl und sicher. AuchObdachlose mit guter Ausrüstung suchten einensicheren Schlafplatz. Sie wollten angstfrei schla-fen. Gerade in den warmen lauen Sommernäch-ten ist die Stadt voll von feiernden Menschen.Und nicht jeder ist einem Obdachlosen wohlge-sonnen. Die Notübernachtung in der Franklin-straße ist das ganze Jahr geöffnet, ebenso dieNotübernachtung für Frauen in der Tieckstraßeund endlich auch wieder die Notübernachtungvom Verein mob. e.V.

    Traglufhalle an der Frankurer Allee: Im Januar waren die Kälehileeinrichungen zu 95 Prozen ausgelase. 

    (Foo: Juta Herms)

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    stras senfeger | Nr. | März  WINTER ADÉ |

    Wenn der Frühling kommt...Über meine Gefühle und Umtriebe zum FrühlingsanfangB E T R A C H T U N G : D e t l e f F l i s t e r

    Jedes Jahr kündigt es sich auf dieselbe Art und Weise an:Mein von Arthrose geschwächtes linkes Knie macht sichmit einem Mal bemerkbar. Dann weiß ich, es ist soweitund mein Herz könnte vor Freude zerspringen. Der Früh-ling kommt und es wird alles wieder einfacher. Vorbei

    sind die endlos langen, dunklen Tage voll fürchterlicher Kälte.Der Aufbau meines Körpers und die Wiederbelebung meinesSelbst kommen in die Gänge.

    E r s t e R e a k t i o n e nEs geht los! Meine Stimmung steigt sichtbar und meineLaune wird besser. Negative Gefühle und depressive Phasenverschwinden. Das Leben scheint zu funktionieren und allesfällt leichter. Das liegt daran, dass ich auch wesentlich besserund ruhiger schlafe und mit weniger Schlaf auskomme. Fünfbis sechs Stunden Schlaf reichen aus, während ich im Winterschon mal zehn bis zwölf Stunden Schlaf brauche und auchoft nicht durchschlafen kann.

    Im Frühling verstoße ich nicht ständig gegen das Motto: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf Mor-gen. Ich fühle mich stärker und ausgeruhter als in den kaltenJahreszeiten Herbst und Winter. Mein Motto ist dann: Ich will

    und ich will immer wieder, vorwärts, weiter gehts. Nix: Win-ter adé, scheiden tut weh! Endlich ist sie weg, diese widerlicheJahreszeit, diese fürchterliche, von mir als Mischung aus Kör-perverletzung und Kälteterror angesehene Zeit.

    A u s s t r a h l u n gAlle, die mich kennen, sagen es: der Frühling-Sommer-Det-lef strahlt etwas ganz anderes aus, als der Herbst-Winter-Detlef. Mein Gang wird lockerer und leicht federnd und dastrotz des erwähnten Arthrose-Knies. Der Kopf geht nachoben und mein Körper geht aufrecht. So kann man viel leich-ter etwas erreichen, weil man ganz anders auf andere wirkt.Es wird sogar behauptet, ich sei dann wesentlich charismati-scher und humorvoller als sonst.

    Eine besondere Wirkung gibt es bei der Kommunika-

    tion. Die Leute behaupten, es wäre wesentlich angenehmer,sich mit mir zu unterhalten. Auch das Zusammensein mitmir wäre generell schöner und würde mehr Spaß bringen,weil ich nicht mehr so ernst wäre und häufiger lachen würde– auch über mich selbst.

     Was mir jedes Jahr immer wieder auffällt: Meine Flirt-lust ist größer. Wenn mir eine Frau gefällt, dann flirte ichschon mal, was im Winter relativ selten passiert. Meinelängste Beziehung begann immerhin während eines heißenSommers. Im Winter traue ich mir da viel weniger zu, wassicher mit meinem schlechten körperlichen Feeling zusam-menhängt. Im Winter bin ich ein Einzelgänger. Aber das istbestimmt nicht nur bei mir so.

    A n t r i e bIch kann mich in den warmen Jahreszeiten besser konzent-rieren, wodurch auch mein Antrieb stärker wird. Aus demgelangweilten Stubenhocker wird ein Ausflieger, der am liebs-

    ten ständig bis Sonnenuntergang unterwegs ist. Aus einemEinkaufsvorhaben wird dann häufig ein stundenlanger undausgiebiger Einkaufsbummel. Aus dem unternommenen Ali-bispaziergang, den man nur unternimmt, um sich wenigstensein bisschen zu bewegen, wird schon mal ein einstündigerSpaziergang. Die Hausarbeiten fallen leichter und das Putzen

    ekelt mich nicht mehr so an. Ich fange sogar an, die von mirgestapelten Zeitungen auszusortieren und die, die ich nichtmehr brauche, wegzubringen. Ich schreibe mehr Kurzge-schichten und male mehr. Der DVD-Konsum nimmt ab unddas Lesen von Büchern macht mir Freude. Wichtig auch: Ichgrübele nicht mehr so viel und sehe alles positiver. Ja, das Le-ben macht einfach viel mehr Spaß, wenn es warm ist, wennman nicht in dicke Klamotten eingehüllt rausgeht, in denenman dann trotzdem nach einer Weile friert.

    F a z i tDas Leben wird leichter und beschwingter in den warmen Ta-gen und die Sicherheit, dass es erst einmal eine Weile so bleibt,stärkt und stabilisiert die Persönlichkeit und den Antrieb.

     Wärme ist ein entscheidendes Stück Lebensqualität, was manbesonders merkt, wenn sie fehlt. Und vor allem: Nach demFrühling kommt der Sommer, was wiederum erneut beson-dere Gefühle weckt.

    Vieles äll leicher, wenn die warme Jahreszei komm. (Foo: Guido Gerding, CC BY-SA 3.0)

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      stras senfeger | N r. | März | TAUFRISCH & ANGESAGT B r e n n p u n k t

     Schreibunerrich in einer Schule

    in Rumänien. Für Verkäuer der

    rumänischen Sraßenzeiung soll es

    künfig Schreib- und Rechenklassen

    geben. (Foo: Projec Ruh, Bukares)

     Sraßenproes in Bukares am

    4. November 2015: Demonsranen

    proesieren gegen die Korrupionin ihrem Land. (Foo: REUTERS/Inquam

    Phoos/Ocav Ganea)

    Der Schwede Aaron Israelson

    (Foo: Aaron Israelson)

    Gegen Armutund KorruptionEin ehemaliger Chefredakteur aus Schwedengründet in Rumänien eine StraßenzeitungT E X T : L a u r a S m i t h | Ü B E R S E T Z U N G : S o n j a H ä u ß l e r ( I n t e r n a t i o n a l N e t w o r k o f S t r e e t P a p e r s - I N S P )

    Vergangenen November gingen in Bukarest Zehn-tausende Rumänen mit Plakaten und Megafonenauf die Straße, geeint in heftigem Protest gegen dieweit verbreitete Korruption, die nicht nur an poli-

    tischen Institutionen und Medien nagt, sondern auch … tötet.

    Die Frustration und die Anspannung, die in der Öffentlich-keit brodeln, brachen sich Bahn, als am 15. Oktober 2015 ineinem Nachtclub der Stadt ein Feuer ausbrach, das 63 Men-schen das Leben kostete. Viele sagen, dass die wahre Ursache

    für ihren Tod in der Korruption liegt, ein seit langem beste-hendes Problem, unter dem eines der ärmsten Länder der EUnoch immer leidet.

    Die Proteste, die vor allem von der jüngeren Generation derRumänen angeführt wurden, die politische Reformen fordert,sorgten dafür, dass der Vorfall in den Blick der internationalenÖffentlichkeit rückte. Unmittelbar darauf folgte der Rücktrittdes Premierministers, seines Kabinetts und des örtlichen Bür-germeisters. Dies machte deutlich, dass Rumänien ein Landist, das einen Wandel herbeisehnt.

    Laut Aaron Israelson wird dieser bald in Form einer Straßen-zeitung nach Bukarest kommen, die in einem der ärmstenViertel der Stadt aus der Taufe gehoben werden soll. Der ehe-malige Redakteur der schwedischen Straßenzeitung Faktumplant, sein neues Druckwerk erstmals im September in derrumänischen Hauptstadt herauszubringen. Seiner Meinung

    nach braucht das Land dringend eine unabhängige Presse-stimme, um Korruption und Armut in Angriff zu nehmen.

    »In allen Ländern gibt es Armut und Obdachlosigkeit, aberRumänien ist das zweitärmste Land in der EU, deshalb glaubeich, dass hier der Bedarf, die Armut auf moderne Art und

     Weise zu bekämpfen, größer ist als überall sonst«, so Isra-elson. Die Zeitung wird von Ferentari aus vertrieben, einemvon Armut geprägten Stadtgebiet, in dem nur 30 Prozent derBevölkerung legal beschäftigt sind.

    Zu seinem Projekt haben Israelson unter anderem die rumä-nischen Verkäufer inspiriert, mit denen er während seinervierjährigen Amtszeit als Chefredakteur bei Faktum zu tunhatte. Er sagt, dass 50 Prozent der Verkäufer der GöteborgerStraßenzeitung aus Rumänien stammen. »Im Lauf der Jahrehabe ich mit vielen rumänischen Verkäufern gesprochen undgemerkt, dass manche in Schweden bleiben wollen, um sichhier ein Leben aufzubauen. Die allermeisten jedoch habeneingeräumt, dass sie niemals nach Schweden gekommen wä-ren, wenn sie in Rumänien einen Job gefunden hätten«, be-richtet Israelson.

    2014 hatte Rumänien ein geschätztes nationales Brutto-inlandsprodukt von nur €7 500 pro Kopf. Im selben Jahrsind 37 000 Rumänen und Bulgaren nach Großbritannienausgewandert, um ein besseres Leben zu finden. Viele Ru-mänen, die überall in Europa Straßenzeitungen verkaufen,

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    stras senfeger | Nr. | März TAUFRISCH & ANGESAGT | B r e n n p u n k t

    berichten dem INSP, dass es wegen niedrigerLöhne und fehlender Jobs unmöglich für siewar, in ihrer Heimat zu bleiben. Doch viele vonihnen haben keine geeigneten Qualifikationen,weshalb die meisten auch im Ausland keineArbeit finden. Israelsons Mutter ist Rumänin und er selbst be-herrscht die Sprache gut. Seit er ein Kind war,

    hat er immer wieder das Land besucht; im Sep-tember ist er nach Bukarest gezogen. Seitdemarbeitet er mit der örtlichen Wohltätigkeitsorga-nisation Project Ruth zusammen, die bis zu 170Familien in Ferentari unterstützt. Die Haupt-vertriebsstelle der Straßenzeitung wird in derSchule und dem Erwachsenenbildungszentrumvon Project Ruth eingerichtet werden.

    »Dies ist eine sehr arme Gegend und die Situa-tion ist sehr schlimm«, berichtet der Geschäfts-führer von Project Ruth, Mihai Ciopasiu. »Esgibt kaum Zugang zu Jobs, deshalb leben vieleMenschen unter schrecklichen Bedingungen.Etwa 50 Prozent der Familien hat keine Zent-

    ralheizung. Neben der schlechten Wohnsituationgibt es viel Drogen- und Alkoholmissbrauch undes liegt jede Menge Müll herum.«

    2014 betrug das durchschnittliche Tageseinkom-men in Ferentari pro Person umgerechnet 1,07Euro. Von 170 Familien, die von Project Ruthunterstützt werden, sind 56 Prozent der Elternarbeitslos und 14 Prozent arbeiten schwarz.Etwa ein Drittel der Eltern hat wenig oder garkeine Bildung.

    Ciopasiu hofft, dass eine Straßenzeitung dazubeitragen kann, den »Teufelskreis der Armutzu durchbrechen und den Menschen bessereMöglichkeiten im Leben zu bieten«. Er sagt:»Ich glaube, das kann etwas Gutes bewirken,nicht nur in Bezug auf die Themen des Maga-

    zins, das sich mit Armut, sozialer Gerechtigkeitund Korruption befassen wird, sondern auchweil dadurch eine Möglichkeit geschaffen wird,das Leben der Menschen zu verändern. Wer dasMagazin verkauft, wird mehr Selbstbewusst-sein bekommen, mehr Geld haben, um seineKinder in der Schule zu unterstützen, und all-mählich vielleicht sogar so viel verdienen, dasser in die Sozial- und Krankenversicherung auf-

    genommen wird.«

    Letzte Woche trugen Israelson and Ciopasiu ihrePläne etwa 30 Eltern aus dem Project Ruth vor.Jetzt haben sie 17 potenzielle Verkäufer, die sichfür das Projekt interessieren. Eine Vorausset-zung für die Verkäufer wird sein, dass ihre Kin-der zur Schule gehen; sie selbst erhalten Zugangzu Bildungsförderungsprogrammen, die von derNGO angeboten werden.

    Zunächst wird das Projekt von Geldgebern inSchweden finanziert, doch Aaron hofft darauf,mit der Zeit mehr Unterstützer vor Ort gewin-nen zu können. Doch die Zeitung hat nicht al-

    lein den Zweck, den Obdachlosen und sozialSchwachen in Bukarest zu Einkommen und Un-terstützung zu verhelfen. Mit Hinblick auf die

     jüngere Generation will Israelson darin auchdie Korruption ansprechen und für politischeReformen werben; gleichzeitig will er eng amPuls des dynamischen und vielfältigen gesell-schaftlichen Lebens in Bukarest bleiben.

    Nach vier Jahren an der Spitze von Faktum weißAaron Israelson, wie man eine erfolgreiche Stra-ßenzeitung leitet. Doch eine Straßenzeitung inder rumänischen Hauptstadt zu gründen, birgtseine ganz eigenen Herausforderungen.

    Israelsons Projekt wird danach streben, das Pro-blem der Abwertung und Diskriminierung vonObdachlosen zu thematisieren und sich außer-

    dem für die Rechte der Roma einzusetzen, derMitglieder von Rumäniens größter - und amstärksten verfolgter - Minderheit. Israelson sagtvoraus, das die Mehrzahl seiner Verkäufer ausFerentari Roma sein werden.

    »In Rumänien gibt eine Menge Rassismus gegen-über der Minderheit der Roma, und sie werdendieses Magazin hauptsächlich verkaufen. Das

    wird schwer werden, aber ich treffe auf eineMenge Leute, die es für eine großartige Idee hal-ten und erleben wollen, dass sich dieses Landzum Besseren entwickelt.«

    Er plant, die monatlich erscheinende Straßenzei-tung von seinen Verkäufern im Zentrum Buka-rests verkaufen zu lassen, in Gegenden, die fürihre jüngere Demografie bekannt sind. Er hofft,dass er 20-30 Verkäufer an Bord haben wird, biser die Zeitung erstmals herausbringt, und sagt,dass er mit einer ehrgeizigen Auflage von 5 000Exemplaren pro Ausgabe anfangen will.

    Israelson geht davon aus, dass er eine Leser-

    schaft findet und die Zeitung für junge Rumä-nen erschwinglich sein wird. Er führt die grie-chischen Straßenzeitung Shedia als Beispielan, das Hoffung gibt - sie ging 2013 mithilfedes International Network of Street PapersINSP an den Start, als das Land mitten in derSchuldenkrise steckte und genießt seitdem an-haltenden Erfolg.

    »Menschen, die Armut schon am eigenen Leiberfahren haben, fühlen sich in der Regel soli-darischer mit Leuten, die noch schlechter dransind«, sagt er. »Ich bin voller Optimismus undVertrauen. Immerhin habe ich schon für Faktumin Schweden gearbeitet und habe gesehen, dassviele andere Straßenzeitungen überall auf der

     Welt Erfolg haben. Ich bin sehr zuversichtlich,dass das auch hier funktioniert.«

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      stras senfeger | N r. | März | TAUFRISCH & ANGESAGT V e r e i n

    Das neu geschaffene

    Familienzimmer 

    Babybet im Familien-

     zimmer 

    Flur der Noübernach-

    ung mi abgehenden

    Zimmern

    Neues Familienzimmer

    in der Notübernachtungbei mob e.V.Ab März können im Notfall auch Familien mit Kindern in einemliebevoll eingerichteten Familienzimmer aufgenommen werdenB E R I C H T & F O T O S : M a r a F i s c h e r / P r o j e k t l e i t e r i n d e r N o t ü b e r n a c h t u n g

    Der gemeinnützige Verein mob – obdachlose ma-

    chen mobil e.V. entwickelte seit seiner Grün-dung 1994 eine Reihe von Projekten, die nochheute bestehen und kontinuierlich fortgeführtwerden. Vor allem für Menschen, die arm sind,

    auf fremde Hilfe angewiesen sind, für Menschen, die keine ei-gene Wohnung haben bzw. sogar buchstäblich auf der Straßeleben, setzt sich der Verein mob e.V. ein. Ziel ist die Verbesse-rung der Lebensumstände von gesellschaftlich Benachteilig-ten und Ausgegrenzten, insbesondere Obdachlosen bzw. vonObdachlosigkeit bedrohten Menschen.

    Der Verein ist Mitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.Mob e.V. initiierte verschiedene Projekte, die als Zweckbe-triebe und wirtschaftliche Geschäftsbetriebe die satzungsge-mäßen gemeinnützigen Zwecke von mob e.V. verfolgen. Der

    neue Vereinsstandort befindet sich in der Storkower Str.139d. Dieser beherbergt auch die Redaktion der Straßenzeitung»strassenfeger «, deren Herausgeber der Verein mob e.V. ist.Das »Kaffee Bankrott« das an sieben Wochentagen geöff-net ist und das Sozialwarenkaufhaus »Tödelpoint«. Am 20.Oktober 2015 wurde eine Notübernachtung für obdachloseMänner und Frauen eröffnet. Das besondere an den Projek-ten von mob e.V. ist, dass diese immer eine projektübergrei-fende Integrationsfunktion haben. Beispielsweise schließt dieNotübernachtung jeden Morgen um 8 Uhr. Ab 8 Uhr öffnetdas Kaffee Bankrott. Das heißt, die Gäste der Notunterkunftkönnen dort verweilen und sind nicht gezwungen, den Tag aufder Straße zu verbringen, bis um 18 Uhr wieder die Türen derNotübernachtung öffnen.

    In den Projekten bieten wir Schutz vor Gewalt, vor Kälte unddem drohenden Erfrierungstod. Das Herzstück unserer Ar-beit ist das menschliche Miteinander. Wir betrachten die Ob-

    dachlosen als Gäste! Es geht um den Einzelnen

    mit seiner Biografie. Unserer Gäste können sichbei uns ausruhen, sind geschützt vor Blicken derPassanten, wir geben ihnen die Gelegenheit zueinem Gespräch oder einfach mal nur Vor-Sich-hinträumen. Ohne unsere vielen fleißigen Ehren-amtlichen könnten wir dies nicht ermöglichen.

    Die Notübernachtung von mob - obdachlosemachen mobil e.V. wird durch das IntegrierteSozialprogramm des Landes Berlin teilfinan-ziert. Trotzdem ist der Verein auf Spendenangewiesen. Auch die Mitarbeiter in der Spät-und Nachtschicht sind Ehrenamtliche. LetztenSommer wurde ein Konzept für die Notüber-nachtung erstellt, 20 Schlafplätze sind dort fest-

    gehalten. In der Praxis wurde schnell klar, dassdiese Plätze nicht ausreichend sind. Währendder ganzen Nacht können Menschen aufgenom-men werden, die Plätze sind allerdings meistkurz nach der abendlichen Öffnung komplettbelegt. Gleich nach Eröffnung der Notüber-nachtung im vergangenen Oktober wurden vierzusätzliche Notbetten angeschafft und einigeIsomatten. Derzeit können täglich bis zu 30Menschen aufgenommen werden.

    Aus gegebenem Anlass hat sich der mob - ob-dachlose machen mobil e.V. entschlossen, ein Fa-milienzimmer einzurichten. Ein erhebliches Pro-blem sind obdachlose Familien mit Kindern. Siedürfte es gar nicht geben. Nicht einen Tag, nichtein Nacht. Des Öfteren kam es vor, dass nachtsFamilien mit kleinen Kindern vor der Tür der No-

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    stras senfeger | Nr. | März TAUFRISCH & ANGESAGT | Verein

    tübernachtung standen und ein Obdach gesuchthaben. Wir müssen häufig Menschen abweisen,weil die Platzkapazitäten ausgeschöpft sind. Fa-milien in Notlagen mit minderjährigen Kindernkönnen wir nicht abweisen. Kinder brauchen be-

    sonderen Schutz. Diese Familien werden dannerstmal aufgenommen und es wird versucht,diese an entsprechende Institutionen zu vermit-teln. Leider kann das sehr lange dauern. Geradefür kleine Kinder, die krank sind und Schlafbrauchen, ist dies eine unzumutbare Situation.

    Deshalb wurde nun liebevoll ein Familienzim-mer eingerichtet, wo im Notfall hilfesuchendeFamilien für eine Nacht untergebracht werdenkönnen. Das wichtigste ist dann, dass die Fami-lie erst einmal eine menschenwürdige Grundver-sorgung erhält, ein bisschen Ruhe und vor allemdie Möglichkeit, in einem warmen und sauberenBett zu schlafen. Eigentlich müsste sofort eineEinzelfallprüfung vorgenommen werden. Da-mit diesen Familien zuverlässig einen Zukunftin einer eigenen Wohnung und gegebenenfalls

    erzieherische Hilfe und Unterstützung in aufent-haltsrechtlichen Fragen gegeben werden kann.Das neue Familienzimmer bei mob e.V. in derStorkower Str. 139 c soll als Auffanglösung fürobdachlose Familien in Not fungieren.

    Für die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Notüber-nachtung gibt es für diesen Fall einen festgeschrie-ben Ablaufplan. Welche Behörden informiertwerde müssen und vor allem wie ein weitererHilfeplan, in Kooperation mit dafür zuständigenStellen, für die Familie schnellstmöglich erstelltwerden kann und muss. Der Aufenthalt der Fa-milie soll nur im Notfall stattfinden, da Familienund Kinder eigentlich nicht in gemischten Unter-künften untergebracht werden sollen. Für Fami-lien und Kinder gibt es andere Einrichtungen, dieumfassendere Hilfeleistungen anbieten können.Leider kommen diese Notfälle immer häufigervor, wo dennoch Familien Zuflucht in der Not-übernachtung von mob e.V. suchen. Und es istnicht immer möglich, die Familien in der Nachtentsprechend weiter zu vermitteln.

    Das Angebot des Familienzimmers beinhaltet einBabybett, Schlafmöglichkeiten für die Eltern undfür größere Kinder. Es sind Bücher, Spiele, Ku-scheltiere und andere Beschäftigungsmöglichkei-ten für die Kinder vorhanden Des Weitern sindfür Kleinkinder Windeln und Babynahrung undvieles mehr vorhanden. In der Kleiderkammergibt es ein Regal für Kinderkleidung, um bei Be-darf Kleidung bereitzustellen. Das Familienzim-mer ist direkt neben dem Büro der Mitarbeiter,welches durchgängig mit einem Ansprechpartnerbesetzt ist. Wenn dringende Hilfe benötigt wird,gibt es auch die Möglichkeit, eine ehrenamtlichepädagogische Fachkraft zu mobilisieren.

    In unserer Notübernachtung tauchen auch immerhäufiger hochschwangere Frauen mit ihrem Mannauf, auch das bereitet uns Sorgen. Es brauchenimmer mehr Familien mit Kindern Hilfe. Auchder Anteil der Menschen mit psychischen Er-krankungen ist enorm gestiegen. Zudem nutzenviele Obdachlose aus Osteuropa Notunterkünfte.

    Daher besteht zusätzlich eine Kooperation mitden »Frostschutzengeln« - einem Projekt der GE-BEWO - Soziale Dienste - Berlin gGmbH und desCaritasverbandes für das Erzbistum Berlin.

    Das Angebot der »Frostschutzengel« richtetsich speziell an osteuropäische obdachloseMenschen und erfüllt damit eine Brückenfunk-tion. Bürger der neuen EU-Länder werden di-rekt vor Ort in ihrer Landessprache zu weiter-führenden Hilfen beraten. Besonders schwieriggestaltet sich für EU-Bürger die medizinischeVersorgung. Sie haben bisher keinen Anspruchauf eine medizinische Versorgung. Das machtdie Behandlungen außerhalb von Obdachlosen-

    Praxen oft schwierig. Glücklicherweise steht jeden Montagvormittag das Caritas – Arztmo-bil unterstützend bei mob e.V., vor der Tür desKaffee Bankrott. Ein Arzt, eine Sozialarbeite-rin und eine Krankenschwester bieten hier einekostenfreie und anonyme Erst- und Grundver-sorgung, welche durch die vereinseigene Sozi-alberatung ergänzt wird. Hier sind wir gut ver-netzt und bedanken uns herzlich – vor allem imNamen unserer hilfesuchenden Gäste - für diewichtige Unterstützung!

     Wer sich über die Vereinsarbeit informierenmöchte, kann das gerne über unserer Websitetun: www.strassenfeger.org. Auch auf Facebookwird über die Vereinsarbeit berichtet. Wer spen-den oder helfen möchte, kann sich gerne jeder-zeit an uns wenden: [email protected].

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      stras senfeger | N r. | März | TAUFRISCH & ANGESAGT V e r e i n

    Ehrenamt – was ist

    das schon?Erfahrungen und Gedanken über Ehrenamt und freiwilligesEngagement am Beispiel der Arbeit in der Obdachlosen-Notunterkunft des Vereins mob e.V.T E X T : A n d r é B e r g

    Am 20. Oktober 2015 eröffnete in der StorkowerStraße 139c die neue, ganzjährig offene Notunter-kunft für Obdachlose des Vereins mob – obdach-lose machen mobil e.V. Ich hatte einige Wochenvorher über facebook – manchmal taugt dieses

    soziale Netzwerk zu mehr, als sich nur süße Katzenvideos an-zuschauen – einen Aufruf gelesen, in dem Mitarbeiter für ebendiese Notunterkunft gesucht wurden. Es ging dabei um ehren-amtliche Arbeit mit einer kleinen Aufwandsentschädigung.

    Gehört und gelesen hatte ich über das Thema ehrenamtlicheArbeit schon öfter etwas. Vor einigen Jahren gab es zu diesemThema wohl auch Änderungen der Regularien auf Gesetzes-ebene, und damals habe ich mehrere Reportagen über ebendieses Thema gesehen, zum Beispiel über Rentner, die für Kin-der den fehlenden Opa ersetzen oder über junge Menschen,die älteren Menschen im Alltag unter die Arme greifen. Mein

     Weg sollte mich aufgrund meines spontanen Entschlusses alsoin eine Notunterkunft für Obdachlose führen. Erfahrungen

    hatte ich mit diesem Thema bisher keine. Klar hatte ich schonObdachlose gesehen, klar hatte ich auch schon mal eine Stra-ßenzeitung gekauft oder ein bisschen Kleingeld oder die leerePfanddose gegeben, aber davon, wie Obdachlose nun genauleben, hatte ich doch nur rudimentäre Vorstellungen.

    Also ging ich mit viel Neugier zum Vorstellungsgesprächund war erst einmal positiv davon überrascht, dass da nichtnur eine Notübernachtung aufgemacht hatte, sondern esauch schon ein Tagescafé - Kaffee Bankrott - , ein sozialesMöbelkaufhaus namens Trödelpoint und die Redaktions-räume vom strassenfeger  gab. Mir wurde also schnell klar,dass der mob e.V. - Träger dieser vielen Projekte - seineArbeit nicht erst seit gestern macht, sondern wohl schonseit einiger Zeit die Einrichtungen ziemlich professionell

    betreibt. Später erfuhr ich, dass der Verein vor kurzem sein20jähriges Jubiläum gefeiert hat.

    Ebenso positiv überrascht war ich von der Notunterkunft sel-ber. Diese war natürlich noch nicht hundertprozentig fertig,aber praktisch doch bezugsbereit. Es gibt mehrere Zimmermit jeweils bis zu drei Betten, Nachttischen und abschließba-ren Schränken. Bei Überbelegung gibt es auch die Möglich-keit, noch ein paar Notbetten aufzustellen. Zudem befindetsich in der Einrichtung ein Aufenthaltsraum mit einem TV-Gerät und gemütlichen Sitzgelegenheiten und eine Teeküche,in der sich die Gäste warme Getränke oder Kleinigkeiten zumEssen zubereiten können. Natürlich gibt es auch Toiletten undDuschen und einen Raum mit Putzmitteln und -geräten, so-wie Waschmaschinen für die reichlich anfallende Bettwäscheund Handtücher. Ebenso eine Kleiderkammer, die zu diesemZeitpunkt gut mit Spenden gefüllt, aber noch nicht sortiertwar. Ich war nicht nur begeistert von dieser Notunterkunft,

    sondern auch noch von den vielen anderen Pro- jekten des mob e.V. und nicht zuletzt auch vonder Freundlichkeit der Mitarbeiter des Vereins.Mein Entschluss stand also fest, ich wollte hiermitarbeiten.

    Mein erster Dienst war gleich am Eröffnungstagder Notunterkunft- zusammen mit zwei erfahre-nen Mitarbeitern. Natürlich war die Notunter-

    kunft nicht am ersten Abend schon vollkommenüberlaufen, so dass wir die Arbeitsvorgänge beider Aufnahme unserer Gäste erst einmal ein we-nig üben konnten. Dazu gehört die Aufnahmeder Daten des Gastes, diesen mit den Regeln desHauses bekannt zu machen, ihm oder ihr Bettwä-sche, Handtücher und Waschutensilien bereitzu-stellen. Aber auch das Durchsuchen des Gastesnach Waffen oder gefährlichen Gegenständen,was für mich, genauso wie sicher für den Gast,unangenehm ist. Aber wer sagt, dass ehrenamt-liche Arbeit nur aus angenehmen Tätigkeitenbesteht? Letztendlich gilt es auch, die Sicherheitvon Mitarbeitern und Gästen zu gewährleisten.

    In den folgenden Nacht- und Spätschichten, indenen ich in der Notunterkunft gearbeitet habe,konnte ich feststellen, dass es sehr unterschiedli-

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    stras senfeger | Nr. | März TAUFRISCH & ANGESAGT | Verein

    Ehrenamler André Berg (Foo: Mara Fischer)

    Blick in die Kleiderkammer der Noübernachung

    ( Foo: Boris Nowack)

    Ein Zimmer in der Noübernachung

    (Foo: Boris Nowack)

    che Menschen gibt, die unsere Notunterkunft inAnspruch nehmen müssen. Viele unserer Gästehätte ich niemals als Obdachlose identifiziert,wenn sie in der U- oder S-Bahn neben mir ge-sessen hätten. Man hat viel zu stark ein gewis-ses »Pennerklischee« vor Augen, wenn man anObdachlose denkt – selbst ich, der ich mich füreinen aufgeklärten Menschen halte. Wichtigist für mich in der Arbeit mit den obdachlosen

    Menschen, dass ich den Respekt niemals verliereund der Umgang immer menschlich bleibt. Zuschnell kann ein falsches Machtanspruchsden-ken als Mitarbeiter in einer sozialen Einrichtungzum Aufbau unnötiger Hierarchien führen.

    Ebenso unterschiedlich wie die Gäste der Not-unterkunft, sind auch die Mitarbeiter so einerNotunterkunft – da gibt es junge enthusiastischeStudenten, lebenserfahrene Rentner, mitten imLeben stehende Männer und Frauen, Menschenaus dem eher links-alternativen Milieu, oderauch einen ehemaligen Bundeswehroffizier, der

     jetzt selbstständig ist. Ganz unterschiedlicheMenschen mit sicherlich sehr verschiedenenBeweggründen, einer ehrenamtlichen Tätigkeitnachzugehen. Bei den allerwenigsten dürfte dieAufwandsentschädigung der Grund für ihre Tä-

    tigkeit sein - die meisten engagieren sich wohlaufgrund ihres sozialen Gewissens oder weil sieder Gesellschaft etwas zurückgeben wollen. Eswäre interessant, die Motivation oder den Le-bensweg des einen oder anderen Mitarbeitersin den nächsten Ausgaben vom strassenfeger  zu beleuchten. Ich denke, wir könnten da auf-schlussreiche Aspekte über die ehrenamtlicheTätigkeit erlangen.

     Wenn man sich theoretisch mit dem Ehrenamtbeschäftigt, dann lernt man, dass dieses in ganzunterschiedlichen Feldern ausgeübt werdenkann. In Vereinen, beim THW, als Gemeinde-ratsmitglied oder Schöffe beim Gericht, aberauch in sozialen oder kirchlichen Einrichtungen,beim roten Kreuz, bei der Telefonseelsorge oderin der Jugend- oder Flüchtlingsarbeit. Um dieBedeutung der geschätzten 100 Millionen Frei-willigen in der EU herauszustellen, wurde vomEuroparat das Jahr 2011 zum Europäischen Jahrder Freiwilligentätigkeit erklärt. Aber im Um-kehrschluss bedeutet dieses starke Engagement,dass viele Bereiche, gerade in der sozialen Arbeit,ohne ehrenamtliche Arbeit gar nicht mehr funk-tionieren würden, das schon jetzt sehr rissige so-ziale Netz nur noch eine Illusion wäre.

     Was bedeutet es nun aber für mich ganz persön-lich, eine ehrenamtliche Tätigkeit im mob e.V.auszuüben? Es bedeutet, dankbare und interes-sante Gäste, freundliche und nette Mitarbeiter ineinem tollen Team und die Gewissheit, eine nutz-bringende und notwendige Aufgabe auszuüben.

    Im Internet fand ich einen Artikel über mehrereStudien zum Thema Ehrenamt und freiwillige

    Arbeit und allesamt belegen, dass dies »nicht nurdenen etwas bringt, die Unterstützung erhalten:Die Ehrenamtlichen selbst werden ebenfalls be-lohnt – mit mehr als einem guten Gewissen. Sodeuten verschiedene statistische Untersuchun-gen darauf hin, dass Menschen mit Ehrenamtglücklicher sind und seltener depressiv werdenals solche, die sich nicht sozial engagieren. Häu-fig fühlen sich freiwillige Helfer auch körperlichgesünder. Dieser Effekt zeigt sich vor allem,wenn die Betreffenden der gemeinnützigen Ar-beit über einen längeren Zeitraum nachgehen.«

    Ob ich nun glücklicher und körperlich gesünderlebe, kann ich nach wenigen Monaten Arbeit inder Notunterkunft noch nicht sagen. Zufriede-ner bin auf jeden Fall - und inzwischen auch Mit-glied des Vereins mob e.V.

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      stras senfeger | N r. | März | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famosund preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

    AKTIONSKUNST

    »Fukushima The Aftermath«

    Am 11. März 2016 jährt sich die Reaktorkatastrophe vonFukushima zum fünften Mal. Internationale Künstler ausBerlin setzen sich mit Konzerten, Performances, Installatio-nen, Ausstellungen und Vorträgen an diesem Tag für eineEnergiewende ein. »Es liegt in unserer Verantwortung, dasThema ‚Fukushima‘ wachzuhalten. Dies sind wir denkommenden Generationen schuldig, die wir vor einer hochkontaminierten Welt bewahren müssen«, heißt es auf der

     Webseite zur Veranstaltung. Die Tänzer, Musiker undanderen Künstler werden mit ihren Darbietungen dasgesamte Gebäude der Werkstatt der Kulturen ausfüllen. Um19:30 Uhr wird es eine Podiumsdiskussion geben zum Thema»Fukushima: 5 Jahre nach der Katastrophe - Wie geht esweiter?«

    11. März, ab 16 Uhr • Ei ntritt frei

    Werksat der KulurenWissmannsraße 32

    12049 BerlinIno: www.werksat-der-kuluren.de

    MU SIK UND BEGEGNUN GEN

    Refugees' ClubAuch in diesem Monat treffensich Geflüchtete und Einheimi-sche wieder in entspannterAtmosphäre bei Getränken undSnacks, um kleine Konzerte zugeben, gemeinsam Musik zumachen, einander zuzuhören,Geschichten zu erzählen, insGespräch zu kommen, Hilfeanzubieten, neue Freunde zufinden und zu tanzen. Unter denGeflüchteten sind nicht seltenMusiker, Autoren und Künstler,die mit dieser Veranstaltung einForum erhalten sollen. Auchwerden Schauspieler desTheater-Ensembles sowieMusiker aus Potsdam zu derlockeren interkulturellen Sessionbeitragen.

    21. März, 18 Uhr • Eintritt frei

    Hans Oto Theaer/ReihalleSchiauergasse 16

    14467 PosdamIno: www.hansotoheaer.de

    AUSSTELLUNG

    DEMO:POLIS. Das Recht auf Öffentlichen Raum

    Der öffentliche Raum ist zum politischen Spannungsfeld geworden,seine Nutzung und Gestaltung zur Verhandlungssache der Zukunft.Die Öffentlichkeit stellt neue Ansprüche an die Grundprinzipien derDemokratie und an die Gestaltung des öffentlichen Raums, in demdiese verhandelt werden. DEMO:POLIS stellt die Breite der heutigenBedeutung des öffentlichen Raums vor. Beispielhafte Arbeiten, Filme,Modelle, Entwürfe, Konzepte von Künstlern und Architekten sowiepartizipative Modelle heben die Potentiale des öffentlichen Raumes fürunsere Zivilgesellschaft hervor. Parallel zur Ausstellung wird eszahlreiche Veranstaltungen geben. Die Ausstellungseröffnung findetam 11. März um 20 Uhr bei freiem Eintritt statt.

    12. März bis 29. MaiDi 14–22 Uhr, Mi–So 11–19 UhrEinrit: 8 Euro (normal), 5 Euro (erm.)bis 18 Jahre und diensags 18-22 Uhr: Einrit rei

    Akademie der KünseHanseaenweg 1010557 Berlin

    Ino: www.adk.deFoo: © Wermke/Leinkau 

    VORTRAG

    »Die Schwarze Macht«Mit den Eroberungszügen des IS im Jahr2014 schaffte es die Terrormiliz inunsere Medien und in die westlicheDebatte. Heute herrscht der »IslamischeStaat« über mehr als fünf MillionenMenschen und eine Fläche von derGröße Großbritanniens. SPIEGEL-Korrespondent Christoph Reuter gehörtzu den letzten westlichen Journalisten,die noch direkt aus Syrien und demNordirak berichten. In seinem Vortrag inPotsdam wird er die zentralen Thesenseines Buches »Die schwarze Macht«zusammenfassen. Die Veranstaltungfindet in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg, proWissenPotsdam e.V. und der LandeshauptstadtPotsdam statt.

    15. März, 19 bis 21 UhrEinrit: 5 Euro

    Wissenschafseage (4. OG)im Bildungsorum PosdamAm Kanal 47

    14467 PosdamIno: wis-posdam.de

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    VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

    senden Sie ihn uns an:

    [email protected]

     Je skurriler, amoser und

    preiswerer, deso besser!

    stras senfeger | Nr. | März TAUFRISCH & ANGESAGT | K u l t u r t i p p s

    FÜHRUNG

    Sakralarchitektur

    Viermal im Jahr präsentiert die OttoBartning-Arbeitsgemeinschaft»Berlins moderne Sakralarchitek-tur«. Die Organisation ist nicht»von der Kirche«, sondern einunabhängiger kleiner Verein, derInteressierten vor allem die BerlinerSakralarchitektur des 20. Jahrhun-derts unter architektonischen,künsterlerischen, sozialen - undauch religiösen Aspekten näherbrin-gen will. Am 13. März wird diekatholische Pfarrkirche St. Ansgar,ein Architekturklassiker aus den50er Jahren, vorgestellt werden.

     Wer will, kann vorher den Gottes-dienst um 10 Uhr besuchen undnach der Führung an einemArchitektur-Rundgang durch dasHansaviertel teilnehmen.

    13. März, 11:30 U hr, keine Kosten

    Treffpunk:Eingang Parrkirche S. AnsgarKlopsocksr. 3110557 Berlin (Hansavierel)

    Ino: www.oto-barning.de/berlin-modernFoo: Liane Nelius/wikipedia

     

    SPAZIERGANG

    AbendwanderungDie Waldschule Spandau lädt einzu einem Spaziergang durch denSpandauer Forst bei Dämmerungund Dunkelheit. Je nach Wetter undZufall können Spuren verfolgt,Fledermäuse belauscht, Wild-schweine beobachtet werden undvieles mehr. Zielgruppe sind Kinderab acht Jahre, Familien undErwachsene. Leiterin der abendli-chen Wanderung ist Elke Sobota-Baisch. Bitte wetterfeste Kleidung

    mitbringen!12. März, 18 bis 20 UhrTeilnahmebeirag: 5 Euro (Erw.),2,50 Euro (Kinder), 10 Euro (Familien)

    Anmeldung erorderlich:Tel: 030 / 336 30 55E-Mail: [email protected]

    Treffpunk:Niederneuendorer Allee 8113587 Berlin-Spandau(Bus 136 vom Rahaus Spandau Rich-ung Hennigsdor bis Haleselle »Bür-gerablage«, von dor 3 min FußwegRichung Havel)

    Ino: www.jibw.de/waldschule-spandau

    BENEFIZKONZERT

    »Beckmann spielt Cello«Gemeinsam gegen Kälte – so heißt nicht nur der Verein, den

    Thomas Beckmann, vielfach preisgekrönter Cellist, bereits1996 gründete. Unter dieser Überschrift ist Thomas Beck-mann derzeit auch auf Tournee im Sinne der guten Sache. Aufdem Programm in Berlin werden Werke von Vivaldi, Coupe-rin, Tschaikowsky, Kreisler, Chaplin und Baccherini stehen.Am Klavier wird der Cellist begleitet werden von KayokoMatsushita. Der Gewinn des Konzertes und die Spendengehen an obdachlose und hilfebedürftige Menschen - derKünstler verzichtet auf seine Gage. Schirmherr des Konzertsist der Regierende Bürgermeister von Berlin.

    22. März, 20 UhrKaren über die öffenlichen Vorverkaussellen,www.evenim.de oder an der Abendkasse:18,85 Euro - 34,15 Euro (normal), 8 - 15 Euro (ermäßig)

    Philharmonie BerlinKammermusiksaalHerber-von-Karajan-Sr. 110785 Berlin

    Ino: www.gemeinsam-gegen-kaele.deFoo: Monika König

    FILM

    »Der Wert des Menschen«Der wortkarge Thierry durchläuft als arbeitsloser Werkzeug-macher mit stoischer Gelassenheit den üblichen Kreislauf aus

     Weiterbildungen, Motivations-Coachings und immer neuenBewerbungen. Als er in einem Supermarkt eine Anstellung alsHausdetektiv findet, scheint sich sein Alltag zu stabilisieren.Doch der moralische Preis, den er dafür zahlen muss, ist ihmauf Dauer zu hoch. Dass er Menschen auflauern soll, denen esnoch schlechter geht als ihm selbst, hält er nicht mehr aus.Deshalb geht er einfach weg. Hauptdarsteller Vincent Lindonwurde in Cannes als »Bester männlicher Darsteller« ausge-zeichnet. Der Film aus dem Jahr 2014 ist 97 Minuten langund läuft auf Französisch mit deutschen Untertiteln.

    17.-19.3., 19:45 Uhr; 20.3., 20:15 UhrKaren: 6 Euro, donnersags 4 Euro

    Broabrik BerlinCaligariplaz 1

    13086 BerlinIno: www.broabrik-berlin.de

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      stras senfeger | N r. | März | TAUFRISCH & ANGESAGT A k t u e l l

    Es bleibt beim NeinCDU/CSU im Bundestag lehnen die Einführung einerWohnungsnotfallstatistik weiter abT E X T & F O T O : J u t t a H e r m s

    I

    n Deutschland wird sehr viel gezählt und erfasst, täg-lich kommen im E-Mail-Posteingang der strassenfeger -Redaktion neu veröffentlichte Daten des StatistischenBundesamtes an. Aber offizielle Zahlen dazu, wie viele

     Wohnungslose es in Deutschland gibt – Fehlanzeige. InFachkreisen wird seit Jahren eine bundesweite Statistik gefor-dert, die sowohl die Zahl der wohnungslosen als auch die Zahlder von Zwangsräumung bedrohten Menschen erfasst. Manmuss eine Situation kennen, um sie verbessern zu können,so die Argumentation. Jedoch lehnte die Union im Bundes-tag Initiativen zur Einführung einer solchen Statistik bislangimmer ab. Und hat es nun erneut getan: In einer Debatte imDeutschen Bundestag am 18. Februar lehnten CDU/CSU denAntrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Einführung einer

     Wohnungslosenstatistik ab.

    In ihrem Antrag fordern die Grünen den Bund auf, ein Rah-mengesetz für eine Wohnungsnotfallstatistik zu schaffen als»Basis für die nachhaltige Bekämpfung von Wohnungs-undObdachlosigkeit«. Wolfgang Strengmann-Kuhn, sozialpoli-

    tischer Sprecher seiner Partei, sagte in der Debatte, durchdie hohe Zahl von Geflüchteten werde die Zahl der woh-nungslosen und auf der Straße lebenden Menschen künftigvermutlich steigen. Man brauche »genaue Statistiken überdas Ausmaß, die Struktur und vor allem die Ursachen«von Wohnungslosigkeit. Man wisse auch nicht, wie hochder Anteil der EU-Bürger und jungen Menschen unter den

     Wohnungslosen sei. Das seien Zahlen, die auch den Bundinteressieren müssten.

    Matthias Zimmer, CDU, entgegnete in der Debatte, er befür-worte eine statistische Erhebung von Wohnungslosenzahlenvor Ort, frage sich aber nach dem »Mehrwert« einer Statis-tik auf Bundesebene. Eine solche Erhebung sei ein »perso-nalintensives Unterfangen«, die Kommunen »müssten dafürvermutlich Personal abstellen«. Wie man aber die regionalestatistische Erhebung verbessern könne, darüber könne mansich »sehr wohl unterhalten«.

    Thomas Specht, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemein-schaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), macht »eine offenbarfehlende fachliche Expertise in der Sache« bei dem CDU-Abgeordneten aus. Bereits 1998 habe eine vom StatistischenBundesamt durchgeführte Studie die Machbarkeit einer Woh-nungsnotfallstudie belegt. Nur der Bund sei in der Lage, fürbundeseinheitliche und vergleichbare Statistiken im gesam-ten Bundesgebiet zu sorgen. »Die bisherigen Erfahrungenzeigen, dass bereits innerhalb eines Landkreises oder einesRegierungsbezirkes die wenigen verfügbaren Zahlen oft nichtvergleichbar sind. In vielen Gemeinden und Kommunen feh-

    len aussagekräftige Zahlen sogar völlig«, so Specht. Dasseine bundesweite Wohnungsnotfallstatistik möglich sei, zeigeauch das Beispiel Nordrhein-Westfalen, wo seit 2011 landes-weit regelmäßig Daten erhoben würden.

    Von der BAG W stammen Schätzzahlen zum Ausmaß der Wohnungslosigkeit im Bundesgebiet. Die Organisation gingfür das Jahr 2014 von 335 000 Menschen ohne Wohnung inDeutschland aus und rechnet für die kommenden Jahre miteinem weiteren Anstieg um knapp 20 Prozent. Die Zahl derMenschen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben,schätzt die BAG W auf knapp 40 000.

    Als tiefer liegenden Grund für die seit Jahren ablehnendeHaltung der CDU/CSU zu einer Wohnungsnotfallstatistik

    sieht Volker Busch-Geertsema, Sozialwissenschaftler ausBremen, fehlenden politischen Willen. Seiner Ansicht nachkönnten Zahlen über die Entwicklung der Wohnungslosig-keit »ein wichtiges Frühwarnsystem für Fehlentwicklungenam Wohnungsmarkt und in anderen Bereichen« sein. Busch-Geertsema, der auch auf europäischer Ebene zum Thema

     Wohnungslosigkeit forscht, berichtet, mehrere EU-Länderhätten inzwischen Wohnungslosenstatistiken eingeführt,darunter Finnland, Schweden, Dänemark, Großbritannien,Irland und Frankreich.

    Thomas Specht fordert die für ein entsprechendes Rahmen-gesetz zuständige Umwelt- und Bauministerin Barbara Hen-dricks auf, »unverzüglich einen Gesetzentwurf erarbeiten zulassen«. Seine Organisation schlägt vor, im Zuge weitererAusschussberatungen »ein Hearing« abzuhalten, zu dem

     Wissenschaftler, Wohnungsverbände und die BAG W einge-laden werden sollten.Nich erass: In Deuschland wird die Zahl der Wohnungslosen offiziell nich erhoben.

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    srasseneger | Nr. | März TAUFRISCH & ANGESAGT | B r e n n p u n k t

    Mit Unterbringung

    ist es nicht getanIn der AG »Leben mit Obdachlosen« ging es am 10. Februarum die Qualität von Einrichtungen der KältehilfeB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    B

    erliner Kältehilfe im WandelDie Berliner Kältehilfe wurde ins Le-ben gerufen, um Obdachlose in Berlinvor dem Kältetod zu bewahren. In der

    Taborkirche haben die Obdachlosen in den ers-ten Wintern auf Stühlen gesessen Das habe ichmir von einem heute noch in der Kältehilfe en-gagiertem Mitglied des Gemeindekirchenratessagen lassen. Das hat sich inzwischen geändert.Heute sind Isomatte und Decke Standard. Auchin der Taborkirche. Die Einrichtungen der Berli-ner Kältehilfe haben sich in den über 25 Jahrenentwickelt. Nachtcafés und Notübernachtungenhaben schließen müssen. Oft waren nach Jahrennicht mehr genügend Mitarbeiter für das Betrei-ben der Einrichtung vorhanden und zu oft spartedie öffentliche Hand an den Ärmsten der Armen.Es sind natürlich auch neue Einrichtungen ent-standen. Es ist vorgekommen, dass Einrichtun-gen von den Obdachlosen nicht angenommen

    wurden. Eine warme Mahlzeit am Abend und einordentliches Frühstück am Morgen, heute Stan-dard in der Berliner Kältehilfe, waren am Anfangnicht selbstverständlich.

    Frühere Ansätze für NachtcafésIch habe mich 2003/2004 zusammen mit demdamaligen Herausgeber des strassenfegers  mitder Qualität von Nachtcafés beschäftigt. Ichhatte die Befürchtung, dass die Bezirke die klei-nen Einrichtungen nicht mehr finanzieren. Ichhatte einige Jahre Erfahrungen als Nutzer. Wich-tig war uns, dass Menschen, die auf der Straßeleben, grundsätzlich die Nachtcafés nutzenkönnen. Uns war wichtig, dass sie angenommen

    werden. Angenommen heißt, einen Menschen soakzeptieren wie er ist. Auch in der AG »Lebenmit Obdachlosen« gab und gibt es immer wiederStimmen, die auf Eingliederung in das offizielleHilfesystem drängen. Für uns zählte der freie

     Wille des Gastes. Deshalb war und ist VertrauenBasis jeder Unterstützung. Mit Unterbringung istes nicht getan. Erst wenn die Mitarbeiter den Gastals Mensch kennen gelernt haben und Vertrauenaufgebaut ist, kann nachhaltig geholfen werden.Ansätze zu Workfare helfen nicht auf Dauer.

    Standard in den Nachtcafés waren Isomatte undDecke. Oft gab es Bettwäsche. In den Jahren wa-ren Kleiderläuse und Krätze immer wieder The-men unter Obdachlosen. Deshalb wollten wirBettwäsche zum Standard machen. Toilette mitfließend kaltem Wasser sowie Seife und Hand-

    tuch sollte Mindeststandard für die persönliche Hygiene derGäste sein. Viele Nachtcafés waren und sind in Gemeinderäu-men und Kirchen. Da ist die Einrichtung von Duschen oft ext-

    rem schwierig. Aus diesem Grund haben wir auch hinsichtlichder Anzahl benötigter WC-Becken keine Vorgaben gemacht.Aus eigenem Erleben weiß ich, das ging morgens n der Kirchenicht immer konfliktfrei ab, aber es ging. Heute weiß ich umandere Gesundheitsgefahren: TBC und Magen-Darm-Infekti-onen. Adäquate Reaktion auf neue Herausforderungen gehörtzur Hygiene.

    Ein gutes Beispiel aus der PraxisDas Nachtcafé ist für alle Menschen, die sonst auf der Straßeschlafen müssten, offen. Das zwangsweise Zusammenlebenauf engem Raum ist nicht frei von Konflikten. Hier ist einzu-greifen, wenn sie zu eskalieren drohen. Das ist in kleinerenEinrichtungen mit 15 Schlafplätzen leichter als bei großen.Arbeit in der Kältehilfe ist Arbeit mit Menschen. Es geht um

    Schutz und um Vertrauen.Bei jeder Übernachtung sind zwei Mitarbeiter, die die ganzeNacht ansprechbar sind, die Gäste kennen und akzeptierenlernen, auch eingreifen, wenn es unbedingt erforderlich ist,anwesend. In vielen Einrichtungen der Berliner Kältehilfearbeiten die Mitarbeiter nur einige Stunden. Die Gäste ha-ben es da schwer, die Mitarbeiter kennenzulernen.

    Das Nachtcafé wird in den Räumen eines Tagestreffpunkts fürwohnungslose Menschen organisiert. Waschmaschine und Du-sche sind vorhanden und werden genutzt. Bei Problemen mitder Organisierung des Überlebens kann ich ebenso mit meinenErfahrungen helfen wie bei Problemen mit Ämtern. Und wo ichnicht weiter weiß, kann die Beratung durch die professionelleSoziarbeiterin des Wohnungslosentreffpunkts weiter helfen.Ein allgemeinpraktizierender Arzt ist Mitglied des Trägerver-eins. Er untersucht und heilt Obdachlose ehrenamtlich.

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      stras senfeger | N r. | März | TAUFRISCH & ANGESAGT V e r e i n

    Das Kaffee Bankrot während des

    Wohnzimmerkonzers

    Unsere Barrau Paricia hate alle Hände

    voll zu un

    Die Nanofish Dippers unplugged 

    Essen gab es umsons. Wer Lus hate,

    konne ewas in die Spendenbox weren.

    Viola & Marian machen sehr schöne Musik!

    Die Liedermacher Basi & Max 

    Die Kinder siegen in die Hamburger-Produk-

    ion ein und waren sehr glücklich dami

     Auch eine sehr junge Musikerin ha Gäse

    während des Wohnzimmerkonzers begeiser

    Live-Musik im Wohnzimmer

    unserer obdachlosen Gästebei mob e.V.»Kiezabend – Wer ist dein Nachbar?« im Kaffee BankrottB E R I C H T : A n d r é B e r g u n d M a r a F i s c h e r

    Am 26. Februar fand erstmalig ein Wohnzimmer-

    konzert bei mob e.V. im Kaffee Bankrott statt.Seit Oktober 2015 teilt sich unsere Notunter-kunft für Obdachlose ein Gebäude mit geflüch-teten Menschen. Bisher verlief diese Nachbar-

    schaft sehr angenehm, aber eben auch ohne dass wir unsbislang besser kennengelernt hätten. Ebenso das Kaffee Ban-krott, unser Sozialwarenkaufhaus Trödelpoint, Büros und dieRedaktion des strassenfegers befinden sich in unmittelbarerNachbarschaft des Flüchtlingsheims. Aber der Kiez bestehtnicht nur aus mob e.V. und Flüchtlingsheim. Es gibt da nochBüros, Wohnungen, Geschäfte und jede Menge Menschen –eben alles, was so ein Kiez zu bieten hat.

    Hintergrund der Aktion ist folgender: Der Verfassungsschutzwarnt vor der Obdachlosen-Initiative »Deutsche helfen Deut-schen«. Es wird eine Stimmungsmache gegen Flüchtlingeunter dem Deckmantel des Engagements für Obdachlosefestgestellt – das beklagen viele Mitarbeiter der Wohnungslo-

    senhilfe in Berlin. Auch der mob e.V. erhält Mails

    von »besorgten« Bürgern, die unbedingt etwasfür die Deutschen tun wollen. Da wir bundesweitdas einzige Haus sind, in dem Flüchtlinge undObdachlose friedlich unter einem Dach »woh-nen«, wollten wir ein Zeichen setzten. Dass wirgemeinsam in einer guten und friedlichen Nach-barschaft leben und solidarisch miteinanderumgehen. Die Nationalität spielt bei uns keineRolle. Wer Hilfe benötigt, bekommt diese auch.

    Eine Idee war geboren, ein Kiezabend zumKennenlernen in unserem Wohnzimmer fürobdachlose Menschen, dem Kaffee Bankrott.Glücklicherweise erklärten sich nette Menschenbereit, die Organisation und Vorbereitung zuübernehmen. Aus einer privaten Initiative her-aus wurden schnell viele Helferinnen und Hel-fer gefunden, die sich mit der Idee identifizieren

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    stras senfeger | Nr. | März TAUFRISCH & ANGESAGT | Verein

    konnten. Es fanden sich die Band Nanofish Dippers, aber

    auch Liedermacher und Musiker ohne Namen, die uns ohneGage mit Live-Musik begeisterten, s