Neues Über Zeit Und Raum Bei Leibniz

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Neues über Zeit und Raum bei Leibniz Author(s): HEINRICH SCHEPERS Source: Studia Leibnitiana, Bd. 38/39, H. 1 (2006/2007), pp. 3-18 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/41220642 . Accessed: 18/07/2013 14:30 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Studia Leibnitiana. http://www.jstor.org This content downloaded from 177.70.210.240 on Thu, 18 Jul 2013 14:31:02 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Neues über Zeit und Raum bei LeibnizAuthor(s): HEINRICH SCHEPERSSource: Studia Leibnitiana, Bd. 38/39, H. 1 (2006/2007), pp. 3-18Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/41220642 .

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Neues über Zeit und Raum bei Leibniz

Von

HEINRICH SCHEPERS (MÜNSTER)

Summary

Leibniz's theory of space and time is based on the action of simple substances which constitute themselves by their actions. This applies to substances that come into existence as well as to those that remain a possibility. They do not act within space and time but constitute space and time by virtue of their own intrinsic activity. This certainly requires, as Leibniz demands, a kind of Copernican turn around in our minds. As long as 30 years before his well-known epistolatory exchange with Samuel Clarke he had laid the basis of his revolutionary theory which, being metaphysical, could not expect to receive the acceptance of the science-orientated Clarke or his master Newton. This paper tries to explain this new insight by looking at the development of the conception of space and time as concepts of order or as relations and not as real things or substances.

Wenn ich beanspruche, „Neues über Zeit und Raum bei Leibniz" beitragen zu können, so deshalb, weil meines Wissens bislang niemand dem nachgegan- gen ist, dass Leibniz' Theorie über Raum und Zeit ihren Grund hat im Handeln der einfachen Substanzen, präziser gesagt, im Handeln der sich selbst konstitu- ierenden einfachen Substanzen, sowohl derjenigen, die zur Existenz kommen, als auch derjenigen, die in der Möglichkeit verbleiben. Diese These möchte ich so ausführlich, wie es die Vortragszeit erlaubt, belegen und erläutern1.

Bekanntlich stellte sich Augustinus die Frage: „Was ist eigentlich Zeit?" und bekannte: „Wenn niemand es von mir wissen will, weiß ich es; wenn ich es dem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht"2. Nach längerer Meditation erklärt er, dass Zeit erst mit der Schöpfung, genauer gesagt, mit den geschaf- fenen Dingen in die Welt gekommen ist3. Das zeigt schon in die Richtung, die Leibniz verfolgen wird.

Viele, wenn nicht sogar die meisten Interpreten glauben - zu Unrecht, meine ich - den modalen Anteil der Metaphysik unseres Philosophen, seine Theorie der möglichen Welten, außer Acht lassen zu dürfen, wohl gestützt darauf, dass Leibniz selbst das auch so macht - aus Gründen, die ihn bewogen haben, seine Metaphysik in seinen für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften, mit Ausnahme der Theodizee, weitgehend geheim zu halten. Das gilt besonders auch für seine

1 Dies ist die erweiterte Fassung meines Vortrags mit dem Titel Die Modernität der Begriffe Raum und Zeit bei Leibniz auf den IV. Jornadas Internacionales de la Sociedad Española Leibniz in Granada am 1. November 2007.

2 Confessiones, XI, 14 (17): „Quid ergo est tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si querenti explicare velim néscio".

3 Confessiones, XI, 30 (40): „Videant itaque nullum tempus esse posse sine creatura".

Studia Leibnitiana, Band XXXVIII/XXXIX/1 (2006/2007) ©Franz Steiner Verlag, Stuttgart

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4 Heinrich Schepers

metaphysische Begründung dessen, was er unter Raum und Zeit verstanden wissen will.

Es geht mir nicht darum, die Richtigkeit der Leibnizschen Anschauungen zu verteidigen oder in Frage zu stellen. Vielmehr geht es mir darum zu verfolgen, wie Leibniz aus seinen Grundvoraussetzungen konsequent seine Metaphysik, in unserem heutigen Fall, seine Lehre über Raum und Zeit entwickelt hat.

Die neue Sicht beruht im Wesentlichen auf der Vollständigkeit anstrebenden Edition seines philosophischen Nachlasses in der Akademie-Ausgabe, seiner Schriften bis 1690, seiner Briefe bis 1694, die Quellen bietet, die selbst das bisher Bekannte in anderem Licht erscheinen lassen.

Wenn wir davon absehen, dass sich die Entwicklung von Leibniz' neuartiger Theorie über Raum und Zeit in weit auseinanderliegenden Etappen vollzogen hat, können wir hinführend, gleichsam im Zeitraffer, den folgenden rationalen Aufbau beobachten.

Leibniz' Ansätze, die Begriffe oder, wie er lieber formuliert, die Natur von Raum und Zeit zu bestimmen, gehen davon aus, dass etwas Widerspruchsfreies - als Existierendes oder bloß Mögliches - ist, zweitens, dass dieses zugleich mit anderem bzw. früher oder später ist als anderes, und das entweder der Zeit oder der Natur nach, und drittens, dass es, wenn es der Natur nach früher ist als anderes, den Grund des anderen enthält.

Dieser Ansatz hat zur Konsequenz, dass Zeit und Raum nichts anderes sind als die Ordnungen, in denen diese Dinge stehen. Die Dinge, die in diesen Ordnungen stehen, bilden also die Gesamtheit alles widerspruchsfrei Denkbaren überhaupt und nicht allein die Gesamtheit der Monaden und der Aggregate von ihnen. Soweit diese widerspruchsfrei Denkbaren sich vertragen, sind sie gruppenweise miteinander in derselben Welt. Innerhalb einer solchen Gruppe verändern sie sich, das bedeutet, sie verändern ihren Zustand, nämlich die Gesamtheit ihrer jeweils aktualen Prädikate so, dass sie mit jeder Änderung unmittelbar in einen kontradiktorischen Zustand übergehen, aber auch so, dass sie dabei weder ihre Identität noch ihre Kompatibilität verlieren.

Mit der Bestimmung, dass jeder Zustand den Grund für einen anderen Zu- stand, genau genommen, sogar für alle späteren Zustände bildet und seinerseits - dem Satz vom Grunde folgend, nihil sine ratione - selbst auch begründet ist, besteht eine volle gegenseitige Abhängigkeit aller Träger dieser Zustände inner- halb jeder der von ihnen gebildeten möglichen Welten.

Anstatt abstrakt vom logischen Raum zu sprechen, der alles widerspruchsfrei Denkbare, der alle Möglichkeiten umfasst, beruft sich Leibniz traditionsgemäß und personal auf Gottes Intellekt, der alle diese Möglichkeiten denkt und in sich beherbergt4, ohne auch nur eine auszulassen5. Die überlieferte regio idearum,

4 „[...] les circomstances individuelles du temps, du lieu, et autres [...] sont dans l'entendement divin avant la consideration de la volonté" (Leibniz an Arnauld, 14. Juli 1686; Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld. Hrsg. und übersetzt von Reinhard Finster, Hamburg 1997 (= Philosophischer Briefwechsel Bd. 1), S. 134).

5 „Car Dieu tournant pour ainsi dire de tous costés et de toutes les façons le système general

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in der die ewigen Wahrheiten und die Essenzen angesiedelt sind, wird so von ihm um die Gesamtheit der widerspruchsfrei Seienden, der Possibilien erwei- tert. Diese werden nicht abstrakt als Tatsachenwahrheiten behandelt, die einer unendlichen Analyse bedürfen, sondern als exakt voneinander unterschiedene Substanzen mit allen ihren individuellen Attributen.

Was bedeutet aber: Gott denkt alle Möglichkeiten? Nicht jedenfalls, dass sie nicht gewesen wären, bevor Gott sie denkt. Vielmehr zählt Leibniz die Möglich- keiten ebenso wie die notwendigen Wahrheiten zu dem, was Gottes Verstand ausmacht. Das ist gleichsam ein Superkonzeptualismus, das meint, Gott kann nicht anders denken als gemäß den notwendigen Wahrheiten, und Gott kann nichts anderes denken als die Possibilien in ihrer Gesamtheit. Ersteres bestimmt die Form, letzteres den Inhalt seines Verstandes.

Diese Possibilien denkt Gott als in steter Entwicklung begriffene Substanzen, die ihre sie von allen anderen unterscheidende Individualität durch ihr eigenes Handeln selbst konstituieren. Bei diesem Handeln wirken die Substanzen nicht aufeinander, es sei denn sie leiden, sagen wir einmal, durch Rücksichtnahme, und werden als aktiv begriffen, insoweit eine solche nicht statt hat. Als Geschöpfe sind sie, im Unterschied zu ihrem Schöpfer, limitiert und leiden alle, umso mehr, je dunkler ihr Bewußtsein über ihr Tun ist.

Bekanntlich hat Leibniz seine Metaphysik weitgehend geheimgehalten. Das trifft auch für seine darin eingebettete Theorie über Raum und Zeit zu. Dass er sie noch nicht hinreichend ausgearbeitet hatte, mag ein Motiv für ihre Geheimhaltung gewesen sein, mehr aber die Furcht, nicht richtig verstanden zu werden, wenn nicht sogar von der Kurie in Rom auf den Index verbotener Bücher gesetzt zu werden.

Leibniz hat seine Gedanken zu Zeit und Raum nicht nur in Etappen ent- wickelt, sondern auch in verschiedener Gestalt aufgezeichnet und vermittelt. Abgesehen von den Aufzeichnungen, die er nur für seinen eigenen Gebrauch angefertigt hat, unterschied er gegenüber seinen Briefpartnern, entsprechend der ihnen zumutbaren Komplexität, offenbar mehrere Grade der Mitteilbarkeit, bei der schlichten Zurückhaltung mittels Ausreden angefangen.

In einer Aufzeichnung, die von uns „Mitte 1685" datiert wurde, bricht Leibniz seine Reflexion über die Wurzel der Zeit mit den Worten ab: „Dies alles bedarf einer schwierigeren Erklärung, denn es zwingt uns, die göttliche Natur mit in Betracht zu ziehen"6. Ähnlich beendet er 1687 seine Darstellung gegenüber Antoine Arnauld: „Der ganze Begriff, den wir von der Zeit und vom Raum ha-

des phénomènes qu'il trouve bon de produire pour manifester sa gloire, et regardant toutes les faces du monde de toutes les manieres possibles, puisqu'il n'y a point de rapport qui échappe à son omniscience, le résultat de chaque veue de l'univers, comme regardé d'un certain endroit, est une substance qui exprime l'univers conformément à cette veue, si Dieu trouve bon de rendre sa pensée effective, et de produire cette substance" (Discours de métaphysique, Anfang 1686; A VI, 4, 1549.19-1550.5).

6 „Sed haec omnia difficilioris explicationis sunt, coguntque nos venire ad divinae naturae considerationem" (Definitiones notionum meîaphysicarum atque logicarum, Mitte 1685; A VI, 4, 629.19-20).

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ben, gründet in dieser Übereinstimmung"7, nämlich in der später sogenannten prästabilierten Harmonie. Er fährt fort: „[...] aber ich käme nie zu einem Ende, wenn ich alles gründlich erklären müsste, was mit diesem Gegenstand zusam- menhängt". Simon Foucher hatte er etwas früher schon beschieden: „Aber diese Art von Betrachtungen sind nicht für alle Welt geeignet, und die Ungebildeten werden, bevor ihr Geist nicht entsprechend vorbereitet worden ist, nichts davon verstehen"8. Auch solle man sich nicht einbilden, dass er die Analyse stets bis zu den ersten Possibilien vorantreiben könne9.

Gegen Ende seines berichtenden Dialogs von 1676 über die Bewegung kann man schon lesen, dass Leibniz nicht alles Verhandelte darin festgehalten hat, mit der Begründung, dass nicht alle würdig wären, alles zu erfahren, sicher aber nur wenige reif und hinreichend dafür vorbereitet seien10.

Ich will versuchen, dem nachzugehen, wie diese „schwierigere Erklärung", die Leibniz selbst nirgends explizit gegeben hat, ausgesehen haben könnte und will mir Mühe geben, den Weg bis zu den „ersten Possibilien" wenigstens an- zudeuten.

*****

Nach diesem Vorspann komme ich zu den Belegen für meine These. Der Augustinischen Tradition folgend besteht für Leibniz die göttliche Tri-

nität aus dem Vater, die Macht, dem Sohn, das Wort, der Verstand, und dem Hl. Geist, der Wille oder die Güte Gottes.

Wenn Leibniz die Wurzel der Zeit in Gott als der causa prima sieht, so muss das verstanden werden als ein Hinweis auf Gottes Willen, das, was sein Verstand als Bestes erkannt hat, zur Existenz zu bringen. Nicht aber so, als ob Gott die individuellen Possibilien, die nach Existenz strebend zur Wahl anste- hen, als solche geschaffen hat. Das würde der wiederholten Behauptung unseres Philosophen widersprechen, Gott habe sie als frei handelnde geschaffen. Dass Substanzen handeln, macht bekanntlich schon für den frühen Leibniz das ihnen verliehene Wesen aus11.

7 „Toute la notion que nous avons du temps et de l'espace est fondée sur cet accord mais je n'aurois jamais fait, si je devois expliquer à fonds tout ce qui est lié avec nostre sujet" (Leibniz an Arnauld, 9. Oktober 1687; Finster (vgl. Anm. 4), S. 318).

8 „Mais ces sortes de considerations ne sont pas propres a estre veues de tout le monde, et le vulgaire n'y sçauroit rien comprendre avant que d'avoir l'esprit preparé" (Leibniz an Foucher, 23. Mai 1687; GP I, 392).

9 „Cependant il ne faut pas s'imaginer que nous puissions tousjours pousser 1 analyse a bout jusqu'aux premiers possibles [...]" (ibid.).

10 „[...] quaedam enim dicta erant ultro citroque quae hue transferri non possunt, quod non omnes iis digni, aut certe pauci maturi atque praeparati videantur [...]" (Pacidius Philalethi, 29. Oktober- 10. November 1676; A VI, 3, 571.8-10).

11 „Substantia est ens per se subsistens [...] quod habet principium actionis in se" (De Transsubstantiatìone, 1668; A VI, 1,508.13-14).

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Spätestens im April 1679, in dem Monat der Sternstunden, in denen Leibniz die Dyadik, die Kalküle zur Charakteristik und die logisch-ontologischen Rela- tionen in seinen Reflexionen De affectibus entwickelt hat, setzte er erstmals die rationale Folge seiner logischen Definitionen12. Darin eingebettet waren auch die eingangs genannten Elemente seiner Zeittheorie: das Zugleich, die verschiedenen Arten des Früher und Später, die logische Folge, die zum ontologischen Grund wird, sowie die Modallogik der Kompatibilität.

Gleichzeitig erkannte er die Tragweite des hinweisenden Wörtchens nunc. Er machte klar, dass wir, wenn wir jetzt sagen, sogar dann, wenn wir innerhalb eines Satzes, der eine Tatsache feststellt, ist sagen, den Bezug zur ganzen Ge- schichte herstellen, zur Vergangenheit ebenso wie zur Zukunft, darüber hinaus sogar zur ganzen Welt, insofern wir mit ist auch den Ort einbeziehen: Es ist kalt meint, es ist hier und jetzt kalt.

Schrieb Leibniz noch 1676: „Es wäre der Mühe wert, sich Gedanken zu machen über die Harmonie von Zeit und Bewegung"13 und hatte er kurz zuvor noch versucht, die Zeit als ein „gewisses Kontinuum" zu definieren, demgemäß etwas dauert, so will er damals schon sich „deutlicher ausdrücken" und der Zeit eher eine Natur zuschreiben, dergemäß mehrere als zugleich Seiende verstanden werden14.

In der Definition dieses „Zugleich", im simul ist der Angelpunkt von Leib- niz' Zeittheorie zu sehen. Nachdem er zunächst mit Bezug auf das Wahrnehmen definiert: „Zugleich sind solche, die mit einer einzigen Handlung des Geistes wahrgenommen werden können"15, wendet er sogleich ein, dass Wahrnehmung ja Zeit braucht. Er fragt sich deshalb, ob es nicht besser, elementarer wäre zu sagen, dass das Zugleich ein „Zugleich von zweien" bedeute: „Wenn eines existiert, dann auch das andere". Und fährt fort: „Wären wir vollkommen Wissende, also Götter, würden wir leicht erkennen, dass Dinge, die uns per accidens zugleich erscheinen, auf Grund der Notwendigkeit des göttlichen Intellekts, schon ihrer Natur nach, koexistent sind". Das aber, sagt er, sei noch sorgfältig zu bedenken, da es sich um einfache, durch sich (per se) verständliche Begriffe handele16.

12 Vgl. H. Schepers: „De affectibus. Leibniz an der Schwelle zur Monadologie. Seine Vor- arbeiten zum logischen Aufbau der möglichen Welten", in: Studia Leibnitiana XXXV/2 (2003), S. 133-161.

13 „Sed operae pretium ent considerare matenae tempons et motus harmoniam (Pacidius Philalethi; A VI, 3, 565.20-21).

14 „Tempus est continuum quoddam secundum quod aliquid intelligitur durare. Sed ut rem clarius explicem, cogitandum est earn potissimum tempori naturam tribui, ut plura simul esse intelligantur" (De magnitudine, Frühjahr 1676; A VI, 3, 484.3-5).

15 „Simul autem sunt quae una mentis actione sentiri possunt" (a. a. O., Z. 6). lo „Atque ìllud sane in contesso est, si duo sint eiusmodi, ut impossibile sit alterum sine altero

intelligi, ea simul esse. Et certe si perfecte sapientes essemus id est Dii, facile videremus quae nobis per accidens simul esse nunc videntur ob ignorantiam nostram, coexistere ipsa (natura), id est Divini intellectus necessitate. Sed haec accuratius discutienda. Sunt enim ultimae denique horum notiones inexplicabiles, vel ideo quia per se intelliguntur simplice- sque sunt" (a.a.O., Z. 9-14).

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So trivial die Gleichzeitigkeit als eine solche von mehreren Existierenden bestimmt wird, so gewichtig ist es, dass es für ihn nur ein Zugleich von Existie- renden gibt. Konsequenterweise heißt es: „Was auch immer wirklich existiert, das existiert zugleich" und zwar so, dass wenn eines von allen, die existieren, gegeben ist, es zu jedem anderen früher, später oder zugleich sein muss17. Be- zugnehmend auf die Schöpfung definiert Leibniz: „Zugleich sind solche, die suppositione mitnotwendig sind"18 und erläutert: suppositione, das heißt, „nach- dem die Reihe der Dinge - ein für allemal - gesetzt ist".

„Der Begriff der Zeit", bemerkt Leibniz im April 1 679, „schließt die gesamte Reihe der Dinge ein und auch den Willen Gottes und den aller freien Dinge"19. Das ist so zu erläutern: Zunächst schließt der Begriff der Zeit den Willen aller freien Dinge ein, insofern sie frei handeln, indem sie nach Existenz streben. Dann ist es der freie Wille Gottes, der von diesen Strebenden diejenigen auswählt, die zusammen ein Maximum an Perfektion realisieren. Und so ist es drittens die involvierte Gesamtheit aller Possibilien, in ihrer selbst entworfenen Ordnung des Nach- und Nebeneinander, die es ermöglicht, die Begriffe der Zeit und des Raumes überhaupt zu denken.

Diese Ordnung betrifft zwar nur das Faktische, aber sowohl alles Kontin- gente, zur Existenz Kommende, wie auch alles nur möglich Bleibende. Wobei involvieren meint, dass man aus der Existenz des einen auf die Existenz des von ihm Involvierten schließen kann20.

Was aber bewirkt, dass etwas früher oder später ist? Mit aller Deutlichkeit lehnt Leibniz die Zeitmessung zur Bestimmung dessen, was Zeit ist, ab: „Uhren bewirken nicht, sondern zeigen nur an, dass etwas früher oder später ist"21. Erst 1679 bestimmt er das zeitlich Frühere durch das der Natur Frühere und letzteres durch die leichtere Erkennbarkeit seiner Möglichkeit22. Etwas später wird er die leichtere Erkennbarkeit verdeutlichen damit, dass sie daraus resultiert, den Grund des anderen zu enthalten23. Dem liegt natürlich Leibniz' rationalistisches

17 „Quaecunque actu existunt simul existunt" und „quaecunque existentiam habent, datum unum alio vel prius est, vel posterius, vel simul (Enumerano terminorum simpliciorum, Sommer 1680- Winter 1684/85; A VI, 4, 393.12-14).

1 8 „Simul sunt, quae suppositione connecessaria sunt, suppositione, inquam, id est posita serie rerum" (Definitiones notionum metaphysicarum atque loeicarum; AVI, 4,, 629.8-9).

1 9 „Temporis autem conceptus involvit totam seriem rerum et voluntatem Dei ac rerum aliarum liberarum" (De affectibus. Ubi de potentia, actione, determinatane, 10. Aprii 1679; AVI, 4, 1441 . 1 1-12; s. auch De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae atque de libértate et praedeterminatione, Ende 1685 - Mitte 1686; A VI, 4, 1517.25).

20 „Involvit aliquid id ex cujus existentia aliquid concludi potest" (De affectibus; A VI, 4, 1439.4).

2 1 „[...] horologia non efficiunt sed indicant tantum prioritatem et posterioritatem" (Definitiones notionum metaphysicarum atque logicarum; A VI, 4, 629.13-14).

22 „Et proinde Natura prius est, cujus possibilitas facilius demonstratur; seu quod facilius intelligitur. Ex duobus statibus quorum alter alteri contradicit, is est tempore prior, qui est prior natura" (Quid sit natura prius, Frühiahr - Sommer 1679: A VI, 4, 181.1-3).

23 „Porro ex duobus statibus contradictoriis ejusdem rei, is prior tempore est, qui natura prior est, seu qui alterius rationem involvit, vel quod eodem redit, qui facilius intelligitur"

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Credo zugrunde, dass unser Denken sich aus Einfachen aufbaut, selbst wenn wir diese einfachen Elemente noch suchen müssen, und mehr noch, dass die Natur der Dinge diesem logischen Aufbau exakt entspricht.

Genauer, erklärt Leibniz, ist eines früher bzw. später als das andere, gesetzt beide existieren, weil es zugleich mit einem Dritten ist, das mit dem anderen inkompatibel ist24. Mit dem Rückgriff auf die Inkompossibilität oder Inkom- patibilität bezieht Leibniz seine Theorie der möglichen Welten ein. Denn eine mögliche Welt ist ein Verband von individuellen Possibilien, die zu jedem ein- zelnen Zeitpunkt miteinander kompatibel sind. Mit diesen Inkompatiblen sind solche Possibilia gemeint, die dennoch derselben möglichen Welt nur deshalb zugehören können, weil sie zeitlich unterschieden sind, früher oder später, aber nie zugleich existieren können. Dass sie derselben Welt angehören, entspricht der Voraussetzung, dass beide, wie Leibniz formuliert, „existieren", ein Exi- stieren, das sicherlich nicht beschränkt gemeint ist auf das Existieren in unserer aktualen Welt.

Vielleicht sollte ich in aller Kürze an Leibniz' zugrundeliegende Modallogik erinnern. Leibniz unterscheidet neben dem Notwendigen und Unmöglichen das Kontingente, das ist, aber hätte anders sein können und das Mögliche, das hätte sein können, aber nicht ist. Der Bereich des Kontingenten ist unsere durch Gottes Schöpfungsakt zur Existenz gebrachte Welt. Den Bereich des nur Möglichen überläßt unser Philosoph nicht dem Chaos. Mit dem Begriff der Kompatibilität, der Verträglichkeit, bringt er Ordnung in diesen Bereich, insofern nach ihm alle Possibilien, die sich vertragen, gemeinsam eine der möglichen Welten bilden. Welten übrigens, auch unsere Welt, sind für Leibniz keine Ganzheiten neben den Individuen, die sie ausmachen25.

Zeit erkennen wir daran, sagt Leibniz, dass von demselben Veränderung ausgesagt werden kann. Dass dieses identisch dasselbe ist und bleibt, ist eine notwendige Bedingung gegen das Heraklitische Alles fließt. Auch wenn aus der Natur eines Dinges folgt, dass es sukzessive verschiedene Zustände durchlaufen wird, muss es dasselbe bleiben. „Ich selbst", sagt Leibniz, „werde derselbe ge- nannt wie vorher, weil meine Natur" (später wird er sagen, mein vollständiger Begriff, meine notio completa) „alle meine Zustände, die gegenwärtigen, ver- gangenen und auch die zukünftigen einschließt". Dagegen spräche auch nicht, dass Gegensätzliches von ihm ausgesagt würde, denn gerade das mache das Wesen der Zeit aus26.

(Divisio terminorum ac enumerano attributorum, Sommer 1683 - Anfang 1685; A VI, 4, 563.9-11).

24 „Si duo incompatibilia existant, tempore different, illud eorum tempore prius (posterius) erit, quod est natura prius (posterius). Illud quoque prius vel posterius alio est (positis am- bobus existentibus) quod simul est cum incomponibili alterius" {Enumerano terminorum simpliciorum; A VI, 4, 390.3-5).

25 Vgl. H. Schepers: „Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten" (1965). Wiederabgedruckt in: Leibniz' Logik und Metaphysik. Hrsg. von Albert Heinekamp und Franz Schupp, Darmstadt 1988, S. 193-222, bes. S. 193-201.

26 „Res eadem manere potest, licet mutetur si ex ipsa ejus natura sequitur idem debere suc-

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Bemerkenswert ist: Auf den Begriff der Ordnung zur Definition von Zeit und Raum kommt Leibniz erst um 1686. Zunächst in einer wohl nachträglichen Fußnote zu einer Aufzeichnung, wo er knapp seinen Einfall festhält: „Ort die Ordnung zu existieren. Zeit die Ordnung der Veränderungen"27. Die nächste For- mulierung ist wohl erst aus dem folgenden Jahrzehnt nachzuweisen. Sie findet sich in einer abbrechenden Reflexion28. Die darauf folgenden Belege datieren wiederum aus dem Jahrzehnt später: „Zeit ist die kontinuierliche Ordnung der Existierenden gemäß ihrer Veränderungen" und „Ort ist die kontinuierliche Ordnung der zugleich Existierenden"29.

Wenn er Burchard de Voider Sylvester 1700 seine Definitionen mitteilt, betont Leibniz wiederum die Kontinuität der Ordnungen sowohl des Raumes als auch der Zeit30 und unterstreicht außerdem, dass weder Raum noch Zeit Substanzen seien, Substanzen seien nur diejenigen, die so in diesen Ordnungen existieren. Mit anderen Worten, Raum und Zeit sind nichts, das neben den Substanzen exi- stiert, sind eben keine kontinuierlich geordneten Dinge. Ebenso absurd sei es, sagt Leibniz nebenbei, die Zeit aus diskreten Augenblicken zusammengesetzt sein zu lassen, wie die Linie aus Punkten31.

Wenige Jahre später, 1704, ergänzt er: „Raum ist die Ordnung des Zugleich- Existierens der Possibilien und Zeit die Ordnung des Nachfolgend-Existierens der Possibilien"32. Damit will er deutlich machen, dass Raum und Zeit, wie er auch um 1703 in den Nouveaux Essais33 sowie 1709 und 1712 an Des Bosses schreibt34, Ordnungen seien, die nicht allein Existierendes, sondern auch Mögli-

cessive diversos status habere. Nimirum idem dicor esse qui ante, quia substantia mea omneš status meos praeteritos praesentes futurosque involvit, nec obstát quod ita de me contradictoria dicantur; haec ipsa enim natura est temporis, ut secundum diversum tempus possint contradictoria esse vera de eodem" {Notationes generales, Sommer 1683 -Anfang 1685; AVI, 4, 556.16-20).

27 „Locus ordo coexistendi, Tempus ordo mutationum" {Tabula notionum praeparanda, Mitte - Winter 1685/86; A VI, 4, 632.28 FN5).

28 „Positio est ordo existendi. Locus est ordo coexistendi. Jam simul existunt quae existunt singularia et sibi non contradicunt. Tempus ordo existendi, inter ea singularia quae sibi contradicunt, se [bricht ab] Ordo est plurium relatio cujuslibet a quolibet discriminativa" (Definitions : ens, possibile, existens, Sommer 1687 - Ende 1696; A VI, 4, 868.20-24).

29 „Tempus est ordo continuus existentium secundum mutationes" und analog „Locus est ordo continuus existentium eodem tempore [...]" (C, 479-480, 1702-1704).

30 „Extensio mihi nihil aliud esse videtur, quam continuus ordo coexistendi, ut tempus continuus ordo existendi successive. Unde non unum magis quam alterum pro substantia habere, sed ipsa quae sic existunt" (Leibniz an de Voider, 31. Dezember 1700; GP II, 221).

3 1 „Tempus autem ex momentis componi aeque absurdum est quam lineám componi ex punctis" (Divisio terminorum ac enumerano attributorum; A VI, 4, 562.20-21).

32 „[...] spatium nihil aliud est quam ordo existendi simul possibilium, uti tempus est ordo existendi successive possibilium" (Leibniz an de Voider, 30. Juni 1704; GP II, 269).

33 „[...] l'espace [...] n'est pas plus une substance que le temps [...]. C'est un rapport, un ordre non seulement entre les existens, mais encor entre les possibles comme s'ils existoient. [...] Le meilleur sera donc de dire que l'Espace est un ordre, mais que Dieu en est la source" (Nouveaux Essais II, XIII § 17; A VI, 6, 149-150).

34 „Nam spatium, perinde ac tempus, ordo est quidam, nempe (pro spatio) coexistendi, qui

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ches umfassen. Ganz deutlich fügt er hinzu, dass die Dauer und die Lage Rela- tionen sind, die Realität besitzen. „Gott", sagt Leibniz, „betrachtet nicht nur die einzelnen Monaden und die Modifikationen einer jeden Monade, sondern auch die Beziehungen zwischen ihnen, und gerade darin" - nämlich in diesem von Gott Betrachtetwerden - „besteht die Realität der Relationen und Wahrheiten. Eine der vornehmsten unter den Relationen ist die Dauer oder die Ordnung der Aufeinanderfolgenden und die Lage oder die Ordnung der zugleich Existierenden, und (drittens) der Austausch oder die gegenseitige Handlung", insofern man ihre ideelle Abhängigkeit bedenkt35.

Gegenüber Des Bosses behauptet er auch, dass die Phänomene allein durch die unter sich sich abstimmenden Perzeptionen erklärt werden können und dass so der Raum zur Ordnung der koexistierenden Phänomene würde, wie die Zeit zur Ordnung der aufeinander folgenden Phänomene. So betrachtet, brauche man auch nicht auf Descartes' Ausdehnung einzugehen noch auf die Schwierigkei- ten, die mit der Zusammensetzung des Kontinuums, dem berühmten Labyrinth, einhergehen36. Das aber bedeutet weder, dass Raum und Zeit selbst als Phäno- mene anzusehen sind, noch dass die Ordnungen von Raum und Zeit nur unter Phänomenen bestehen. Als Phänomene sind Raum und Zeit nur zu betrachten, solange wir es mit unserer, der Physik zugänglichen phänomenalen Welt zu tun haben. Die Ordnungen, die Raum und Zeit metaphysisch darstellen, sind nicht als Phänomene zu begreifen, sondern als reale Relationen im oben genannten Sinn, und als solche gehören sie zu den ewigen Wahrheiten37, machen also auch den Verstand Gottes aus. Wohl aber sind sie ideal wie die Zahlen und alle Re- lationen, insofern sie ihre Realität im Betrachtetwerden haben - nicht nur von Gott, sondern auch von den vernünftigen Monaden, die wir sind.

Die scheinbare Trivialität der Ordnungsrelation geht in Komplexität über, wenn man sich vergegenwärtigt, was eigentlich das ist, das geordnet die Zeit und den Raum bestimmt. Es ist eben nichts anderes als die Gesamtheit der sich durch ihr Handeln konstituierenden Possibilien.

Die logische und als solche zeitlos angesetzte Definition des Möglichen durch seine Widerspruchsfreiheit impliziert, übertragen auf das Seiende, das zugleich widerspruchsfrei Denkbare. Es ist, genauer gesagt, die distinkte Denkbarkeit der

non actualia tantum, sed et possibilia complectitur" (Leibniz an Des Bosses, 31. Juli 1709; GP II, 379).

35 „[...] Deus non tantum singulas monades et cujuscunque Monadis modificationes spectat, sed etiam earum relationes, et in hoc consistit relationum ac veritatum realitas. Ex his una ex primariis est duratio seu ordo successivorum, et situs seu ordo coexistendi, et commercium seu actio mutua, dum nempe concipitur Monadum dependentia invicem idealis, situs autem immediatus est praesentia" (Leibniz an Des Bosses, 15. Februar 1712; GP II, 438).

36 „Explicationem phaenomenorum omnium per solas Monadum perceptiones inter se conspirantes, seposita substantia corporea, utilem censeo ad fundamentalem rerum inspectionem. Et hoc exponendi modo spatium fit ordo coexistentium phaenomenorum, ut tempus successivorum [...]. In hac etiam consideratione nulla occurrit extensio aut compositio continui [...]" (Leibniz an Des Bosses, 16. Juni 1712; GP II, 450-451).

37 „Le temps et l'espace sont de la nature des vérités éternelles qui regardent également le possible et l'existant" (Nouveaux Essais II, XIV § 26; A VI, 6, 154).

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einzelnen Substanz, die ihre Ordnung in Bezug auf alle anderen impliziert38. Diese Denkbarkeit beschränkt sich nicht auf das Gedachtwerden durch Gott, schließt vielmehr das Gedachtwerdenkönnen, das Seinkönnen überhaupt mit ein. Mit anderen Worten, es betrifft die logische Beschaffenheit jeder einzelnen Substanz, ihre notio completa, ihren vollständigen Begriff, in dem ihre Relationen zu allen anderen singulären Substanzen ihrer Welt schon enthalten sind.

Wenn für Leibniz das Überschreiten des Rubikon zur notio completa Caesars gehört, dann gehört das jetzt Hiersein, an dem Ort, an dem wir uns gerade be- finden, zum vollständigen Begriff eines jeden von uns. Das heißt nach Leibniz, dass jeder von uns sich selbst frei so bestimmt hat - ante creationem wohlge- merkt - dass selbst dieses Faktum zu seiner Individualität gehörte. Erst diese Abgeschlossenheit seiner Eigenschaften machte ihn zu einem der Kandidaten für die Auswahl der besten der möglichen Welten. Wenn Petrus den Herrn nicht verleugnet hätte, wäre er nicht Petrus - und auch nicht Bewohner dieser Welt - geworden.

Leibniz treibt die Analyse dessen, was Zeit ist, bis in die Wurzel, wenn er den Begriff der Veränderung so elementar definiert, dass er nichts anderes besagt als den unmittelbaren Übergang des Zustandes eines Dinges in seinen kontradiktorischen Zustand39. Ein Übergang nicht vom Sitzen zum Stehen, son- dern vom Sitzen zum Nichtsitzen40. Zur Natur der Zeit, sagt Leibniz, gehört die Veränderung, eben die primitive Veränderung durch kontradiktorische Prädikate desselben Dinges41. Diese Veränderung geschieht „ш uno temporis tractu", das meint, der Übergang zur Kontradiktion ist unmittelbar, also kontinuierlich42. Er wird zunächst von einem singulären Individuum vollzogen, wirkt sich aber unmittelbar auf alle anderen aus. Leibniz schreibt: „Wenn ich sage Petrus ver- leugnet und das auf eine bestimmte Zeit beziehe, dann unterstelle ich jedenfalls das Wesen der Zeit, das schlechterdings alles einschließt, was zu eben der Zeit existiert"43. Weiteres Zitat: „In jeden Satz, in den Raum und Zeit eingeht, geht

38 „[...] distincta cogitabilitas dat ordinem rei [...]" (GP VII, 290 und C, 535, um 1703). Von Leibniz wohl in Anlehnung an das traditionelle Diktum: Forma dat esse rei formuliert.

39 „Mutatio est aggregatum ex duobus statibus contradictoriis" {De affectibus; A VI, 4, 1411.10).

40 „[...] possunt enim, cum de existentia agitur contradictoria dici de eodem, unde tempus et mutatio" {Definitiones: aliquid, nihil, non-ens, ens, August 1688 - Januar 1689; A VI, 4, 931.1-2).

41 „Quod mutatur [...] duo status contradictorii ejusdem, hinc diversitas temporis [...]" {Enume- rano terminorum simpliciorum; AVI, 4, 393. 1 1-12). - „Ad temporis naturam intelligendam requiretur ut consideretur mutatio seu contradictoria praedicata de eodem, diverso respectu qui respectus est nihil aliud quam consideratio temporis. Spatium et tempus non sunt Res, sed relationes reales. Nullus est locus absolutus, nec motus, quia nulla sunt principia deter- minandi subjectum motus" {Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis, 1688; A VI, 4, 1621.23-27 FN3).

42 „[...] revera Mutatio sit aggregatum duorum statuum oppositorum in uno temporis tractu, nullo existente momento mutationis [...]" {Definitiones: aliquid, nihil, Frühjahr - Sommer 1679; A VI, 4, 307.24-26).

43 „[...] si dico Petrus abnegai, intelligendo de certo tempore, utique praesupponitur etiam ìlhus

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eo ipso die ganze Folge der Dinge ein. Weder das Jetzt noch das Hier ist zu verstehen, wenn man nicht Bezug nimmt auf alles andere"44. Diese Veränderung kann nur bewirkt werden durch das einer jeden Substanz wesentliche Handeln. Leibniz schreibt: „Die Ursache der Veränderung ist die Handlung"45.

Raum und Zeit sind also Ordnungen. Wie aber kommen diese Ordnungen zustande? Dass sie von Gott gesetzt sind, kann Leibniz nur bedingt sagen, wenn er Gottes Dekret und damit seinen Willen einbezieht, die beste der möglichen Welten, so wie sie ist, zur Existenz zu bringen. Dass sie von Gott gesetzt sind, muss Leibniz jedoch entschieden ablehnen, wenn er behauptet, dass jede Substanz mit einer primitiven Kraft ausgestattet worden ist, die sie befähigt, spontan, also frei zu handeln und, indem sie so handelt, Ordnungen zu setzen, Raum und Zeit zu konstituieren, nicht als selbständige Dinge außer sich, sondern als Relatio- nen zwischen sich und allen anderen, die derselben möglichen Welt angehören, insofern sie miteinander kompatibel sind.

Kompatibilität, Verträglichkeit besteht ihrer logischen Definition folgend jeweils unter zugleich Seienden und wird trotz des Übergangs des Einzelnen in einen kontradiktorischen Zustand kontinuierlich gleichsam vererbt. Substanzen, die einmal kompatibel sind, bleiben es für immer. Zeit verlangt identisch sich durchhaltende, dauernde Subjekte. Leibniz drückt das einmal so aus, Aristoteles habe das „Mysterium der Dauer der Substanzen" nicht gekannt46. Für ihn ist das mit der Unzerstörbarkeit der Monaden gegeben.

Wir wissen, am Anfang stand Leibniz' Grundannahme, dass Substanzen, da sie prinzipiell keinen Einfluss von anderen Substanzen erleiden, als selbst handelnde begriffen werden müssen, begriffen werden müssen als solche, die mit ihrem freien Handeln sich und jede von ihnen perspektivisch, von ihrem Standpunkt aus, ihre ganze Welt konstituieren - alle miteinander verträglichen einfachen Substanzen zusammen jeweils eine der möglichen Welten.

Hatte er im April 1679 schon behauptet: „Die Handlung ist die Ursache der Veränderung", so fragt er 1696 im Système nouveau rhetorisch, nachdem er zunächst vorsichtig behauptet hatte: „Diese Hypothese [im ersten Entwurf noch hypothèse de la spontanéité genannt] ist möglich":

„Warum sollte Gott nicht jeder Substanz von vornherein eine Natur oder interne Kraft gegeben haben, die sie befähigt, alles das zu erzeugen, was ihr zukommen wird (wie etwa bei einem Automaten, der als geistig oder formal anzusehen wäre, in jedem Fall aber als frei, insofern in ihm die Vernunft Anteil

temporis natura, quae utique involvit et omnia in ilio tempore existentia" {Generales inqui- sitiones de analyst notionum et veritatum, Frühjahr - Ende 1686; A VI, 4, 763.20-21).

44 „Hinc omnes propositiones quas ingreditur existentia et tempus, eas ingreditur eo ipso tota series rerum; ñeque enim enim tò nunc vel hic nisi relatione ad caetera intelligi potest" (De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae atque de libértate et praedeterminatione; A VI, 4, 1517.24-26).

45 „Actio est mutationis causa" (De qffectibus; A VI, 4, 1411.16). 46 „Anstote [...] n ayant pas sçeu le mystère de la durée des substances [...]" (Leibniz an

Foucher, 23. Mai 1687; GP I, 392).

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hat), eine Kraft, die befähigt wäre, alle Erscheinungen oder Expressionen, die dieser Substanz begegnen, ohne Hilfe einer anderen Kreatur zu erzeugen?"47.

Zwei Absätze weiter lesen wir schon, das sei mehr als eine Hypothese, denn man könne die Sache, im Einklang mit dem von ihm aufgestellten Begriff der Handlung, auf verständliche, d. h. auf rationale Weise, gar nicht besser erklären48. Dieses Handeln ist für Leibniz natürlich ein finales Handeln, insofern es dem Prinzip des Besten folgt.

Gegenüber de Voider argumentiert er einmal: Seine Thesen habe er aus Be- weisen a priori oder, was dasselbe sei, aus der innersten Natur der Handlung und der Kraft auf für ihn selbst erstaunliche Art gefolgert. Das lasse er jetzt beseite, um Weitläufigkeit zu vermeiden49. Später argumentierte er ebenfalls gegenüber de Voider: Wenn nichts schon aufgrund seiner Natur aktiv wäre, dann gäbe es überhaupt nichts Aktives. Wo anders solle man den Grund, die ratio der Handlung suchen als in der Natur des Dinges selbst? Weil aber jede Handlung Veränderung beinhalte, hätten wir es mit einer internen Tendenz zum Verändern zu tun, sodass das Temporale eben aus der Natur der Handlung flösse. Und Leibniz schließt an: „Aus den Allgemeinen folgen die Ewigen, aus den Einzelnen die Zeitlichen, die temporalia"50. Nun seien aber alle singulären Dinge successiva, daher muss Leibniz sich fragen, was in ihrer Natur das Beständige ist und findet es in dem „Gesetz selbst", das die kontinuierte Sukzession in ihnen enthält, und zwar so, dass sie in jedem Einzelnen „konsentiert" mit dem, was im ganzen Universum geschieht51.

Leibniz wählt zunächst die einfachere Rede von der lex ipsa gegenüber der komplizierten Explikation der Selbstkonstitution vor dem Schöpfungsakt, in dem die von jeder einfachen Substanz geleistete Folge ihrer Veränderungen gleich- sam als das ihr individuell eignende Gesetz kodifiziert wurde. Und tatsächlich

47 „Cette hypothèse est tres possible. Car pourquoy Dieu ne pourrait il pas donner d'abord à la substance une nature ou force interne qui luy puisse produire par ordre (comme dans un Automate spirituel ou formel, mais libre en celle qui a la raison en partage) tout ce qui luy arrivera, c'est à dire, toutes les apparences ou expressions qu'elle aura, et cela sans le secours d'aucune creature?" (GP IV, 485).

48 „Outre tous ces avantages qui rendent cette Hypothese recommandable, on peut dire que c'est quelque chose de plus qu'une Hypothese, puisqu'il ne paroist gueres possible d'expliquer les choses d'une autre maniere intelligible [...] estant conforme à la notion de l'Action, que nous venons d'établir" (GP IV, 486-487).

49 „Eandem virium aestimationem aliis adhuc demonstrationibus a priori seu ex intima natura actionis et potentiae mirabiliter concludo, quae nunc omitto vitandae prolixitatis [...]" (Leibniz an de Voider, 27. Dezember 1698; GP II, 158).

50 „Si nihil sua natura activum est, nihil omnino activum erit; quae enim tandem ratio actionis si non in natura rei? [...] Sed cum omnis actio mutationem contineat, ergo habemus [...] ten- dentiam ad mutationem internam, et temporale sequens ex rei natura. [...] Ex universalibus aeterna, ex singularibus et temporalia consequuntur [...]" (Leibniz an de Voider, 21. Januar 1704; GP II, 263).

5 1 „Sed omnes res singulares sunt successivae [...]. Nee mihi aliud in eis est permanens quam lex ipsa quae involvit continuatam successionem, in singulis consentiens ei quae est in toto universo" (ibid.).

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fährt Leibniz fort: „Es gibt ein solches sich durchhaltendes Gesetz, das auch die zukünftigen Zustände dessen, was wir als identisches Subjekt begriffen haben, involviert, und genau dieses ist es, von dem ich sage, dass es die Substanz selbst konstituiert"52. Diese Stelle zitiere ich mit besonderem Nachdruck, wenngleich ich die Perspektive wechsele, um mich gegen den Vorwurf zu wehren, die Selbst- konstitution der Substanz sei meine Erfindung53. Man darf aber dieses Gesetz zur Erzeugung der Attribute oder, was dasselbe ist, die Natur der Substanz nicht, wie das verschiedentlich geschehen ist, mit der Substanz selbst gleichsetzen. Das eine ist der Träger, das andere seine individuierende Beschaffenheit. Gleiches gilt für die Monade und ihren vollständigen Begriff.

Leibniz' Ablehnung der Absolutheit von Raum und Zeit ist keineswegs mit der Behauptung ihrer Relativität verbunden, wohl jedoch mit der These, dass Raum und Zeit nichts anderes seien als Relationen. Er bestimmt vielmehr die Realität und nicht die Relativität von Raum und Zeit, insofern sie als Relationen jedes von jedem unterscheiden und betrachtet sie, was die Zeit angeht, als real, insofern eine Übereinstimmung besteht bezüglich der verschiedenen kontinuier- lichen Veränderungen untereinander. Das bedeutet, insofern sich dieselben Dinge kontinuierlich vertragen; insofern sich ihre Kompatibilität, wie ich es formulierte, gleichsam vererbt. Was den Raum angeht, soll seine Realität darin bestehen, dass man zu demselben Ding auf verschiedenen Wegen gelangen kann54. Seine Position ist jeweils momentan fixiert. Den beliebten Einwand, ausdehnungslose Monaden könnten nicht im Raum sein, weist schon Leibniz zurück: „Wenn auch die einfache Substanz keine Ausdehnung besitzt, so hat sie doch eine Position - ihren Standpunkt nämlich -, eine Position, die eben das Fundament der Aus- dehnung darstellt"55. Die Realität von Raum und Zeit ist mit der prästabilierten Harmonie gegeben, in der sozusagen der Fluss der Zeit gleichsam eingefroren ist und, um im eigentlich nicht zulässigen Bild zu bleiben, überall in tomogra- phischen Querschnitten den jeweils derzeitigen Raum darstellt. Mit diesem Bild will ich - natürlich ohne die Zeit zur Substanz zu machen - der vollständigen Determination entsprechen, die im Schöpfungsakt ihren Ursprung hat und für alle möglichen Welten gilt, die andernfalls nicht beurteilbar, nicht wählbar ge- wesen wären. Unter metaphysischem Aspekt sind alle möglichen Welten in ihrer

52 „Legern quandam esse persistentem, (id) quae involvat futuros ejus quod ut idem concipimus status, id ipsum est quod substantiam eandem constituere dico" (a. a. O., 264).

53 Vgl. H. Schepers: „Perzeption und Harmonie. Das Viele im Einen, die Welt in der Monade", in: VIII. Internationaler Leibniz-Kongress. Einheit in der Vielheit. Nachtragsband. Hrsg. von Herbert Breger, Jürgen Herbst und Sven Erdner, Hannover 2006, S. 200-216, bes. S. 205-206.

54 „Considerationes secundum diversas mutationes continuas consentiunt inter se, inque eo est temporis realitas, seu ut omnia sint in eodem tempore; uti realitas loci est si ad idem pervenias per diversas vias, seu quod omnia sunt in eodem loco communi" (Definitiones: ens, possibile, existens; A VI, 4, 869.19-21).

55 „[...] substantia nempe simplex, etsi non habeat in se extensionem, habet tarnen positionem, quae est fundamentům extensionis [...]" (Leibniz an des Bosses, Anfang Mai 1704; GP И, 339).

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Entwicklung abgeschlossen, haben ihre jeweiligen Bewohner die Freiheit so zu handeln, wie sie es getan haben, gehabt. Unter dem Aspekt der Welt, in der wir leben jedoch, sind wir die frei handelnd sich konstituierenden Monaden.

Als diese Fragen 1716 bei der brieflichen Auseinandersetzung mit Samuel Clarke anstanden, waren Leibniz' Antworten schon längst ausgereift, aber wenig geeignet, seinen Gegner von der von ihm vertretenen Position Newtons, nämlich von der Behauptung der Existenz einer absoluten Zeit und eines absoluten Raums abzubringen. Leibniz' Theorie auf dem Boden seiner Metaphysik - die er auch nur andeutungsweise in die Diskussion einzubringen wagte - konnte sich gegen die physikalischen Annahmen Newtons, die den Vorteil hatten, näher bei den gewohnten Anschauungen zu sein, nicht durchsetzen56.

Im Jahr zuvor hatte Leibniz den Kern seiner revolutionären Lehre von Raum und Zeit gleichsam axiomatisch in einer ebenfalls unveröffentlichten, wohl aber Christian Wolff übermittelten Schrift Metaphysische Anfangsgründe der mathe- matischen Wissenschaften dargestellt57. Wolff hat den Wortlaut der Leibnizschen Definitionen übernommen, den Inhalt aber in Unkenntnis der von Leibniz geheim gehaltenen Papiere zur Metaphysik trivialisiert58. Daher blieb Leibniz' Lehre trotz Wolff und A. G. Baumgarten59 ohne Wirkungsgeschichte.

Hatte Descartes als evident vorausgesetzt, dass die Zeit grundsätzlich dis- kontinuierlich ist und dass kein Augenblick vom vorherigen abhängt, sodass kein Zustand eines Dinges zu irgendeiner Zeit einen hinreichenden Grund abgeben kann für seinen Zustand zu einem späteren Zeitpunkt60, geht im Gegenteil für Leibniz, wie er bildhaft formuliert, jede Monade schwanger mit der Zukunft und birgt Spuren der Vergangenheit in sich, sodass alles, was geschieht, seinen hinreichenden Grund hat, kausal im Gewesenen, final im Zukünftigen: Nihil sine ratione. Dieses, sein grosses Prinzip, nicht anerkennen zu wollen, ist der Hauptvorwurf, den Leibniz verärgert gegen Samuel Clarke erhoben hat61.

56 Leibniz selbst schreibt übrigens in De mundo praesenti, Zeit und Raum seien Gefässe, wenn auch in anderem Sinn als Newtons sensorium Dei: „Receptacula sunt Tempus et Locus [...]" {De mundo praesenti, Frühjahr 1684 - Winter 1685/86; A VI, 4, 1509.9). Das kann er auch unbedenklich, weil er sich in dieser Aufzeichnung im Feld der Physik bewegt.

57 Initia rerum mathematicarum metaphysica, April 1715; GM VII, 17-29. 58 Vgl. C. Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch

allen Dingen überhaupt (1720) § 94-101 und Ontologia (1728) § 572, wo er als Quelle den 1717 gedruckten Brief von Leibniz an Nicolas Remond vom 14. März 1714 (GP III, 611- 613) angibt.

59 A. G. Baumgarten: Metaphysica (1739) §239. 60 Vgl. R. Descartes: Principia Philosophiae I, 21: „Nihilque hujus démonstrations eviden-

tiam potest obscurare, modo attendamus ad temporis sive rerum durationis naturam; quae talis est, ut ejus partes a se mutuo non pendeant, nec unquam simul existant; atque ideo ex hoc quod jam simus, non sequitur nos in tempore proxime sequenti etiam futuros, nisi aliqua causa, nempe eadem illa quae nos primům produxit, continuo veluti reproducat, hoc est, conservet" {Œuvres de Descartes, pubi, par С Adam et P. Tannery, Paris 1877-1909, réédition Paris 1964-1974, vol. VIII, S. 13).

61 „[...] puisqu'on est réduit à me refuser ce grand Principe, un des plus essentiels de la raison", Mitte August 1716 im 5. Schreiben an Clarke {Correspondance Leibniz-Clarke. Présentée

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Um Einwänden zuvorzukommen sei gesagt: Selbstverständlich treibt Leibniz auch Physik, eine Physik der Körper und der Kräfte, mit denen sie aufeinander einwirken und deren Quantität erhalten bleibt. In dieser Physik werden zeitliche und räumliche Messungen vorgenommen, und es wird in der uns begegnenden Welt auch von uns wahrgenommen, in welcher Zeit und welchem Raum wir uns erleben. Streng metaphysisch gesprochen, sind das aber alles nichts als Phäno- mene, wenn auch gut fundierte. Ihre Fundamente findet man nach Leibniz nur in der wahren Wirklichkeit, in der es nichts anderes gibt als Monaden mit ihren zeitlich und räumlich geordneten Folgen von Perzeptionen, die sie selbst erzeugen - und, schwer zu verstehen, die auch in ihnen selbst verbleiben.

Während nach dem Weltbild moderner Physiker die Hypothese eines Urknalls verbietet, physikalische Aussagen zu machen, die auf eine Zeit davor Bezug nehmen und die Bestätigung im Werden und Vergehen unzähliger Weltsysteme finden, setzt Leibniz' christlich-metaphysisches Weltbild die Schöpfung der exi- stierenden Welt an den Anfang, genauer gesagt, die Schöpfung der miteinander kompatiblen individuellen Substanzen, die in ihrer Gesamtheit unsere Welt in all ihrer Fülle, das ganze Universum, ausmachen und die bis ans Ende aller Tage Bestand haben werden, gleichviel welchen Transformationen sie unterliegen.

Denn wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass Leibniz die Frage nach dem Wesen von Zeit und Raum nur beantworten konnte im Rahmen einer christlichen Weltsicht, im Glauben an eine Schöpfung und an ein Jüngstes Ge- richt - wobei das Jüngste Gericht natürlich keine annihilatio im Sinne unseres Philosophen ist. Aus Leibniz' Sicht ist alles, was ist, erschaffen, genauer gesagt, ausgewählt aus einer unendlichen Fülle von zur Existenz drängenden Kandidaten mit einer individuellen, unverwechselbaren Identität, ausgezeichnet unter ihnen die vernunftbegabten, die verantwortlich für ihr Tun und Lassen, bestimmt sind, Bürger der Civitas Dei zu werden.

Es besteht, kann man sagen, eine paradigmatische Modernität der Leibniz- schen Begriffe von Raum, Zeit darin, dass er nicht nur wie Augustinus das Seiende zur Bedingung von Zeit macht, sondern das von Seienden geleistete Handeln in der Ordnung seiner Abfolge zugrundelegt. Dass Substanzen nicht in der Zeit und nicht im Raum handeln, sondern, indem sie handeln, allererst die Ordnungen konstituieren, die wir als Raum und Zeit begreifen, verlangt unserem Denken eine Art Kopernikanischer Wende62 ab. Wir mussten tief in Leibniz' Metaphysik steigen, um seine Annahmen und ihre Konsequenzen verständlicher zu machen. Ohne seinen neuen Möglichkeitsbegriff anzuerkennen, der die Konstitution der unendlich vielen exakt unterscheidbaren Possibilien erst begreifbar macht und die Bildung und Konkurrenz der möglichen Welten impliziert, und ohne den universellen Zusammenhang aller Dinge, die gleichwohl nicht aufeinander

d'après les manuscrits originaux des bibliothèques de Hanovre et de Londres par André Robinet, Paris 1957, S. 131) und an Prinzessin Caroline von Wales am 11. September 1716: „S'il continue à me disputer le grand Principe [...] il faudra abandoner à son sens, ou plustost à son obstination" (a. a. O., S. 184).

62 Leibniz selbst prägte diese Redensart; vgl. Grua, 486.

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einwirken, ohne die prästabilierte Harmonie also anzuerkennen, können wir Leibniz' Ansatz, dass etwas früher ist als ein anderes, eben weil es den Grund des anderen, sogar alles späteren involviert, nicht verstehen und damit auch nicht seine Begriffe von Zeit und Raum. Andererseits steht und fällt seine Theorie mit der Annahme oder Ablehnung dieser Voraussetzungen.

Während Leibniz zugesteht, dass eine Unendlichkeit von Hypothesen dem genügen könne, was an Mathematik in den Phänomenen ist63, würde er seine metaphysische These, dass Raum und Zeit ihren Grund im Handeln der singulären Substanzen haben, nicht durch eine andere ersetzbar wissen wollen.

Dass das Frühere alles Spätere involviert, war Leibniz' schwer von uns nachvollziehbare universale Annahme. Dennoch sind viele moderne Erkennt- nisse Spezifikationen dieser Annahme. Um nur an zwei disparate Beispiele zu erinnern: die Erkenntnis zum einen, dass aus einer einzigen Zelle der Bauplan des gesamten Organismus, dem sie entstammt, erkannt und möglicherweise sogar - aus einer Stammzelle - rekonstruiert werden kann, oder zum anderen, dass jeder Einzelne von uns in die Verantwortung für sein Tun und Lassen genom- men wird zum Schutz der Umwelt und zur Vermeidung der sich ankündigenden Klimakatastrophe.

Alles hängt mit allem zusammen: návm c')'invoia eivai64.

Prof. Dr. Heinrich Schepers, Leibniz-Forschungsstelle der Westfälischen Wilhelms-Universität, Robert-Koch-Str. 40, 48149 Münster, Deutschland, [email protected]

63 „[...] l'on sçait, qu'une infinité d'hypothèses peuvent satisfaire à ce qu'il y a de mathématique dans les phénomènes" (Leibniz an Fardella, Mitte Oktober 1692; A II, 2 N. 179 FN 1).

64 A VI, 3, 87.23 (Herbst 1672); С, 14 (nach 1695).

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