Utopie am Abgrund Anmerkungen zum Aufstieg Ernst … · ... die Grenzen zur Utopie ... in der...

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Utopie am Abgrund Anmerkungen zum Aufstieg Ernst Blochs Bernhard Streck Abstract The essay wants to deconstruct the genre of utopias so popular in the 20th century political writings. Human history shows manifold respect to stories about non-existent worlds which mix reality and non- reality, but outside the area of Abrahamitic beliefs there was rarely hope for a future. The secular version of such eschatological teachings begins with Karl Marx in the 19 th century and culminates in the prophetic as well as revolutionary writings of Ernst Bloch around the terrible wars of the 20 th century. This philosopher succeeded in both parts of post-war Germany and is still venerated inside and outside the academias. Compared with the so-called dystopias of Max Weber, Aldous Huxley or George Orwell the political visions of Bloch lack any sense of reality and seem to be quite useless to the understanding of present tendencies in world politics. Hoffen und Harren macht manchen zum Narren Volksmund 1 „a) Deutschland will den europäischen Frieden. Nachdem allein seit 1500 56 europäische Bruder- und Binnenkriege die friedliche Aufbauarbeit immer wieder zunichte gemacht haben, soll diese Epoche der Selbstzerfleischung endlich ein Ende haben. b) Deutschland will die europäische Quarantäne überwinden durch den völkischen Sozialismus… c) Deutschland will die Freiheit des Volkstums wiederherstellen… Bei der Verzahnung und gegenseitigen Überschichtung des Volkstums ist der Völkerfriede niemals durch Grenzziehungen herzustellen, sondern einzig und allein durch eine übervölkische Ordnung Europas. e)Deutschland will den Schutz der kleinen Völker gegen die Vergewaltigung durch die europäischen Nachbarn… f) Deutschland will die innere Freiheit der Völker wiederherstellen, die Selbstbestimmung durch ihre eigenständige Volksordnung, Befreiung von bolschewistischem Zwang und Unterdrückung. 1 Deutsche Version von Fallitur augurio spes bona saepe suo (Ovid, Heroiden 16, 234) 325

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Utopie am AbgrundAnmerkungen zum Aufstieg Ernst Blochs

Bernhard Streck

Abstract

The essay wants to deconstruct the genre of utopias so popular in the 20th century political writings. Human history shows manifold respect to stories about non-existent worlds which mix reality and non-reality, but outside the area of Abrahamitic beliefs there was rarely hope for a future. The secular version of such eschatological teachings begins with Karl Marx in the 19th century and culminates in the prophetic as well as revolutionary writings of Ernst Bloch around the terrible wars of the 20 th

century. This philosopher succeeded in both parts of post-war Germany and is still venerated inside and outside the academias. Compared with the so-called dystopias of Max Weber, Aldous Huxley or George Orwell the political visions of Bloch lack any sense of reality and seem to be quite useless to the understanding of present tendencies in world politics.

Hoffen und Harren macht manchen zum NarrenVolksmund1

„a) Deutschland will den europäischen Frieden. Nachdem allein seit 1500 56 europäische Bruder- und Binnenkriege die friedliche Aufbauarbeit immer wieder zunichte gemacht haben, soll diese Epoche der Selbstzerfleischung endlich ein Ende haben.b) Deutschland will die europäische Quarantäne überwinden durch den völkischen Sozialismus…c) Deutschland will die Freiheit des Volkstums wiederherstellen… Bei der Verzahnung und gegenseitigen Überschichtung des Volkstums ist der Völkerfriede niemals durch Grenzziehungen herzustellen, sondern einzig und allein durch eine übervölkische Ordnung Europas.e)Deutschland will den Schutz der kleinen Völker gegen die Vergewaltigung durch die europäischen Nachbarn…f) Deutschland will die innere Freiheit der Völker wiederherstellen, die Selbstbestimmung durch ihre eigenständige Volksordnung, Befreiung von bolschewistischem Zwang und Unterdrückung.

1 Deutsche Version von Fallitur augurio spes bona saepe suo (Ovid, Heroiden 16, 234)

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g) Deutschland will die Freiheit der Arbeit gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch die Wirtschaftssysteme des 19. Jahrhunderts.Zusammenfassung: Deutschland führt diesen Krieg nicht nur der negativen Ziele wie der Erhaltung unseres Volkslebens und der Abwehr raumfremder Mächte wegen, sondern um des positiven Zieles wegen: Der europäischen Eidgenossenschaft, der genössischen nationalistischen und sozialistischen Völkergemeinschaft Europas…“2

Als der 31-jährige Hauptsturmführer Alexander Dolezalek im Europa-Amt der SS diesen „Generalplan 1944“ ausarbeitete, war der Zweite Weltkrieg für das dritte Deutsche Reich schon längst verloren. Die Verbündeten waren abgefallen. Die in jeder Hinsicht überlegenen Hauptgegner stießen von Osten und von Westen siegreich gegen die Mitte Europas vor. Die Sturmtruppen von einst lieferten zwar noch verzweifelte Abwehrkämpfe an den Fronten, ihre Hauptarbeit aber galt der Vernichtung der Millionen in Geiselhaft genommener Juden und Regimegegner. Unter diesen Bedingungen des moralischen wie militärischen Absturzes konnte aus der „Europäischen Eidgenossenschaft“ nichts werden. Es war eine Utopie, ein Nichtortsplan, geschrieben im nahezu freien Fall in den Abgrund.

Utopie als Anderswelt

Ohne die Unerreichbarkeit gäbe es wohl überhaupt keine Utopie. Zumindest wäre die Bezeichnung überflüssig, bzw. nicht zu trennen von einem religiösen, ideologischen oder politischen Programm. Als unerreichbare, aber doch vorstellbare Anderswelt haben nahezu alle frühen Kulturen Utopien entwickelt. Die ethnologischen Archive sind voll mit phantastischen Erzählungen über Riesen, über Zwerge, über Monster etc., die irgendwo und irgendwann lebten oder leben3. Man weiß viel über ihr Aussehen, ihre Umgangsformen, ihre Behausungen und ihre Bräuche. Nur eines weiß man nicht genau, nämlich ob es sie überhaupt gibt. Es sind Nichtorte und Nichtzeiten, deren Bewohner Nichtmenschen sind und keine reale Stofflichkeit besitzen. Oft werden sie auch Geister genannt und mit den Schatten oder den Verstorbenen in Verbindung gebracht. Wenn in frühen oder archaischen Kulturen Menschen utopisch denken, tun sie das weniger auf die Zukunft als auf die Vergangenheit gerichtet. Die Erzählungen über Geisterwelten verbinden nämlich Vergangenheit und Gegenwart mit ihren unvergänglichen Inhalten.

Kulturen, die wegen ihrer Schriftlosigkeit sich einer exakten Analyse verweigern und deswegen meist nur von der Ethnologie beachtet werden, sind in der

2 Auszug aus dem „Generalplan 1944“ (Dokumentenkabinett Vlotho, Studien-Sammlung für europäische Geschichte, Gegenwart und Zukunftsplanung), zit.n. Walter Post: Hitlers Europa. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1940-1945. Stegen am Ammersee: Druffel & Vowinckel 2011, S.401-2.3 Ein Beispiel für viele: Palmisano, Antonio L.: Mito e Società. Analisi della mitologia dei Lotuho del Sudan. Milano: Franco Angeli 1989.

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Regel gespalten. In ihrer Topologie regulieren sie die Bedürfnisbefriedigung und das reale Überleben; in ihrer „Utopologie“ träumen sie von Göttern, Unholden und anderen Welten. Hier wissen am besten Bescheid die Mitglieder, die im realen Leben als verrückt gelten: Schamanen zum Beispiel. Sie behaupten, die Grenzen zur Utopie überschreiten zu können oder zwischen dem Reich der Wirklichkeit und dem der Unwirklichkeit hin- und herpendeln zu können. Dafür werden sie verlacht, aber gerne auch gebraucht, sooft Krankheit oder Tod die Lebenden bedrohen.

Dass die beiden Reiche ineinander über- oder aufgehen, ist im „primitiven Denken“ (Levi-Bruhl) nicht vorgesehen. So wie Tag und Nacht sich abwechseln, tun das Licht und Schatten, Sommer und Winter, Hunger und Völlerei, Rausch und Nüchternheit, Krieg und Frieden – und eben auch Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Sie sind extrem ungleich, gehören aber doch irgendwie zusammen. Wo sie nicht parallel nebeneinander existieren können, ersetzen sie sich gegenseitig im Rhythmus, so wie das Tagbewusstsein und das Traumgeschehen. Der deutsche Afrikaforscher Leo Frobenius (1873-1938) sprach von einer „Todlebensgemeinschaft“ in theologisch nicht erfassten Kulturhorizonten4. Das Koordinatensystem aus Raum und Zeit ordnet das Alltagshandeln. In der Ekstase wird es verlassen oder zerstört, und man bewegt sich in der Utopie, in der Phantasie, in Wahnvorstellungen, Visionen und Wolkenkuckucksheimen.

Die Erfindung des Futurums

Der amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner hat in verschiedenen Schriften darauf hingewiesen, dass archaische Völker schon sprachlich ohne Zukunft leben. Ihr Denken gilt allein der Gegenwart und deren stets zu erneuernden Verknotung mit der Urzeit. Mit der Erfindung des Futurums im jüdischen Prophetentum beginnt die Neuzeit. Die Menschen fangen langsam an, ihr Gesicht von der Vergangenheit zu lösen und in die Zukunft zu blicken. Damit eröffnet sich eine neue Zeitdimension, neue Handlungsspielräume werden sichtbar, zugleich aber wird Zeit zur Frist, weil ihr Ende vorhergesagt wird. Es beginnt das prophetische oder das revolutionäre Denken; beides bedeutet aus der Warte des in der ewigen Wiederkehr sich genügenden Denkens im Heidentum ein und derselbe Ausgriff, wenn nicht Ausflucht.

„Die prophetische Grammatik bei Jesaja bringt ein metaphysisches Skandalon in Gang – die Durchsetzung des Futurums, die Ausweitung der Sprache über die Zeit.“5

Mit der neuen Sprache entstand der ethische Monotheismus mit seiner ganz einmaligen Eschatologie, wenn auch seit Jahrhunderten in heillos verfeindete Lager aufgeteilt wie Judentum, Christentum und Islam. Vielleicht bringt das ihnen so 4 Z.B. in Frobenius, Leo: Unter den unsträflichen Äthiopen. Berlin: Vita 1913.5 Steiner, George: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Sillem. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 13.

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wichtige Heilsversprechen, also die Aussicht auf eine sich tatsächlich verwirklichende Utopie, diese charakteristische Unduldsamkeit6 zwangsläufig mit sich. Mit dem Diebstahl der Utopie aus der Anderswelt, wo phantastische Dimensionen aber auch das Gesetz der Ewigen Wiederkehr walten, und der religiös-politischen Instrumentalisierung der Utopie innerhalb der Lebenswelt hat der Mensch seine in Jahrhunderttausenden eingeübte Geduld verloren. Es genügt ihm nun nicht mehr, wie die Dogon in Mali alle 60 Jahre zu rufen „Le chose qui vole est sortie de l’est!“ wobei man sich zu einer rituellen Schlange vereint, die unter großem Einsatz von Kostümen, Trommelmusik und Bierkonsum durch die Bergdörfer zieht7. Das ist Heidentum, wie es sich in abgelegenen Gebieten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Es dreht sich im Kreis und gleicht der Schlange, die ihren Schwanz frisst; darin verbinden sich Topologie mit Utopie, ohne dass die Welt verändert würde. Vielmehr wird sie im Reigentanz und den immer wiederkehrenden Formeln bestätigt.

Was Jesaia den Juden, Paulus den Christen und Mohammed den Muslimen austrieb, war dieses im Kreis gehen (altgriech. peripathein). Die Bekehrten sollten vielmehr zielgerichtet gehen, gerade auf das Endziel zu, das die Wirklichwerdung der Utopie bedeutet und die Überwindung des Dualismus oder Parallelismus aus diesseitiger Topologie und jenseitiger Utopie. Bekanntlich nahm nach dieser religionsgeschichtlich so dramatischen Wende die Ungeduld der Menschen in einem Masse zu, dass immer häufiger nach der „Utopie sofort“ gerufen wurde. Vor allem dem rabbinischen Judentum entstammende Philosophen versuchten, diese kurzatmige Sehnsucht ernst zu nehmen und zu einer Wissenschaft zu machen. Man glaubte an eine gesetzmäßige Realisierung des Utopischen. Praktiker und Demagogen machten bekanntlich aus den Lehren von Karl Marx revolutionäre Politik, und im 20. Jahrhundert gelangten politische Utopisten zu höchstem Ansehen. George Steiner schreibt:“Philosophen wie Ernst Bloch und Adorno haben die grundsätzlichen und historischen Implikationen der Kategorie Zukunft durchdacht.“8 Damit schien die „menschliche“ Gesellschaft greifbar nahe gerückt. Das „überschreitende Denken“ hat es möglich gemacht, aus dem Träumen Wirklichkeiten zu gewinnen. Dazu mussten die Träume, in denen es nach Jedermanns Erfahrung drunter und drüber geht, allerdings rationalisiert und domestiziert werden, die Utopien wurden topologisch zivilisiert und oft zu einem Siedlerprogramm umgemodelt, meist auf Kosten der Ureinwohner, die an der alten dualistischen Utopie festhalten wollten.

Seit der hebräischen Landnahme in Vorderasien heißt das Land der Verheißung Kanaan. Nach diesem eschatologischen Urakt wurden in der Neuzeit überall Utopien verwirklicht. Der Frankfurter Ethnologe und Kulturhistoriker Klaus 6 S. Streck, Bernhard: Kann man Unglauben tolerieren? Das Verhältnis zwischen ethischem Monotheismus und modernen Menschenrechten. Schriftenreihe Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e.V. Sonderdruck, Leipzig: Edition Vulcanus 2011 (auf spanisch: La tolerancia del infiel. Sobre la relación entre monoteismo y derechos humanos. Revista de Antropologia Social, No 19:205-220, 2010).7 Vgl. Rouch Jean/Dieterlen, Germaine: L’enterrement du hogon (dtsch: Rituale der Dogon. Das Fest des Sigi), Doku RMM/F 1968.8 Steiner a.a.O. S. 177.

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E. Müller schreibt mit Bezug auf Eliades „éternel retour“9 in „Die Grundlagen der Moral“(2012):

„Die frommen Puritaner, die der ‚Hölle Europa‘ voll heiligen Abscheus den Rücken gekehrt hatten, machten den Indianern in Neuengland die Heimat streitig, weil Gott selbst sie ihnen als ihr ‚verheißenes Kanaan‘ zugedacht hatte, ‘um die Mühen seines auserwählten Volkes zu segnen‘.“10

Dasselbe geschah fast überall in der kolonialen Welt; Landnahmen galten den Siedlern mit religiösen Utopien nicht mehr als Raub, sondern als Verheißung. Beim Ende des 19. Jahrhunderts begonnenen zionistischen Projekt spielt auch die Metapher Traum oder Märchen und seine zunächst unglaubliche Verwirklichung eine entscheidende Rolle11. Wie gesagt, geht es hierbei nicht um das an sich chaotische Traumgeschehen selbst, sondern um eine als Traum kaschierte Eroberungs- und Verbesserungspolitik, um eine politische Utopie. Außenpolitisch wurde daraus das Modell Kanaan, innenpolitisch das Modell Revolution. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lautete für viele jüdische Intellektuelle die Alternative: Zionismus oder Bolschewismus – beides Träume, die zur Verwirklichung anstanden.Wir wollen uns das Wesen der religiösen und psychologischen Verbrämung politischer Ideen am Beispiel Blochs, des „Propheten mit Marx- und Engelszungen“, wie ihn Martin Walser 1959 genannt hat, verdeutlichen.12

Das „überschreitende Denken“

Anders als der russische Jude Leiba Bronstein (1879-1940), der als Leo Trotzki 1917 in Russland aus seinen schwärmerischen Utopien13 Weltgeschichte machte14, blieb der am 8. Juli 1885 als Sohn eines Eisenbahnbeamten mosaischen Glaubens in Ludwigshafen am Rhein geborene Ernst Simon Bloch während des 1. Weltkriegs im Schweizer Exil und arbeitete theoretisch am „Geist der Utopie“15, einer marxistischen Kritik am kriegführenden Deutschland und an der bürgerlichen Gesellschaft. Als nach 9 Eliade, Mircea: Le mythe de l‘éternel retour: Archétypes et repetition. Paris: Gallimard 1949 (dtsch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986).10 Müller, Klaus E.: Die Grundlagen der Moral. Und das Gorgonenantlitz der Globalisierung. Konstanz: UVK 2012.11 Vgl. das Motto: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen.“ In: Herzl, Theodor: Altneuland. Leipzig: Seemann 1902.12 Nach Ueding, Gert: „Fürs Leben lernend, aber auch fürs Lernen leben.“ Erinnerungen an den akademischen Lehrer Ernst Bloch. In: Hiller von Gärtringen, Rudolf (Hg.): Denken ist Überschreiten. Ernst Bloch in Leipzig. Universität Leipzig: Kustodie 2004, S. 117-137 (zit. S. 123).13 Über den Menschen im Kommunismus wusste Trotzki: „Sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden.“ (Trotzkij, Leo D.: Literatur und Revolution. Berlin1968:215; zit n. K.E.Müller a.a.O. 2012:76).14 Neuere Literatur zu Trotzki: Service, Robert: Trotzky: A Biography. Cambridge/Mass. Harvard UP 2009; North, David: Verteidigung Leo Trotzkis. Wien 2012.15 Bloch, Ernst: Geist der Utopie. München: Dunker & Humblot 1918.

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dem furchtbaren vierjährigen Gemetzel die Deutschen auch noch für allein schuldig befunden und zu horrenden Wiedergutmachungszahlungen verurteilt wurden, steuerte Bloch „Thomas Münzer als Theologe der Revolution“16 bei. Die mehrheitlich kirchlich gebundenen Verlierer sollten mit den atheistischen Revoluzzern versöhnt werden – im Geiste der Utopie.

Der Utopist selbst stieg dann – mit Unterbrechungen auf der „Trauminsel“ Capri – in die Berliner Flaneur- und Bohème-Szene ein, die an einer Neuauflage der russischen Revolution im Herzen Europas arbeitete. Die entsetzlichen Gräuel während dieser verheerenden Verwirklichung eines Traumes wurden von der linken Schickeria entweder ignoriert (wie zum Beispiel der Anfang der 30er Jahre von Stalins Stellvertreter Lasar Moisewitsch Kaganowitsch (1893-1991) zu verantwortende Hungertod von 3,3 Millionen Ukrainern17 ) oder gerechtfertigt (wie die Erschießungen von rund 700.000 Sowjetbürgern im Zuge der Säuberungsprozesse 1937/38). Ernst Bloch ließ entsprechende Passagen aus den Heften der „Weltbühne“ in ihrem Wiederabdruck in „Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz“ (1968/9) streichen. Sowjetische Historiker schätzten nach der „Entstalinisierung“ die Opfer dieser revolutionären Politik, die nach den Worten des Präsidenten Michail Kalinin (1875-1946) „die Völker der Kirgisen-Steppe, die kleinen usbekischen Baumwollpflanzer und die turkmenischen Gärtner die Ideale der Leningrader Arbeiter übernehmen“18 lassen sollte, auf 5 bis 18 Millionen19; nach dem Ende der kommunistischen Ära wurden noch ganz andere Zahlen bekannt20.

1933 flüchtete Bloch mit der polnischen Genossin Karola Piotrkowska, die bald seine dritte Ehefrau wurde, ins Exil (Schweiz, Österreich, Tschechoslowakei, USA) und analysierte von dort NS-Deutschland. Im 1935 erschienenen „Erbschaft dieser Zeit“ entdeckte er die „Ungleichzeitigkeit“, d. h. die für Fortschrittsgläubige erstaunliche Eigenständigkeit der verschiedenen Kulturzüge und forderte, das große deutsche Kulturerbe den Nazis wegzunehmen, um es selbst zu beerben. Als dann Zigtausende von Bombern die materielle Seite dieses Erbes vernichteten, schrieb Bloch in Boston über „Träume vom besseren Leben“ – dem späteren „Prinzip Hoffnung“. Eine Anstellung am ebenfalls im US-Exil etablierten Institut für Sozialforschung von Max Horkheimer erhielt er nicht, u.a. wegen seiner Stalin-Sympathie21. Er gründete dann mit Döblin, Brecht, Feuchtwanger, Heartfield und

16 Bloch, Ernst: Thomas Münzer als Theologe der Revolution. München: Kurt Wolff 1921.17 S. Snyder, Timothy: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. New York: Basic Books 2010 (dtsch. München: C.H.Beck 2011); zum Holodomor speziell: Conquest, Robert: The Harvest of Sorrow: Soviet Collectivization and the Terror-Famine. Edmonton: University of Alberta Press 1986; Kaminsky, Anna (Hg.) Erinnerungsorte an den Holodomor 1932/33 in der Ukraine. Berlin 200818 Kalinin, Michael: Za Ety Gody. Moskau 1929, S. 385.19 Hartenstein, Elfi: …und nachts Kartoffeln schälen. Frauen berichten aus Nachkriegslagern. Annäherung an ein Kapitel DDR-Vergangenheit. Berg: VGB 1992, S. 47.20 S. Courtois, Stéphane et al.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Aus dem Französischen von Irmela Arnsperger et al., München/Zürich: Piper 1998.21 „Das Institut publizierte nie etwas von Bloch, ließ auch keins seiner Bücher in der Zeitschrift besprechen, half ihm aber in den frühen 40er Jahren eine Zeitlang durch ein monatliches Stipendium von 50 Dollar.“(Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. München: DTV 1988, S. 216)

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Heinrich Mann in New York den Aurora-Verlag, der nach dem 2. Weltkrieg seine Schrift „Freiheit und Ordnung“ veröffentlichte. Die weiteren Werke aber kamen beim neugegründeten Aufbau-Verlag in Berlin heraus, so auch der 1. Band seines Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“22. Es war der Text der im Krieg geschriebenen „Träume“, nun überschrieben mit der zweiten Essenz des Apostel Paulus zwischen Glaube und Liebe23, die aber in einen schwärmerischen Marxismus eingebettet war. Die zuletzt (1959) dreibändige Schrift sollte Christen, Juden und Atheisten vereinigen in einer „Ontologie des Noch nicht“ und den total verwirrten Seelen des kriegsverkrüppelten Europa „Kompaß und Fernrohr“ zugleich sein. Bloch versprach den Millionen Heimatvertriebenen eine „Heimat, worin noch niemand war“. Es hörten aber hauptsächlich die Antifaschisten, Kommunisten, Sozialisten und Humanisten zu, und diese glaubten, wie Bloch selbst, dass die Zukunft eher im sowjetrussisch okkupierten Teil Deutschlands liege als in den Westzonen.

Der kommunistische Staatsphilosoph

Ernst Bloch hatte nach seiner Promotion 1908 wenig Verbindung zu akademischen Disziplinen. Er galt als Journalist und Linksliterat. Das machten auch Leipziger Professoren im Jahre 1948 geltend, als die um Neuorientierung ringende Universität einen Philosophen suchte und der Name Bloch ins Spiel kam. Das Ministerium für Volksbildung in Dresden setzte sich aber über alle Bedenken24 hinweg und verstand die von oben verfügte Berufung als Akt der Wiedergutmachung am jüdischen Volk25. So wurde Bloch „Professor für Philosophie“ von SED-Gnaden mit eigener Villa, PKW, Vorzugslebensmittelmarken und einem ordentlichen Salär, mit dem er sogar Antiquitäten anschaffen konnte. Frau Karola arbeitete für die Regierung in Berlin-Ost.

Damals waren Hunderttausende Deutsche, meist Frauen, nach Sibirien deportiert worden26 und Zigtausende saßen ohne Prozess und Urteil in Gefangenenlagern und Gefängnissen27. An der Universität Leipzig etablierte sich bald

22 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Berlin: Aufbau-Verlag 1954.23 „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ 1. Korinther 13,13.24 „…trotz seines wiederholten energischen Bekenntnisses zum genuinen Marxismus erscheint als sein Grundtrieb ein starker, aber ganz formloser, messianischer idealistisch-mystischer Utopismus. Mag man darüber urteilen, wie man will, so scheint mir ein solcher formloser Utopismus nicht Kern einer philosophischen Lehrtätigkeit sein zu können.“ Der Neuzeithistoriker Johannes Kühn in einem Gutachten zu Bloch, nach Middell, Matthias: Leipzig als ein Zentrum der akademischen Remigration nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Hiller a.a.O. S. 49-86, zit. S.66.25 S. Hiller a.a.O. S. 31.26 Klier, Freya: Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern. München: Ullstein 2000.27 Finn, Gerhard: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1989; Flocken, Jan von/Michael Klonowsky: Stalins Lager in Deutschland 1945-1950. Berlin 1991; Fricke, Karl Wilhelm: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1979; Preissinger, Adrian (Hg.): Von Sachsenhausen bis Buchenwald. Die Todesfabriken der Kommunisten. Berg: VGB-Verlag 1991; Schmidt, Andreas:

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ein Spitzelsystem, das viele Studierende verfolgte und auch vor Mord nicht zurückschreckte. Erneut verschloss Ernst Bloch vor der Wirklichkeit die Augen und predigte das „Noch nicht“ und den „Möglichkeitssinn“, die docta spes und die Unterscheidung zwischen Nahzielen und Fernzielen: „Man kann das Morgen nur vom Übermorgen her denken.“28 Das kam der kommunistischen Diktatur entgegen, verlangte sie doch von den Werktätigen immer größere Opfer, bis diese einen Aufstand wagten. Über Blochs Reaktion auf den 17. Juni 1953 ist wenig bekannt; doch schien er sich als Staatsphilosoph bewährt zu haben, und am 5. Mai 1953 bekam seine Universität den Ehrennamen „Karl Marx“. Zwei Jahre später überreichte man Bloch den Vaterländischen Verdienstorden in Silber, kurz darauf den Nationalpreis II. Klasse für Wissenschaft und Technik. Bloch wurde in die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgenommen.

1956 rebellierten die Ungarn gegen den übergestülpten Sowjetkommunismus. Blochs dortiger Kollege und Freund, der damalige Kultusminister George Lukács (1885-1971) verschwand kurze Zeit und verlor dann seine Ämter. Da empörte sich endlich Bloch und verlangte von Johannes R. Becher (1891-1958), dem Stalinpreisträger und Kultusminister der DDR, eine Intervention zugunsten des gemeinsamen Freundes „Jonny“. Als die nicht erfolgte, nannte Bloch Becher einen „Lumpen“ 29. Damit verlor die DDR-Führung ihr Vertrauen in den Staatsphilosophen und emeritierte den 72jährigen zum 1. September 1957. Doch behielt er seine Bezüge und Privilegien; insbesondere sein Recht auf Auslandsreisen kam ihm nun zugute. Denn es gab ja noch das Land des „Klassenfeinds“ – eine Vorstellung, mit dem DDR-Kommunisten ihre heimliche Sehnsucht nach dem Westen bekämpften. Ihr brauchte Bloch jetzt keinen Widerstand mehr entgegensetzen, zumal sich in der rundum erfolgreicheren BRD nach der ersten Phase des wirtschaftlichen Wiederaufbaus erneut Hunger nach geistiger Führung bemerkbar machte.

Bloch wieder im Westen

Nach der Katastrophe von 1945 sind nicht alle Emigranten in die SBZ/DDR als dem besseren Deutschland zurückgekehrt. Manche versuchten auch in „Trizonesien“ und der ihm folgenden BRD Wegweiser aus der NS-Katastrophe zu werden. Am bekanntesten wurde das Philosophenpaar Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969), die in Frankfurt am Main eine geistige Dominanz erreichen konnten, die der von Ernst Bloch und dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907-2001) in Leipzig entfernt vergleichbar war30. Alle diese Leitfiguren Leerjahre. Leben und Überleben im DDR-Gulag. Böblingen: Anita Tykve-Verlag 1986.28 Nach Bloch, Jan Robert: Ernst Bloch: Die Leipziger Jahre. Rede aus Anlass der Ausstellungseröffnung. In: Hiller a.a.O. S. 11-20.29 Hiller a.a.O. S. 35.30 Nicht zu vergessen ist, dass die Universität Leipzig in den roten Jahren noch andere Leuchttürme in den Geisteswissenschaften besaß, z.B. den Universalhistoriker Walter Markov (1909-1993) oder den Romanisten Werner Krauss (1900-1976). Beide waren nach bitteren Erfahrungen mit der NS-Justiz der KPD beigetreten und Wahlleipziger geworden. (vgl. Hehl, Ulrich von et al.: Geschichte der

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verstanden sich als Marxisten und glaubten an das „noch nicht“, auch wenn ihre Utopie vom Marxschen „Reich der Freiheit“ unterschiedlich akzentuiert war: bei Horkheimer immer mehr mit der prophetischen Eschatologie verbunden, bei Adorno stark auf die Kunst ausgerichtet, bei Mayer auf die jüdische Humanität. Bloch schließlich konnte mit seinen Hoffnungen die Eschatologen aller Konfessionen erreichen und fand im Tübingen Hegels, Schellings und Hölderlins einer herzliche Aufnahme.

1960 wird Bloch nach Vortragsreisen und einem Vertragsabschluß mit dem Suhrkamp-Verlag in Frankfurt am Main eine Gastprofessur in Tübingen angeboten, die er von der DDR-Führung auch genehmigt bekam. Ein Jahr später ist das Ehepaar Bloch wieder in der BRD, macht auch Urlaub und wird vom Mauerbau am 13. August 1961 überrascht. Man beschließt, im Westen zu bleiben – ungeachtet der Folgen, die diese „Republikflucht“ für die zahlreiche Anhängerschaft im Osten haben würde. Blochs Schüler wie Jürgen Teller, Wolfgang Harich, Walter Janka oder Günther Zehm wurden umgehend als Dissidenten verfolgt, verhört, zum Teil aus der Partei ausgeschlossen. Blochs umfangreicher Nachlass in Leipzig wurde – von zwei von Freunden in den Westen geschmuggelten Koffern voller Manuskripte abgesehen – von den enttäuschten SED-Machthabern fast restlos aufgelöst. Der Überläufer selbst wurde nun offiziell als „Deserteur, Renegat, Verräter, Betrüger, gefährlicher Verbrecher“ bezeichnet31 , als „Ernst Bloch, der zu Globke kroch“32. Westdeutschland war für DDR-Kommunisten die Fortsetzung des Hitler-Reiches33, und ausgerechnet hier gelang dem greisen Meister rasch eine neue Karriere, nämlich als die Intelligenz der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft sich gerade anschickte, die aus US-Amerika und Frankreich überschwappende Studentenrevolte zu kopieren.

Die Ehrungen Blochs in der BRD übertreffen die, die er zuvor von der DDR erhielt: 1962 Professur für Philosophie an der Universität Tübingen und Kulturpreis des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 1967 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1970 Ehrenbürgerschaft der Stadt Ludwigshafen, 1975 Ehrendoktorwürde der Pariser Sorbonne und der Universität Tübingen, Ehrenmitglied der Akademie der Künste, Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Am 4. August 1977 stirbt Ernst Bloch an Herzschwäche. Sein Mitstreiter Hans Mayer, der ihm 1963 nach Tübingen gefolgt war und 1965 eine eigens für ihn geschaffene Professur in Hannover erhielt, überlebte ihn um 24 Jahre. Von Mayer stammt das berühmte Wort über die frühe DDR, das Blochs Deutung des Morgen vom Übermorgen her ad absurdum führt: „Das schlechte Ende widerlegt nicht einen möglicherweise guten Anfang.“34

Universität Leipzig 1409-2009, Band 3, Das zwanzigste Jahrhundert 1909-2009. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010)31 S. Hiller a.a.O. S. 38.32 Nach Wiemers, Gerald: Ernst Blochs Ernennung zum Professor der Philosophie. In: Hiller a.a.O. S. 87-100, zit. S. 96.33 Hans Globke (1898-1973) stieg als ehemaliger Zentrumsmann unter Konrad Adenauer zum Staatssekretär im Bundeskanzleramt auf, obwohl er 1936 Koautor eines wichtigen Kommentars zu den „Nürnberger Rassengesetzen“ war.34 Mayer, Hans: Der Turm von Babel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991.

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Schluss

Ernst Bloch beschloss sein „Prinzip Hoffnung“ mit einer Verlegung der Menschenschöpfung vom Anfang ans Ende:

„Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“35

Der Leipziger Theologe Rüdiger Lux hat diese zentrale Hoffnung der Moderne einen „radikalen Akt der Autoemanzipation“ genannt36. Der Mensch zieht sich selbst, am eigenen Schopf, aus der Misere seiner Geschichte. Dann landet er dort, wo er immer schon sein wollte, nämlich zu Hause. Das ist eine schöne Vorstellung, aber mehr wohl nicht. Seine Suggestivkraft bezieht Bloch aus denselben Quellen wie alle Heilsbotschaften, die die oben angesprochene Kluft zwischen Topologie und Utopie zu überbrücken versprechen – in einer sogenannten „Sozialutopie“. Das sind Umsturzphantasien, nach denen Bloch „wie ein Goldsucher“ (Jan Robert Bloch) die Geschichte durchzukämmen pflegte.Blochs Werk setzt das der Bibelschreiber und Religionsstifter fort. Die Bibel nannte er folgerichtig „das revolutionärste Religionsbuch überhaupt.“37 Dieses Entgegenkommen des marxistischen Atheisten hin zu den bibelgläubigen Deutschen machte seine Popularität aus, die weit über akademische Kreise hinausging und sich sowohl in der DDR wie in der BRD zeigte. Sie überstieg das Ansehen anderer Remigranten wie Brecht, Eisler, Krauss, Seghers, Erkes, Mayer oder Herzfelde im Osten und machte den etablierten Propheten und Mahnern im Westen, etwa Horkheimer und Adorno in Frankfurt, Wolfgang Abendroth (1906-1985) in Marburg oder Jacob Taubes (1923-1987) in West-Berlin ab 1961 vom noch „freien“ Wirkplatz Tübingen aus starke Konkurrenz. 1985 stiftete der Suhrkamp-Verlag aus Dankbarkeit für die gut gehenden Bloch-Werke eine „Ernst Bloch Professur“ an der Universität Tübingen.

Man sprach bei Bloch, dem „marxistischen Schelling“ (Habermas), von „revolutionärer Gnosis“ in seinem „Denken von unten“. Unter den marxistischen

35 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bd. III. Frankfurt am Main: Suhrkamp (3. Aufl.) 1976, S. 162836 Lux, Rüdiger: Das Menschenbild des Dekalogs. In: Ebert, Udo/Ortrun Riha und Lutz Zerling (Hg.): Menschenbilder – Wurzeln, Krise, Orientierung. Stuttgart/Leipzig: Hirzel (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, Bd. 82, Heft 2) 2012, S. 120-136, zit. S. 124.37 Bloch, Ernst: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 104.

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Propheten der Nachkriegszeit umgab ihn die stärkste Religionsaura. Gewiss war er ein großer Erzähler, der in den geselligen Runden in seiner Leipziger Villa die Gäste bis spät in die Nacht zu unterhalten wusste. Dann war er ein begeisterter Musikfreund und vermochte wohl auch deshalb schon im „Geist der Utopie“ die Kakophonien der Neutöner als Symptome der gegenwärtigen Gesellschaftskrankheit zu diagnostizieren. Aber schon als Zeitkritiker muss er sich messen lassen mit Aldous Huxley (1894-1963) oder George Orwell (1903-1950), die mit ihren „Dystopien“ „Brave New World“ (1932), „Animals Farm (1945) oder „1984“(1949) den real existierenden wie den drohenden Totalitarismus der modernen Welt ungleich schärfer zu fassen bekamen. Als politischer Denker ist er, der den Gipfel seiner Karriere im stalinistischen Ostdeutschland erklomm, auf der ganzen Linie gescheitert; Blindheit und Einäugigkeit zeichnen ihn hier gleichermaßen aus – oder reicht der Hinweis auf das alle Denkenden erfassende Entsetzen über die vorher unvorstellbaren Gräuel des NS-Regimes hier als Entschuldigung?

Es bleibt der Utopist Bloch, der seine marxistisch-eschatologischen Phantasien lebte und sie in unterschiedlichen Kontexten immer neu predigte, ohne die furchtbare Nähe zwischen Tagtraum und Alptraum auch nur zu reflektieren. Utopien sind legitime Fluchtwege und Entlastungen. Keine Kultur und kein Denker kann auf sie verzichten. Die Problematik setzt ein, wo aus Heilsvorstellungen Heilslehren werden und die Utopie für „machbar“ erklärt wird. Die Jahre 1914, 1919, 1933, 1945, 1968 waren entscheidende Wenden und für viele auch mit dem Zauber des konsequenten Auszugs aus dem Verhängnis verbunden. Bloch hat versucht, diese immer neu genährte Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“ als philosophisches System auszugeben. Dabei sind ihm viele gefolgt. Sie durften damit seine Hoffnung teilen, mussten sich aber auch mit der Blendung abfinden, die jede „Realutopie“ infolge ihres inhärenten Widerspruchs zwangsläufig mit sich bringt. Die „Eidgenossenschaft Europa“, von der SS-Hauptsturmführer Dolezalek 1944 im Angesicht der katastrophalen Niederlage des nationalsozialistischen Ausbruchs aus der westlichen Zivilisation schwärmte, hat heute fast mehr Realitätsbezug als Ernst Blochs „Träume vom besseren Leben“ für alle.

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