Wenn Yoga schadet - Viveka · termilch« erklärte Swami Gitananda (1907-1993), ein populärer...

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1 VIVEKA 50 Wenn Yoga schadet Imogen Dalmann Martin Soder Aus: VIVEKA, Hefte für Yoga, Heft 50, 1/2012 Ein in den USA im Februar 2012 erschienenes Buch sorgt noch immer für Aufregung in der Yoga-Szene: »The Science of Yoga, The Risks and the Rewards« von William J. Broad. Die New York Times veröf- fentlichte den Vorabdruck einiger Auszüge unter der Überschrift: »Wie Yoga ihren Körper ruinieren kann«. Kurz darauf titelte die Neue Züricher Zeitung: »Die Yoga Lüge«. »OM oder Aua« hieß es ironisch in Österreich und im Berliner Tagesspiegel wie bei Zeit-Online schlicht: »Überdehnt«. Etwas po- etischer die Süddeutsche Zeitung: »Wenn die Krähe Schmerzen bringt«, sehr ausführlich die Allgemeine Frankfurter Sonntagszeitung unter: »Der Körper hält viel aus«. Was ist geschehen? William J. Broads Buch handelt – unter anderem – davon, welche Schäden Yogapraxis nachweislich anrichten kann. Seine Liste ist lang, die beschriebenen Fälle zum Teil spektakulär. Und weil William J. Broad, selbst Yogapraktizierender seit vierzig Jahren, nicht irgendwer ist, sondern ein ange- sehener Journalist der New York Times, Gewinner aller wichtigen Journalistenpreise Amerikas, hat sein Buch entsprechend große Beachtung gefunden. Zu Recht, wie wir meinen. Es macht endlich öffentlich, was von manchen Yogalehrenden noch immer ignori- ert wird: Âsanapraxis kann dem Körper durchaus Schaden zufügen. Unter welchen Bedingungen, das ist der Inhalt dieses Artikels.

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Wenn Yogaschadet

Imogen DalmannMartin Soder

Aus: VIVEKA, Hefte für Yoga, Heft 50, 1/2012

Ein in den USA im Februar 2012 erschienenes Buchsorgt noch immer für Aufregung in der Yoga-Szene:»The Science of Yoga, The Risks and the Rewards«von William J. Broad. Die New York Times veröf-fentlichte den Vorabdruck einiger Auszüge unter derÜberschrift: »Wie Yoga ihren Körper ruinierenkann«. Kurz darauf titelte die Neue ZüricherZeitung: »Die Yoga Lüge«. »OM oder Aua« hieß esironisch in Österreich und im Berliner Tagesspiegelwie bei Zeit-Online schlicht: »Überdehnt«. Etwas po-etischer die Süddeutsche Zeitung: »Wenn die KräheSchmerzen bringt«, sehr ausführlich die AllgemeineFrankfurter Sonntagszeitung unter: »Der Körper hältviel aus«.Was ist geschehen? William J. Broads Buch handelt –unter anderem – davon, welche Schäden Yogapraxisnachweislich anrichten kann. Seine Liste ist lang, diebeschriebenen Fälle zum Teil spektakulär. Und weilWilliam J. Broad, selbst Yogapraktizierender seitvierzig Jahren, nicht irgendwer ist, sondern ein ange-sehener Journalist der New York Times, Gewinneraller wichtigen Journalistenpreise Amerikas, hat seinBuch entsprechend große Beachtung gefunden. ZuRecht, wie wir meinen. Es macht endlich öffentlich,was von manchen Yogalehrenden noch immer ignori-ert wird: Âsanapraxis kann dem Körper durchausSchaden zufügen. Unter welchen Bedingungen, das istder Inhalt dieses Artikels.

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Nichts hören, nichts sehen,nichts sagen...

William Broad beginnt die Darstel-lung der Geschichte einer erstaunlichlang andauernden Ignoranz von Yoga-lehrenden gegenüber den mit Âsana-praxis verbundenen Risiken so:

»Das hohe Ansehen von Yoga be-ruht zu einem nicht geringen Teil auf ei-nem öffentlichen Schweigen der Gurus.Ihr faktischer Bann des Wortes »Verlet-zung« machte das Thema von ernsthaf-ten Schmerzen und körperlichen Schä-den zu einem Tabu (...).«

Und er fährt fort: »Bei Gune3 gibt eskeinen Hinweis auf Verletzungen, we-der in der Yoga Mimamsa4 noch in sei-nem Buch Âsanas. Indra Devi5 vermieddas Thema in »Forever Young«, nichtanders Iyengar in »Light on Yoga«.6Schweigen über Verletzungen oder gro-ße Gleichgültigkeit gegenüber einer si-cheren Yogapraxis beherrschen auch dieRatgeberbücher von Swami Sivananda,K. Pattabhi Jois und Bikram Choudhury.

Im Allgemeinen neigen die berühm-ten Gurus dazu, Yoga fast wie ein Jung-brunnen wirkendes Wundermittel zubeschreiben. Jedenfalls gehen sie davonaus oder behaupten ausdrücklich, dass

◆ Da, wo er über die Risiken von Yogaberichtet, spricht er ausschließlich überdie Praxis von Âsanas.

◆ Er bezieht sich dabei auf nur eineganz bestimmte unter den vielen Mög-lichkeiten, Âsanas zu üben und zu leh-ren. Fixiert auf festgeschriebene und un-hinterfragte Formen von Âsanas ist siegeprägt von einer Betonung intensivsterDehnungen und der Idealisierung höch-ster körperlicher Flexibilität.

Bei genauerer Betrachtung zeigtsich, dass ein solcher Umgang mit Âsanas immer einhergeht mit einemgroßen Unwissen um die Komplexität,Biomechanik und Kompensationsfähig-keit des menschlichen Körpers. Stattdessen wird dessen Funktionsweise mitfalschen, vor allem ausgesprochen me-chanistischen Vorstellungen erklärt – zuall dem später aber mehr. Dieser Blickauf Âsanapraxis herrscht vor in Yogasti-len wie etwa Iyengar-Yoga, Sivananda-Yoga, Yoga-Vidya oder Ashtanga-Vinya-sa(Power)-Yoga, findet sich aber natür-lich auch anderswo. Er lässt sich fürAußenstehende oft recht einfach schondaran erkennen, mit welchen Âsana-Haltungen auf einer entsprechendenInternetseite geworben wird und wel-che allumfassenden Wirkversprechendazu gegeben werden.

»The Science of Yoga«1, ist kein Buch,das sie unbedingt kaufen müssen. Eshandelt viel von den Eigenheiten deramerikanischen Yogaszene; die darin er-zählte Geschichte des Yoga wurde an-dernorts schon besser und fundierterdargestellt; über Studien zur Wirksam-keit von Yoga findet sich Aktuelleresund Übersichtlicheres im Internet2.Auch wird manches doch sehr anekdo-tisch präsentiert und die wirklich inter-essante Auseinandersetzung mit dennachweislichen Risiken von Âsanapraxismacht nur einen kleinen Teil des Buchesaus. Was es trotzdem wertvoll macht,ist die Diskussion, die es angestoßenhat. Dafür verantwortlich sind wesent-lich drei im Broads Buch gut begründeteBotschaften:◆ Bestimmte Yogastile beinhalten einernsthaftes Risiko für die Gesundheit.◆ In großen Teilen der amerikanischenYoga-Szene gibt es wenig Bereitschaft,über das krankmachende Potential be-stimmter Âsanas und Yogastile offenund ehrlich zu diskutieren.◆ Es findet dort keine Auseinanderset-zung um die Glaubwürdigkeit von Kon-zepten und Erklärungen statt, mit de-nen Yogapraxis vermittelt wird. FalscheVersprechungen und Wirkerklärungentrotzen Jahrzehnte lang besserem Wis-sen.

Für unsere Diskussion in Deutsch-land ließe sich zu Punkt 1. ergänzen:Der Satz: »Yoga tut gut« stimmt keines-wegs immer, sondern tatsächlich nurunter ganz bestimmten Bedingungen.Die Aussagen der zweiten Botschaft gel-ten ähnlich auch für den deutschspra-chigen Raum. Broad zeigt faktenreichund eindrücklich, dass viele Yogalehren-de und Yoga-Medien im Umgang mitungeliebten Fakten und Fragen kaumanders reagieren als die Presseabteilungeines Pharmakonzerns auf Berichte überNebenwirkungen oder die Wirkungslo-sigkeit eines seiner Medikamente.

Allerdings unterliegen William Bro-ads Aussagen zwei wichtigen Beschrän-kungen:

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1) William J. Broad, The Science of Yoga, The Risksand the Rewards, Simon and Schuster 20122) Eine Übersicht findet sich zum Beispiel auf derSeite des Berliner Yoga Zentrums, auch als pdf-download:http://www.byz.de/diskussion/index.php?id=00018

3) Jagannath G. Gune ist der bürgerliche Name vonKuvalayananda, der mit dem 1931 erscheinen Buch»Popular Yoga, Âsanas« das lange Zeit wichtigsteund einflussreichste Kompendium über Yogâsanaverfasste.4) Yoga Mimamsa, eine der ersten Yogazeitschrif-ten; sie erscheint in Lonavla, Indien.5) Indra Devi( 1899 - 2002), eine der wichtigen understen Botschafterinnen des Yoga im Westen6) Auch T. Krishnamacharyas 1934 erschienenesBuch Yogamakaranda macht hier keine Ausnahme.Allerdings betont er darin auch schon die Wichtig-keit eines Vinyâsa krama für jedes Âsana, also dieNotwendigkeit eines angemessenen Aufbaus vonÂsanapraxis, der sehr wohl auch die Risiken der Pra-xis im Auge hatte. Sein striktes Bestehen auf Verän-derung und Anpassung jedes Âsana an die Gege-benheiten des einzelnen Menschen zeigte sich in al-ler Deutlichkeit aber erst in den letzten vierzig Jah-ren seines Wirkens. Er ging einher mit einem – zu-mindest von außen betrachtet – radikalen Wandelseines Umgangs mit Âsanapraxis. Vorher unterrich-tete er fast ausschließlich Kinder und Jugendlicheim Rahmen der Bemühungen des Maharadscha vonMysore um bessere Körperertüchtigung der indi-schen Jugend (s. dazu Viveka 49: Zur Geschichteder modernen Âsanapraxis). Seit seinem Umzugnach Madras (Chennai) in den fünfziger Jahren wa-ren es dagegen fast ausschließlich Erwachsene, diemit wohl definierten Anliegen gesundheitlicher undspiritueller Art seine Begleitung suchten.

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Jahrhunderte von Praxis gezeigt haben,dass die Disziplin frei ist von verborge-nen Gefahren.

»Echter Yoga ist so sicher wie Mut-termilch« erklärte Swami Gitananda(1907-1993), ein populärer Guru, derzehn Welttourneen absolvierte und Ash-rams in vielen Kontinenten gründete.

Auf der anderen Seite haben moder-ne Mediziner ein geradezu bösartigesVergnügen daran gefunden, die selbst-verschuldeten Verletzungen von YogaPraktizierenden in Dutzenden von Be-richten aufzuzählen und vor entspre-chenden Gefahren zu warnen. Vielleichtsind sie neidisch auf die große Anerken-nung, die Yogalehrende genießen undwerden durch die Fragwürdigkeit yogi-scher Mystik angestachelt. Manche gin-gen so weit, Yoga als grundsätzlich ge-fährlich zu verdammen. Was dieser Kri-tik anfänglich ihre Spitze nahm: Sie zeig-te einen Mangel an wirklichem Ver-ständnis über die Yogaarbeit und hatsich trotzdem nicht gescheut, einen eisi-gen Ton voller Herablassung anzuschla-gen. Gerade auch deswegen schenktenMediziner jenen Yogis ihre Aufmerk-samkeit, die von Schmerz gekrümmt inihre Praxen und Notaufnahmen gestol-pert kamen und schrieben über die Un-fälle und Verletzungen detaillierte klini-sche Berichte.

Wie Steine Kreise ziehen, wenn mansie ins Wasser wirft, so erzeugten dieseVeröffentlichungen dennoch Reaktio-nen, die mit der Zeit die Praxis des mo-dernen Yoga beeinflussten und schließ-lich dazu beitrugen, ihn sicherer zu ma-chen – wenn auch gegen beträchtlichenWiderstand. Anfänglich unterstellten ei-nige Yogis solchen Berichten Voreinge-nommenheit und Boshaftigkeit. Andere,vielleicht angesichts des Muttermilch-Ar-guments, versuchten die Kritik zu igno-rieren oder als zu vernachlässigendeKosten im Geschäftsbetrieb abzutun.

In den letzten Jahren antwortetendie Besten unter den Yoga-LehrerInnenauf die Warnungen mit einer größerenSensibilität (und besseren Versicherungs-policen). Sie räumten der Sicherheit Prio-rität ein, brachten ihre Studenten dazu,mit Vorsicht voranzuschreiten und lehn-ten die Mentalität des Eine-Größe-passt-allen (»oner size fits all«) der bisherigenStile und LehrerInnen ab.«

Von der Rishikesh-Reihezu einer zeitgemäßenAsanapraxis

Wie schon gesagt berichtet Broad inseinem Buch wesentlich aus der ameri-kanischen Yogaszene. Eine ganz ähnli-che Entwicklung fand aber auch imdeutschsprachigen Raum statt. Wie an-derswo herrschte hier ebenfalls langeZeit das Schweigen der Gurus. Grundle-gend verändert wurde diese Situationunter anderem durch das Aufkommender Rückenschulbewegung in den neun-ziger Jahren. Damit erreichte endlichWissen über Biomechanik und Funk-tionsweise des menschlichen Bewe-gungssystems Teile der Yogaszene. Infundierten Darstellungen des heutigenWissenstands über die Entstehung vonKrankheiten des Bewegungssystems –etwa in der damals von der Techniker

Krankenkasse herausgegebenen be-rühmten »Hitliste der krankmachendenÜbungen« – fanden YogalehrerInnennun plötzlich zu ihrem Erstaunen so be-liebte und bis dahin unhinterfragte Âsa-nas wie zum Beispiel den Pflug, Hal -âsana. Die große Überzeugungskraftund Popularität der Rückenschulbewe-

gung verhalf so jenen Yogalehrendenzu mehr Gehör in der Yogaszene, dieschon vorher eine Diskussionskulturüber erwünschte und unerwünschteWirkungen von Âsanapraxis pflegten.Bei ihnen herrschte schon längst keinZweifel mehr darüber, dass bestimmteÂsana-Stile offensichtlich körperlicheSchäden leichtfertig in Kauf nehmenund entsprechende Risiken und Berichtevon nachhaltigen Verletzungen beharr-lich ignorieren. Zum ersten Mal ließ sichjetzt über diesen eher kleinen Kreis hin-aus die Erfahrung teilen, dass nicht we-nige Yogaübende zum Beispiel durch in-tensives Praktizieren von Schulterstand,Kopfstand oder Pflug ihrer Halswirbel-säule bleibenden Schaden zugefügt hat-ten. Bis dahin waren die Betroffenen inYogakreisen mit ihren körperlichen Pro-blemen weitgehend allein gelassen wor-den. Oft wurde ihnen auch noch einge-

redet, sie seien selbst schuld an ihremSchicksal. Jetzt aber geriet die bis dahinnahezu sakrosankte Vorstellung insWanken: »Yoga tut immer gut, egalwas ich praktiziere – wenn ich nur denAnweisungen meines Lehrers genau fol-ge und meine innere Haltung stimmt«.In der Folge setzte – übrigens früher als

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Die aktuelle Ausgabe der »Hitliste der krankmachendenÜbungen«, die von der Techniker Krankenkasse schon in denneunziger Jahren im Gefolge der Rückenschulbewegungerstmals aufgelegt wurde. Leider finden sich noch immerYogalehrende, die nicht gelernt haben, sich in gleicher Weisemit den Risiken der von ihnen unterrichteten Âsanas ausein-anderzusetzen.

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tung von Âsana fordert, gerade auchbei »gesunden« und flexiblen Kursteil-nehmerInnen.

A ◆

Ein praktisches Verständnis desmenschlichen Bewegungssystems istmöglich und nötig.

Nichts wäre einfacher, als über viele Sei-ten hinweg Zitate aus Yogabüchern an-einander zu reihen, aus denen eine er-staunliche Unkenntnis der Struktur undKomplexität des menschlichen Bewe-gungssystems spricht. Die Diskussion ei-ner Übungsanleitung zu Bhuja›gâsana(s. Kasten »Kobra – Schlange oderMensch?«) zeigt dies an einem kleinenBeispiel. Dabei ist es mit entsprechen-dem Interesse, Sachverstand und dernötigen Erfahrung nicht allzu schwierig,ein differenziertes Bild über die Anfor-derungen zu gewinnen, die ein be-stimmtes Âsana und seine Varianten anden Körper stellen.

Dazu gehört ganz selbstverständlichauch eine eindeutige Antwort auf dieFrage, welche Risiken in welcher Âsana-praxis eigentlich stecken und wie großderen Relevanz für den Unterricht ist. Soerst lässt sich erkennen, mit welchenPraxisanleitungen und ZielvorgabenÜbende ein besonders hohes Risiko fürihre Gesundheit eingehen. Ohne Zweifelzum Beispiel mit der Anweisung für»Anfänger«, im Pflug (Halâsana) bei ge-spreizten Beinen die »Fersen RichtungBoden zu drücken« (Abb. 1)1. Wer sol-chen Anweisungen folgt, intensiviert ei-ne extreme und ungesunde Überdeh-nung des Nackens in einem Âsana, dassich auch bei weniger forscher Praxis imRahmen von Yogaunterricht nicht be-währt hat. Vielmehr hat Halâsana nichtwenigen Yogaübenden erheblichenSchaden zugefügt, dem kein ersicht-licher Nutzen entgegensteht.

noch so unterrichtet werden, dass dar-aus ernsthafte gesundheitliche Proble-me entstehen können, gehören die fol-genden zu den wichtigsten:

◆ A Die Unkenntnis der Struktur undKomplexität des menschlichen Bewe-gungssystems. Sie ist oft gepaart mit ei-ner hohen Beratungsresistenz gegenü-ber heute gut gesichertem Wissen überdie Entstehung von körperlichen Un-gleichgewichten und Krankheiten.

◆ B Das Unwissen über die Kompensa-tionsfähigkeit des menschlichen Kör-pers.

◆ C Die Überbetonung intensiver Deh-nungen und Hyperflexionen, ein unre-flektiertes Streben nach maximaler kör-perlicher Flexibilität und die Ausrichtungder Âsanapraxis auf das Erreichen einerfestgelegten Form.

◆ D Der beharrliche Glaube an die Le-gende von den »klassischen« Âsanas.

◆ E Das Festhalten an offensichtlich fal-schen Erklärungen zur Wirkung vonÂsanapraxis, die auf einem mechanisti-schen Körperbild fußen.

◆ F die Beschränkung der Individualisie-rung des Yogaunterrichts auf die Unter-scheidung von Gesunden und Krankenund weniger oder mehr »Fortgeschritte-nen«. Es fehlt die Auseinandersetzungdamit, welche Konsequenzen die jeweilsindividuelle Körperstruktur eines Üben-den für eine gesunde Praxis und Anlei-

in Amerika – ein Umdenken ein, das inder Yogaszene nach und nach immergrößere Kreise zog. Die angeboteneÂsanapraxis wurde variantenreicher,man machte sich Gedanken über densinnvollen Aufbau einer Yogastunde:Abfolgen wie etwa die damals inDeutschland noch weit verbreitete Rishi-kesh-Reihe wurden hinterfragt, weil sichder Sinn dieser Âsanasequenz und ihresAufbaus angesichts sehr einleuchtenderFakten über die extremen Risiken be-stimmter Haltungen nicht mehr er-schloss. Die Einsicht über die Notwen-digkeit von Vorbereitung und Ausgleichbesonders fordernder Übungen nahmzu. Auch suchten nun immer mehrYogalehrerInnen nach Möglichkeiten,ihr Unterrichtsangebot so weit wiemöglich zu individualisieren und densehr unterschiedlichen Gegebenheitenihrer TeilnehmerInnen anzupassen. Die-ser Wandel hat bis heute allerdings niedie Yogaszene in ihrer Gesamtheit er-reicht. Bei einem Spaziergang durch dieweb-Seiten der aktuellen Yoga-Angebo-

te in Deutschland braucht man nichtlange zu suchen, um der unreflektiertenBegeisterung für Haltungen zu begeg-nen, von denen wir längst wissen, dasssie auch völlig gesunden und körperlichfitten Yogaübenden weit mehr Schadenzufügen als dass sie zu etwas nützesind. Und auch das »Muttermilch-Argu-ment« sorgt immer noch gerne für dennötigen Nebel, ohne den eine solcheBlindheit nicht möglich wäre.

Wenn wir nach Gründen suchen,warum Âsanas eigentlich auch heute

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1) Besser leben mit Yoga, Sivanada Yoga VedantaZentrum, 2010

Abb. 1 (s. Text)

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Wie unser Beispiel der Praxis vonBhuja›gâsana zeigt, verlangen auch be-stimmte Formen von Rückbeugen einhöchstes Maß an Risikobereitschaft.Dann nämlich, wenn als Anforderungextreme Rückwärtsbewegungen derWirbelsäule im unteren Rücken und Na-cken in den Mittelpunkt gestellt werden.Oder wenn der Nacken ganz außerge-wöhnlichen Belastungen ausgesetzt istwie etwa im Fisch (Matsyâsana) oder

dem Kopfstand1. Oder wenn das be-harrliche Bestehen auf durchgestrecktenKnien in Vorbeugen wie Uttânâsanaoder PaÍcimotânâsana unentwegt höch-ste Anforderungen an die Stabilität derMuskulatur des unteren Rückens stellt,an denen Yogaübende immer wiederscheitern und dafür mit chronischenRückenschmerzen bezahlen müssen.Oder wenn...

B ◆»Der Körper hält viel aus«2

Die Ignoranz gegenüber den Strukturendes menschlichen Körpers ist oft ge-paart mit einer ähnlich großen Unkennt-nis in Bezug auf seine großartige Fähig-keit zur Kompensation. Tagtäglich gibtes Situationen, in denen wir unseremKörper etwas zumuten, was seine inne-re Harmonie eher stört als fördert. Lan-

ges Sitzen zum Beispiel ist für unsereRückenmuskulatur wenig erfreulich. DieEvolution sah keine Schreibtische undComputer voraus. Verbringen wir an ih-nen den großen Teil unseres Tages,kann deshalb die Rückenmuskulatur ei-nen gesunden Stoffwechsel nur nochschwerlich aufrecht erhalten.

Von einer anstrengenden Bergtouroder einem wilden Fußballspiel amSamstag Nachmittag geht für die

Rückenmuskulatur ein positiver Impulsaus - von langem Sitzen nicht. Der Rü-cken wird dadurch weder kräftiger nochbelastbarer, er gerät vielmehr in einernsthaftes Ungleichgewicht.

Nun ist es etwas Wunderbares, dasssich unser Körper auch solchen Anfor-derungen mutig entgegenstellt und mitHilfe vielfältiger Regulationssystemeschließlich seine innere Harmoniewiederfindet. Und noch mehr: Seinen

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1) Beide Übungen werden in ihrem Gefährdungs-potential nur scheinbar entschärft, wenn versuchtwird, einen Teil der Last des Körpergewichts mitHilfe der Armkraft abzufangen – auch Broad weistzu Recht auf diesen Irrglauben hin.2) Titel einer kompetenten Besprechung von Willi-am Broads »Science of Yoga« in der Frankfurter All-gemeinen Sonntagszeitung vom 24. Juni 2012

Die Kompensationsfähigkeit des menschlichen Körpers ist sehr groß. Extrem gefordert ist sie zum Beispiel in Übungen wie diesenVarianten von ‡alabhâsana, Matsyâsana und Kapotâsana. Bei ihrer Praxis lastet ein über jedes gesunde Maß hinausgehenderDruck auf den Wirbelgelenke des Nackens bzw. unteren Rückens. Gleichzeitig gerät die entsprechende Muskulatur in großeStoffwechselnot. Ist die Kompensationsfähigkeit im Bereich der Muskulatur erschöpft, reagiert sie mit Spannung, die sich schließ-lich zu einer chronischen Verspannung auswachsen kann. Gravierender sind allerdings die möglichen Folgen des unphysiologi-schen Drucks auf die Wirbelgelenke (der durch eine verspannte Muskulatur auch noch verstärkt wird). Werden solche Haltungenregelmäßig geübt, beginnt der Körper Ernst zu machen mit dem Versuch, dieser Fehlbelastung etwas entgegenzusetzen: Er be-ginnt dort, wo der größte Druck herrscht als Schutzmechanismus den Knochen zu verstärken. In der Folge beginnt der Knochenan diesen Stellen zu wachsen. Je nach genetischer Disposition und individueller Körperstruktur schreitet dieser Prozess weiter fortund der Versuch des Körpers mehr Knochenstabilität herzustellen wird nun selbst zum Problem: Den so entstehenden Knochen-zuwachs nennt man dann »arthrotische Degeneration«. Sie ist eine der Ursachen für chronische Schmerzzustände im Bereich desNackens und der Lendenwirbelsäule.

➥weiter S. 8

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die Stärke der Beine, welche die Biegungdes Rückens erlaubt. Wie sich die Rück-beuge einer Person in der hier gezeigtenKobra gestaltet, wird wesentlich davonentschieden, wie weit die Kraft der Armeden Oberkörper anhebt. In zweiter Liniedavon, welche Beweglichkeit der obereRücken aufweist. Wann immer die Armeso wie auf dem Bild dargestellt gestrecktwerden, erzwingt dies die intensivsteRückbeuge notwendig im Bereich des un-teren Rückens. Genau da knickt der Rü-

cken dann so ein, wie es dort anschaulichdemonstriert wird. Die Wirbelsäule folgtdamit einfach ihren anatomischen und bio-mechanischen Eigenheiten: Der Abschnittder Wirbelsäule, der dem Strecken derArme den geringsten Widerstand entge-gen setzt, ist der Lendenbereich. Ganzeinfach weil bei allen Menschen die Flexi-bilität zur Lordosierung dort groß ist, inder Brustwirbelsäule hingegen gering. Esgibt schon lange keinen Zweifel mehr dar-über, dass eine Haltung wie auf dem Fotogezeigt, dem unteren Rücken großen unddauerhaften Schaden zufügen kann.◆ Aus einer aufmerksamen Beobachtungder Praxis von Bhuja›gâsana lässt sich zu-dem lernen, dass eine ungesunde Belas-tung des unteren Rückens auch nicht da-durch zu verhindern ist, dass jemand ver-sucht, den hier vorgeschlagenen Anwei-sungen zu folgen, »Raum in der Wirbel-säule zu schaffen« oder »das gesamteRückgrat zu strecken und Wirbel für Wir-bel zu beugen«. Die Wirbel folgen jenenZug- und Muskelkräften zuerst, die am

muss in ihrer gesamten Länge an der Deh-nung beteiligt sein, andernfalls tretenSchmerzen an den Schwachpunkten auf.Wenn Sie irgendwo ein Kneifen spüren,heißt das, dass dieser Wirbelsäulenab-schnitt zusammengedrückt wird und diezwischen den Wirbeln gelagerten Band-

scheiben gegeneinander reiben. Um dieszu vermeiden, schaffen Sie Raum in derWirbelsäule: das gesamte Rückgrat stre-cken und Wirbel für Wirbel beugen.«

Diese Erklärungen beruhen weitge-hend auf falschen Vorstellungen über dieFunktionsweise des menschlichen Kör-pers. In Heft 17 von VIVEKA befasstenwir uns damit ausführlicher.◆ Zuerst: Bandscheiben können nicht auf-einander reiben.◆ Wenn ein Wirbelsäulenabschnitt in un-gesunder Weise belastet wird, äußert sichdies (leider) nur in den seltensten Fällenals ein Kneifen oder Schmerz. Es ist einIrrglaube, Übende könnten eine Fehlbelas-tung ihres Körpers immer spüren, wennsie nur aufmerksam genug wären. Tat-sächlich liegt in solchen Vorstellungen einwichtiger Grund dafür, dass Yogalehrendeihren SchülerInnen ahnungslos ernsthaftenSchaden zufügen und ihnen auch noch dieVerantwortung für die schmerzhaften Fol-gen übertragen.

Natürlich ist es nicht wie behauptet

1996 diskutierten wir in VIVEKA (Heft7) die Praxis von Bhuja›gâsana und ver-glichen dabei zwei sehr unterschiedlicheMöglichkeiten, dieses Âsana zu praktizie-ren (s. Abb A und B). Die rechte Abbil-dung war dem Buch: »Das Yoga-Hand-buch nach der Iyengar-Methode« entnom-

men. Unser (damals noch sehr zurückhal-tender) Kommentar zu dieser Form derKobra: Das Anheben des Oberkörpersmit Hilfe der gestreckten Arme zwingtden unteren Rücken in eine extreme Lor-dosierung. Ebenso extrem ist die Lordo-sierung der Halswirbelsäule durch das völ-lige Zurücklegen des Kopfes. Auf solcheWeise geübt, liegen deshalb der Schwer-punkt dieser Rückbeuge und ihre wesent-lichen körperlichen Anforderungen im Be-reich des unteren Rückens und des Na-ckens.

Daraufhin antwortete uns die Co-Au-torin des Buches, Mira Mehta: »Es tut mirLeid, Ihnen sagen zu müssen, dass die be-gleitende Erklärung, welche Sie ... geben,irrig ist. Der Schwerpunkt der Haltung istgewiss nicht der Nacken oder der untereRücken. Es ist die Stärke der Beine, wel-che die Biegung des Rückens erlaubt. Die-se Beinstärke fehlt in der Haltung, wie siedurch die Frau auf dem linken Bild ausge-führt wird.« Im Buch selbst lautet die ent-sprechende Anleitung: »Die Wirbelsäule

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Zwei grundverschiedene Auffassungen von »Rückbeuge«:

Diese Rückbeuge »trägt sich selbst«, das heißt, dass der Ober körper nur soweit nach oben kommt, wie ihn die Rücken kraft anheben kann. Die Arme tra-gen kein Gewicht. Der Mittelpunkt der »Rückbeuge-Arbeit« liegt im Bereichdes oberen Rückens (A). Sowohl Lendenbereich (B) als auch der Nacken (C)sind rückgebeugt, allerdings ohne ihre Bewegungsmöglichkeit ganz auszu-schöpfen.

Diese Rückbeuge braucht die Unterstützung der Arme, deren Kraft den unte-ren Rücken in eine extreme Lordosierung (D) bringt. Dort und im Nacken (E)liegt der Schwerpunkt dieser Haltung. Die Rückbeuge im oberen Rücken (F)tritt dagegen in den Hintergrund. Mit den hier beschriebenen Konzepten vonRückbeugen in der Âsanapraxis hat diese Haltung nichts gemein.

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KOBRA – SCHLANGE ODERMENSCH?

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stärksten auf sie wirken, nicht irgendwel-chen Vorstellungen davon, wie es viel-leicht wünschenswert wäre. Und vor al-lem folgen sie diesen Kräften in ihrer Ge-samtheit und in Abhängigkeit voneinander.Gegen diese Gegebenheiten lassen sicheinzelne Wirbel nun einmal einfach nichtbewegen. Entsprechend lässt sich einRückgrat nicht strecken oder Raum in derWirbelsäule schaffen, wenn wie hier ge-streckte Arme den Schultergürtel entspre-chend fixieren. Natürlich können Anwei-sungen oder innere Bilder helfen, denKörper in einer gewünschte Weise zu be-wegen. Aber eben nur in den Grenzen, diedurch die Natur derWirbelsäule und die indi-viduelle Körperstruktureines Menschen vorgege-ben sind. Wer sie nichtkennt oder ignoriert,fühlt sich natürlich auchnicht aufgefordert, übereinen verantwortungs-vollen Umgang mit denÂsana des Yoga zu re-flektieren – und durcheine kompetente Auswahl von angemesse-nen Haltungen und Variationen die nöti-gen Bedingungen zu schaffen, dass ein ge-sundes Üben überhaupt erst möglich wird.Eine solche Reflexion und Kompetenzlässt sich auch nicht durch die schlichteÜbungsanleitung ersetzen, »Überlastun-gen« seien »zu vermeiden«: In der abgebil-deten Position ist die Lendenwirbelsäulelängst über ein gesundes Maß hinaus belas-tet.

Soll in der Rückbeuge der Kobra derDruck auf die Wirbelgelenke und Band-scheiben im Lenden- oder Nackenbereichauf ein gesundes Maß reduziert werden,besteht der sicherste und einfachste Wegdarin, die Intensität der Rückbeuge insge-samt zu verringern. Der Oberkörper darfdann nur so hoch angehoben werden, dassder Rücken des Übenden die Rückbeugenoch aktiv gestalten kann. Das gelingtdann am besten, wenn die Rückbeuge al-lein aus der Kraft des Rückens heraus be-werkstelligt wird und als wichtigstes Maßund Ziel gilt, mit der Rückbeuge den obe-ren Rücken zu erreichen. Ein solches Bhu-ja›gâsana zeigt die Abbildung A. Aber auchhier bleibt der – weil in unserer mensch-lichen Körperstruktur begründete - unauf-lösliche Zusammenhang bestehen: Je hö-

her ich den Oberkörper anhebe, umsomehr wird der untere Rücken in dieRückbeuge gehen, umso mehr Druck wer-den die Wirbelgelenke aushalten müssen,und umso deutlicher wird sich die Muskel-spannung im unteren Rücken konzentrie-ren. Keine Vorstellungskraft der Weltwird daran etwas ändern. Von der indivi-duell sehr unterschiedlichen Beweglichkeitder Brustwirbelsäule allerdings (s.u.) hängtes ab, wie sehr sie sich schließlich insge-samt »nach innen wölben«, besser: nachhinten beugen kann. Keinen Sinn ergibtauch die Aussage, es müsse vermiedenwerden, dass »zu viel Gewicht auf den

Lendenwirbeln« liege. Das Problem istnicht das Gewicht, sondern der Druck aufdie Wirbelgelenke, der allein durch diestarke Rückbeuge entsteht.

Um es noch einmal festzuhalten: Wiebelastend Bhuja›gâsana für die Lendewir-belsäule ist, entscheidet sich ganz wesent-lich daran, wie hoch der Oberkörper da-bei angehoben wird. Mit den entsprechen-den Anweisungen dazu ist es die Yogaleh-rerin, der Yogalehrer, die oder der diewichtigste Entscheidung darüber trifft, wiegesund die Kobra geübt wird.

Genauso ungesund wie das Abstützenauf den Armen für die Lendenwirbelsäuleist für die Halswirbelsäule die im Bild ge-zeigte extreme Rückbeuge im Nacken. Eswird hier offensichtlich gewissenhaft derAnleitung gefolgt, die Iyengar in seinemBuch «Licht auf Yoga« zur Kobra gibt:Beuge darin den »Kopf so weit wie mög-lich nach hinten«.

Solche Hinweise zum Üben von Bhuja›gâsana sind aber keineswegs aufdiesen Yogastil begrenzt. Etwas sanfterverpackt sprechen sie auch aus Anleitun-gen zur Kobra, wie sie beispielhaft auf derInternetseite von Yoga-Vidya gegebenwerden.

Unter der Überschrift: »Nur Fortge-

schrittene gehen noch weiter« zeigt eineAbbildung wohin es denn gehen könnte(Abb. C): Sie entspricht weitgehend derbisher diskutierten Version vonBhuja›gâsana (B). Wurden erfreulicherWeise zuvor wenigstens noch einige ver-nünftige Varianten der Kobra gezeigt,mangelt es auch hier an Einsicht in dieGrundlagen der menschlichen Biologie: Esfehlt jedes Bewusstsein davon, dass dasvorgeschlagene »Weitergehen für Fortge-schrittene« für jeden Menschen in hohemMaße riskant ist und eine ungesunde Be-lastung seiner Lenden- und Halswirbelsäu-le bedeutet, unabhängig davon, wie er sich

darin fühlt, wie intensiv er sichdarauf vorbereitet hat, wie auf-merksam er dabei auch ist.

Wir werden uns in einer dernächsten Ausgaben von VIVEKAnoch einmal ausführlicher mit derPraxis von Rückbeugen befassen.Hier sei in aller Kürze noch ange-merkt: Wie sich die Rückbeugebei einem konkreten Menschenschließlich ausformt, hängt nebenden bisher genannten wesentlich

von folgenden Faktoren ab:◆ von der individuell unterschiedlich aus-geprägten Beweglichkeit der Brustwirbel-säule◆ vom Grad der Muskelanspannung (unddamit ihrer Kraft und Koordinationsfähig-keit) in den unterschiedlichen Bereichender Rückenmuskulatur◆ schließlich von der individuellen Beweg-lichkeit des Beckens, dessen Position sichdurch die Beinhaltung, das Maß der An-spannung der Beine und der Bauchmusku-latur verändern lässt. (s. dazu auch VIVEKA 7 und 17).

Natürlich kann Bhuja›gâsana in vielenverschiedenen Formen geübt werden.Und es gibt unzählige Möglichkeiten, mitHilfe fantasievoller Anweisungen einer/mÜbenden zu einer intensiven, sinnvollenund effektiven Praxis dieses Âsana zu ver-helfen. Nichts spricht dagegen, dabei dasgesamte Spektrum der Möglichkeiten ei-ner/s Übenden auszuschöpfen; gesundwird die Praxis aber nur dann sein, wenndabei die natürlichen Gegebenheiten desKörpers respektiert werden. Es ist derMangel an einem solchen Respekt undfehlendes Wissen, die Âsanapraxis leidernoch immer zu oft zu einem gesundheit-lichen Risiko werden lassen.

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Thema

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wenn die ersten leisen Warntöne erklin-gen, ist es in der Regel schon zu spät.Wer als YogalehrendeR zu einer solchenArgumentation greift, drückt sich letzt-lich vor seiner/ihrer Verantwortung fürdas gesunde Âsanaüben seiner/ihrerSchülerInnen. Natürlich braucht Âsana-praxis alle Aufmerksamkeit der Üben-den, und ein gutes Körperbewusstseinhilft, in einer Praxis das eigene richtigeMaß zu finden. Vor den Gefahren einerernsthaften Fehlbelastung unseres Kör-pers schützt im Yoga aber vor allementsprechende Kenntnisse, der gesundeMenschenverstand und die Achtsamkeitund Überzeugungskraft einer kompe-tenten Yogalehrerin, eines kompetentenYogalehrers.

C ◆

Dehnen, dehnen, nochmals deh-nen...

Es ist schon lange bekannt, dass höch-ste körperliche Flexibilität für dasmenschliche Bewegungssystem einegroße Belastung darstellt. TänzerInnenund BodenturnerInnen etwa leiden un-gleich häufiger unter massiven Wirbel-säulenproblemen als Menschen, die ih-ren Tag am Schreibtisch verbringen.Darüber gibt es gut gesicherte Untersu-chungen und einen kontinuierlichenAustausch unter Sportmedizinern undOrthopäden1. Was dort als problemati-sche Überbeweglichkeit gilt, entsprichtin jeder Hinsicht jenem Grad an Flexibi-lität, den die hier zur Diskussion stehen-den Yogastile als Ideal darstellen und inihrer Praxis anstreben.

Werden überhaupt Begründungenangegeben, warum die extreme Dehn-fähigkeit etwa der Beinrückseite vonVorteil sein soll, dann sind sie unzutref-fend. »Beindehnungen sind das kleine1x1, sie machen den Rücken frei...«heißt es zum Beispiel in einem Artikelüber Âsanapraxis auch noch im Jahr20122. Das widerspricht allem Wissenüber das Wesen unseres Rückens. Wasihn tatsächlich »frei« macht, ist – sehrkurz gesagt – eine gute Flexibilität vorallem im Bereich der Brustwirbelsäule,eine hohe Belastungsfähigkeit seinerMuskulatur und eine angemessene und

es gilt auch dort, wo jemand zum Bei-spiel seinen Nacken im Pflug ständigüberdehnt.

Auch feinstes Hinspüren hilft danicht, denn es gibt keine Rezeptoren,die uns eine solche Überdehnung signa-lisieren würden. Unser Wahrnehmungs-system gibt uns grünes Licht für einegroße Bandbreite körperlicher Anforde-rungen, auch wenn sie unsere Gesund-heit angreifen; das ist für die Bewälti-gung unseres Alltags eine unentbehrli-che Hilfe. Weil es nicht zu spüren ist,müssen wir also wissen, wo auf lange

Sicht gesehen Schaden droht. Und ent-sprechende Konsequenzen ziehen. Solernt die Professorin eben schon dannfür eine kleine Pause aufzustehen undeinige Schritte zu gehen, wenn der Rü-cken mit einer Spannung um Hilfe ruft.Über solch ein Wissen verfügen wirnicht nur in Bezug auf zu vieles Sitzensondern auch auf eine Haltung des Pflu-ges oder einer Kobra, wie wir sie hierdiskutiert haben (s. Kasten S. 44/45).

Wir können nicht darauf warten,dass der Körper uns die rote Karte zeigt,weil er über eine solche Karte einfachnicht verfügt. Deshalb sind all jene Vor-schläge fahrlässig, die den Eindruck er-wecken, man müsse einfach nur gut aufden Körper hören, um bei einer Praxisauf der sicheren Seite zu sein. Denn

Kampf um unsere Gesundheit führt erin aller Stille, ohne uns im Geringstendamit zu belästigen. Auch wenn wirden ganzen Tag ununterbrochen vordem PC sitzen, geht es am Abend trotz-dem unbeschwert in den Club und derRücken trägt es, auch wenn wir bis zumMorgen durchtanzen. Sicher wollte je-mand diese Fähigkeit zur stillen Kom-pensation um nichts in der Welt mit ei-ner Situation tauschen, in der jede Fehl-belastung, die wir unserem Körper zu-muten, sofort spürbar wäre. Wir hättendann nämlich vom Aufstehen bis zum

Schlafengehen ständig nicht anderes alsdie Hilferufe unseres Körpers im Ohr.Fast immer gelingt es den komplexenund eng vernetzten Regulationssyste-men unseres Körpers klaglos Schadenvon uns abzuwenden und verlorenesGleichgewicht unbemerkt wieder herzu-stellen. Es ist diese stille Effektivität derkörpereigenen Selbstregulation, die unsunentwegt den Kopf und – ganz wört-lich – den Rücken frei hält für das Aben-teuer Leben. Dass sie sich so wenig inden Vordergrund drängt, hat aber aucheinen Nachteil: Der Körper meldet sichmit Spannung, Schmerz und Unwohlge-fühlen meist erst dann, wenn seine in-neren Selbstheilungskräfte nahezu er-schöpft sind. Dann müssen wir stattdessen unser Gehirn und unseren ge-sunden Menschenverstand nutzen. Dasgilt für die ständig im Sitzen arbeitendeProfessorin oder den Taxifahrer ebensowie für den Krankenpfleger, der täglichPatienten zum Umbetten anheben mussoder die Kassiererin im Supermarkt. Und

1) Einen aktuellen Überblick gibt: »Musculoskeletalinjuries and pain in dancers; a systematic reviewupdate«, Journal of Dance Medicine and Science2012; 162) Deutsches Yoga Forum 06/2012, S. 20

Eine so große Hüftbeweglichkeit führt nichtselten zu einer Destabilisierung des unterenRückens und geht mit einem erhöhten Risikoeinher, in späteren Jahren unter einer arthroti-schen Veränderung der Hüftgelenke zu lei-den. Wer über eine solche Flexibilität verfügtund nicht als TänzerIn oder AkrobatIn daraufangewiesen ist, sollte sie nicht noch weiterforcieren. Im modernen Tanztraining wirdheute versucht, mit Hilfe intensiven Krafttrai-nings die Risiken von Überbeweglichkeitendieser Art zu verringern.

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prompte neuromuskuläre Steuerung.Stark gedehnte Beinrückseiten – genaudas können wir von den gesundheit-lichen Problemen bei TänzerInnen ler-nen – führen statt dessen zu einer Über-beweglichkeit in der Hüftbeugung.»Loose hips« heißt das im englischenPopulär-Fachjargon, also »lockere Hüf-ten« und gilt eindeutig als Faktor, dereine Destabilisierung des unteren Rü-ckens fördert. Unter Missachtung dieserErkenntnisse freuen sich manche Yoga-lehrende noch immer, wenn Teilnehme-rInnen eine extreme Flexibilität mitbrin-gen und ermuntern sie, diese Überbe-weglichkeit durch lange Statik in Hal-tungen wie Uttanâsana oderPaÍcimotân âsana ausgiebig zu pflegen.

Warum solche Fehlentscheidungenso nahe liegen, liegt auch an einer Aus-richtung der Âsanapraxis auf festgelegteund idealisierte Formen, die sich durchein höchstes Maß an Dehnfähigkeit aus-zeichnen. Ob jemand zu den »Fortge-schrittenen« im Kurs gehört, misst sichbei einem solchen Âsanaverständnisdaran, wie nahe er beim Üben an dieseFormen heranreicht. Wie schon ange-sprochen, werden in der Folge geradeauch solche Übende einem besonderenRisiko von nachhaltiger Destabilisierungausgesetzt, deren Dehnfähigkeit dazuverlockt, in »fortgeschrittenen« Âsana-varianten über besonders lange Zeit inmaximaler Muskeldehnung zu verwei-len.

Dagegen macht die Arbeit an derBeindehnung natürlich dann Sinn, wenneine verkürzte Muskulatur die Alltagsbe-weglichkeit einschränkt. Für den unte-ren Rücken aber bleibt jede Âsanapra-xis, die sich dieses Ziel setzt, immer einebesondere Herausforderung, deren In-tensität einE kompetenteR YogalehrerInan der individuellen Körperstruktur ei-nes Menschen auszurichten weiß.

D ◆

Die Legende von den »klassischen«Âsanas

Auch wenn man ihr immer wieder be-gegnet: Die Vorstellung, es gäbe so et-was wie einen Kanon »klassischer« Âsa-nas, gehört ins das Reich der Legenden.

Die Rishikesh-Reihe wurde wohl in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert entwi-ckelt. Unter diesem Namen in Europa bekannt wurde sie durch den Belgier Andrévan Lysebeth, der sie im Ashram von Swami Sivananda in Rishikesh kennengelernthat und in leicht abgewandelter Form in einem 1968 veröffentlichen Buch vorstellte.Kurz darauf erschien es in deutscher Sprache unter dem Titel: »Yoga für Menschenvon heute«, damals eines der wenigen Bücher über Yoga-Âsanas überhaupt. DieRishikesh-Reihe besteht aus zwölf so genannten »Basic Âsanas«.

Wollten wir aus der wunderbar großen Zahl von Âsanas einige aussuchen, mitdenen wir den Nacken und unteren Rücken auf einfache Weise viel Probleme berei-ten können, dann wäre diese Abfolge von Âsana keine schlechte Wahl. Dass der Fo-kus dieser Übungen auf der »Gesundheit der Wirbelsäule« (www.sivananda.org/tea-

chings) liegen soll, kann nur be-haupten, wer von jeglicherKenntnis des menschlichen Kör-pers unbelastet ist. Dieser Man-gel spricht auch aus jedem Satzder Erklärungen zum Schulter-stand – als zweite Übung derzwölf »Grund-Âsana« dort, wosie Swami Sivananda in seinemBuch »Hatha Yoga« selbst erläu-tert:

»Wie Sirshâsana (der Kopf-stand) das ganze Nervensystemkräftigen soll, hat dieses leichte undwundervolle Âsana die Aufgabe, dieSchilddrüse und durch sie den gan-zen Körper und seine Funktionenzu stärken. Die Schilddrüse ist diewichtigste Drüse des gesamten end-okrinen Systems. Durch dieses Âsa-na bekommt die Schilddrüse reichli-che Blutzufuhr. Gesunde Schilddrü-se bedeutet gesunde Funktionendes Blutkreislaufes, der Atmung und

anderer Organe des Körpers. Dieses Âsana ist wie eine moderne Schilddrüsenbehandlung.Es heilt den furchtbarsten Ausschlag. Während der ganzen Behandlung muss der Krankevon Milch leben. Milch hilft der Schilddrüse, ihr Sekret in ausreichender Menge abzugeben,und der Natur, bei ihrer Tätigkeit des Neuaufbaues und der Neubildung sparsam zu sein.Wenn der Kranke morgens und abends ein Sonnenbad nimmt, wird die Heilung beschleu-nigt. Dieses Âsana beseitigt die Zerstörung des Alterns und erhält den Menschen immerjung. Es verhindert erfolgreich wollüstige Träume, heilt Magenschwäche, Verstopfung, Blind-darmentzündung, andere Störungen des Magens und Darms und Krampfadern. Es führtden Nervenwurzeln des Rückenmarks reichlich Blut zu, denn es zentralisiert das Blut imRückenmark und ernährt es großartig. Während man in dieser Stellung verharrt, nimmtdas Rückenmark genügend Blut auf, dadurch bleibt die Wirbelsäule elastisch. ... Wennman keine Zeit hat einen ganzen Lehrgang durchzuführen, sollte man wenigstens diesesSarvâ›gâsana ohne Unterbrechung im Zusammenhang mit Sirshâsana (Kopfstand) und Pa-schimottânâsana (sitzende Vorbeuge) längere Zeit durchführen. Man spart dadurch man-che Arztrechnung.«

Wohl nirgends anders als in einem Yogabuch könnte man eine solche Ansamm-lung von Kuriositäten äußern, ohne heftigsten Widerspruch oder einfach nur Kopf-schütteln zu ernten.

Die Rishikesh-Reihe

➥weiter S. 12

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suchen, auf bessere Weise wie bisher mitder Âsanapraxis umzugehen. Dass dieskeine seltenen Ausnahmen sind, könnenwir und viele unserer KollegInnen auchfür europäische Verhältnisse bestätigen.

Gefragt: Kompetenz und gesun-der Menschenverstand

Der wichtigste Schlüssel zum Ver-ständnis möglicher Risiken von körper-licher Yogapraxis aber ist eine gewissen-hafte Analyse der jeweiligen Anforderun-gen einer Âsanapraxis. Sie ist allerdingsnur möglich auf dem Hintergrund einesfundierten Wissens über die Funktions-weise des menschlichen Körpers und überdie Entstehung von Krankheiten, wie etwachronischen Schmerzen in Rücken oderNacken. Eine solche Analyse erlaubt eindifferenziertes Verständnis möglicher Risi-ken – so wie das gesicherte Wissen da-rum, dass bestimmte Substanzen im Taba-krauch krebserregend sind, das Risiko vonKettenrauchen verständlicher macht. Wirbrauchen deshalb eigentlich keine spekta-kulären Geschichten über Katastrophenim Yogaunterricht, von denen BroadsBuch vielleicht zu oft lebt.

Fundierte Analysen des Innenlebensvon Âsanas sind keineswegs neu. Mankann sicherlich fragen, warum erst jetztvermehrt berechtigte Fragen nach den Ri-siken von Âsanapraxis gestellt werden.Offensichtlich bedurfte es einer medien-wirksam inszenierten Publikation eindring-licher Einzelfälle, um diese Fragen in einebreite Öffentlichkeit und darüber endlichauch in die Yogaszene selbst zu tragen.

Die Analyse der körperlichen Anfor-derungen einer bestimmten Âsanapraxisist also die entscheidende Grundlage fürderen Einstufung als potentiell »krankma-chend« oder nicht. Wer sie vornimmtstellt fest: Ein erhebliches Risiko für Schä-den an Wirbelgelenken, Bandscheiben undMuskulatur beinhaltet zum Beispiel dasÜben von Rückbeugen mit extremen Lor-dosierungen der Lenden- und Halswirbel-säule oder Haltungen wie dem Pflug, sowie sie uns in den Anleitungen der Sivan-anda- und Yoga-Vidya-Zentren oder beiBKS Iyengar begegnen. Solche Aussagenstützen sich auf heute sehr gut gesichertesWissen. Zahlreiche Untersuchungen, auf-wändige Studien und intensive Forschungzeichnen inzwischen ein klaren Bild davon,welch enorme Belastungen und damit Ri-

tionsproblem anzeigt, wenn bei einigenwenigen Autos einer bestimmten Fahrzeu-greihe plötzlich die Bremsen versagen;niemand hält es dann für übertriebeneSorge, wenn die betroffenen Kundenschnell eine Vertragswerkstätte aufsu-chen. Wer ein anderes Auto fährt, musssich deshalb aber keine Sorgen machen.Kurz und gut: Es geht bei dem Hinweis auf»krank machende Übungen« also um dieFrage, ob die Praxis ganz bestimmter Âsa-nas und Übungs-Stile mit einem besondershohen gesundheitlichen Risiko einherge-hen. Die Antwort darauf ist eindeutig: Ja.

Auch Broad selbst begegnet dem Ein-wand, es ginge in seinen spektakulären Be-richten nur um seltene Einzelfälle. Einmalrechnet er hoch, was solche »Einzelfälle«bezogen auf alle Yogaübenden in den USAbedeuten würde – nämlich tausende vonernsthaften Verletzungen durch Yoga

jährlich. Zum anderen gibt er berechtig-terweise zu bedenken, dass körperlicheSchäden durch Âsanapraxis in der Yoga-szene noch immer ein Tabuthema sindund die Dunkelziffer entsprechend hochsein dürfte. SchülerInnen, die sich beimYoga körperliche Probleme zuziehen, fin-den dafür bei ihren LehrerInnen nur sel-ten ein offenes Ohr. Der Zusammenhangihrer Beschwerden mit einer Yogapraxiswird meist vorschnell zurückgewiesenoder die Schuld bei den Betroffenen selbstgesucht, etwa bei mangelnder Aufmerk-samkeit oder falschem Ehrgeiz.

Schließlich beschränkt Broad seine Ar-gumentation nicht auf diese Einzelfälle. Erlässt YogalehrerInnen zu Wort kommen,die von vielen Yogabegeisterten berichten,die nach ernsthaften Verletzungen durchYoga zu ihnen kommen und einen Weg

Was bedeutet es eigentlich, wenn eineÜbung wie der Pflug als »krankmachend«beschrieben wird, zum Beispiel in einervor weit über zehn Jahren erschienenenBroschüre der Techniker Krankenkasse?Muss demnach jeder Mensch, der Halâs-ana übt, Schäden an der Halswirbelsäuledavontragen? Natürlich nicht. AltkanzlerHelmut Schmidt ist über neunzig Jahre altund noch sehr munter, obwohl er seitJahrzehnten bekennender Kettenraucherist. Trotzdem würde aber niemand ab-streiten, dass Rauchen ungesund ist. Rich-tig ist: Wer raucht, muss nicht an Lungen-krebs erkranken, hat aber ein ungleich hö-heres Risiko dafür. Wer eine besondereKonstitution oder einfach Glück hat, kanneben auch als Kettenraucher gesund blei-ben. Gleiches gilt für bestimmte Âsanas.Sie können heute zu Recht als krankma-chend gelten, weil die regelmäßige Praxis

solcher Übungen mit einem hohen Risikoeinhergeht, ernsthaften gesundheitlichenSchaden zu nehmen.

William Broad berichtet in seinemBuch »The Science of Yoga« von spekta-kulären Verletzungen, die unzweifelhaftdurch Âsanapraxis – meist waren es Um-kehrpositionen – verursacht wurden. Na-türlich sind es nur Wenige, die beim Übenetwa des Schulterstands schwerste Wir-bel- Bandscheiben-, Gefäß- und Nerven-verletzungen oder gar einen Schlaganfallerlitten. Neben der Tragik, die solche Er-eignisse für die Betroffenen haben, liegtdie Bedeutung solcher Fälle viel mehr dar-in, dass sie auf offensichtlich vorhandeneRisiken hinweisen, die mit der Praxis ganzbestimmter Âsanas verbunden sind. Dasheißt aber auch: Mit der Praxis anderereben nicht. Ebenso wie es ein Konstruk-

Thema

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Russisch Roulett

Charakterisiert durch ein durchweg extrem hohes Risiko für den Na-cken und unterer Rücken: Die in der sogenannten Rishikesh-Reihe-vorgeschlagenen Âsanavarianten.

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siken derartige Haltungen für Wirbelge-lenke, Bandscheiben, Muskelstoffwechselund neuromuskuläre Koordination bedeu-ten. Und auch der Weg lässt sich recht lü-ckenlos nachzeichnen, auf dem solche Be-lastungen sich Schritt für Schritt, zuerstunbemerkt, und später oft äußerstschmerzhaft zu einem chronischen Span-nungszustand oder zu chronischen Wir-belsäulenproblemen auswachsen. AuchBroad nutzt bisweilen den Bezug auf heuti-ge medizinische Erkenntnisse. Etwa wenn

er richtig darauf hinweist, dass die Rota-tionsfähigkeit der Halswirbelsäule norma-lerweise zu jeder Seite etwa 50 Grad be-trägt, Yogapraktizierende der hier zur Dis-kussion stehenden Stile aber oft über eineBeweglichkeit von 90 Grad verfügen, alsofast das Doppelte. Es steht heute außerFrage, dass diese Errungenschaft für dieHalswirbelsäule und ihre Muskulatur keineSegen ist. Einmal erreicht, verlangt sie vonnun an höchste Anforderungen an die Sta-bilisierung einer überbeweglichen Halswir-belsäule. Dabei geraten Wirbelgelenkeund Muskulatur des Nackens sehr leichtund unter Dauerstress - wie sich einfachnachvollziehen lässt. Mancher Nacken er-

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wanderer ist es selbstverständlich, mitden Risiken seines Weges vertraut zusein. Er weiß, dass eine Gletscherüber-querung etwas anderes ist als ein Gangüber eine Almwiese. Erst dann kann erfundierte und befriedigende Entscheidun-gen darüber treffen, welchen Weg er heu-te einschlägt. Und wenn gerade das Glet-scher-Abenteuer den Weg besonders ver-lockend macht: Nur wenn er das damitverbundene Risiko kennt, wird er ent-scheiden können, ob er über die nötigeAusrüstung, Kondition und Erfahrung ver-fügt – und er wird die nötige Vorsichtwalten lassen. Und obwohl die Wahr-scheinlichkeit in eine Gletscherspalte zufallen, nicht sehr hoch ist – in den Bergenwundert sich niemand darüber, dass sol-che Risiken thematisiert und abgewogenwerden. Entsprechend häufig wird auchbeim Abendessen der Hüttenwirt danachgefragt, wie der eine für den nächsten Taggeplante Route einschätzt.

Eine ähnliche Kompetenz und Aus-kunftsfreude sollte man auch von einemYogalehrer, einer Yogalehrerin erwarten.Das heutige Wissen um den Körper zu-sammen mit einem guten Verständnis derkörperlichen Anforderungen einer be-stimmten Haltung erlaubt jedem entspre-chend ausgebildeten Yoga-Unterrichten-den eine recht sichere Einschätzung da-von, wie viel gesundheitliches Risiko einebestimmte Âsanapraxis für eine Personbereit hält.

Redlicherweise müsste die Ansage ineiner Yogastunde zum Pflug im Stil von Si-vananda und anderen etwa so beginnen:»Wir machen jetzt Halâsana. Wenn Siediese Übung die nächsten Monate bei mirim Unterricht regelmäßig üben, wird etwaein Drittel von Ihnen dabei überhaupt kei-nen Schaden nehmen. Zwei Drittel wer-den eine Dehnung in der Halswirbelsäuleerreichen, die deutlich über das normaleMaß hinausgeht. Bei einigen wird dies dazuführen, dass der Nacken in ein ernsthaftesUngleichgewicht gerät. Manche davonwerden deshalb mit schmerzhaften Na-ckenproblemen zu kämpfen haben. Weni-ge, vielleicht nur ein oder zwei von Ihnenwerden dieses Problem schließlich kaummehr wieder loswerden und es wird le-benslang Ihre Schwachstelle bleiben.« Erstjetzt könnte jedeR TeilnehmerIn wirklichfrei entscheiden, ob ihr oder ihm dieseÜbung das gegebene Risiko wert ist.

trägt diesen Stress klaglos, bei anderenwird jedoch die Grenze ihrer individuellenKompensationsfähigkeit überschritten –mit entsprechend unangenehmen bis fata-len Folgen.

Übervorsichtig?Sind wir übervorsichtig? Zuerst sollten

wir nicht vergessen: Die Frage nach demUmgang mit Risiken stellt sich für einenFormel1-Fahrer anders als für Menschen,die zum Yoga kommen und denen es auch

– oft sogar vor allem – gerade darumgeht, etwas Gutes für ihre Gesundheit zutun. Wo der Wunsch nach Gesundheit ei-ne so große Rolle spielt wie beim Yoga,muss es selbstverständlich sein, möglicheRisiken für die Gesundheit ganz besonderskritisch zu sehen und ihnen größte Auf-merksamkeit zu schenken.

Trotzdem können wir natürlich auchim Yogaunterricht nicht jedes Risiko ver-meiden. Es ist jedoch mehr als wün-schenswert, dass Yogalehrende Risikenkennen, sie einschätzen können und des-halb in ihrem Unterricht schließlich richti-ge und gesundheitsbewusste Entscheidun-gen treffen. Für einen erfahrenen Berg-

Ob ein Âsana mit besonders hohen gesundheitlichen Risiken verbunden ist, lässt sichnicht daran messen, wie körperlich fordernd es ist oder wieviel Körperbeherrschungdabei verlangt wird. So ist zum sind zum Beispiel Piñchamayûrâsana (A) oder derHandstand (B) mit weit weniger Riskien verbunden als der Schulterstand (C).

CA B

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Thema

Wie unzutreffend sie ist, hat Uwe Bräu-tigam in Viveka, Heft 33 (2004) ausführ-lich dargestellt. Der hierzulande viel-leicht bekannteste Versuch, eine Aus-wahl von Âsanas mit der Aura yogischerKlassik zu umgeben, ist die sogenannteRishikesh-Reihe aus der ersten Hälftedes zwanzigsten Jahrhunderts. (s. Kas-ten »Die Rishikesh-Reihe«) Sie stelltauch heute noch die Grundlage derÂsanaarbeit der Yoga-Vidya und Sivan-anda Yoga Vedanta Zentren dar. Aberauch anderswo wird oft der Eindruckvermittelt, »echtes« Âsanaüben fändenur dann statt, wenn ganz bestimmteÂsanas, zudem in ganz bestimmten For-men praktiziert würden. Manchmal istauch die Rede von »Grundâsanas«, diees zu beherrschen gelte. Am aktuellenwirtschaftlichen Ende dieser Entwick-lung steht die geschäftstüchtige Paten-tierung von Âsanareihen und die Verfol-gung ihrer Verwendung ohne entspre-chende Lizenzgebühren durch Anwälte.Solche Engstirnigkeiten ignorieren denständigen und großen Wandel, demÂsanapraxis in der langen Geschichtedes Yoga unterworfen war; sehen nicht,wie sehr diese Geschichte von Brüchengeprägt ist und wie wirklichkeitsfremddie Vorstellung von über die Jahrhun-derte hinweg ununterbrochenen Tradi-tionslinien ist. Darüber hinaus gab esvor der englischen Kolonialisierung In-diens große regionale Unterschiede inder Âsanapraxis. Verschiedene Traditio-nen existierten ohne engen Kontaktnebeneinander, benutzten eine unter-schiedliche Auswahl von Âsanas undpflegten einen sehr unterschiedlichenUmgang damit. Darauf weisen auch be-rühmte Texte wie die Ha†ha Yoga Pradî-pikâ aus dem 16. Jahrhundert ausdrück-lich hin. In ihnen wird deutlich, dass sichdamals niemand zu einem Urteil darü-ber aufschwang, was ein echtes oderklassisches Âsana sei und was nicht.Tatsächlich ist die Rede von »klassi-schen« Âsana eine Erfindung des zwan-zigsten Jahrhunderts und entstand imZusammenhang mit der Ausbreitungdes Yoga in den Westen.

Ein besonderer Aspekt dieses vorge-blichen Bezugs auf eine Klassik der Âsa-na liegt darin, dass er sich mit einer

durch nichts gerechtfertigten Überbe-wertung von Umkehrpositionen ver-band. Wurden sie in den alten Textendes Ha†ha Yoga – wenn überhaupt –noch eher am Rande abgehandelt, ge-rieten der Kopfstand und Schulterstand(neben dem Lotussitz) in den 50er Jah-ren des letzten Jahrhunderts zu so et-

was wie die Yogahaltungen schlechthin.Der Kopfstand wurde zum »König derÂsanas« erklärt, der Schulterstand sogarzur »Mutter aller Âsana«. Dass sich sol-che Bewertungen trotz fehlendem Reali-tätsgehalt ausbreiten konnten, hattenicht zuletzt damit zu tun, dass Um-kehrpositionen sehr einfach in eindrück-

1) Viveka 49

In jedem seriösen Buch über die Funktionsweise des menschlichen Körpers ist esnachlesbar: Die Drüsenzellen der Schild drüse geben ihre Hormone nur ab, wenn sie

von entsprechenden Botenstoffen ausdem Gehirn dazu angeregt werden.Selbst der intensivste Druck auf dieSchilddrüse hat auf ihre hormonelleFunktion nicht den geringsten Einfluss.Deshalb entfalten Übungen wie derSchulterstand oder die Schulterbrückekeinerlei Wirkung auf das Hormonsys-tem der Schilddrüse. Der bisweilen un-erschütterliche Glaube an solche Effek-te ist einfach Unsinn.Die Ausschüttung der Schilddrüsenhor-mone (Thyroxine) reguliert wesentlichein Botenstoff (TSH), der in der Hirnan-hangsdrüse (Hypophyse) gebildet wirdund über den Blutkreislauf die Schild-drüse erreicht. Daneben reagiert dieSchilddrüse auch auf Änderungen derJod(id)konzentration im Blut.Die Hirnanhangsdrüse wiederum wirdvom Hypothalamus gesteuert. Der Hy-pothalmus ist die entscheidendeSchnittstelle zwischen der Hormonre-gulation und dem gesamten Nervensys-tem des Menschen. Die so genannteHypothalamus-Hypophysen- Achse ver-bindet das Hormonsystem mit demZentralnervensystem und spielt einezentrale Rolle bei der Kontrolle derwichtigsten Körperfunktionen. Die da-bei wirksamen Prozesse sind äußerstkomplex und leben von einem fein ab-gestimmten Ineinandergreifen unter-schiedlichster Ebenen. Sie reichen vonder Subtilität unserer inneren Stim-mung bis zu sehr Handfestem wie der

aktuellen Menge der im Körper gespeicherten Flüssigkeit. Mechanistische Vorstellun-gen zur Wirkung von Umkehrhaltungen werden dem in seiner Komplexität tatsäch-lich atemberaubenden System des menschlichen Körpers nicht gerecht.

In einem Artikel über Viparîta karani in Heft 44 von Viveka (2009) wurde die Frage der Wirkungvon Umkehrpositionen aus traditioneller und heutiger Sicht ausführlich diskutiert.Daraus ist dieser Text entnommen.

Hypothalamus

Schilddrüse

Hirnanhangsdrüse(Hypophyse)

Zentral-nervensystem

Vegetativum

über hormonelleBotenstoffeund das Nervensystem

über den Blutkreislaufdurch einen hormonellenBotenstoff (TSH)

HypophyseHirnanhangsdrüse

Schilddrüse

Schilddrüsenhormone(Thyroxine)

Hypothalamus

Drüsenzellen derSchilddrüse setzenThyroxine frei

Regu

lation

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lichen Bildern medial zu verwerten sind.Auf diese Weise prägten sie bald welt-weit, was man sich unter Yogaübungenvorzustellen hatte. Darüber hinaus wur-den den Umkehrpositionen allenthalbenauch noch wahre Wunderwirkungen zu-gesprochen. Bis heute fehlt allerdingsein redlicher Nachweis solcher Effekteund die dabei stets mitgelieferten an-geblich »wissenschaftlichen Begrün-dungen« lassen jeden Bezug auf die Re-alität und vor allem Komplexitätmenschlicher Körperfunktionen vermis-sen. Dazu nun mehr.

E ◆

Körpermechanistik

Viele Erklärungen zur Wirkung von Âsa-nas sind geprägt von einem ganz undgar mechanistischen Bild des mensch-lichen Körpers. So steht wider besseresWissen die positive Beeinflussung derSchilddrüse auch heute noch ganz obenauf der Liste der Wirkungen des Schul-terstands oder Pfluges – angeblich her-vorgerufen durch den mechanischenDruck, der dabei auf die Schilddrüseausgeübt wird:

Der Schulterstand»regt Schilddrüse und Nebenschild-

drüse an und reguliert ihre Funktion.Dies verbessert den gesamten Zellstoff-wechsel. Verbessert die Blutversorgungdes Rückenmarks«1,

»er verbessert die Funktion derSchilddrüse und der Nebenschilddrü-se«2,

er »normalisiert die Funktion derSchilddrüse und dadurch den Metabo-lismus im ganzen Körper. Schulterstandhilft, eine jugendliche Figur und glatteHaut zu erhalten.«3

Auch wenn sich die Liste solcher Zi-tate unendlich verlängern ließe, nichtsvon all dem trifft zu.

Inzwischen lernen schon Kinder inder Schule, dass die Schilddrüse auf allesmögliche reagiert, aber nicht auf me-

chanischen Druck. Sie lässt sich nichtwie eine Majonäsetube oder einSchwamm ausdrücken. Die Ausschüt-tung der Schilddrüsenhormone erfolgtauch nicht auf dem Hintergrund einervermehrten Durchblutung, sondern wirdüber komplexe neurovegetative Prozes-se balanciert, die sich zu unserem Glückdurch keine Körperhaltung beeinflussenlassen. »Keine Tube Majonäse – zurPhysiologie der Schilddrüse« war dennauch die Überschrift über eines 2001 er-schienen Artikels im Heft 22 von Viveka,

Genau so falsch mechanistisch ge-dacht ist die Behauptung, im Kopfstandwürde die Hirndurchblutung verbessert.Es ist eher das Gegenteil der Fall. ZurKlärung des wirklichen Sachverhaltstaugt keines der vielen Yogabücher indenen der Kopfstand gepriesen wird.Besser fragen wir dazu eine Verkäuferinam Ende eines Arbeitstags danach, wiegut nun das Blut in ihren geschwollenenFüßen zirkuliere. Letztere nämlich be-fanden sich den ganzen Tag in der glei-chen Position wie der Kopf im Kopf-stand, also unten – dort wo sich imKörper das Blut durch die Wirkung derSchwerkraft eher staut als munter be-wegt. In Wahrheit regeln komplex ver-netzte neurovegetative Steuerungspro-zesse die Durchblutung des Gehirnsnicht anders als die aller anderen Orga-ne des Körpers: Wird von einem Organwenig Aktivität gefordert, sinkt seineDurchblutung, wird es mehr gebraucht,nimmt sie zu. Deshalb hat das Lösen ei-nes schwierigen Kreuzworträtsel einenachweislich größere Wirkung auf dieBlutzirkulation im Gehirn als der Kopf-stand. Dieses Beispiel und viele Detailsüber die Wirkung des Kopfstands findensich in Viveka Heft 17 aus dem Jahre1999.

Die dort gesammelten Zitate übervöllig aus der Luft gegriffene Wunder-wirkungen des Kopfstands lassen sichheute durch viele weitere Peinlichkeitenergänzen, die immer noch aktuelleYogabücher ebenso wie entsprechendeInternetseiten füllen.

BeratungsresistentEine interessante Recherche zu der

Beratungsresistenz der Yogaszenegegenüber offensichtlich unhaltbarenAussagen über die Wirkung von Yoga

findet sich in »The Science of Yoga«.Es ist eine gut gesicherte Tatsache,

dass Yogapraxis kein Ersatz für ein wirk-sames Herz-Kreislauf-Training seinkann4. Broad beschreibt nun ausführ-lich, wie vor einigen Jahren viele Yoga-lehrende ebenso wie Amerikas aufla-genstärkstes »Yoga Journal« in absur-den Windungen versuchten, diesenSachverhalt in sein Gegenteil umzudeu-ten.

Sein zweites Beispiel betrifft die Tat-sache, dass Yogapraxis an sich nicht Ge-wicht reduzierend wirkt. Auch hier gibtes fundierte Untersuchungen: In allerRegel führt auch eine körperlich sehr in-tensive Yogapraxis zu einer Absenkungdes Gesamtkörperstoffwechsels. DerKörper verbrennt also weniger als nor-mal, nicht mehr. Weil dies im Verhältniszum Stoffwechsel insgesamt kaum insGewicht fällt, wird wohl niemand durchYoga zunehmen, aber abnehmen ganzbestimmt auch nicht. Diese Umstellungdes Körperstoffwechsels lässt sich auchin jeder Meditation oder Übungsweisenwie etwa Tai Chi beobachten. UmYogapraxis so zu gestalten, dass mandavon abnimmt, müsste sie zur atemlo-sen Gymnastik verkommen oderschweißtreibend in überhitzten Räumenstattfinden, allerdings nicht nur einmalpro Woche. Auch hier erzählt Broad ei-ne unterhaltsame Geschichte aus deramerikanischen Yogaszene über dieKunst, diese eindeutigen Fakten zu ver-biegen, zu ignorieren oder einfach ihrGegenteil zu behaupten.

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Fortschritt, Fortschritt, ja hurra!5

Häufig beschränkt sich eine Individuali-sierung des Yogaunterrichts oder vonPraxisanleitungen in Yogabüchern aufdie Unterscheidung zwischen weniger

Wenn Yoga schadet

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1) Besser leben mit Yoga, Sivananda Yoga VedantaZentrum 20102) B.K.S. Iyengar, Yoga, Der Weg zu Gesundheitund Harmonie 20123) Yoga-Vidya: www.yoga-vidya.de, Juli 2012

4) s. dazu: »Yoga und Fitness« in Viveka, Heft 29(2003) 5) Refrain aus dem »KKW-Nein-Rag« des liederma-chers Walter Moßmann, den er 1974 zu den Aktio-nen gegen das Kernkraftwerk Wyhl schrieb.

Page 14: Wenn Yoga schadet - Viveka · termilch« erklärte Swami Gitananda (1907-1993), ein populärer Guru, der zehn Welttourneen absolvierte und Ash-rams in vielen Kontinenten gründete.

haben, sind gerade die gravierendstenRisiken bestimmter Âsanaformen für ei-neN ÜbendeN eben nicht zu erkennenoder zu spüren. Yogapraktizierende sindhier auf die Kompetenz und das Wissenihrer Yogalehrerin oder ihres Yogaleh-rers angewiesen. Es ist nicht Yoga, wasvon Broad negativ dargestellt wird. Viel-mehr weist er zu Recht darauf hin, dassmanche Yogalehrende dieser Verant-wortung nicht nachkommen.◆ Ein ebenso häufiger Einwand lautet:»Yoga ist doch mehr als Âsana. Die Kri-tiker verstehen gar nicht, was Yoga ei-gentlich wirklich ausmacht.« Das wäreungefähr so, als ob einem gemeinnützi-gen Verein vorgeworfen würde, dasssein Kassenbuch nicht stimmt und seinVorsitzender keine andere Antwortweiß als: Aber unser eigentlicher Zweckist doch die Gemeinnützigkeit! WerKörperübungen benutzt und ihnen auchnoch gesundheitlichen Nutzen zu-schreibt, darf sich nicht darüber be-schweren, wenn jemand prüft, ob dabeiauf gesunde Weise mit dem Körper um-gegangen wird und ob die gegebenVersprechen auch zutreffen.

Es ist erfreulich, dass die Diskussionum Risiken, Nutzen und Wirkung vonYogapraxis nun endlich ein größeres Pu-blikum erreicht hat. Darin liegt dieChance zu einer notwendigen breitenund zeitgemäßen Reflexion dieses wun-derbaren Übungssystems Yoga. In sei-ner viel hundertjährigen Geschichte istes immer wieder gelungen, mit einerMischung aus Wandel, Anpassung undBewahrung brauchbare Vorschläge zufinden, die Menschen dabei helfen kön-nen, ein freieres und gesünderes Lebenzu genießen. Dabei besteht der An-spruch, die Âsanas des Yoga so zu leh-ren und zu praktizieren, dass sie die Ge-samtheit ihrer vielfältigen positiven Wir-kungen entfalten können.

Ohne Frage ist dies heute auf eineWeise möglich, die unserer Gesundheitnützt und nicht schadet. ▼

ReaktionenZwei häufige Reaktionen von Yogaleh-renden auf Broads Veröffentlichung unddessen Echo in den Medien seien nochangesprochen.◆ Auf einen entsprechenden Artikel inder Frankfurter Allgemeinen Sonntags-zeitung vom 26.6.2012 antwortete eineLeserin online: »Meiner Meinung nachwird Yoga zu Unrecht so negativ darge-stellt. Es gibt so viele Yogawege, die fürjeden Körper und für ganz viele Krank-

heiten helfen können. Das Tragische isthauptsächlich, dass wir in einer Leis-tungsgesellschaft leben und viele Men-schen dies auch im Yoga anwenden.Aber genau das Gegenteil ist der Fall.Spüre für Dich selbst wie weit es gut fürDich ist, in eine Dehnung zu gehen. Hal-te nur so lange wie es für Dich stimmigist. Die Verantwortung für unseren Kör-per übernehmen und das Gleichgewichtfinden, bis wann fordere ich mich, abwann überfordere ich mich.« Das allessind richtige Hinweise, aber die hier an-gesprochenen Fragen werden davon inkeiner Weise berührt. Wie wir gezeigt

oder mehr »Fortgeschrittenen«. Manch-mal wird bisweilen aber auch schon (lei-der selten in angemessener Weise) dieeine oder andere Kontraindikation ge-nannt, also Erkrankungen, die der Praxiseiner bestimmten Übung entgegenste-hen.

Es wurde weiter oben schon daraufhingewiesen, dass die Unterscheidungzwischen Anfängern und Fortgeschritte-nen für die Risikoabschätzung einesÂsana wenig taugt. Es fehlt immer wie-

der die Auseinandersetzung mit denKonsequenzen, welche die individuelleKörperstruktur eines jeden Übenden, obgesund oder krank, ob flexibel oder steiffür eine gesunde Praxis und Anleitungvon Âsana erfordert. Gerade jene Übun-gen, die oft »Fortgeschrittenen« ansHerz gelegt werden, bedeuten auch fürkörperlich gesunde, flexible Übende mitguter Körperbeherrschung und gutemKörperbewusstsein ein hohes Gesund-heitsrisiko. Was an diesen Übungen vonbesonderem Nutzen sein soll, ist nichtnachvollziehbar.

Thema

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Bildnachweise:◆ Besser leben mit Yoga, Sivanada Yoga VedantaZentrum, 2010◆ www.wholeliving.com◆ www.yoga-vidya.de◆ Das Yoga-Handbuch nach der Iyengar-Methode◆ B.K.S. Iyengar, Yoga, Der Weg zu Gesundheitund Harmonie

»Fortschritt«Bei der Praxis von Âsana wird oft im-mer noch für »Fortschritt« gehalten,wenn der Körper in Positionen ge-bracht wird, in denen die Wirbelsäulemöglichst stark verbogen und belas-tet wird. Während Abbildung A einHaltung zeigt, die alle Erfahrung ei-nes Vîrabhadrâsana am Boden er-laubt, ist in Haltung B der untere Rü-cken in einer krankmachenden Lor-dosierung. Weder ist hier ein positi-ver Impuls auf der körperlichen Ebe-ne zu erwarten noch kann man da-von ausgehen, gerade in dieser Posi-tion mit einer Erleuchtung beglücktzu werden. Trotzdem gilt sie gegenü-ber der Haltung A als »Fortschritt«.Einem solchen Blick fehlt jedes Ver-ständnis für die Gegebenheiten desmenschlichen Körpers. Und er igno-riert die wunderbaren Möglichenkei-ten, die in einer angemessenen undgesunden Âsanapraxis stecken.

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