Wiederholung – Eine Grundsätzliche Kategorie

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Archiv für Musikwissenschaft AfMw Band 70 • 2013 • Heft 1 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Wiederholung – Eine grundsätzliche Kategorie nicht nur der Musik von MARTIN ZENCK Regarding repetition in music and in painting, where the significance of the repetitive is less obvious than in music, assumptions are informed by two fundamental preconditions. For one, the thematically significant opposition between the non-repeatable/the unique and repetition has its origin in the corresponding closed and open structure in myth; for another, it is linked to life-cycle rituals, which, although determined by constant repetition, depend on an authentic moment of origin, that is, on unicity. Using the models of Karel Goeyvaerts, Steve Reich, Robert Rauschenberg, Lee Ufan, and Luigi Nono, the following study attempts to reference the aesthetic contrast between repeatability and oneness to that of postmodernity/ minimal art and modernity/avant-garde. I. Wiederholbarkeit - Einmaligkeit Dem Phänomenologen der „Aufmerksamkeit“, Bernhard Waldenfels 1 , ist es nicht ver- borgen geblieben, dass mit der „Wiederholung“ eine ästhetische Opposition aufgerufen wird: Während die eine Seite auf Unwiederholbarkeit, Einmaligkeit, Originalität von Ereignissen besteht, geht die andere im Anschluss an wiederkehrende Rhythmen in den Natur- und Lebenszyklen 2 von der Wiederholbarkeit aus, deren tieferer Sinn gerade in der Bestätigung und „Rekonstruktion“ von Ereignissen liegt. – Wie gezeigt wird, kann diese allzu vereinfachende Entgegensetzung von Wiederholbarkeit – Nicht-Wiederholbarkeit in dieser Weise nicht aufrecht erhalten werden, weil sich geradezu paradox die rituelle Beglaubigung von ersten Ereignissen auf die Einmaligkeit von Ursprungsphänomenen bezieht. Damit stehen sich also nicht Unwiederholbarkeit und Wiederholbarkeit ei- nander unverbunden gegenüber, sondern es scheint sich so zu verhalten, dass gerade ein Ursprungsphänomen wie Christi Geburt, die Kreuzigung (Ereignisse also, die eine neue Zeitzählung nahe legen) oder der 11. September 2001 auf rituelle Wiederholung angewiesen ist: Eine bestimmte Zeremonie oder ein Fest stellt im Sinne eines „illud tempus“, einer Auszeit, dieses ursprüngliche Ereignis immer wieder her, beglaubigt es 1 Bernhard Waldenfels, Die verändernde Kraft der Wiederholung, in: Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft 46/1, 2001, S. 5-17. 2 Vgl. dazu Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M. 1999 (dort vor allem den Absatz „5. Lebenszyklen und Klangrhythmen“, S. 66-75). Urheberrechtlich geschtztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

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Repetition - Wiederholung

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Wiederholung – Eine grundsätzliche Kategorie nicht nur der Musik

von

MARTIN ZENCK

Regarding repetition in music and in painting, where the significance of the repetitive is less obvious than in music, assumptions are informed by two fundamental preconditions. For one, the thematically significant opposition between the non-repeatable/the unique and repetition has its origin in the corresponding closed and open structure in myth; for another, it is linked to life-cycle rituals, which, although determined by constant repetition, depend on an authentic moment of origin, that is, on unicity. Using the models of Karel Goeyvaerts, Steve Reich, Robert Rauschenberg, Lee Ufan, and Luigi Nono, the following study attempts to reference the aesthetic contrast between repeatability and oneness to that of postmodernity/minimal art and modernity/avant-garde.

I. Wiederholbarkeit - Einmaligkeit

Dem Phänomenologen der „Aufmerksamkeit“, Bernhard Waldenfels1, ist es nicht ver-borgen geblieben, dass mit der „Wiederholung“ eine ästhetische Opposition aufgerufen wird: Während die eine Seite auf Unwiederholbarkeit, Einmaligkeit, Originalität von Ereignissen besteht, geht die andere im Anschluss an wiederkehrende Rhythmen in den Natur- und Lebenszyklen2 von der Wiederholbarkeit aus, deren tieferer Sinn gerade in der Bestätigung und „Rekonstruktion“ von Ereignissen liegt. – Wie gezeigt wird, kann diese allzu vereinfachende Entgegensetzung von Wiederholbarkeit – Nicht-Wiederholbarkeit in dieser Weise nicht aufrecht erhalten werden, weil sich geradezu paradox die rituelle Beglaubigung von ersten Ereignissen auf die Einmaligkeit von Ursprungsphänomenen bezieht. Damit stehen sich also nicht Unwiederholbarkeit und Wiederholbarkeit ei-nander unverbunden gegenüber, sondern es scheint sich so zu verhalten, dass gerade ein Ursprungsphänomen wie Christi Geburt, die Kreuzigung (Ereignisse also, die eine neue Zeitzählung nahe legen) oder der 11. September 2001 auf rituelle Wiederholung angewiesen ist: Eine bestimmte Zeremonie oder ein Fest stellt im Sinne eines „illud tempus“, einer Auszeit, dieses ursprüngliche Ereignis immer wieder her, beglaubigt es

1 Bernhard Waldenfels, Die verändernde Kraft der Wiederholung, in: Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft 46/1, 2001, S. 5-17.

2 Vgl. dazu Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M. 1999 (dort vor allem den Absatz „5. Lebenszyklen und Klangrhythmen“, S. 66-75).

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durch eine sich wiederholende rituelle Handlung: Das Einmalige kehrt sozusagen im festlichen und auch schmerzlichen Vollzug wieder, um das ausgezeichnet Vergangene zu vergegenwärtigen: es auf der einen Seite also für die Erinnerung verletzend wach-zurufen, auf der anderen es gerade dadurch in seiner peinigenden Kraft zu lindern und zu versöhnen, indem durch das Ritual der Wiederholung das schmerzliche Ereignis handelnd und eben nicht sprechend vollzogen wird (etwa das Gedenkkonzert des New York Philharmonic Orchestra mit Mahlers „Auferstehungs-Sinfonie“ unter seinem Chefdirigenten Alain Gilbert zum 11. September, das vom Konzertsaal für eine breite Öffentlichkeit auf die Plätze des Lincoln-Center und dann zeitgleich auf arte übertragen wurde). Dies Paradox kann einem unveröffentlichten Brief des Komponisten und Pianis-ten Eduard Steuermann vom Sommer 1962 an seinen lebenslangen Freund Theodor W. Adorno entnommen werden: „…wir standen damals [Anfang 1930] gemeinsam nachts bei scheusslichem Wetter auf der Main-Bruecke im tiefsten Gespräch über Marxismus, Zwölftonkomposition und Freud unter dem Begriff der ewigen Wiederholung der ersten Ereignisse[…]3“. Hier ist deutlich Bezug genommen auf die Ritualität der Wiederho-lung gerade der ersten Ereignisse mit Bezug auf Freud, der in seiner epochemachenden Schrift „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht hat. Gerade einmalige, am Anfang eines Nullpunkts einer Entwicklung stehende Ereignisse, müssen, wenn ihre bannende Kraft überwunden werden will, solange „ewig wiederholt“ werden, bis sie gleichsam, durch die ständige Wiederholung abgelebt in der Erinnerung zurückbleiben können und ihre traumatisierende Wirksamkeit damit verloren haben. Dies kann im zitierten Brief als von besonderer Bedeutung ausgewiesen werden, dass jemand wie Steuermann, der exilierte Schönberg- und Busoni-Schüler, der es als Pianist und Klavierlehrer an der Julliard School als selbstverständlich ansah, während des Übens und der Proben, die im Französischen und im Englischen auch „Répétitions“/“Repetitions“ genannt werden, bestimmte Passagen zu wiederholen, um sie besser zu spielen, auch um sie zu vertiefen. Dagegen zeigen Steuermanns Kom-positionen, dass sie das von der freien Atonalität herrührende „Wiederholungsverbot“ formaler Strukturen strikt berücksichtigen. Es gibt also auch hier eine Verbindung von vertiefender Wiederholung in der Aufführungspraxis, also dem performativen Aspekt der Repetition und einem kompositorischen Verfahren, das relativ konsequent unmittelbare wie mittelbare Wiederholungen innerhalb der musikalischen Form vermeidet. Im Anschluss an Bernhard Waldenfels kann davon ausgegangen werden, dass sich mit der ästhetischen Opposition von Wiederholbarkeit und Unwiederholbarkeit diejenige von Post-Moderne und Moderne verbindet. Die Post-Moderne, vor allem die serienmä-ßig hergestellten kulturindustriellen Produkte und deren Imitation in der Pop Art Roy Lichtensteins, Andy Warhols (und auch in Klammer Robert Rauschenbergs) sucht im repetitiv-serienmäßigen Verfahren eine Bindung an rituell lebensweltliche Strukturen

3 Brief von Eduard Steuermann an Theodor W. Adorno vom Sommer 1962, Library of Congress, The Edward and Clara Steuermann-Collection, BOX 3, Folder 2 (vgl. dazu Martin Zenck: “alt und jung – eduard steuermann und theodor w. adorno. Versuch einer Neubewertung anhand der Briefe“, in: NMZ 5/11, S. 55-57 (dort insbesondere S. 56/57).

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der Wiederholung, während die Moderne und Avantgarde sich in der Insistenz auf der Einmaligkeit ästhetischer Ereignisse von derlei lebensweltlichen Repetitionsmustern zu distanzieren sucht: als irreduzible Gegenwelt zur serienmäßigen Produktion und Re-produktion der Alltagswelt. In dem einen Fall geht es also gerade darum, in der Kunst lebensweltliche Repetitionsmuster zu wiederholen oder zumindest diese nachzuahmen, während die Kunst der Moderne in einem ausgesprochenen Dissens mit dieser eben durch Wiederholung gekennzeichneten Lebenswelt zu stehen kommt. Diesem hier erst einmal nur angedeutetem Phänomen des Zusammenhangs zwischen ritueller Lebens-struktur und der Anverwandlung solcher, sich wiederholender Vorgänge in der Kunst wird später noch ausführlicher nachgegangen werden.

II. Einmaligkeit der minimal music von Karel Goeyvaerts

Mit dem Komponisten Karel Goeyvaerts sei ein Künstler der minimal music avant la lettre vorgestellt, dessen repetitive Verfahren in seinem fünfteiligen Litanei-Zyklus vermutlich deswegen so einzigartig geraten sind, weil sie das strikt serielle und auf Einmaligkeit ausgerichtete Verfahren seiner frühen seriellen Musik der 1950er Jahre, vor allem seiner Sonate für zwei Klaviere4, zur Voraussetzung haben. Wir haben es also hier mit einem differenzierten Modell der Verknüpfung von Singularität und Repetitivität zu tun, um den anfangs allzu schlicht eröffneten Gegensatz von Wiederholbarkeit und Nicht-Wiederholbarkeit auch von Seiten der Musik zu überwinden. Zunächst sei mit dem in jeder Hinsicht außerordentlichen Klavierstück der Litanie I von 1979 begonnen, von der es eine legendäre Aufnahme5 in der Interpretation mit der Pianistin Kristina van Damme gibt:

4 Vgl. zur spezifisch chiastischen Konstruktion dieser Sonate: Martin Zenck, Karel Goeyvaerts und Guillaume de Machaut. Zum Mittelalterlichen Konstruktivismus in der seriellen Musik der fünfziger Jahre, in: Mf 43, 1990, S. 336-351; vgl. insbesondere zum Chiasmus die Abbildungen auf den Seiten 344-345.

5 Kristina Van Damme, Litanie 1 (1979) auf Megadisc. Classics 1994: Karel Goeyvaerts, Litanie.

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Beispiel 1: Partitur6, erste und letzte Seite

6 Karel Goeyvaerts, Litanie I, Brussels 1980.

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Was wir hören, was wir am Klavier spielen, was wir beim Partiturstudium bemerken, ist ein additives und zeitdehnendes Verfahren des Komponierens, das keinem orga-nischen oder vegetativen Modell der romantischen Musik folgt, sondern einem anti-organischen des Zusammensetzens von gleichsam leblosen Partikeln, rhythmischen patterns, die wiederholt, geringfügig verändert, dann um neue Partikel erweitert, dann wieder verkürzt werden, um dann wiederum durch neue rhythmische Muster gestreckt zu werden, wobei durch das additive Verfahren ein Prozess der Zeitdehnung in Gang gesetzt wird. Nicht zufällig heißt ein Titel eines frühen Werkes von Karel Goeyvaerts (seines op. 3 „Met gestreken en geslagen Tonen“ von 1952), mit Tönen also, die auf der einen Seite perkussiv pointiert und gehämmert werden wie im martellato, auf der anderen die Streckung und Dehnung der Töne, wobei sich dies statische Verfahren der 50er Jahre wirklich auf Pedal-Klänge bezog und nicht wie in der Litanie I auf eine Deh-nung von Zeitstrecken, die durch das Zusammen-Setzen von vergleichbaren oder auch neuen rhythmischen Mustern erreicht wird. Es ist also, so die These, die Entdeckung der minimal art bei Karel Goeyvaerts seit den späten 1970er Jahren keine radikale Abkehr vom seriellen Denken der frühen fünfziger Jahre, sondern formale und äußerst strenge Konstruktionsprinzipien werden auf die minimal music des Litanien-Zyklus projiziert. Wie in der früheren Sonate für zwei Klaviere von 1951 kann auch in der Litanie I ein strikt symmetrisches Verfahren durch die Rückläufigkeit, einer retrograden Wiederho-lung beobachtet werden.

III. Différence et répétition (Deleuze) und Foucaults Lesart einer zirkulär sich wiederholenden Struktur des Labyrinths

Auf unser Hauptthema bezogen heißt dies: dass trotz der variativen Wiederholbarkeit und inmitten von ihr so etwas wie Einmaligkeit und Differenz entsteht. Dieser Sachverhalt kann denn auch auf Gilles Deleuzes epochemachendes Werk Différence et répétition (Differenz und Wiederholung) bezogen werden, wo Differenz nicht durch anderes oder gar neues erzeugt wird, sondern nur durch und inmitten von Wiederholung entsteht. Eine besondere Bedeutung erlangt bei Deleuze die Wiederholung als simultanes Phänomen in der reihenmäßigen Versstruktur. Er unterscheidet eine „répétition-mesure“ von einer „répétition rythmique“7, also eine metrische Wiederholung, vor deren Folie sich gleich-sam verborgen im Hintergrund eine differenziert rhythmische Artikulation verbirgt. Obwohl Deleuze diesen Sachverhalt nicht an einem musikalischen Modell entwickelt, lässt er sich etwa auf Schönbergs neuntes Lied Aus dem Buch der hängenden Gärten beziehen. Dort kann das heißen, dass eine bestimmte sich wiederholende Metrik und Prosodie des George-Gedichts „Wenn ich heut nicht deinen Leib berühre/muß der Faden

7 Gilles Deleuze, Différence et répétition, Paris 2011 (1968), S. 32; vgl. dazu Martin Zenck, La différence dans et à travers la répétition dans la musique et la peinture. Conséquences théoriques de la lecture de Différence et répétition (1968) de Gilles Deleuze, in: Deleuze et la musique. Filigrane 13, Premier semestre 2011, S. 29-44.

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meiner Seele reissen“ von den oratorischen Akzenten gegenrhythmisch aus unterbro-chen wird, so dass sich eine regelmäßig repetitive Versstruktur und eine relativ freie, expressionistische Akzentsetzung einander überlagern. Einige, vor allem Vokalisten, Komponisten und Musikologen mögen diese Einsicht für trivial halten, sie macht aber deutlich, dass Deleuze das Verhältnis von „Répétition“ und „Différence“ auch simultan konzipiert, dass sich vor der Folie von Wiederholung gleichzeitig rhythmische Diffe-renzierung und damit die „différence“ vollzieht. Und dies ist eine Erkenntnis, die auch für die Bestimmung der minimal art/minimal music von Bedeutung sein dürfte. – Mit der Raummetapher und mit dem konkreten Raum des Labyrinths hat Michel Foucault8 denn auch versucht, dieses Buch „Différence et répétition“ von Deleuze vom minoischen Labyrinth aus zu rezensieren. Er erinnert an die zirkuläre Struktur des Labyrinths, den Kreis, der sich zwischen dem Eingang und dem Ausgang des Irrgartens schließt, wobei eben zwar mit dem Ausgang der Eintritt in den Irrgarten wieder erreicht ist, aber nur vermöge der ontologischen Differenz, weil derjenige/diejenige, die sich im Labyrinth verirrt hat, zwar bei einigem Glück des Ausgang wieder findet, aber dort angekommen: er/sie ein anderer/andere ist, als beim Betreten des Irrgartens. Das mag die Doppelbe-deutung des Ausgangs als exitus, als Heraustreten aus einem Ort/einer Landschaft und als mit dem Tode verbundenes Heraustreten aus dem Leben signalisieren. Es darf hier an einen Sachverhalt erinnert werden, dass es zu dem entscheidenden Paradox des 17. und 18. Jahrhunderts gehört, dass im Zeitalter der Aufklärung und der Totalisierung von Vernunft ausgerechnet das Labyrinth9 die höchste Konjunktur hatte, wie es sich in der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts abzeichnet und mit Umberto Ecos Studien zum Labyrinth auf den Punkt gebracht worden ist. Das Labyrinth ist denn auch, vor allem im denjenigen von Versailles und im gleichnamigen Stück von Marin Marais ein Modell, in dem sich Wiederholung und Nicht-Wiederholbarkeit wegen des Umherirrens auf ge-radezu unheimliche Weise durchdringen. Aus dem Kreis glücklich herausgetreten, um dann den ganzen Vorgang nochmals zu wiederholen, ist es doch zugleich tödlich, wenn sich der Zwang wiederholt, eine einmal eingeschlagene Richtung erneut aufzusuchen, ohne dies zu erkennen.

IV. Ästhetik des Ereignisses und in ihr: das Besondere der Wiederholung

Nachdem bisher versucht wurde, über die Musik von Karl Goeyvaerts und über die Philosophie von Gilles Deleuze die minimale Abweichung in und vor der Folie der Wiederholung als Unterschiedenes zu markieren, sei im nächsten Schritt von der

8 Michel Foucault, L’Ariadne s’est pendue (deutsch: Ariadne hat sich erhängt, in: Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften, Erster Band, Frankfurt a. M. 2001, S. 975-979).

9 Vgl. dazu Martin Zenck, The Labyrinth as a space and a form of knowledge. Reflections about this topic in philosophy, the arts and in the gardens, in: Inszenierung und Effekte. Die Magie der Szenografie (= Reihe Szenografie und Szenologie), hg. von Ralf Bohn und Heiner Wilharm, Bielefeld 2013, S. 235-255, vgl. insbesondere zum Labyrinth in der Encyclopédie, S. 237-241.

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Gegenseite ausgegangen von der Unwiederholbarkeit und der Ereignishaftigkeit be-stimmter Phänomene in der Moderne und Avantgarde. Der Anfang wird nicht zufällig mit einem Plädoyer von Kandinsky gemacht, der jede Form des Klassizismus, also der verändernden Wiederkehr bestimmter Formen und Stile auf geschichtlich verschie-denen Levels, für eine „Totgeburt“ hielt und mit dem „Blauen Reiter“ eine Kunst der Neu-Setzung forderte, die sich von der Tradition vollkommen loslöst. Es ist hier nicht der Ort, diese programmatischen Manifestationen der Moderne mit ihren auch frag-würdigen Allianzen mit der Barbarei im frühen 20. Jahrhundert darzustellen. Es reicht hier vollkommen, die radikale Entgegensetzung von ganz alten, archaischen Kulten und einer ganz neuen Kultur in Erinnerung zu rufen, wie sie der „Blaue Reiter“ von 1912 festgehalten hat. Es ging jeweils um das Neue, das gegenüber der ausgelaugten europäischen Kultur im Vorgriff auf Husserls Krisisschrift des europäischen Geistes von 1931 behauptet wurde. Dies Neue wurde auf der einen Seite in der Rekonstitution ganz alter slawischer Riten etwa beim frühen Kandinsky und in Stravinskys und Nico-las Roehrichs Sacre du printemps gesehen, auf der andere eben in einer vollkommenen Neubestimmung der Farbe, des Tons und des Tonsystems. Es ist deswegen kein Zufall, dass die Werke der freien Atonalität um 1910, also Weberns Quartett-Sätze op. 5 und 9, Schönbergs Klavierstücke aus op. 11 und 19 und Alban Bergs Klarinettenstücke op. 5 zumindest tendenziell von einem „Wiederholungsverbot“ ausgingen, um die absolute Einmaligkeit und Originalität eines Werks zu behaupten und es auch in dieser Weise in der Aufführungspraxis durchzusetzen. Auch wenn dieser ästhetische Anspruch jüngst durch die Würzburger Dissertationsschrift „Vers und Atonalität“10 von Konstantin Voigt in Zweifel gezogen wurde, bleibt doch zumindest der Versuch bestehen, Form nicht mittels sich ausdrücklich wiederholender Formteile zu garantieren, sondern Form frei von unten, vom Materialprozess aus zu komponieren. Dabei konnte zwar durchaus in extremer Verkürzung am Ende eines Stücks – wie in Weberns drittem Quartettsatz aus op. 5 oder in der vierten der Bagatellen aus op. 9 – der Beginn des entsprechenden Stücks als „Geste“ Erinnerung gerufen werden, aber nicht um die Form zu runden und abzuschließen, sondern um über sich selbst hinaus, auf unerhört Neues hinzuweisen. Es ist nicht schwer, diesen Prozess der Moderne vom frühen 20. Jahrhundert bis hin zur Avantgarde etwa der späten Werke von Luigi Nono in den 1980er Jahren zu verfolgen, um die extreme Spannung von Un-Wiederholbarkeit und einmaliger Wiederholung aufzusuchen. Wenn hier, wie in Nonos No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkovskij11, etwas wiederholt wird: ein Klangfragment, dann wird diese Wiederholung zu einem Ereignis sondergleichen. Es ist – wie die gewaltigen Klangexplosionen ein-zelner Fragmente – dann in der Tat bei der Wiederholung etwas nicht die musikalische Zeit Vereinheitlichendes, sondern sie Zersprengendes. Gerade die Wiederholung wird

10 Konstantin Voigt, Vers und Atonalität. Verfahren der Textvertonung in den frei atonalen Liedern Arnold Schönbergs und Anton Weberns, Phil Diss. Würzburg 2010.

11 Vgl. dazu die gerade erschienene essentielle Studie von Erik Esterbauer, Eine Zone des Klangs und der Stille. Luigi Nonos „Orchesterstück 2° No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij“, Würzburg 2011.

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zur alles entscheidenden Einspruchsinstanz gegen eine homogene, linear verlaufende, syntaktisch gegliederte und final gerichtete Zeitvorstellung. Aber dies ist nur denkbar inmitten eines äußerst fragmentaren Zusammenhangs, in dem die einzelnen Bruchstücke für sich stehen: isoliert, heraus gebrochen aus einem Steinbruch, keinem Ganzen. Der Wiederholung eignet hier etwas Außerordentliches, etwas „Unerhörtes“12 an, das im Sinne von Bernhard Waldenfels etwas „Unwiederholbares“ bezeichnet. Sie ist heraus-gehoben und verbindet zwar einige Male das jeweilige Wiederholungsfragment mit dem Beginn oder einem früheren Fragment in diesem Orchesterstück Nonos, aber nicht, um einer Rückversicherung der Form willen, sondern um die Isolierung des Disparaten nur noch zu intensivieren.

V. Rituelle stereotype Lebensstrukturen und ihre Spiegelung in der minimal art/minimal music

Von einer engen Verknüpfung der minimal art mit stereotyp-rituell wiederholten Lebens-strukturen war bereits die Rede. Dieser Reproduktion von Lebenswelt in der Kunstwelt ist nun näher nachzugehen. Zunächst ist der Sachverhalt wichtig, dass wir uns ständig in unserem Tun wiederholen, um eine an sich anarchisch offene und freie Zeit zu regu-lieren, sie zu quanteln, Abläufe zu ordnen, in denen sich Vorgänge wiederholen, weil nicht alles frei in jedem Augenblick erfunden werden kann. So ist die Wiederholung eine sinnvolle Konvention, eine gesellschaftliche Verabredung von funktional gehand-habten Zeichen, innerhalb derer wir uns bewegen und uns mit anderen treffen. Diese Konvention steht zwischen der vollkommenen Unverfügbarkeit von Zeitmarken und dem Wiederholungszwang, diese Zeitmarken wie aus dem Automaten ziehbare Tickets zu benutzen. In diesem Sinne können denn auch zunächst die ganz einfachen, sich wie-derholenden rhythmischen pattern der minimal music verstanden werden. Aber auch, wenn sie sich nicht verändern, verschiebt unsere entweder konzentrierter werdende oder nachlassende Aufmerksamkeit diese rhythmischen Grundmuster: entweder wer-den sie immer mehr ineinander gehört oder werden auseinander gezogen, wie in einem Teleskop, das die Dinge fokussiert oder sie distanziert. Da die intelligentere minimal music – etwa von Steve Reich in Drummings – aber entweder diese pattern ohnehin auf verschiedene Schlagwerke verteilt, wodurch sie sich auch in ihrer Klanglichkeit, ihrem Timbre unterscheiden und sie dann entweder noch diese rhythmischen Grundmuster ei-nander überlagern lässt oder zusätzlich Störmomente einbaut, entsteht ein Wechselspiel zwischen organisierter Juxtaposition (Nebeneinanderstellung), Transposition (Überla-gerung) und sich mit der Wahrnehmung nach und nach einstellenden Verwischung der distinkten Schlag- und Perkussionsimpulse. Ein deutlicher Höhepunkt im Gesamtwerk von Steve Reich liegt in dem Stück Tehillim, das neben den Perkussionsinstrumenten, Blasinstrumenten vor allem auch Vokalstimmen einbezieht. Der Vergleich zwischen

12 Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen, S. 198.

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der minimal art und der minimal music ist immer wieder gezogen worden, scheitert aber sowie die gezogene Parallele zwischen dem abstrakten Expressionismus der New Yorker Schule und dem amerikanischen Werk Stefan Wolpes der fünfziger Jahre an der ungeklärten Frage nach der grundsätzlich möglichen Intermedialität von Bild und Mu-sik13, optischem und akustischem Medium. So sehr sie sich gegen- und wechselseitig bedingen mögen, so unterschiedlich sind ihre Zeichensysteme, so different sind ihre Präsentationen durch Ausstellungen und Performances, vor allem wenn auf den basalen Unterschied der Sinne des Hörens14 und Sehens eingegangen wird, die der Musik und dem Bild jeweils zugrunde liegen. Deswegen sei an dieser Stelle dieser Frage nicht grundsätzlich nachgegangen, weil sie eine sehr differenzierte Bestimmung sowohl der Selbstbegründung der verschiedenen semiotischen Systeme voraussetzt als auch eine intensive Diskussion, was die Exponate einer Ausstellung von Werken der minimal art im Verhältnis zur Performance von Stücken der minimal music an Konsequenzen für den Betrachter und Hörer nach sich ziehen. Vorausgesetzt man ist als Hörer überhaupt in der Lage bilderlos zu hören und nur der körperlich energetischen Kraft der Musik zu folgen und sie also eher bewegungsmäßig im doppelten Sinn auf sich wirken zu lassen, bzw. sie zumindest in der Vorstellung als Bewegungssuggestion im Sinne des späten Wittgenstein der „Philosophischen Untersuchungen“ zu „verstehen“, dann ist es auch einigermaßen abwegig, die Wahrnehmung von Musik auf eine jeweils nur äußerlich bild-hafte Vorstellung zurückzuführen. Es ist also überhaupt nicht hilfreich, aus der Malerei der minimal art gewonnene Einblicke und Einsichten auf die minimal music zu übertragen und wenn hier diese Medien einander gegenüberstellt werden, so nicht in der Absicht, ihre ineinander fallende Kraft hervorzuheben, sondern sie so als ästhetische Objekte zu belassen, wie sie sind und wie sie für sich sind. Sie können ja zusammen gehört und zusammen gesehen werden, aber eben ohne eine Form der zwanghaften Übertragung. Vielleicht ist dazu eine entscheidende Vorbedingung und Erfahrung diejenige, dass diese beiden Medien, je mehr wir uns mit ihnen und ihren „Verfransungen“ (Adorno) vertraut machen, desto mehr ihre Unterschiede, ihre so ganz andere Existenzart zutage tritt und eben nicht ihre Verwandtschaft. Zunächst sei also auf Steve Reichs minimal music vor allem in Tehillim eingegangen, um dann abschließend über Umberto Ecos Studie der Serialität warenmäßig und kulturindustriell hergestellter Produkte zu den Bilderserien von Robert Rauschenberg und Lee Ufan zu gelangen. – Die Musik von Steve Reich setzt sich von der europäischen Kunstmusik vor allem des 19. Jahrhunderts ab und sucht andere Ursprünge auf: nicht die Melodie, sondern vor allem den Rhythmus, nicht individuell ausgezeichnete Gebilde wie ein Thema mit seinem Prozess, sondern relativ

13 Vgl. dazu ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zwischen der Mainzer Kunstgeschichte (Elisabeth Oy-Marra und Gregor Wedekind) und der Mainzer/Würzburger Musikwissenschaft (Klaus Pietschmann und Martin Zenck).

14 Vgl. dazu grundsätzlich die beiden Beiträge zum Hören, die Jean-Luc Nancy zunächst unter dem Titel A l’écoute (Paris 2002) veröffentlicht hat, die dann im Verlag Diaphanes in der Übersetzung unter dem Titel Zum Gehör (Zürich-Berlin 2010) erschienen sind. Dabei werden eher die Asymmetrien der beiden Wahrnehmungen hervorgehoben als die mögliche Gemeinsamkeit dieser beiden Sinne.

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abstrakte Figuren, Spielfiguren, denen nichts Persönliches anhängt, sondern eben nur eine Form der manuellen Praxis am Instrument. Genauer betrachtet hat die minimal art, einem Gespräch zwischen Steve Reich mit dem Philosophen Klaus Voswinckel15 zufolge, ganz andere Orientierungen als die Neue Musik der 1950er Jahre. Sie bezieht sich nach Steve Reich einerseits auf naturhafte Vorgänge, wie das Schlagen der Wellen gegen den Strand: regelmäßig, aber sich immer wieder auch überrollend, sich brechend, um dann doch wieder zurückkehren zum ursprünglichen Verlauf, zur ausgehenden und vielleicht auch veränderten Periodizität. Hier findet sich die Wiederholung, die minimale Abweichung, die stärkere Abweichung und die Wiederherstellung der an-fänglichen Bewegungsform. Der andere Bezug stellt sich bei Steve Reich vor allem in den Vokalkompositionen von Tehillim und von The Cave her. Dort in Tehillim ist der Rhythmus des Sprechens einerseits am hebräischen Akzentschema der „Psalmen“ orientiert, das von der Musik imitiert wird, andererseits ist das rhythmisierte Sprechen auch immer bestimmt von der jeweiligen Stimme, ihrer Farbe, ihres Timbres, so dass im Sinne von Janacek besonders die Sprachmelodie zum Tragen kommt. Insgesamt wird dem musikalischen Material beim Komponieren weniger die subjektive Intention des Komponisten aufgezwungen, sondern er übernimmt bestimmte naturhafte und all-gemeine Ausdrucksformen, projiziert sie in zeitliche Verläufe, die vegetativ, spirituell und meditativ sind: so als ob wir uns der Zeit überlassen würden, ihrem Vergehen und sie eben nicht zu beherrschen suchen. Vielleicht, so indirekt Steve Reich, kommen wir somit mit der letzten Begrenzung, dem Tod, leichter zurecht, wenn wir uns im Leben eben auch der Zeit, ihrem Geschehen ausliefern und sie nicht ständig zu ordnen und in bestimmte Einheiten und Abläufe zu begrenzen suchen. Stockhausen hat zwar den berühmten Aufsatz „Wie die Zeit vergeht“ geschrieben, hat die Zeit aber als Komponist immer auch, vor allem in den fünfziger Jahren, vom Subjekt aus konstruiert und sie im Verlauf als beherrschbar und bestimmbar ausgewiesen (als Zeitordnungen, die den Proportionen von Tönen und Intervallen folgen). Dieser Zug ist der Musik von Steve Reich ganz fremd. Sie geht eigentlich nicht auf ihn als Komponisten zurück, nicht auf ihn als den Urheber; er ist eher nur das Medium, durch das er den Vorgang veranlasst hat, um seine Musik gleichsam objekthaft dem zeitlichen Vergehen zu überlassen. Oben wurde der Zusammenhang zwischen den lebens-zyklischen Wiederholungen, der serienmäßigen Warenproduktion und den Prinzipien der repetitiven Musik der minimal art heraus gearbeitet. Diesen fließenden Übergang hat auch Umberto Eco in seiner essentiellen Studie Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien16 betont, womit im Gegensatz zum Konzept der Moderne und Avantgarde eine enge Anbindung zwischen der Alltagswelt und der Kunstwelt gesucht und erreicht wird. Eine systematische und überraschende Arbeit verdanken wir dem Kunsthistoriker und

15 Klaus Voswinckel, Steve Reich. Musik in den Worten, Sendung des BR 3, München 1994, mit einem Interview mit Steve Reich.

16 Umberto Eco, Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien, in ders., Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, hg. von Michael Franz und Stefan Richter, Leipzig 1989, S. 301-324.

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Kurator Dan Cameron, der über „Wiederholung in der Kunst“ gearbeitet hat und dabei u. a. serienmäßige Bilderreihen von Robert Rauschenberg mit dem Titel Factum I und Factum II untersucht hat. Diese sind nun noch vor einer Zusammenfassung des vorlie-genden Beitrags abschließend mit Beziehung auf vergleichbare, aber auch verschiedene Bilderreihen von Lee Ufan darzustellen. – Bei einiger Naivität konnte sich zunächst die Vorstellung ergeben, dass die Wiederholung in der Malerei überhaupt kein Thema sei (etwa im Verhältnis zur Musik, in der die Wiederholung durchgehend ein Thema der Komposition und der Aufführung ist). Zwar kann bei einigen späten Bildern von van Gogh davon gesprochen werden, dass er frühere Bilder noch einmal malte, auch ist die Überlegung nicht zu weit hergeholt, dass Paul Cézanne in seinem Zyklus der Montagne Sainte-Victoire immer wieder auch das gleiche Bild auf immer wieder verschiedene Weise gemalt hat, um die Natur einerseits zu entgegenständlichen, sie andererseits durch die Farbkontur eben auch wieder dinghaft zu machen, aber das, was wir bei Ro-bert Rauschenberg und Lee Ufan vorfinden, liegt auf einer ganz anderen Ebene: es sind serienmäßige hergestellte Bildproduktionen.

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Beispiel 2: Robert Rauschenberg, Factum I

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Beispiel 3: Robert Rauschenberg Factum II

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Diese beiden Bilder, das eine die Wiederholung des anderen, wodurch die Frage von Originalität und Abbild außer Kraft gesetzt wird, sind für unseren thematischen Zusam-menhang von besonderer Bedeutung. Vor allem, weil der Autor des Textes Die Kunst und ihre Wiederholung17, Dan Cameron, diesen Beitrag im Rahmen einer von ihm kuratierten Ausstellung mit dem Titel Art and its double geschrieben hat. Eine „Copy of Culture“ ist der unmittelbare Gegensatz zum Konzept einer auf Einmaligkeit und Originalität beruhenden Moderne und Avantgarde. Es gab zwei Arten, auf dies Kon-zept von Irreduzibilität in der Postmoderne zu reagieren: einmal ein Original und seine Vorstellung von ihm überhaupt zu zerstören, wie es Robert Rauschenberg18 1954 mit einer Zeichnung von de Kooning tat, indem er diese einfach ausradierte; zum anderen wie in Factum II von 1957 ein „Duplikat“ von Factum I herzustellen, was sowohl das Verhältnis von Ur- und Abbild als auch dasjenige von Original and Double unterläuft: In dieser Reihe ist jedes Bild eine Wiederholung, die sich nach beiden Seiten ins Uran-fängliche und ins Endlose fortsetzen ließe (zwei der Bilder von Lee Ufan haben diese Idee weiter verfolgt).

Beispiel 4: Lee Ufan, From Point, 1975

17 Dan Cameron, Die Kunst der Wiederholung, in: Bildlichkeit, hg. von Volker Bohn, Frankfurt a. M. 1990, S. 269-232.

18 Vgl. zu Robert Rauschenberg: Dan Cameron, Die Kunst der Wiederholung, S. 274.

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Beispiel 5: Lee Ufan, From Point, 1973

Bei Lee Ufan haben wir dann schließlich beide Präsenzen: Wiederholung und Einma-ligkeit, wie sie vor allem in der diesjährigen Ausstellung seiner Werke im Guggenheim-Museum in New York zu bewundern waren. Es gibt bei Lee Ufan einerseits Bildserien, in denen wir sowohl im einzelnen Bild aneinander gereihte Punkte finden, die sich ins fast Unendliche19 wiederholen, als auch eine Fortsetzung dieser bildimmanenten Rei-hung von repetitiven Punkten in den dann folgenden Bilderserien, die unentwegt auf dieser Suche von Punkt, Unterbrechung, Wiederholung, Linie und Unendlichkeit sind. Aber Lee Ufan hat dem auch etwas vollkommen Überraschendes entgegen gesetzt: die Einmaligkeit eines auf eine gläserne Platte aufschlagenden Steins. Hier ist gerade keine Wiederholung angestrebt, sondern die Singularität des Ereignisses festgehalten: die Wucht des aufschlagenden Felsbrockens und die beim Aufschlag entstehenden Risse und Sprünge im darunter liegenden Panzerglas. Aber weil die Risse so deutlich hervor-treten, wird immer der Eindruck erweckt, der Stein sei erst eben gerade aufgeschlagen, so dass sich auch dieser Vorgang zumindest in unserer Vorstellung bei der Betrachtung

19 Lee Ufan, Marking Infinity, Alexandra Munroe, mit Beiträgen von Tatehata Akira und Mika Yos-hitkake, Guggenheim, New York 2011.

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dieser Installation immer wieder wiederholt. Hier haben wir das, was im vorliegenden Beitrag auch aus methodischen Gründen getrennt verhandelt wurde: die Einmaligkeit in der Wiederholung und die Unwiederholbarkeit eines Ereignisses in einem Gesamtwerk eines Künstlers zusammen. Wiederholung als etwas Einmaliges in einem fragmentaren Zusammenhang wie bei Nono und Lee Ufan und Differenz inmitten und vermöge der Wiederholung bedingen sich also gegen- und wechselseitig. Singularität und Unter-schiedenes durch Wiederholung fallen also in ihren Extremen zusammen.

Zusammenfassung unter Einbeziehung weiterführender Aspekte

1. Am Beginn von nachahmendem, auf Wiederholbarkeit beruhendem Klassizismus und auf die Überwindung des Mimesis-Gebots ausgerichteter Moderne mittels einer freigesetzten Phantastik stehen Mythen, die selbst wiederum auf Wiederholbarkeit und Nicht-Wiederholbarkeit angewiesen sind. Zu ihrer Struktur gehören eine identische Erzählung einerseits, die immer wieder durch eine entsprechende Nacherzählung in ihrer Ursprungsgewalt beglaubigt wird, eine Unbestimmtheitsstelle (H. Blumenberg) andererseits, die immer wieder Anlass zu Erklärungen und zu einer Umerzählung gibt, welche gerade nicht auf der Wiederholbarkeit des Mythos beruht. Dies ist denn auch die Nahtstelle, an der sich spätere Generationen in ihrem Interesse einklinken.2. In den Mythen versammeln sich kollektive Identitäten, in denen sich die Schicksale von Individuen wie von Gesellschaftsformationen späterer Zeiten wieder finden, sich auf unterschiedliche Weise wieder erkennen, um sich dadurch in ihrer Kommunität zu begründen.3. Im Mythos vom minoischen Labyrinth und in demjenigen von Echo und Narziss spiegeln sich solche auf Wiederholbarkeit/Unwiederholbarkeit bezogenen Ereignisse. Im Labyrinth zeichnet sich die einmalige Wiederholbarkeit ab – wenn es gelingt, seine zyklische Struktur zu erkennen und auch gehend nachzuvollziehen – und die unendliche Wiederholbarkeit, wenn einmal ein falscher Weg im Irrgarten eingeschlagen wurde. (Dabei ist es von größter Bedeutung, dass die Konzeption einer labyrinthischen Vernunft gerade im Zeitalter der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts größte Konjunktur besaß) – Auf andere, aber vergleichbare Weise wird das Verhältnis von Wiederholung/Nichtwiederholung im Mythos von Echo und Narziss wirksam. Narziss kann sich im Spiegel der reflektierenden Wasseroberfläche immer nur selbst wiederholen. Auch Echo scheint ihm darin zu entsprechen, weil sie nur das nachplappern kann, was einmal ge-sagt wurde. Während Narziss in der vollkommenen Egoität der Spiegelung seiner selbst befangen bleibt, ist die Wiederholung bei Echo auf die Alterität eines Vorspruchs ange-wiesen. Derrida hat dies dahingehend differenziert, weil er im Echo doch eine liebende Figur erkennt, die Narziss zugewandt ist, während dieser in seinem Ich gefangen bleibt, sich immer wieder nur selbst wiederholen kann. Echo wird nach Derrida wenigstens die Gabe verliehen, einem anderen zuhören zu können, die Voraussetzung zu jeglicher Art von Responsivität.

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4. Zu untersuchen sind die Auswirkungen solcher Verhältnisse in der rituellen Lebens-struktur, welche ohne Wiederholung gar nicht denkbar wäre, weil sonst alles in jedem Augenblick von Neuem erfunden, geregelt und auch darin verhandelt werden müsste, um Kommunikation herzustellen. Der Begriff der „Konvention“ steht dafür ein, weil er ein gesellschaftlich verabredetes Zeichen dafür ist, wodurch wir uns treffen, d. h. ein konventioniertes Zeichen wiederholen können. – In der Musik gibt es prinzipiell zwei Formen der Wiederholung: einmal als eine produktionsästhetisch direkte etwa von einzelnen Tönen, rhythmischen Modellen, Motiven, oder eine mittelbare in Gestalt von Satzgebilden und Formteilen wie etwa in der veränderten Reprisenstruktur der Werke von Carl Philipp Emanuel Bach, zum anderen gibt es gegenüber dieser formal-kompositorischen und formal-semantischen Bestimmung der Wiederholung in einem Werk/Objekt der Musik die Wiederholung als eine Kategorie des Performativen. Musik muss, um einigermaßen in ihrer Struktur sinnfällig und ohrfällig zu werden, wiederholt werden. Dies hat Johann Nikolaus Forkel, der erste bedeutende Musikhistoriker im späten 18. Jahrhundert in seiner allgemeinen Einleitung zu einer Geschichte der Musik erkannt, dass ein bestimmtes, noch nie gehörtes Stück Musik im selben Konzert noch wiederholt werden sollte, damit bestimmte Eigenschaften des musikalischen Prozesses, seine Veränderungen, Wiederholungen wie seine Antizipationen auch erkannt werden. Er nannte diese Voraussetzung „Fasslichkeit“20, die nicht einfach spontan sich herstel-le, sondern dem Hörer durch die wiederholte Aufführung eines Stückes „empfindlich“ gemacht werden müsse.

Anschrift: Tizianweg 16, 55127 Mainz

20 Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig 1788, repr. Graz 1967, § 77; vgl. dazu die exzellente Habilitationsschrift von Martin Kaltenecker, L’oreille Divisée. Les discours sur l’écoute musicale aux XVIII et XIXe siècles, Paris 2010, S. 72.

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