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ANDRE HABISCH Sozialpolitik als Sozialvermögenspolitik. Perspektiven nach dem Ende des Wohlfahrtsstaates All the king's horses and all the king's men could not bring Honky Tonky around again. I. STAATLICHE SOZIALPOLITIK, GESELLSCHAFT UND UNTERNEHMENSPRAXIS »The term 'welfare state' has lost much of its relevance to a larger vision of social responsibility« - so können auch ideologisch unverdächtige US- amerikanische Sozialwissenschaftlerinnen heute einen aktuellen For- schungsüberblick resümieren - und dabei hinzufügen: "The debate over specific features of social pro grams should be accompanied by some creative brainstorming«!. Auch in Deutschland ist die Götterdämmerung des Wohlfahrtsstaates angebrochen, auf ein »creative brainstorming« wartet man dagegen - bis auf ganz wenige Ausnahmen - vergeblich. Statt einer Zukunfts- wird in Deutschland vielmehr eine Spardebatte geführt. Diese geht aber an den eigentlich interessanten Fragestellungen vorbei, nämlich der Suche nach einer effizienteren Organisation der bestehenden und der Erschließung neuer Solidarpotentiale. Der Titel eines Buches des amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore ist hier zum Programm geworden: »Creating a Government that works better and costs less«: Gestellt ist die Frage nicht nach mehr oder weniger Sozialstaat, sondern nach sozialen Innovationen, die das Anliegen sozialstaatlicher Sicherung auch unter den zu erwarten- den grundlegenden Veränderungen ihrer wirtschaftlichen und gesell- schaftlichen Realisationsbedingungen zu verwirklichen helfen. 1 Nancy Folbrel Robert Pollak, Women, Families and Communities: A Proposed Research Agenda, unveröffentlichtes Manuskript, McArthur Foundation, Chicago 1996, 16. 192

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ANDRE HABISCH

Sozialpolitik als Sozialvermögenspolitik.Perspektiven nach dem Ende des Wohlfahrtsstaates

All the king's horses and all the king's mencould not bring Honky Tonky around again.

I. STAATLICHE SOZIALPOLITIK, GESELLSCHAFT UND UNTERNEHMENSPRAXIS

»The term 'welfare state' has lost much of its relevance to a larger vision ofsocial responsibility« - so können auch ideologisch unverdächtige US-amerikanische Sozialwissenschaftlerinnen heute einen aktuellen For-schungsüberblick resümieren - und dabei hinzufügen: "The debate overspecific features of social pro grams should be accompanied by somecreative brainstorming«!.Auch in Deutschland ist die Götterdämmerung des Wohlfahrtsstaatesangebrochen, auf ein »creative brainstorming« wartet man dagegen - bisauf ganz wenige Ausnahmen - vergeblich. Statt einer Zukunfts- wird inDeutschland vielmehr eine Spardebatte geführt. Diese geht aber an deneigentlich interessanten Fragestellungen vorbei, nämlich der Suche nacheiner effizienteren Organisation der bestehenden und der Erschließungneuer Solidarpotentiale. Der Titel eines Buches des amerikanischenVizepräsidenten Al Gore ist hier zum Programm geworden: »Creating aGovernment that works better and costs less«: Gestellt ist die Frage nichtnach mehr oder weniger Sozialstaat, sondern nach sozialen Innovationen,die das Anliegen sozialstaatlicher Sicherung auch unter den zu erwarten-den grundlegenden Veränderungen ihrer wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Realisationsbedingungen zu verwirklichen helfen.

1 Nancy Folbrel Robert Pollak, Women, Families and Communities: A ProposedResearch Agenda, unveröffentlichtes Manuskript, McArthur Foundation, Chicago1996, 16.

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JCSW 38 (1997): 192–212, Quelle: www.jcsw.de
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Auf ein gutes Jahrhundert können tragende sozialstaatliche Institutionenin Deutschland heute zurückblicken. Damals waren kirchlich gebundeneChristen in vorderster Front mit dabei, wenn es um innovative »Sozial-reform«, um eine institutionelle Gestaltung der durch die Industrialisie-rung grundlegend veränderten Lebens- und Arbeitswelt ging. KarlGabriel will angesichts der Bedeutung von Sozialkatholizismus undchristlich-pietistischen Kräften um Bismarck gar von »verstaatlichterchristlicher Nächstenliebe«' sprechen. Auch wenn man weniger ideali-stisch davon ausgeht, daß es Bismarck vor allem darum ging, Sozialdemo-kratie und katholischer Zentrumspartei politischen Wind aus den Segelnzu nehmen, so hat diese Sichtweise doch auch ihren positiven Erkenntnis-wert. Sie richtet nämlich entgegen dem (nach H. Maier) in Deutschlandvorherrschenden »Denken aus dem Staat heraus« das Augenmerk darauf,daß vorgängige Initiativen im Raum der »Gesellschaft« für staatlicheReformen unverzichtbar sind. Gesellschaft erscheint in diesem Sinne alsExperimentierfeld der Politik, in dem nicht nur Bewußtseinsbildungspro-zesse ablaufen, sondern auch konkrete institutionelle Lösungen -zunächst auf begrenztem Raum - getestet werden. Im Fall der Sozialpoli-tik liegt dies deutlich auf der Hand. Denn weder die Bismarck'schenReformen noch die Reformdynamik der Weimarer Jahre wären denkbargewesen ohne entsprechende Vorarbeiten einzelner christlicher Unter-nehmer und Gewerkschaftler3

• Erfahrungen von Sozialpartnerschaft, diesich zunächst auf betrieblicher Ebene als tragfähig erwiesen hatten,dienten später als Leitmodell auch für entsprechende gesetzliche Regelun-gen'. Christliche Wertvorstellungen waren hier »Heuristik« für dieSozialpolitik.Gesellschaft und betriebliche Organisation als Foci und Lernorte staatli-cher Sozialpolitik - kann die Anfangserfahrung von Sozialpolitik in

, Karl Gabriel, Krise der Solidarität. Der Konflikt um den Sozialstaat und die christlicheGesellschaftsethik, in: Stimmen der Zeit 214(1996) 393ff, 399.

3 Hier kommt insbesondere dem Mönchengladbacher Volksverein für das katholischeDeutschland eine zentrale Rolle zu. Initiativen wie die des Mönchengladbacher Unter-nehmers F. Brants spielten nicht nur für den Gesinnungswandel in der Kirche vonRestauration zu Reform der neuentstandenen Industriegesellschaft eine zentrale Rolle.Dem Volksverein entstammen auch führende Sozialpolitiker der Weimarer Republik.Ein herausragendes Beispiel ist der Priester und promovierte Volkswirt H. Brauns, der1920-1928 in 12 Kabinetten das Arbeitsministerium innehatte und 1929 als ersterDeutscher Präsident des internationalen sozialpolitischen Parlaments wurde. Unter demMinisterium Brauns ist es insbesondere zur Ausbildung der Arbeitsmarktverfassung(Arbeitsgerichte, -vermittlung, -versicherung, Schichtungswesen) gekommen.

, Insofern kann man mit Karl Homann vom systematischen Vorrang der Wirtschaftsethiksprechen, wird aber in vielen Problembereichen einen historisch-genetischen Vorrangder Unternehmensethik feststellen.

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Deutschland auch heute, angesichts völlig neuer Probleme, Gültigkeitbeanspruchen? Im folgenden soll versucht werden, Perspektiven in dieseRichtung zu entwickeln.

11. DIE KRISE DES WOHLFAHRTSSTAATES

1. Der Wohlfahrtsstaat als Versicherungsinstitution

Was ist es genau, das dem Wohlfahrtsstaat am Ende des 20. Jahrhundertsseine Attraktivität raubt? Es ist noch nicht lange her, da stand er in derBlüte seiner Lebenskraft und konnte etwa vom schwedischen ÖkonomenAssar Lindbeck als »Triumph westlicher Zivilisation« gefeiert werden.Die Hoffnungen, die Progressive, Konservative und viele Liberale mitdem Auf- und Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen verbanden,waren in der Tat immens. Nicht nur der alte Menschheitstraum von derÜberwindung von Not, Elend und Ungerechtigkeit schien in greifbareNähe gerückt. Auch für den Normalbürger, die breite Schicht desMittelstandes, der im wesentlichen seine politischen Befürworter ent-stammten, erschien die wohlfahrtsstaatliche Bilanz positiv. Denn alsGegenleistung für ein weit gefächertes und tief gestaffeltes System vonAbgaben, Beiträgen und Steuern aller Art erhielt er eine Zusage, die - wiewir heute wissen - zutiefst anthropologischen Bedürfnisstrukturen ent-spricht: Die umfassende finanzielle Absicherung sämtlicher denkbarerLebensrisiken über die gesamte Lebensspanne hinweg.Die Absicherung gegen lebensbedrohliche Risiken ist eine wesentlicheTriebfeder menschlicher Wirtschafts- und Zivilisationsgeschichte5

• Die-ses Grundbedürfnis führte den Menschen von jeher zwangsläufig in dieGemeinschaft mit anderen hinein, da Schutz und rudimentäre» Versiche-rung« nur im Äquivalent, im sozialen Tausch gegen entsprechendeZusagen an andere zu haben sind. Die alte Rechtsform der »Versiche-rungsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit« steht in diesem Sinne pars prototo für menschliche Sozialformationen insgesamt. Und selbst hier, in derkleinen face-to-face-Gemeinschaft, ist die Gewähr von Versicherung im

5 Zu einer Theorie des Wohlfahrtsstaates als Versicherungsinstitution vgl. auch Hans-Wemer Sinn, Risiko als Produktionsfaktor, in: Jahrb. f. Nationalök. und Stat. 201(1986) 557ff.; ders., A Theory of the Welfare State, in: Scandinavian Journal ofEconomics 97 (1995) 495-526 sowie neuerdings Homann/lngo Pies, Sozialpolitik fürden Markt, in: Pies/Mo Leschke (Hg.), James Buchanans Konstitutionelle Ökonomik,Tübingen 1996.

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konkreten Bedarfsfall bedroht. Trittbrettfahrer-Probleme blockieren dieEinlösung erworbener Sozialansprüche. Opportunistisches Verhaltenläuft auf die Vortäuschung des Versicherungsfalles hinaus, um in denGenuß der Versicherungsleistungen zu kommen. Um Mißbrauch zuverhindern, sind Sozialformationen mit Versicherungscharakter daherzivilisationsgeschichtlich immer normativ hoch aufgeladen und kennenzugleich empfindliche informelle Sanktionsmechanismen (bis hin zumOstrazismus ).Die ursprüngliche Versicherungsinstitution des gefährdet lebenden homosapiens ist die Familie bzw. der (erweiterte) Familienhaushalt. Hier fander insbesondere Schutz gegen individuell drohende Erkrankung, Alters-schwäche etc., während Mißernten oder Kriege - wenn überhaupt -besser in einer größeren Gemeinschaft aufgefangen werden konnten.Yoram Ben-Porath macht deutlich, daß Familien insbesondere durch dasihnen zur Verfügung stehende informelle Sanktionspotential Möglichkei-ten zur Beschränkung von Free-Rider-Problemen haben6

• Enge wechsel-seitige Kontrolle im Alltag erschwert zudem die Möglichkeit opportuni-stischen Mißbrauchs durch einzelne Familienmitgliedel. Die Grenzender Familie als Versicherungsinstitution liegen dagegen vor allem in ihrerbeschränkten Größe. In Agrargesellschaften unterliegen Familienmitglie-der weitgehend denselben Risiken und können sich wechselseitig nur sehrbegrenzt versichern. In der vormodernen Gesellschaft ist der einzelnedaher zudem in eine feste gesellschaftliche Rollenstruktur integriert.Wohldefinierte Schutzpflichten bestehen etwa zwischen Herr undKnecht, innerhalb städtischer Gilden etc8

• Auch in diesen Sozialformatio-nen sollen moralische Normen wie auch abgestufte Sanktionen Miß-brauchsmöglichkeiten beschränken.Die Industrialisierung brachte das Institutionengefüge der traditionalenGesellschaft in Bewegung. Die neue Mobilität zerstörte die integrative

6 Vgl. Yoram Ben-Porath, The F-Connection: Families, Friends and Firms and theOrganization of Exchange, in: Population Development Review 6 (1980) 1-30.

7 Gary S. Becker macht in einem interessanten Beitrag darauf aufmerksam, daß engewechselseitige Kontrolle durch die Verwandtschaftsgruppe in traditionalen Gesellschaf-ten besonders in Führungsschichten stattfindet, in denen hohe ökonomische Hand-lungsinterdependenzen vorliegen. Der einfache Mann lebte dagegen weitgehend unbe-helligt, hatte aber von seiner Verwandtschaft nichts oder nur wenig zu erwarten, vgl.Gary S. Becker, A Treatise on the Family, Enlarged Edition, Cambridge 1991.

8 Das Gegenseitigkeitsprinzip ist auch die Grundlage des wirtschaftlichen Versicherungs-wesens, das sich historisch als nordeuropäische Brandgilde und im Kontext norditalieni-scher Fernhandelsgenossenschaften herausbildet, vgl. dazu den Überblick bei WernerMahr, Versicherung, in: Staatslexikon V (1989) 711-719.

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Kraft vormoderner Rollengefüge9, die dadurch auch ihre Versicherungs-

funktion verloren. Uralte Risiken wie die Abhängigkeit von Wetter undguter Ernte verlieren an Virulenz, Risiken wie Krankheit und Alters-schwäche bleiben, neue Risiken wie Arbeitslosigkeit treten hinzu. DerFamilie als Kernfamilie kommt dadurch insbesondere für einfache Bevöl-kerungsschichten eine eher noch gewachsene Funktion zu: Sie gelangt alsprimäres soziales Bezugsfeld zu einer Ausschließlichkeit, die ihr in dervormodernen Gesellschaft so nicht gegeben warlO

• Hinzu treten freiwil-lige Assoziationen wie Gewerkschaften, kirchliche Verbände etc., diezunächst abgestuft wichtige Absicherungsfunktionen übernehmen.Dabei spielen gelegentlich auch formelle (Streikkasse, rudimentäreArbeitslosenversicherung), meist aber informelle Ansprüche und Bezie-hungen (soziale Netzwerke, gegenseitige Hilfe) die wichtigste Rolle.Solche Graswurzelformen mußten sich aber dort als unzureichend erwei-sen, wo der Industrialisierungsprozeß ganz neue Risiken geschaffenhatte. Im Kontext arbeitsteiliger Gesellschaften sieht sich die Masse derBevölkerung bei der Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse zivili-sationsgeschichtlich erstmalig nicht mehr vom Wohl und Wehe regionalerund überregionaler Herrschaften, sondern von anonymen und unbere-chenbaren Marktkräften abhängig. Die Arbeiter und ihre Familien sindaus dem Determinismus feudaler Gesellschaftsstrukturen entlassen undbekommen wirtschaftsgeschichtlich einmalige Wahlmöglichkeiten einge-räumt. Sie tragen dann aber auch individuell die Folgen ihrer Handlun-gen. Die Erträge dt:r gesamtwirtschaftlichen Kooperation sind dadurchexplosionsartig gestiegen und vermögen einer schnell wachsenden Bevöl-kerung, Lebensgrundlagen zu sichern. Doch gestiegen sind auch dieRisiken, denen sich der einzelne nunmehr ausgesetzt sieht. Diese werdenspürbar in den großen Wirtschaftskrisen und Rezessionen - etwa der»Gründerkrise« im Deutschland der 1870er Jahre. Konjunkturelle Risi-ken und daraus folgende Arbeitslosigkeit sind privat gar nicht, genossen-schaftlich kaum versicherbar, weil in einer hochinterdependenten Volks-wirtschaft nahezu alle Bereiche gleichzeitig davon betroffen sind. Diedurch bessere hygienische Bedingungen und gesteigerte medizinischeVersorgung bedingte Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartungmacht die Frage nach der Alterssicherung auch für einfache Bevölke-

9 Charakteristischerweise fällt das Entstehen von Lebensversicherungsgesellschaften mitder Herausbildung arbeitsteiliger Wirtschaftsstrukturen und dem Verfall traditionellerSicherungseinrichtungen auf dem Weg in die Industriegesellschaft zusammen.

10 Vgl. dazu meinen Beitrag, Altes und Neues verbinden. Wo kirchliches Familienengage-ment heute ansetzen muß, in: HerKorr 50 (1996) 78ff.

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rungsschichten in neuer Weise virulent. Verletzungsrisiken im Kontextindustrieller Arbeitsbedingungen können schnell zum Ausfall des Haupt-verdieners führen. Die neu entstandenen Lebensbedingungen favorisier-ten also eine Lösung des Versicherungsproblems auf gesellschaftlicherEbene: Der Sozialstaat war geboren.

2. Die Grenzen wohlfahrtsstaatlicher Sicherung-Zur Kritik Assar Lindbecks

a) Politisch induzierte Risiken

Läßt sich die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik mithin von denLebensbedingungen moderner Industriegesellschaft her rekonstruieren,so markiert die Einrichtung entsprechender staatlicher Sozialversiche-rungsinstitutionen einen Einschnitt. Denn mit der Institutionalisierungerwachsen den Sozialversicherungsträgern weitgehend unabhängig vonden Marktkräften breite Handlungsspielräume. Die Sozialpolitik wird zueinem Gegenstand der politischen Ökonomie. Daraus ergibt sich für dieVersicherten ein Doppeltes. Zunächst führt die Verstaatlichung derSozialversicherung zum breiten »Pooien« der Risiken und damit zurweitgehenden Unabhängigkeit der Leistungen etwa von konjunkturellenSchwankungen. In der ökonomischen Literatur wird staatliches Handelnhier meist damit begründet, daß sich private Kapitalmärkte zur Versiche-rung elementarer Lebensrisiken aufgrund unüberwindbarer Hindernisse(Opportunismusprobleme, asymmetrische Informationsverteilung) nichtbilden. Angesichts des Versagens der Versicherungsmärkte - so dieTheorie - springt der Staat unterstützend in die Bresche und überwindetdie Problematik durch Zwangsbeiträge.Der bereits genannte schwedische Ökonom Assar Lindbeck macht hier ineinem neueren Beitragll die Gegenrechnung auf. Zwar nimmt der Wohl-fahrtsstaat dem Individuum bestimmte Risiken ab, er schafft aber auchneue, nämlich politisch induzierte Risiken. Diese schlagen sich insbeson-dere als Instabilität der tragenden Regeln sozialer Sicherungs systemenieder. Zwar ist immer wieder versucht worden, den Zugriff der Politikauf Renten- und Sozialversicherungsgelder rechtlich einzuschränken oderzumindest zu verstetigen 12. Doch die Erfahrung zeigt, daß demokratische

11 Assar Lindbeck ist als Direktor des renommierten Instituts für internationale ökonomi-sche Studien und Schüler Gunnar Myrdals selbst Mitkonstrukteur des schwedischenWohlfahrtsstaates und zugleich Mitglied der Kommission zur Vergabe der Nobelpreise.

12 In diesem Kontext ist der Versuch des BVerfG zu deuten, erworbene Rentenansprücheverfassungsrechtlich mit Hilfe des Eigentumsschutzes nach Art. 14GG dem willkürli-chen Zugriff des Gesetzgebers zu entziehen.

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Politiker aller Couleur hier der Begehrlichkeit erliegen, mit Hilfe sozial-staatlicher Umverteilungsmasse Politik zu machen. Politische Modeströ-mungen und Zwänge können Ansprüche gewähren oder einschränken.Versichertengelder werden direkt oder indirekt zur Finanzierung versi-cherungsfremder Leistungen herangezogen. Wahltaktische Großzügig-keiten heute führen zu Anpassungsnotwendigkeiten morgen. Es drohteine »Absicherung nach Kassenlage«13.Instabilität im Sozialversicherungsbereich ist aber mit besonderen Gefah-ren für die Betroffenen verbunden. Denn langfristige Erwartungssicher-heit stellt hier ein besonderes Desiderat darl4

• Hatte der Bürger mit denAlltagsrisiken zu leben gelernt, so kann er sich gegen die neu entstandenenpolitischen Risiken kaum absichern. Nur wenige verfügen über dasHintergrundwissen bzw. die finanziellen Mittel dazu.Einen weiteren Instabilitätsfaktor sozialer Sicherung birgt die spezifischeKontingenzerfahrung moderner Demokratien: Wer erlebt, daß Ansprü-che politisch willkürlich manipuliert werden und dabei der Logik derstärkeren Interessengruppe folgen, der verliert den Glauben an denSolidarcharakter sozialstaatlicher Institutionen. Dies gilt auch intergene-rationeIl. Denn durch das in den meisten westeuropäischen Ländernpraktizierte Umlageverfahren wird meist die erste Generation massivbevorzuges. Dies schafft Verteilungskonflikte, die dazu führen können,daß großzügig ausgegebene Ansprüche u. U. nicht anerkannt bzw.eingelöst werden. Auch dies ist ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor.Politische Risiken wirken auch indirekt über die Erhöhung von Marktri-siken. Im Prinzip wirken staatliche Sozialversicherungs systeme etwa

1l Wer etwa die demographischen Prognosen für die Bundesrepublik Deutschland kennt,der wird sich ausmalen können, was das für die Alters- und Gesundheitssicherung imJahr 2030 bedeuten wird.

14 »A 55-years old, who starts to doubt that the government will fulfill its earlier promisesregarding pension or health benefits, is hardly in a position to live his life all over again,for the purpose of accumulating private saving or buying voluntary insurance policies orannuities«, Assar Lindbeck, Overshooting, reform and retreat of the welfare state, DeEconomist 104 (1994) 1-19, 7. Ein anderer Bereich, in dem häufige Regelveränderungenstark kontraproduktiv wirken, ist die Familienpolitik. Gerade Familien bedürfenlangfristiger Erwartungssicherheit. Dennoch gehört der Familienlastenausgleich zu denam häufigsten veränderten und mittlerweile auch terminologisch manipulierten (»Fami-lienleistungsausgleich «) Transferbereichen unseres Sozialsystems.

15 Dies gilt keineswegs nur für die Kriegsgeneration in Deutschland. So berichtetLindbeck, Overshooting, 6: »For instance, while the first generations in the pensionsystem that was introduced in Sweden in 1960 (the ATP system) seem to have receivedabout six times as much (in terms of capital value) as they paid into the system,generations born after 1943 will probably only reveive about 80 percent, probably evenless, of what they pay«.

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negativ auf die Höhe privater Ersparnisse: Was in Form von »glaubwürdi-gen« Ansprüchen gesammelt wird, gilt als Substitut für den Spargroschenauf der hohen Kante. Sinkt aber die Glaubwürdigkeit der Alterssiche-rungssysteme, dann steigt die volkswirtschaftliche Sparrate plötzlichstark an - mit entsprechenden Auswirkungen auf Zinshöhe und privatenKonsum.Politisch induzierte Risiken bauen sich eher langfristig auf, haben aberumso gravierendere Konsequenzen. Denn mit der Sozialversicherungverliert schnell das gesamte Institutionengefüge demokratischer Gemein-wesen seine Glaubwürdigkeit - ein Grund für die Zurückhaltung, mit derPolitiker in allen westlichen Demokratien notwendige Reformen derRentenversicherung angehen.

b) Veränderungen im Wertgefüge moderner Gesellschaften

Gegner des Sozi alstaats fokussieren meist auf die transferbedingt verzerr-ten Anreize auf den Arbeitsmärkten (»Arbeit muß sich wieder lohnen«).Ebenso wichtig aber und bisher kaum beachtet sind die Rückwirkungenauf gelebte Normen und Werthaltungen der Bürger. In einer neuerenArbeit leistet wiederum Assar Lindbeckl6 hier eine hochinteressanteAusweitung der ökonomischen Theoriebildung - indem er so etwas wiedas »moral capital« einer Gesellschaft modelliere7

• Das Moralvermögenbesteht dabei aus individuellen (»habits«, individuelle Werthaltungen)wie auch sozialen Komponenten (»social norms«). Verstöße gegen ersterewerden als »schlechtes Gewissen«, gegen letztere als Mißbilligung imFreundes- und Bekanntenkreis erlebt. Moralische Normen sind einwichtiger Teil des Restriktionengefüges für ein Individuum. Handlungs-strategien werden unter Beachtung dieser Normen bzw. in der Erwar-tung, daß auch andere sich daran halten werdenlS, gewählt. Die Frage vonHerkunft und Veränderbarkeit sozialer Normen ist in der Literatur ganzunterschiedlich beantwortet worden. Ein unbestrittenes Element aber ist

16 Assar Lindbeck, Welfare State Disincentives with Endogenous Habits and Norms, in:Scandinavian Journal of Economics 97 (1995) 477-494; vgl. zu diesem Ansatz auch dieinteressanten Perspektiven von Henry J. Aaron, Public Policy, Values, and Conscious-ness, in: Journal of Economic Perspectives 8 (1994) 3-21.

17 Lindbeck schlägt an einer Stelle auch den Begriff »social (collective) capital« dazu vor.Im Anschluß an die neuere amerikanische Diskussion sollte dieser Begriff aber fürinformelle Netzwerk-Beziehungen etc. reserviert bleiben. Ich verwende daher hier denBegriff Moralvermögen.

18 Lindbeck, Welfare, 479, zitiert hier C. Bicchieri: »A norm is there because everyoneexpects everyone else to conform, and everyone knows he is expected to conform, too.«

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soziales Lernenl9• In Werten geronnene Erfahrung - »Moralvermögen« -

sanktioniert zunächst den Mißbrauch von sozialen Sicherungssystemen -und zwar individuell wie sozial. Es belegt mißbräuchliche Inanspruch-nahme mit »psychischen Kosten«. Lindbeck geht also davon aus, daß1. heutiges Verhalten von Habitualisierungen und sozialen Normen

beeinflußt ist, die in der Vergangenheit gebildet wurden (etwa in derErziehung, durch staatliche Gesetze in der Vergangenheit etc.);

2. es dabei einen »kritische Masse«-Effekt gibt: Je mehr Individuen sichin ihrem Verhalten nach einem bestimmten moralischen Kapitalrichten, desto stärker ist dessen Einfluß auf den einzelnen;

3. sich einmal erworbene Habitualisierungen langsamer verändern alsökonomische Anreize: Auch bei einem Wechsel der äußerenUmstände wirken sie nach und verzögern damit die Anpassung derIndividuen an neue Kontextbedingungen.

Unter diesen Voraussetzungen vermag eine Theorie des moralischenKapitals zu erklären, warum es beim Aufbau von Wohlfahrtsstaaten nichtzu jenem massenhaften Mißbrauch durch die Bürger kommt, den derÖkonom mithilfe seines »homo oeconomicus«-Modells voraussagenwürde: Aufgrund ihres moralischen Kapitals beuten die Bürger die neuensozialen Sicherungs systeme nicht aus. Zugleich wird allerdings deutlich,daß die Voraussage des Ökonomen damit nicht gänzlich wertlos gewor-den ist. Habitualisierungen und soziale Normen beeinflussen individuel-les Verhalten zwar dauerhafter, legen es aber nicht - wie die soziologischeRollentheorie mitunter modelliert - ein für allemal fest. Individuen sinddurch erlernte Normen nicht völlig gegen ihre Umwelt abgeschirmt indem Sinne, daß sie für weitere Veränderungen der Anreizstrukturenprinzipiell unsensibel wären. Steigen die (Opportunitäts- )Kosten derEinhaltung sozialer Normen vielmehr weiter an - in dem Sinne, daß dieErträge eines Regelbruches steigen würden - dann kommt es zumKonflikt zwischen tradierten Normen und neuen Anreizen; es finden sichdann immer einige (meist besonders »unternehmerische«) Individuen, dieihr Verhalten als »Vorreiter« den neuen Gegebenheiten anpassen20

19 »For instance, if work and saving during a prolonged period have been economicallyrewarding - perhaps they have even been necessary for survival - it is likely that habitsand social norms develop that encourage such behavior, illustrating the hypothesis thatsuccessful behavior tends to be repeated and imitated«, Lindbeck, Welfare, 4.

20 Entsprechend der moral capital-Theorie Lindbecks sind insbesondere solche GruppenTräger des Wertewandels, die das traditionelle moralische Kapital nicht erworbenhaben: etwa eine neue Generation, die im Kontext der veränderten Anreizsituationherangewachsen ist, oder Immigranten.

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Moralische Erosionsprozesse kommen in Gang und senken zugleich dieKraft der Verbindlichkeit tradierter Normen für alle übrigen: eine Moral,deren Einhaltung sich auch langfristig nicht mehr lohnt, verfällt (K.Homann). Moralvermögen wirkt also als Faktor, der Anpassungenindividuellen Verhaltens an Veränderungen der Rahmenbedingungenverzögert, aber nicht völlig außer Kraft setze'.Wie wirkt der Faktor »Moralvermögen« im Ausbauprozeß modernerWohlfahrtsstaaten konkret? Politiker legen das wohlfahrts staatlicheTransferniveau jeweils in Reaktion auf die dabei beobachteten Verhal-tensänderungen der Bürger fest. Führen z. B. neue Ansprüche zu offen-kundigem Mißbrauch, so werden sie meist schnell wieder »kassiert«22.Bleibt nun aber - aufgrund der Verzögerungswirkung moralischenKapitals - solches »feedback« für den Politiker (zunächst) aus, dannkommt es zu Politikversagen i. S. des »overshootings« (Assar Lindbeck)neuer Anspruchsgesetze23. Weil Politiker zunächst keinen Mißbrauchdurch die Bürger beobachten, halten sie die daraus resultierenden volks-wirtschaftlichen »Kosten« (i. S. v. Effizienzverlusten) wohlfahrtsstaatli-cher Programme für gering. Sie befürworten deshalb weiteren Ausbau.Anpassungen der Bürger laufen aber zunächst verborgen ab: nämlich imBereich der Habitualisierungen und sozialen Normen. Bedingt durch dieimmer stärkeren Anreize kommt es zum »Wertewandel«: Die breiteInanspruchnahme sozialer Sicherungssysteme wird nicht mehr als uneh-renhaft empfunden; im Gegenteil: Es werden subjektiv Rechtsansprüchedes Anspruchsempfängers auf das Markteinkommen anderer Bürgerentwickelt24. Eine »Kultur des Wohlfahrtsstaates« bildet sich, die vonwohldefinierten Rechtsansprüchen gegen kollektive Sicherungssysteme

21 Insofern lälh sich die Lindbeck'sche Theorie des Moralischen Kapitals auch alsInterpretation des Diktums von E. W. Böckenförde lesen, der moderne Staat (hier: alsSozialstaat) lebe von Voraussetzungen, die er nicht zu ersetzen vermöge.

n So geschehen mit dem Erstattungsanspruch für Zahnersatz (Gold-Inlays) in den 70erJahren. Nach deren Einführung als Regelkassenleistung sind die Kosten der GKVsprunghaft angestiegen. Als Reaktion darauf wurde die neue Leistung bereits nachweniger als einem Jahr wieder gestrichen.

23 »Politicians would have chosen to offer citizens less generous welfare-state arrangementsif it had been possible to anticipate the long-term consequences for individual behavior,including less compliance to traditional habits and social norms«, Lindbeck, Wel-fare,481.

24 «... some citizens actively and rationally adjust, in a calculated way, to living at theexpense of taxpayers' money. We may say they acquire subjectively feit property rightsto other citizens' incomes and tax payments«, Lindbeck, Welfare, 484, »... it is regardedas ' natural' to be financed by the government«, 492.

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gekennzeichnet ist, zugleich aber jenen mißtrauisch gegenübersteht, diedie finanziellen Grundlagen dafür erarbeiten25

Es ist wichtig, Assar Lindbecks Ergebnis nicht mit der weit verbreitetenmoralisierenden Kritik an Sozialleistungsempfängern zu verwechseln:Notlagen und existentielle Hilflosigkeiten werden in einer »Kultur desWohlfahrtsstaates« nicht etwa opportunistisch simuliert, sondern - auf-grund des Wertewandels - als real empfunden. »Learned helplessness~,erlernte Hilflosigkeit, ist der terminus technicus in der Fachdiskussiondazu.Doch nicht nur bei Empfängern, auch bei Administratoren und Kontroll-instanzen der Wohlfahrtsleistungen (Politiker, Beamte, Ärzte) setzt dieveränderte Anreizsituation Umdenken und Veränderungen des morali-schen Kapitals in Gang. »Harsche« Kontrollen gegen den Widerstand derAnspruchsberechtigten durchzusetzen, wird zunehmend als inhumanempfunden. Dies gilt insbesondere dann, wenn Kollegen sich wenigerhart zeigen26

Welches sind die langfristigen Folgen dieses systemendogenen Werte-wandels ? A. Lindbeck nennt vor allem eine inhärente Instabilität desGemeinwesens. Sollte der Wohlfahrtsstaat den einzelnen ursprünglichvor existentiellen Risiken schützen, so entstehen durch eine fortschrei-tende »Kultur des Wohlfahrtsstaates« neue - jetzt gesamtgesellschaftliche- Anfälligkeiten gegen exogene Schocks. Steigen z. B. aufgrund weltwirt-schaftlicher Veränderungen die Arbeitslosenzahlen plötzlich stark an, sorutscht ein großer Teil der Bevölkerung in den Bereich kollektiverSicherung, während zugleich die Zahl der Beitragszahler sinkt. Reformeni. S. des Abbaus von Ansprüchen sind aber in fortgeschrittenen Wohl-fahrtsstaaten aufgrund des neu gebildeten Moralvermögens nur schwerdurchzusetzen. Selektive Wahrnehmung bestimmt die öffentliche Dis-kussion. Auch werden Einschnitte von den Betroffenen schmerzhafterempfunden, als wenn die zugrundeliegenden Ansprüche nie gewährt

25 Lindbeck, Welfare, 489f. spricht in diesem Zusammenhang von einer Option derschwedischen Öffentlichkeit der 60er und 70er Jahre für einen ~capitalism withoutcapitalists« bzw. »enterprises without entrepreneurs«. Eine feindliche Stimmung gegenUnternehmer, wie sie sich in Schweden in expropriativen Steuersätzen niederschlug, istaber geeignet, die Vitalität der Wirtschaft langfristig zu untergraben.

26 »After all, the costs to public-sector administrators and physicians themselves of 'beinghumane', i. e. generous with taxpayer's money, are very smalI ... endogenous changes inhabits and social norms may develop over time not only among potential beneficiariesbut also among the administrators and experts of the systems«, Lindbeck, Welfare, 486.

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worden wären27• Begünstigte Gruppen nehmen ihre Ansprüche vielmehr

als Eigentumsrechte wahr und verteidigen sie wie gegen eine Enteignung.Demokratische Wohlfahrtsstaaten können so schnell in eine gefährlicheökonomische Schieflage geraten. Die Risiken, die sie abzuwehren ver-sprachen, kumulieren und schlagen als solche auf die Bürger zurück.Diese haben aber als einzelne nicht gelernt, sich dagegen zu schützen,politisch sind sie durch die Kultur des Wohlfahrtsstaates gelähmt.Assar Lindbecks Kritik ist mithin hier nicht, daß Wohlfahrtsstaaten dieArbeitsbereitschaft mindern, ökonomische Ineffizienzen begründen etc.,sondern daß sie gerade das nicht halten, was sie versprechen: deneinzelnen dauerhaft und umfassend gegen elementare Lebensrisikenabzusichern. Es ist vielmehr abzusehen, daß eine »Kultur des Wohlfahrts-staates« in der Zukunft ganz erhebliche Risiken insbesondere für jeneBevölkerungsgruppen birgt, die von ihren (fiktiven) Ansprüchen gegendie Sozialversicherungsträger existentiell abhängig sind. Für sie werdenspürbare Kürzungen viel zu schnell zur Katastrophe.

c) Wohlfahrtsstaaten und private Unterstützungsnetzwerke

Im Anschluß an die Theoriebildungen Lindbecks soll nun ein drittes, fürden vorliegenden Beitrag zentrales Argument formuliert werden. Lind-beck hat die langfristige Dynamik des Wohlfahrtsstaates und dabeispeziell die Rückwirkungen auf den einzelnen Bürger untersucht. Die-selbe Betrachtung läßt sich nun auch in bezug auf die Eigenvorsorge derBürger anstellen. Diese ruhte - wie gesehen - zunächst ganz wesentlich inder Familie. Im Kontext der frühkapitalistischen Lebenswelt kamen»gesellschaftliche« Institutionen wie Verbände, Gewerkschaften, Genos-senschaften etc. hinzu. Die Mitgliedschaft in informellen Beziehungsnet-zwerken brachte die Möglichkeit, auf schnelle und unbürokratische Hilfeanderer Kollegen, Mitglieder etc. zurückgreifen zu können. Sie hatteunmittelbar >,vermögens«-charakter für die Beteiligten und bildete dieVersicherung gerade einfacher Bevölkerungsschichten, denen der Zugangzu Kapitalvermögen verwehrt blieb. Die neuere Sozialwissenschaftspricht von sozialen Netzwerken in diesem Sinne als »Sozialvermögen«(»social capital«fB. Wo liegt dessen spezifische Leistungsfähigkeit bei derAbsicherung gegen elementare Risiken?

27 Lindbeck, Welfare, 49tf. verweist hier auf die »Prospekttheorie« der SozialpsychologenA. Tversky und R. Kahneman. Danach werden im menschlichen RisikoverhaltenVerluste stärker negativ bewertet als gleichhohe Gewinne positiv.

28 Vgl. dazu meinen Beitrag, Was ist das Sozialvermögen einer Gesellschaft?, in: Stimmender Zeit 214(1996)670---{,SO.

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Die Beziehungen innerhalb von Netzwerken sind wiederholt aber unre-gelmäßig und können im Zeitablauf stark variieren. Sie werden häufigmultiplex, d. h. sie umfassen mehrere Lebensbereiche und verschiedenePersonengruppen29

• Informelle Kontrollpotentiale gegen opportunisti-sches Verhalten entstehen. Rechtliche Absprachen oder Verträge fehlendagegen oder spielen zur Regelung der Beziehungen eine untergeordneteRolle. Versteht man - mit bestimmten soziologischen Forschungstradi-tionen - die Interaktion im Kontext sozialer Netzwerke als Austausch-prozeß, dann lassen sich verschiedene Formen der Reziprozität unter-scheiden30.Im Gegensatz zur unmittelbaren Reziprozität (»tit for tat«)bieten Netzwerke ein System generalisierten Austauschs: »Unterstüt-zung wird frei zwischen Netzwerkmitgliedern ausgetauscht, individuelleUnterstützungsbilanzen können auch langfristig unausgeglichen sein:Mitglieder eines Netzwerkes gehen davon aus, daß gewährte Unterstüt-zung schließlich und endlich von irgendeinem, beliebigen, Mitglied desNetzwerkes ausgeglichen wird«31. Netzwerke sind mithin wesentlichflexibler in bezug auf wechselnde Bedürfnislagen. Insbesondere werdenInformationen verschiedenster Art bereitgehalten - hier erweisen gerade»schwache« Bindungen ihre spezifische Stärke. Generalisierte Reziprozi-tät bedeutet auch, daß besonders bedürftige Personen über längere Zeitmitgetragen werden, ohne daß bei ihnen der prinzipielle Äquivalenzcha-rakter der Netzwerkbeziehungen intransparent wird.»Aufgeschobene« Reziprozität liegt vor, wenn in einer Beziehung zwarUnterstützungs bilanzen geführt werden, diese jedoch über längere Zeitunausgeglichen sein können. Dies ist insbesondere dort der Fall, wolangfristig verbindliche Beziehungen eingegangen werden. EmpirischeUntersuchungen zeigen etwa, daß es unter Verheirateten einseitigeAbhängigkeiten über lange Zeit geben kann, während Singles eher vonkurzfristigen Reziprozitäten leben.Wir hatten bereits auf die Grenzen der Leistungsfähigkeit von Unterstüt-zungsnetzwerken angesichts der spezifischen Risiken moderner undhochinterdependenter Gesellschaften hingewiesen. Diese liegen insbe-sondere in ihrer begrenzten finanziellen Kraft zur Risikokonsolidierung.

29 Vgl. Barry WellmanlScott Wortley, Different Strokes from Different Folks: Commu-nity Ties and Social Support, in: American Journal of Sociology 96 (1990) 558-588.

30 So Martin Diewald, Soziale Beziehungen: Verlust oder Liberalisierung? Soziale Unter-stützung in informellen Netzwerken, Berlin 1991.

31 Stephan Panther, Informelle Netzwerke und Sozialstaat. Substitutionale oder komple-mentäre Institutionen?, in: B. Priddat/G. Wegner, Zwischen Evolution und Institution,Marburg 1996, 283.

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Hier ist sozialstaatliche Umverteilung, die im nationalen Kontext breiteRisikostreuung garantiert, leistungsfähiger. Andererseits werden inNetzwerken Leistungen erbracht, die außerhalb teuer zugekauft werdenmüssen. Die Diskussion um das Marktäquivalent von Hausarbeit habenhier das Bewußtsein für die Produktivität des »privaten« Sektors geweckt.Wer etwa beim Hausbau oder Umzug auf soziale Unterstützungsnetz-werke zurückgreifen kann, spart viel Geld. Hinzu kommt, daß spezielleBedürftigkeiten phänomennah angegangen und bewältigt werden kön-nen. Beistand ist zudem »ganzheitlicher« Art und leistet auf umfassendeArt subjektive Unterstützung.Wo nun aber wohlfahrtsstaatliche Systeme ihren Anspruch umfassenderRisikoabsicherung glaubwürdig vermitteln, da verdrängen sie Sozialver-mögensformationen wie informelle Netzwerke nach und nach aus ihrerVersicherungsfunktion. Investitionen in solche Beziehungsnetzwerkeerscheinen den Bürgern nun weniger lohnend. Ihre informellen Sank-tionsmechanismen werden geschwächt, da der Beziehungsverlust anBedrohlichkeit verliert32

• Natürlich vollziehen sich entsprechende Ero-sionsprozesse ebenso langfristig wie die Wandlungen des Moralvermö-gens einer Gesellschaft. Doch wo sich der Wohlfahrtsstaat zum Monopo-listen in Sachen Solidarität entwickelt, da verändern traditionale wieposttraditionale Bindungen schleichend ihren Charakter. Ist etwa derGenerationenvertrag erst verstaatlicht, so werden Beziehungen zu Kin-dern schnell als Kostenfaktoren, zu Eltern als lästige Pflicht wahrgenom-men. Das Engagement in Kirchen, Gewerkschaften und Vereinen »bringtnichts mehr« - bei Nichtgefallen zieht man sich lieber zurück, als um dieDurchsetzung eigener Vorstellungen zu ringen. Soziale Kompetenzverkümmert, zurück bleibt ein juridisches Anspruchsdenken, das nichtzuletzt auch demokratische Politikprozesse lähmt.Ein aus dieser Sicht zentrales Problem moderner Wohlfahrtsstaaten istmithin, daß sie den »Privatsektor« zu einem Raum degradieren, in demnur noch funktionslose - und deshalb modischen Beliebigkeiten übereig-nete - Spielchen gespielt werden. Umgekehrt tragen gerade WQhlfahrts-programme aufgrund ihrer Finanzierungslogik dazu bei, daß Berufstä-tigkeit, daß beruflicher Erfolg auch in bezug auf die Risikoabsicherungzur alles entscheidenden Variable moderner Existenz wird.Soziale Netze prägen das Leben der weißen Bevölkerung der USAtraditionell wesentlich stärker. Aus der Sicht der hier entwickelten

32 Vgl. dazu den interessanten Beitrag von Rainer Hegselmann, Solidarnetzwerke undstaatliche Sozialpolitik. Eine spieltheoretische Analyse der Humboldtschen Sozial-staatsskepsis, in: Homo Oeconomicus XIII (1/2) (1995) 321-366.

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Theorie spielt dabei eine Rolle, daß die US-Bürger auch heute nochelementaren Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Erkrankung etc. in sehrviel stärkerem Maße ausgesetzt sind. Sie finden dann in der Gemeinschaftdes Sport- oder Schützenvereins, der Kirchengemeinde, der Scoutgruppe,der politischen Bürgerinitiative, der schulischen Elternarbeit auch per-sönliche Unterstützungsnetzwerke, auch ein Stück wechselseitige Versi-cherung. Solche sozialen »Zusatznutzen« gesellschaftlichen Engagementssind sehr wichtig. Der einzelne findet hier ein »Sozialvermögen«, das ihmbei der Verfolgung seiner vielfältigen Lebensziele eine wichtige Hilfe ist.Die Verdrängung informeller Ansprüche aus sozialen Beziehungen durchformelle Ansprüche an kollektive Sicherungssysteme ist dann gesell-schaftspolitisch nicht wünschenswert. Dies liegt auch in den aufgezeigtenGrenzen der Nachhaltigkeit solcher Systeme begründet.

III. SOZIALVERMÖGENSPOLITIK:PRAKTISCHEPERSPEKTIVEN

1. Sozialpolitik als Gesellschafts-Ordnungspolitik

Welche praktischen politischen Konsequenzen ergeben sich aus demGesagten? Es wird zunächst deutlich, daß eine schnelle Rückführungwohlfahrtsstaatlicher Programme (i. S. eines »heilsamen Schocks«) keinegängige Option darstellt. Die Überlegungen zum Moral- wie auch zumSozialvermögen zeigen vielmehr, daß sich die Ausgangssituation fürstaatliche Sozialpolitik im Verlauf der Dynamik wohlfahrts staatlicherSysteme entscheidend gewandelt hat. Traditionelles Sozial- und Moral-vermögen verkümmert und läßt Bedürftige in vieler Hinsicht schutzloserzurück, als sie dies am Anfang des Prozesses waren. Eine sich aufschau-kelnde Rhetorik sozialer Notlagen darf hier mithin nicht als taktischerOpportunismus oder Larmoyanz33 diskreditiert werden: Sie reflektiertreale existentielle Abhängigkeiten. Insofern er zur schleichenden Läh-mung von Engagement in sozialen Netzwerkbeziehungen, Selbstbindun-gen etc. führt, wirkt der Wohlfahrtsstaat als ein sich selbst unverzichtbarmachender Mechanismus. Eine gesellschaftspolitisch verantwortbareSozialpolitik wird mithin nicht auf eine schnelle Rückführung teurerAnsprüche hoffen können. Ziel muß vielmehr eine mittel- und langfri-stige finanzielle Konsolidierung sein. Der Wohlfahrtsstaat wird alle ihm

33 So häufig in der Auseinandersetzung zwischen »Jammer-Ossis« und »Besser-Wessis«.

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noch verbliebenen Ressourcen benötigen, um die berechtigten Ansprücheder Vergangenheit wenigstens annähernd zu befriedigen. Im Blick auf dieZukunft ist es aber notwendig, neue Solidarpotentiale in Form vonNetzwerkbeziehungen zu erschließen und für die gesellschaftliche Risi-kovorsorge dienstbar zu machen34

Dazu bietet sich ein Paradigma von Sozialpolitik an, das seine Hauptauf-gabe nicht mehr im »Rudern«, sondern im »Steuern« (Warnfried Dett-ling) sieht: Der Staat wird Sozialleistungen immer weniger selbst zurVerfügung stellen, er wird vielmehr zur Mobilisierung von gesellschaftli-chen Kräften beitragen, die diese Aufgaben übernehmen können35

• Ausdem Bereich der Wirtschaftspolitik ist ein solches Politikverständnis als»Ordnungspolitik« vertraut. Ordnungspolitische Instanzen übernehmennicht selbst die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, siebeschränken sich vielmehr darauf, geeignete rechtliche Rahmenbedin-gungen für private Unternehmen zu schaffen. Dadurch (etwa durch eineWettbewerbspolitik) werden private Agenten mit Anreizen versorgt, umsich effektiv gemeinnützig zu verhalten. Ordnungspolitik hat dabeiverschiedene Aufgaben. Sie zwingt vorhandene Anbieter, sich an dierechtlichen Rahmenbedingungen zu halten (z. B. Steuern zu zahlen,Arbeits- und Umweltschutz gesetze einzuhalten, Wettbewerbsdiskrimi-nierungen zu unterlassen). Sie stimuliert neue Anbieter, in bestehendeMärkte einzutreten (Existenzgründungspolitik, Mittelstandsförderung)und senkt durch Strukturmaßnahmen die »Transaktionskosten« wirt-schaftlicher Aktivitäten (z.B. durch Infrastrukturinvestitionen). DieÜbertragung des ordnungspolitischen Paradigmas auf den Bereich derSozialpolitik liefe auf eine »Gesellschafts-Ordnungspolitik« hinaus, dieeine Wende »vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft« (Dettling)anzielt. Statt Dienstleistungen ausschließlich selbst zu erbringen, gilt esinsbesondere für kommunale Akteure, inhärente Selbsthilfekräfte derGesellschaft zu aktivieren und zu organisieren.

34 Zu dieser Folgerung kommt auch Panther, 271ff.35 Warnfried Dettling entfaltet seinen Ansatz mit zahlreichen Praxisbeispielen in dem

instruktiven Band »Politik und Lebenswelt. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesell-schaft, Gütersloh 1996. Entsprechende Perspektiven werden in der zeitgenössischenangelsächsischen Literatur ausführlich diskutiert, vgl. dazu u. v. a. Marcel Roche,Rethinking Citizenship. Welfare, Ideology and Change in Modern Society, Cambridge1992; Sidney. Verba / K. L. Schlozman / H. Brady, Voice and Equality: CivicVoluntarism in American Politics, Cambridge 1995; Henry j. Aaron u.a. (Ed.), Valuesand Public Policy, Washington D. C. 1993; weitere Literaturhinweise finden sich inmeinem Beitrag, Was ist das Sozialvermögen (Anm. 28).

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Seit Alexis de Toqueville werden die USA als Hort einer starken »civiisociety« genannt. Die Zugehörigkeit zu einer Vielzahl von Gruppen undunterschiedlichen Vereinigungen wird dort bereits in Familie und Schuleerlernt. Viele Aufgaben, die in Deutschland von staatlichen Trägernübernommen werden, sind traditionell gesellschaftlich organisiert. Dochgerade diese unterschiedlichen Traditionen machen eine Übertragungschwierig. Jeder Praktiker, der in Deutschland versucht hat, ehrenamtli-ches Engagement zu organisieren, weiß um diese Probleme. Bleibt dahereine »Sozialvermögenspolitik«aufgrund unterschiedlicher »Mentalitä-ten« von vornherein zum Scheitern verurteilt?Aus ökonomischer Sicht hängt auch im »privaten« Sektor das Maß anEngagement mit den (monetären oder ideellen) Anreizen zusammen. Umdiese steht es im Kontext einer »Kultur des Wohlfahrtsstaates« zunächstschlecht. Doch mit dem zu erwartenden Sinken sozialstaatlicher Absiche-rungsniveaus werden die sozialen »Zusatznutzen« gesellschaftlichenEngagements auch in Deutschland wieder eine wachsende Rolle spielen36

Diese Entwicklungen bedürfen der aktiven ordnungspolitischen Gestal-tung. Insbesondere sollten - wie im Bereich der Wirtschaftspolitik - die»Transaktionskosten« gesellschaftlichen Engagements gesenkt werden,z. B. durch eine soziale Infrastruktur, die lokale und regionale Selbstorga-nisation möglich macht und belohnt. Hier sind kommunale Strukturpla-nung und betriebliche Organisation37 gefordert. Ein obligatorischer»Sozialvermögenscheck« bzw. aufschiebende Veto-Rechte entsprechen-der politischer Beauftragter könnten sicherstellen, daß kommunale Struk-turentscheidungen das Wachsen von Kooperationsnetzen stärken undnicht zerstören - wie dies klassisch etwa in der Schul- und Kreisreform der70er Jahre geschehen ist.Zusatznutzen gesellschaftlichen Engagements können auch geschaffenwerden, indem man Entscheidungskompetenzen verlagert. Das Subsidia-ritätsprinzip der katholischen Soziallehre weist hier den Weg. Institutio-nelle Selbstverwaltung (inklusive Finanzhoheit) und die Gewährung vonZuschüssen statt bürokratischer Gängelung ermutigt privates Engage-ment. Flankierende Supervisions- und Fortbildungsangebote tun einübriges. Wo dagegen Ehrenamtliche nur als verlängerte Werkbank und

36 Allerdings zeigen die Überlegungen Lindbecks zum Moralvermögen, daß der Weg ausdem Wohlfahrtsstaat mindestens so lang sein wird, wie der Weg in ihn hinein. Eine»Gesellschaftsordnungspolitik« hat daher nur als langfristige Strategie Aussicht aufErfolg.

37 Vgl. dazu die Beiträge in Andre Habisch (Hg.), Familienorientierte Unternehmensstra-tegie. Beiträge zu einem zukunftsorientierten Programm, München 1995.

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Lückenbüßer leerer Sozialbudgets gesucht werden, da wird die Klageüber mangelnde Einsatzbereitschaft auch in Zukunft nicht verstummen.Ob Politiker, ob wir alle dies wünschen oder nicht: Absicherung gegenexistentielle Lebensrisiken wird im 21. Jahrhundert wieder in stärkeremMaße außerhalb wohlfahrtsstaatlicher Systeme stattfinden. ErweiterteFamilien werden dabei eine zentrale Rolle spielen, aber individuellverschieden auch private Netzwerke und andere Sozialvermögensforma-tionen traditioneller und posttraditioneller Art. Es ist also höchste Zeitfür eine Gesellschaftspolitik, aktiv zur Stärkung dieser Formationenbeizutragen38

2. Veränderte betriebliche Praxis und Sozialverrnägenspolitik

Ich hatte einführend angedeutet, die Unternehmens praxis könne auch amEnde des 20. Jahrhunderts eine Vorbildfunktion für die Gestaltungsozialpolitischer Institutionen einnehmen. Inwiefern ist dies der Fall?Die »Kultur des Wohlfahrtsstaates« läßt sich auch als Verrechtlichungsozialer Beziehungen beschreiben. Diese führt dazu, daß Leistungeneinerseits und Ansprüche andererseits möglichst genau definiert undspezifiziert werden. Von mehrdimensionalen wird auf funktional diffe-renzierte und zunehmend eindimensionale Beziehungen umgestellt.Dabei werden unvollständige oder »relationale« Verträge mehr und mehrdurch (möglichst) vollständige Verträge substituiert. Vergleichen wirAnsprüche gegenüber Unterstützungsnetzwerken mit Ansprüchen gegensoziale Sicherungssysteme, so sind letztere wesentlich klarer spezifiziert,berechenbarer und (wenigstens prinzipiell) handelbar.Als »Substitution unvollständiger durch vollständige Verträge« lassensich nun auch Entwicklungen in den Unternehmen beschreiben. Zuneh-mende Arbeitsteilung und Spezialisierung hatten hier zu einer Beschrän-kung des Tätigkeitsbereichs vieler Mitarbeiter geführt. Der dabei gewach-sene Koordinationsbedarf führte zum Aufbau immer komplexerer Hie-rarchien und Organisationsschemata. Doch im intensiven Wettbewerbschlugen die negativen Folgen solcher Entwicklungen schneller zu Buche,wurde daher rascher nach neuen Wegen gesuche9

• Dies gilt auch für dieletzten Jahre. Der intensivere globale Wettbewerb hat hier viele betriebli-che Praktiken in Frage gestellt, weil Marktrisiken und die Notwendigkeitflexibler Reaktion darauf schnell wachsen. Dadurch sind die Eigenarten

38 Vgl. dazu meinen Beitrag Investeren in menselijk en sociaal kapital, in: ChristenDemocratische Verkenningen 7/8 (1996)380-388.

39 Die Wirtschaft ist mithin das lernfähigere Subsystem moderner Gesellschaften.

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des deutschen Wirtschaftssystems deutlicher hervorgetreten. Dieses istdurch die Dominanz korporativer Elemente geprägt, die aber - imGegensatz etwa zum fernen Osten - in hohem Maße auch formal-juristisch verankert sind40

• Die Existenz eines komplexen und elaboriertenarbeitsrechtlichen Institutionensystems und korrespondierend das Den-ken in juridischen Kategorien prägt auch die betriebliche Praxis inDeutschland. Auf diesem Hintergrund sind die erheblichen Produktivi-tätsgewinne vieler deutscher Unternehmen in den letzten Jahren bemer-kenswert. Sie sind vor allem paradigmatischen Durchbrüchen im Bereichder betrieblichen Organisation zu verdanken. »Flache« Hierarchien,teilautonome Arbeitsgruppen, Implementation von Anreizsystemen zurSammlung von Verbesserungsvorschlägen durch die Mitarbeiter, mehrZeitsouveränität, Teamarbeit41 sind nur einige Stichworte einer Entwick-lung, die zu wesentlich flexibleren und weniger formalen Strukturengeführt hat.Diese Entwicklung spiegelt die Erfordernisse einer betrieblichenUmwelt, die in den letzten Jahren ganz erheblich an Komplexitätgewonnen hat. Inhalte der Tätigkeit gerade qualifizierter Mitarbeiterlassen sich hier immer weniger einheitlich vorgeben. UnternehmerischerErfolg setzt vielmehr voraus, auch formal weisungsgebundenen Ange-stellten neue Freiräume zur selbständigen Entscheidung einzuräumenund sie als Entscheidungssubjekte ernstzunehmen. Hier berühren sichMoral und langfristiges ökonomisches Vorteilskalkül und laufen auf eineNeubetonung des christlichen Personalitätsprinzips hinaus42

• "Principal-Agent«-Modelle formalisieren realitätsnah Entscheidungsstrukturen, indenen weisungsbefugte Agenten geschäftlich hochrelevante Informatio-nen haben, die den Verantwortlichen so nicht zugänglich sind. Fastextrem bestimmt dies die betriebliche Praxis etwa im Bereich des Invest-mentbankings. Spektakuläre Zusammenbrüche wie die der Barings-Bankin Singapur oder auch die Probleme der Deutschen Bank in London habengezeigt, daß diese Unternehmens bereiche nur noch unter hohen Kostenüberhaupt kontrollierbar, die dabei lauernden Risiken aber unübersehbargeworden sind. Elemente »subsidiärer« Unternehmensorganisation sind

40 Vgl. dazu die aufschlußreichen Bemerkungen von Francis Fukuyama über »GermanGiants«, in: Trust. The Social virtues and the Creation of Prosperity, New York u.a.1995.

41 Dazu neuerdings Helmut Schneider! Heinz Knebel, Team und Teambeurteilung. NeueTrends in der Arbeitsorganisation, Köln 1995.

42 Dieses Prinzip findet sich gerade in bezug auf die betriebliche Organisation in nahezuprophetischer Weise bereits in den 60er Jahren betont bei dem ersten Geschäftsführerdes BKU, Wilfried Schreiber.

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der Versuch, diese Probleme organisatorisch in den Griff zu bekommen,indem die »unternehmerische Kompetenz« von Mitarbeitern gestärktwird. Sollen die bereits von Max Weber für jede bürokratische Organisa-tion diagnostizierten Ineffizienzen vermieden werden, so sind Entschei-dungen zu delegieren und Verantwortlichkeits strukturen zu dezentrali-sieren. Dabei erlangen Elemente unvollständiger Verträge43 im Untern eh-mensalltag zunehmende Bedeutung: erfolgsorientierte Steuerung überAnreize statt verhaltensorientierter Steuerung über formale Vorschriften;dezentrale Organisation unter Entwicklung komplexerer Koordinations-mechanismen und kürzerer Hierarchiewege; kooperationsorientierteinnerbetriebliche Strukturen wie workshops und Netzwerke, die Mitar-beiter aus verschiedenen Unternehmensbereichen zusammenführen undso wichtige »Querverbindungen« im Unternehmen schaffen. Einen wei-teren wichtigen Indikator für die wachsende Bedeutung unvollständigerVerträge bildet auch die »Entdeckung« von Unternehmenskultur und-ethik. Sieerscheinen aus dieser Perspektive nicht nur als Modeströmung,sondern sind unverzichtbare Instrumente, um die Loyalität notwendiger-weise selbständig agierender Mitarbeiter zu sichern. Verträge werdendann bewußt möglichst unvollständig gehalten und lassen breiten Raumfür Eigeninitiative und -verantwortung44

Wie die betriebliche Sozialpolitik vor gut 100Jahren, so erscheinen auchdiese gegenwärtigen Transformationen im Unternehmens sektor in viel-fältiger Weise als vorbildlich für sozialpolitische Zukunftsinitiativen. Wiemoderne Unternehmen, so muß auch der Sozialstaat Betroffene zuBeteiligten, Objekte zu Subjekten organisierter Leistungserstellungmachen, wenn und insofern er seine Aufgaben im Paradigma einer»Gesellschafts-Ordnungspolitik« versteht. Ein wesentliches Element sol-cher Politik wird es sein, durch das Setzen von Anreizen 45 und dieSchaffung geeigneter Infrastruktur auf lokaler und regionaler Ebene zurHeranbildung und Stärkung tief gestaffelter »Sozialvermögensformatio-nen« beizutragen.Zwar ist die völlige Substitution staatlicher Transfersysteme vor allem imBereich der klassischen »Sozialhilfe« sowie einer Grundsicherung weder

43 Vgl. zur Theorie unvollständiger Verträge Oliver Hart, Incomplete Contracts, in: J.Eatwell et al. (Ed.), The New Palgrave. A Dictionary of Economics, Vol. 2, London;Oliver Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, Tübingen 1990;Rudolf Richter, Institutionen - ökonomisch analysiert, Tübingen 1994,Teil 1,4.

•• Vgl. Karl Homann, Gewinnmaximierung und Kooperation - Eine ordnungsethischeReflexion. Kieler Arbeitspapiere 691, Kiel 1995.

45 Soziale Leistung muß sich wieder lohnen!

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sinnv.oll noch möglich. Moderne Gesellschaften werden sich diese ihnenin der Industrialisierung zugewachsenen Instrumente auch weiterhin insachgerechtem Umfang nutzbar machen. Doch gerade deshalb bedürfensie angesichts der drohenden finanziellen Instabilitäten und Herausforde-rungen dringend einer Flankierung durch gesellschaftliche Solidarpo-tentiale.Eine Revitalisierung der Wohlfahrtsgesellschaft wird schließlich auch derskizzierten »Kultur des Wohlfahrtsstaates« starke Impulse entgegenset-zen. Insbesondere wird sie den Äquivalenzcharakter sozialer Sicherheit,der in einem System »sozialer Fernwärme« (Wemer Remmers) verlorenzu gehen droht, wieder transparent machen. Informationen über spezifi-sche Bedürfnislagen werden generiert und Sanktions potentiale gegenopportunistisches Verhalten zur Verfügung gestellt. Positive Beiträgesind auch für Problemkomplexe wie die gesellschaftliche Integration vonArbeitslosen und alten Menschen, die Lage kinderreicher Familien etc. zuerwarten. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden.Am Ende des 20. Jahrhunderts hat der Wohlfahrtsstaat seine inspirierendeKraft verloren. Wir bedürfen neuer Heuristiken, damit sich die gesell-schaftspolitische Phantasie angesichts empfindlicher Sparzwänge nichtweiter zurückbildet. Eine Sozialvermögenspolitik erscheint hier geeignet,bei dieser Neuorientierung die alten Prinzipien Solidarität, Subsidiaritätund Personalität zu integrieren und auf neue Herausforderungen hinfruchtbar zu machen.

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