Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in der Moderne1 GERMAN HISTORY SEMINAR 2016/17 Martin Rempe...
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GERMAN HISTORY SEMINAR 2016/17
Martin Rempe
Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in der Moderne
Dear All,
What follows is a very first draft of chapter 9 of my book project. I have to apologize that a few
parts of the chapter are still lacking, e.g. the section on Jewish musical life and a section which
will more explicitly deal with working worlds of musicians that remained largely unaffected by
the Nazi regime. Also, a conclusion is yet to be written. I marked these gaps. Nonetheless, I hope
that the argument of this chapter as well as its structure will be clear for everyone. The content of
the book might be helpful in order to grasp the context of this chapter. I will also give a short
introduction to the project at the beginning of the Seminar. I am very much looking forward to
feedback, comments and criticism of any kind. Best wishes, Martin
Structure
Einleitung
Teil I: Lebens- und Arbeitswelten im 19. Jahrhundert
1. Wilhelm Wieprecht oder ein Musikerleben in der Sattelzeit
2. Musikers Erwachen: Interessenverbände zwischen Kunst und Arbeit
3. „Musikerelend“: Berufsalltag im und jenseits des Kaiserreichs
Teil II: Projekte der Professionalisierung im Zeitalter der sozialen Frage: 1880–1930
4. Auf Umwegen ins Bürgertum: Zivilisierungsmission und Lobbyarbeit
5. Kriegsgewinnler? Musiker an der Front und zu Hause
6. Die zerstrittene Zunft: Musikermilieus und berufliche Spezialisierung
7. Zeit der Experimente: Neue Medien, neue Moden, neue Musiker
8. Fluch und Segen: Arbeitswelten im krisenhaften Kultur- und Sozialstaat
Teil III: Pfadabhängigkeiten: 1930–1960
9. „Irrsinnige Normalität“: Nationalsozialistische Musikpolitik und ihre Folgen
10. Migration und Propaganda: Musikermobilität vor und während des Kriegs
11. Zwischen Neuanfang und Kontinuität: Musiker in den beiden Deutschlands
Schluss
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9. „Irrsinnige Normalität“: Nationalsozialistische Musikpolitik und ihre Folgen
Die Rositabar am Bayerischen Platz in Berlin, im Frühjahr 1942: Der erst 18-jährige jüdische
Gitarrist Heinz Jakob Schumann gab sein Debut an der Seite des Jazzmusikers Tullio Mobiglia,
nach dessen eigenen Angaben zu jener Zeit der schönste Saxophonist der Welt. Der Italiener, der
bei Coleman Hawkings in die Lehre gegangen war, und sein Sextett boten angeblich den besten
Swing, den man im „Dritten Reich“ bekommen konnte. Mitten im Krieg schien der Berliner
Nachtclub ein Zufluchtsort für all jene zu sein, die der grausamen Realität von Entsagung, Verlust
und Verfolgung entweichen wollten. Auf den schönen Tullio hatten es besonders viele
Verehrerinnen abgesehen, doch auch Schumann schien auf seine Kosten zu kommen. In jenem
Frühling 1942 erhielt er auch seinen Spitznamen von einer französischen Freundin, die ihn Chérie
Coco nannte, weil sie Heinz nicht aussprechen konnte; fortan sollte er unter dem Namen Coco
Schumann Karriere machen.1 Einer der Stammgäste der Rositabar war der Berliner Heinrich
Kupffer, wie Schumann Jahrgang 1924. Bevor Kupffer 1942 zur Wehrmacht eingezogen wurde,
ging er ein letztes Mal mit seiner halbjüdischen Freundin aus Neukölln in den Jazzclub und erfreute
sich wahrscheinlich an Mobiglias und Schumanns Swing-Standards. Er hatte sie, die ihren Vater
bereits auf ungeklärte Weise verloren hatte, erst wenige Tage zuvor kennengelernt. Dennoch sei
sie „keineswegs trübsinnig oder zurückgezogen“ gewesen, erinnert sich Kupffer, sondern vielmehr
„in die gigantische und irrsinnige Normalität dieser Stadt eingebunden.“2
Natürlich stand die Rositabar nicht annähernd in der Öffentlichkeit wie beispielsweise die
Philharmonie. Coco Schumann war sicherlich noch längst nicht so bekannt wie etwa Friedrich
1 Vgl.Schumann, Coco, Der Ghetto-Swinger. Eine Jazzlegende erzählt. Aufgezeichnet von Max Christian Graeff und
Michaela Haas, München 1997, S. 51–53. Vgl. dazu auch Kater, Gewagtes Spiel, S. xy 2 Vgl. Kupffer, Heinrich, Swingtime. Chronik einer Jugend in Deutschland 1937–1951, Berlin 1987, S. 57.
3
Hollaender. Das nationalsozialistische Regime hatte zudem im Frühjahr 1942, nur kurze Zeit nach
dem Kriegseintritt der USA, bestimmt wichtigeres zu tun, als einen Jazzclub in Schöneberg
hochgehen zu lassen, um einen weiteren Juden ins Konzentrationslager zu schicken (wo Schumann
ein Jahr später zwar trotzdem landete, aber nicht infolge einer Musikkontrolle).3 Und nicht zuletzt,
sofern man den retrospektiven Schilderungen überhaupt Glauben schenken mag, spiegelt die
Episode aus der Rositabar individuelle Erlebnisse, denen das Schicksal ungezählter jüdischer
Musiker (und noch viel mehr jüdischer Zuhörerinnen) von Vertreibung und Ermordung
gegenübersteht. Warum sich also ein Zeitzeugenurteil zu eigen machen und von einer „irrsinnigen
Normalität“ in Musikpolitik und Musikeralltag während des Nationalsozialismus ausgehen bzw.
ihr weiter nachgehen wollen, wenn es auf der Hand läge, das Gegenteil zu erörtern?
Erstens bezieht sich die Wendung von der irrsinnigen Normalität im folgenden Kapitel
ausschließlich auf das öffentliche Musikleben in Deutschland und damit auf jene Musikerinnen
und Musiker, die ihrem Beruf weiter ausübten bzw. ausüben konnten. Jenen, die das NS-Regime
ins Exil drängte oder verhaftete und deportierte, widmet sich ausführlich das anschließende Kapitel
10 über Musikermobilität in Zeiten von Krieg, Gewalt und Kulturpropaganda. Celia Applegate hat
mit Blick auf die Hausmusik im „Dritten Reich“ überzeugend dargelegt, dass man die
Mechanismen von Mord und Totschlag nicht unbedingt besser nachvollziehen könne, wenn man
sie auch dort untersucht, wo sie nicht zum Einsatz kamen, und dass man den NS-Staat und seine
Ideologie nicht dadurch besser verstehen würde, dass man ihn in allen Lebensbereichen finden
würde. Mit gewissen Einschränkungen, die kenntlich zu machen sind, lässt sich diese Einsicht auf
die Lebens- und Arbeitswelten von Berufsmusikern im NS-Staat übertragen.4
3 Vgl. dazu ausführlich Kap. 10. 4 Vgl. Applegate, Celia, The Past and Present of Hausmusik in the Third Reich, in: Michael H. Kater u. Albrecht
Riethmüller (Hg.), Music and Nazism: Art under Tyranny, 1933–1945, Laaber 2003, S. 136–149, hier S. 147f.
4
Zweitens prägt, wie Pamela Potter erst kürzlich detailliert herausgearbeitet hat, das Bild
eines aus den Fugen geratenen Musiklebens, das die NSDAP unter totale organisatorische wie
ästhetische Kontrolle gegen eine mehr oder minder ohnmächtige Künstlerschaft gebracht hätten,
weiterhin die Vorstellung in der Öffentlichkeit und leitet sogar weiterhin manche wissenschaftliche
Darstellung. Sei es die Gleichschaltung der Musikwelt, die politische Indienstnahme der Berliner
Philharmoniker, die Affären um Strauss, Hindemith oder Furtwängler, die Ausstellung „Entartete
Musik“ oder das Jazzverbot im Rundfunk – noch immer wird gerne der Eindruck eines totalitären
Zugriffs des Regimes unter der Federführung von Hitler, Goebbels oder einem anderen ranghohen
Nazi erweckt.5
Diese Themen werden im folgenden Kapitel nur gestreift oder ganz ausgelassen, denn für
einen großen Teil der Musiker, die ihren Beruf nach 1933 weiter praktizierten, spielten sie keine
oder lediglich eine untergeordnete Rolle. Insofern geht es drittens auch nicht so sehr darum, das
Ausmaß an organisatorischer oder ästhetischer Kontrolle der Nationalsozialisten auf das
Musikleben abzuschätzen oder den Grad der Verwicklung einzelner Musikerpersönlichkeiten zu
bestimmen.6 Vielmehr dreht sich das folgende Kapitel um die „Krisenlösungskompetenz“7 des
nationalsozialistischen Regimes im Angesicht der Weltwirtschaftskrise und um die daran
anschließende Frage, wie sich dessen Musikpolitik auf die Arbeits- und Lebenswelten von
Musikern auswirkte.
5 Potter, Pamela, The Art of Suppression: Confronting the Nazi Past in Histories of the Visual and Performing Arts,
Oakland 2016, S. 1–47. 6 Diese Fragestellungen standen jahrzehntelang im Vordergrund, beginnend mit der kommentierten
Quellensammlung von Wulf, Joseph, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1963. Die wichtigste
Studie zu Persönlichkeiten des klassischen Musiklebens ist Kater, Michael H., Die mißbrauchte Muse. Musiker im
Dritten Reich. Aus dem Amerikanischen von Maurus Pacher, München 1998. Vgl. zu Wulf, der als Holocaust-
Überlebender nie an der Uni unterkam, jetzt auch die Biographie: Kempter, Klaus, Joseph Wulf: Ein
Historikerschicksal in Deutschland, Göttingen 2013, insbesondere S. 226–39. 7 Begriff angeregt durch Patel, Kiran Klaus, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA,
1933–1945, Göttingen 2003, S. 16.
5
Der Musikeralltag im Nationalsozialismus war von einer „irrsinnigen Normalität“ geprägt,
weil es zum einen dem Regime nach und nach gelang, dem im Zuge der Wirtschaftskrise
daniederliegenden Musikleben neues Leben einzuhauchen. Diese sozioökonomische
Normalisierung änderte allerdings ebenso wenig an der strukturellen Zerstrittenheit des
Musikermilieus wie die ideologische Beschwörung einer musikalischen Volksgemeinschaft. Die
widersprüchliche Rolle der Reichsmusikkammer (RMK) und anderer mit Musikpolitik befasster
Stellen, einerseits die Einheit des Musiklebens (wieder) herstellen zu wollen und andererseits mit
verschiedenen Maßnahmen der weiteren ästhetischen und organisatorischen Trennung in
unterschiedliche Musikwelten vorzuarbeiten, ist bislang kaum explizit und zudem nicht unter dem
Blickwinkel der zentralen Propagandaformel des NS-Regimes erörtert worden. Die „Vielfalt an
Vorstellungen“ (Michael Wildt), die sich mit dem Konzept der Volksgemeinschaft verknüpften
und vom sozialen Gleichheitsversprechen über gesellschaftliche und kulturelle Hierarchievisionen
bis zu Blut-und-Boden-Gedanken reichten, diese Vielfalt prägte auch das Musikleben. Letztlich
handelten die verschiedenen Musikergruppen unter Hitler nicht strukturell anders als unter Ebert
oder Kaiser Wilhelm II: sie versuchten, unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen das
Beste für ihren Berufszweig herauszuholen und Einfluss auf musikpolitische Reformen zu
nehmen.8
In diesem Sinne wich die auf das Berufsfeld gerichtete Politik kaum von der Norm ab. Mehr
noch, knüpfte sie in vielen Punkten nahtlos an gewerkschaftliche Bemühungen aus der
Republikzeit an. Entsprechend blieb auch der Arbeitsalltag zumindest in Friedenszeiten einer
8 Wildt, Michael, Volksgemeinschaft – eine Zwischenbilanz, in: Dietmar von Reeken u. Malte Thießen (Hg.),
'Volksgemeinschaft' als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn u.a. 2013, S. 355–
369. Vgl. auch die Einleitung im selben Band. Dass hinter der Fassade von Propaganda und Symbolpolitik soziale
Konflikte weiterlebten, betont Kershaw, Ian, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen
Forschungskonzepts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59. 2011, S. 1–17. Schon David Schoenbaum war dieser
Auffassung, die im folgenden Kapitel weiter bekräftigt wird, vgl. ders., Die braune Revolution, Köln / Berlin 1968,
S. 336.
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Normalität verhaftet, wie man sie aus den besseren Abschnitten der Zwanzigerjahre kannte. Diese
blieb freilich irrsinnig, im Sinne von unvorstellbar, nicht nur, wenn man an die Lücken denkt, die
die Emigration und Deportation vieler jüdischer und von anderen unerwünschten Musiker rissen,
sondern auch mit Blick auf das vom jüdischen Kulturbund unter Aufsicht des
Propagandaministeriums organisierte jüdische Musikleben, das noch bis 1941 aufrechterhalten
wurde.
„Sie wollte einfach leben“ – so erklärte sich Kupffer das Verhalten seiner halbjüdischen
Freundin. Ein Großteil der Berufsmusiker wollte einfach wieder ein wenig besser leben nach der
wirtschaftlichen Krisenerfahrung. Nicht wenige von ihnen wurden allerdings enttäuscht: Nach
sechs Jahren nationalsozialistischer Herrschaft hatte der Anteil an nebenberuflich und selbständig
tätigen Musiker deutlich zugenommen, während andere den Beruf gar ganz an den Nagel gehängt
hatten. Das Berufsfeld schrumpfte zwischen 1933 und 1939 – nicht zuletzt, weil es sich nicht allzu
gut leben ließ als Berufsmusiker im Nationalsozialismus.9
***
Im Anfang war die Wirtschaftskrise: Der Börsencrash vom Oktober 1929 und die anschließende
weltweite Depression beendeten die Phase relativer Stabilisierung der Weimarer Republik. Ende
März 1930 kündigte sich die Erosion des politischen Systems mit dem ersten Präsidialkabinett
unter Heinrich Brüning an. Parallel dazu setzte eine politische Radikalisierung ein, die im Aufstieg
der NSDAP zur zweitstärksten Kraft bei den Reichstagswahlen im September desselben Jahres
deutlich zum Vorschein kam. Insgesamt sank das Volkseinkommen zwischen 1929 und 1932 um
9 Kupffer, Swingtime, S. 57. Vgl. Tabellen 1–3 im Anhang. Vgl. zu dieser These abweichend Levi, Music, S. 195-
97, und Okrassa, Peter Raabe, S. 323, die von einer Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lage von
Musikern während der NS-Zeit ausgehen; unentschieden bleibt Steinweis, Art, v.a. S. 102.
7
fast 40 Prozent. Angesichts der rapide steigenden Arbeitslosigkeit von 1,3 Millionen Ende der
Zwanzigerjahre auf über 6 Millionen im Januar 1933 (mehr als 30 Prozent) und dem damit
einhergehenden Verfall des Lebensstandards für einen Großteil der Gesellschaft nahmen soziale
Verteilungskonflikte an Schärfe zu. Dass diese wirtschaftliche Krisensituation das Musikleben und
den Arbeitsalltag von Berufsmusikern erheblich beeinträchtigte, liegt auf der Hand.10
Am härtesten traf es zunächst die Orchestermusiker. Die Orchesterlandschaft, die von
Ländern und Kommunen trotz leerer Kassen in den Zwanzigerjahren ausgebaut worden war,
schrumpfte nach 1929 wieder rasch zusammen. Die Schreckgespenster hießen
„Theaterschließung“ und „Orchesterauflösung“. Auch von einem „Abbaufieber“ war bald die
Rede.11 Bereits im Frühjahr 1930 kündigte die Stadt Mainz dem gesamten Orchester, dasselbe
Schicksal ereilte allein im selben Jahr die Klangkörper in Flensburg, Neiße, Trier, Koblenz,
Königsberg, Osnabrück, Plauen, Weißenfels und Würzburg. In Düsseldorf erhielten 44 Musiker,
in Darmstadt 25 ihre Kündigung, und auch in vielen anderen Orchestern kam es zum Stellenabbau,
während die verbeamteten Orchestermusiker deutliche Gehaltskürzungen in Kauf nehmen
mussten.12 Insgesamt sollen zu diesem relativ frühen Zeitpunkt schon über 1.000 der etwa 6.000
Orchesterangestellten entlassen worden sein.13 Im weiteren Verlauf der Krise gerieten auch
Staatstheater wie jene in Kassel und Wiesbaden und viele weitere städtische Orchester, darunter
Wuppertal, Münster, Kiel und Krefeld ins Visier der Finanzverwaltungen. Mitunter blieb es bei
reinen Drohungen, die wie in Düsseldorf als Hebel genutzt wurden, um Lohnkürzungen und
10 Zahlen nach Kolb, Weimarer Republik, S. xy. 11 Anonymus, Aufbau im Abbau, in: DMZ Nr. 17, 26.4.1930, S. 345. 12 Vgl. Anonymus, Notiz, in: Mitteilungsblatt des RDO Nr. 8. 15.4.1930, S. XXIX. Anonymus, Die Theaterkrise im
Reiche, in: DMZ Nr. 5, 1.2.1930, S. 90f. Anonymus, Vorsicht bei Angeboten nach, in: DMZ Nr. 17, 26.4.1930, S.
344; Anonymus, Was tut der Verband? Ein Querschnitt durch das Jahr 1930, in: DMZ Nr. 52, 27.12.1930, S. 981f. 13 Vgl. Anonymus, Entschließung zur Notlage im Musikerberuf, in: DMZ Nr. 14, 5.4.1930, o.S.
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schlechtere Arbeitsbedingungen durchzudrücken. Gehaltsabzüge von bis zu 40 Prozent konnten
durchaus vorkommen, und auch die ein oder andere Sonderzulage fiel der Krise zum Opfer.14
Bei den privatwirtschaftlich geführten Theatern sah es noch schlimmer aus, denn von ihnen
überlebten die wenigsten die Krise.15 Die Kinos konnten sich zwar insgesamt besser halten,
allerdings brachte die Umstellung auf den Tonfilm hier ein ganzes Tätigkeitsfeld weitgehend zum
Erliegen. „Es sind in der Welt zwischen 1928 und 1930 Millionen Musiker stellungslos geworden.
Das war so fürchterlich, daß man es gar nicht ausdrücken kann,“ erinnerte sich der
Kinokapellmeister Werner Schmidt-Boelcke, der selbst allerdings weiter beim Film Karriere
machen konnte.16 Hinzu kam eine in Zeiten der Depression verstärkte Beamten-, Dilettanten-,
Militärkonkurrenz, weil die Musik für diese Gruppen eine Möglichkeit bot, sich ein wenig Geld
hinzuzuverdienen. Die Rede kam so bald wieder aufs „Musikerelend“, und Berichte über
hungernde Musiker machten die Runde. Die Arbeitslosigkeit im Berufsfeld nahm bis Ende 1932
stetig zu und lag nach Zählungen des Verbands bei etwa 23.000 Musikern, von denen über 40
Prozent keinerlei Unterstützung durch Arbeitslosenversicherung oder Krisen- bzw.
Wohlfahrtsfürsorge erhielten. Inoffiziell ging man gar von 30.000 Musiker aus, die kurz vor der
Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ohne Arbeit waren. Wie sich ein halbes Jahr später
herausstellen sollte, lag man mit dieser Schätzung gar nicht so verkehrt.17
14 Vgl. Anonymus, Theaterschließung und Orchesterauflösung, in: Das Orchester Nr. 2, 15.1.1932, S. VII. RDO-
Vorstand, Der Düsseldorfer Streitfall, in: Mitteilungsblatt des RD Nr 14., 15.7.1930, S. LIII. Anonymus, Die Gruppe
Ia seit 1929, in: DMZ Nr. 37, 10.9.1932, S. 440. 15 Vgl. Schöndienst, Geschichte des Theaters, S. xy. 16 Zitiert nach Bockstiegel, Musikerleben, S. 52. Vgl. Was tut der Verband? Ein Querschnitt durch das Jahr 1930,
in: DMZ Nr. 52, 27.12.1930, S. 981f. Zahlen nach DEMUV und Zinner-Frübeiß im Moment. 17 Vgl. Strelow, Musikerelend, in: DMZ Nr. 29, 19.7.1930, S. 575f; Dr. Löblich, Die Pflicht der Arbeitsämter, für die
hungernden Berufsmusiker Arbeit zu schaffen, in: DMZ Nr. 48, 29.11.1930, S. 925; Anonymus, Das Ergebnis
unserer Arbeitslosenstatistik, in: DMZ Nr. 47, 19.11.1932, S. 563f. Im Juni 1933 waren laut Berufszählung 29.077
abhängig beschäftigte Musiker arbeitslos. Vgl. Anhang, Tab. 1. Damit wich der Musikerarbeitsmarkt von der
allgemeinen Entwicklung ab, in der der Höchststand bereits im Januar 1932 erreicht war. Vgl. Benz, Wolfgang,
Geschichte des Dritten Reiches, München 2000, S. 95f.
9
So rasch, wie Pläne zum Orchesterabbau geschmiedet und umgesetzt wurden, formierte
sich auch der Widerstand dagegen. Der Verband Deutscher Orchester- und Chorleiter, dessen
Vorsitzender zu jener Zeit Wilhelm Furtwängler war, mahnte in einem offenen Brief an den (nicht
zuständigen) Reichsinnenminister Joseph Wirth zur Besonnenheit. Gewohnt selbstbewusst regte
Geschäftsführer Rudolf Cahn-Speyer an, den Rotstift nicht bei den beliebten städtischen
Orchestern anzusetzen, die seiner Meinung nach eh mit bescheidenen Mitteln auskämen, sondern
lieber an teureren und zugleich weniger genutzten Kulturangeboten wie etwa Museen zu sparen.
Auch die in vielen Stadtverwaltungen kursierende Idee, Einsparungen ohne künstlerischen
Substanzverlust durch Stellenabbau erzielen zu können, wurde scharf als „gewaltiger Irrtum“
kritisiert: Verkleinerungen würden nicht nur die Repertoiremöglichkeiten deutlich einschränken,
sondern auch jahrelange Orchesterarbeit vernichten, die nötig seien, um einen künstlerisch
hochstehenden Klangkörper zu schaffen. Nicht zuletzt sei es gerade in Zeiten von Wirtschaftskrise
und materiellem Verzicht umso wichtiger, der darbenden Gesellschaft zumindest geistige Nahrung
und seelischen Trost bieten zu können.18
In seltener Einmütigkeit schloss sich der Deutsche Musiker-Verband diesem Protestbrief
an.19 Neben der „Erhaltung und Sicherung unserer Kulturorchester“ machte die größte
Berufsorganisation den „Schutz und Förderung lebender Musik“ sowie die „Bereinigung des
Arbeitsfeldes […] von den Eingriffen Unberufener“ zu ihren Kernanliegen.20 Besonders ins
Fadenkreuz gerieten nun die ausländischen Kollegen, gegen deren Einreise, Arbeitserteilung oder
auch nur Reklame beim Arbeitsministerium Front gemacht wurde, einmal mehr mit geringem
Erfolg allerdings.21 Mitunter nahm der Diskurs in der Krise auch emotionalere, ja sogar
18 Rudolf Cahn-Speyer, Gegen den Orchester-Abbau, in: Das Orchester Nr. 12, 15.6.1930, S. 144f. 19 Er wurde sogar abgedruckt, vgl. Anonymus, Gegen den Abbau der Orchester, in: DMZ Nr. 23, 7.6.1930, S. 468. 20 Anonymus, Die drei Kernforderungen des Demuv, in: DMZ Nr. 23, 4.6.1932, o.S. 21 Vgl. Anonymus, Gegen entbehrliche Ausländer und musikalische Schwarzarbeit!, in: DMZ Nr. 22, 28.5.1932, S.
253f.; Anonymus, Der Reichsarbeitsminister zur Ausländerfrage, in: DMZ Nr. 25, 18.6.1932, S. 289f.
10
gewalttätige Züge an: „Schlagt ihn tot, er ist ein Musikus!“, titelte die Musiker-Zeitung schon im
Februar 1930 und erörterte angesichts der um sich greifenden Sparwut ernsthaft die Frage, ob die
Gesellschaft den Berufsmusikern noch eine Existenzberechtigung zugestehen würde. Ein Teil der
Schuld wurde jedoch auch im eigenen Lager gesucht, wo bei vielen Wille und Engagement für
wirtschaftlichen Überlebenskampf vermisst wurde.22 Tatsächlich schrumpfte die
Musikergewerkschaft in der Krise von etwa 40.000 im Jahre 1928 auf wenig mehr als 15.000 drei
Jahre später zusammen.23
Es kam allerdings durchaus zu Bemühungen seitens der Kommunen und Länder, die
schlimmsten Folgen der Wirtschaftskrise abzufedern. In vielen Städten wurde der öffentliche
Arbeitsnachweis eingeführt und damit eine Aufgabe in öffentliche Hand übernommen, die vorher
der Musiker-Verband wahrgenommen hatte.24 Beim Städtetag wurde zudem ein Gremium
eingesetzt, das Theaterbetreibern in Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden Beratungsdienste
anbot, um drohende Kürzungen und Schließungen zu vermeiden.25 Sichtbarster Ausdruck der
Anstrengungen waren jedoch die sogenannten Arbeitslosenorchester, die die Arbeitsämter von
Frankfurt bis Dresden und von Düsseldorf bis Halle bildeten und betreuten. Besonders engagiert
zeigte sich die Münchener Behörde, wo ein Streichorchester, ein Blasorchester und ein
Klavierensemble ins Leben gerufen wurden, die insgesamt bis zu 75 Musiker beschäftigten.
Explizit versuchten die Kommunen mit solchen Maßnahmen, gegen die vielgescholtene Militär-
und Beamtenkonkurrenz gegenzusteuern. In München konnten so allein im November 1930 zehn
Konzerte veranstaltet werden.26
22 Anonymus, Schlagt ihn tot, er ist ein Musikus!, in: DMZ Nr. 6, 8.2.1930, o.S. 23 Zahlen nach Steinweis, Art, S. 10. 24 Vgl. Richard Treitel, Der öffentliche Arbeitsnachweis für Musiker, in: DMZ Nr. 15, 12.4.1930, S. 304f. Allerdings
wurde schon rasch Kritik an der geringen Vermittlungsquote der Arbeitsämter laut. Vgl. Löblich, Die Pflicht der
Arbeitsämter, für die hungernden Berufsmusiker Arbeit zu schaffen, in: DMZ Nr. 48, 29.11.1930, S. 925. 25 Vgl. Anonymus, Ein Rundschreiben des Deutschen Städtetages, in: DMZ Nr. 49, 6.12.1930, S. 940; 26 Vgl. Otto Neuburger, Wodurch können die Arbeitsämter zur Linderung der Arbeitsnot der Musiker beitragen?, in:
DMZ Nr. 49, 6.12.1930, S. 944f. Zu Halle vgl. Paul Klanert, Aus dem Wirknugsbereich der Arbeitslosenorchester,
11
Letztlich blieben diese Anstrengungen jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Weit
größeren Wind als die kommunal betreuten Orchester machten stattdessen ab 1932 die aus dem
Heer der Arbeitslosen hervorgehenden Parteikapellen. Dass das Berufsfeld dadurch weiter
politisiert wurde, schmeckte der Musikergewerkschaft gar nicht. Sie sah in dieser Entwicklung
wohl nicht zu Unrecht einen „Mißbrauch der Arbeitslosennot, wie er nicht schlimmer gedacht
werden kann.“27 Während sich diese Kritik an KPD wie NSDAP gleichermaßen richtete, überwog
doch eindeutig die Sorge vor den „Nazikapellen“, wie sie auch genannt wurden.28 Zu den ersten
ihrer Art zählte das Nationalsozialistische Reichssinfonieorchester unter dem Münchener
Kapellmeister Franz Adam, das unter diesem Namen erstmals im Zirkus Krone im Januar 1932 in
Erscheinung trat und dort 3.000 Zuhörer mit Bruckner, Wagner und Weber begeisterte. Adam war
Ende 1930 der Partei beigetreten, nachdem sein Wirken beim Verbandsorchester der
Interessengemeinschaft süddeutscher Musiker, einer regionalen Berufsorganisation, weitgehend
erfolglos geblieben war.29 Die Bildung des Parteiorchesters, das sich wesentlich aus dem
vorherigen rekrutierte, war ebenso ideologisch wie arbeitsmarktpolitisch motiviert. Ihm ging es
darum, „dem gesamten deutschen Volke deutsche Musik zuführen zu können, den Kampf der
NSDAP gegen Internationalisierung und Bolschewisierung der Musik durch praktisches Beispiel
zu führen, [und] die drohende Mechanisierung der Musik abzuwehren.“30
in: DMZ Nr. 46, 12.11.1932, S. 552. Zu München vgl. mit weiteren Details Neumann, Sonja, Musikleben in
München 1925–1945, Au/Hallertau 2009, S. 70–72. 27 Anonymus, Politische Hetze gegen den Demuv, in: DMZ Nr. 46, 12.11.1932, o.S. 28 Verbandsvorstand, Nazikapellen, in: DMZ Nr. 38, 17.9.1932, S. 455. 29 Franz Adam, Lebenslauf des Unterzeichneten, 8.7.1948, in: BSB Ana 559, NL Franz Adam, Box C.I.16; ders.,
Entstehen und Wirken des Nationalsozialistischen Symphonieorchesters, 25.7.1945, in: ebd., Box A.3. Vgl. zur
Interessengemeinschaft auch Neumann, Musikleben, S. 39. Ein zweites Beispiel war das Sinfonieorchester des
Kampfbundes für deutsche Kultur unter Gustav Havemann, vgl. Levi, Music, S. xy. 30 Broschüre Zweck und Ziele des Nationalsozialistischen Reichs-Symphonie-Orchesters, o.D. [Feb. 1932], in: BSB
Ana 559, NL Franz Adam, Box D.I.6. Zur Realisierung seiner Pläne hatte Adam bereits im November 1930 auch den
direkten Kontakt zu Hitler gesucht; er wurde allerdings nicht erwidert. Kanzel Adolf Hitler an Adam, 11.11.1930, in:
ebd., Box C.I.12.
12
Doch auch die Parteikapellen – deren Anstellungsbedingungen im Übrigen anfangs relativ
obskur blieben31 – machten das Kraut nicht wieder fett. Im Gegenteil: Legt man die Berufszählung
vom 16. Juni 1933 zugrunde, so wird nicht nur das Ausmaß der Katastrophe deutlich, die die
Wirtschaftskrise im Berufsfeld verursacht hatte, sondern auch die kulturpolitische
Mammutaufgabe, vor der das frisch die Macht ergriffene Regime stand, und zu deren Lösung bis
dahin offenbar noch wenig geleistet wurde: Von insgesamt knapp 120.000 erfassten Musikerinnen
und Musikern (Sänger exklusive) gab fast jede(r) Dritte an, diesen Beruf nicht zum Haupt- sondern
nur im Nebenerwerb auszuüben. Zugleich belief sich die Arbeitslosigkeit unter den mehr als 96.000
abhängig beschäftigten Musikern, haupt- und nebenberufliche zusammengenommen, auf 46
Prozent und damit um mehr als 15 Prozent höher im Vergleich zum Reichsdurchschnitt der
Angestellten und Arbeiter. Der musikalische Arbeitsmarkt war dermaßen geschrumpft, die Präsenz
von Nebenberuflern auf jeglichen Bühnen von der Bierhalle bis zum Konzerthaus allgegenwärtig,
sodass der Berufsstand an sich, d.h. das Musizieren als professionelle Erwerbstätigkeit, ernsthaft
bedroht war. Am allerwenigsten hatte diese verheerende Situation auf dem Arbeitsmarkt allerdings
mit jenen zu tun, die am heftigsten attackiert wurden: den Ausländern und den Juden. Der Anteil
hauptberuflicher Musiker jüdischen Glaubens betrug laut Berufszählung nicht einmal 2 Prozent,
und derjenige ausländischer Herkunft keine 4 Prozent; drei Viertel dieser Gruppe waren zudem
deutsche Muttersprachler.32 Von dieser konkreten Ausgangs- und Krisenlage ausgehend muss die
Musikpolitik der Nationalsozialisten erörtert und eingeordnet werden, und nicht so sehr im
Pauschalabgleich mit einer als ökonomisch instabil eingestuften Republikzeit.33
31 So gab es Gerüchte, dass die Musiker in Massenquartieren untergebracht und verpflegt wurden, darüber hinaus
aber entweder keinen Lohn erhielten, selbst für den Verkauf von Karten verantwortlich gemacht oder jedenfalls weit
unter Tarif bezahlt wurden. Vgl. Verbandsvorstand, Nazikapellen, in: DMZ Nr. 38, 17.9.1932, S. 455. 32 Friedrich Zander, Die Berufe der Musikausübenden in der deutschen Reichsstatistik, in: Die Musikwoche Nr. 25,
19.6.1937, S. 1–4. 33 Die Tendenz, Weimar als permanenten Krisenstaat zu missdeuten, ist in vielen Darstellungen zum NS-Musikleben
explizit oder implizit vorhanden, vgl. jüngst Potter, Art of Suppression, z.B. S. 10f.
13
***
„Die Reichsmusikkammer, seit Jahrzehnten der Wunschtraum der gesamten deutschen
Musikerschaft, ist am 15. November 1933 errichtet und damit die wichtigste Etappe auf dem Wege
zum Neubau unseres gesamten deutschen Musiklebens erreicht worden“, konstatierte Richard
Strauss anlässlich der ersten Arbeitstagung dieser neu geschaffenen Institution im Winter 1934.34
Zweifelsohne traf der frisch gekürte Präsident der Kammer damit den richtigen Ton, waren mit der
Errichtung der neuen Institution doch größte Hoffnungen auf durchgreifende Reformen verbunden,
die den gesamten Berufsstand wieder aufrichten und in eine bessere Zukunft führen würden.
Strauss selbst gehörte allerdings bald zu jener Fraktion, deren Erwartungen an die
Reichsmusikkammer sich nicht bzw. nur unzureichend erfüllten. Der Münchner Komponist trat
bekanntlich nach gerade einmal etwas mehr als eineinhalb Jahren von seinem Amt aus
gesundheitlichen Gründen zurück, wie es in der offiziellen Begründung hieß. Tatsächlich traf er
auf deutlichen Gegenwind bei seinem Ansinnen, eine einseitige Musikpolitik zugunsten von
Komponisten der ernsten Musik an den Parteifunktionären vorbei zu betreiben. Während
Kammergeschäftsführer Heinz Ihlert anfing, gegen den inakzeptablen Führungsstil seines
Vorgesetzten Stimmung zu machen, war der Rücktritt Strauss‘ Festhalten an Stefan Zweig
geschuldet, was Goebbels nicht länger dulden wollte. Demnach herrschten nach der
Machtergreifung im Januar 1933 ebenso viele Vorstellungen darüber, was die Musikkammer
inhaltlich tun und lassen sollte und wie dabei vorzugehen sei wie in den zahllos geführten
Diskussionen unter Musikern der vorangegangenen 30 Jahre.35
34 Eröffnung der ersten Arbeitstagung der Reichsmusikkammer, in: Amtliche Mitteilungen der RMK Nr. 5,
14.2.1934, S. 15. 35 Vgl. zu Strauss Verhalten als Präsident der Kammer Walter, Richard Strauss, S. 296–303; Steinweis, Art, S. 51–
53. Fragwürdig im Lichte dieser Literatur ist Katers These, wonach Strauss so oder so zurücktreten wollte. Vgl.
Kater, Twisted Muse, S. 207f. Zur Diskussion um Aufgaben einer Musikkammer vgl. ausführlich Kap. 6.
14
Besonders virulent wurde dies beim Deutschen Musiker-Verband, denn wäre es nach der
Musikergewerkschaft gegangen, wäre die Reichsmusikkammer nie ins Leben gerufen worden. Der
in Republikzeiten gepflegte Widerstand gegen den neokorporatistischen Kammergedanken blieb
nach der Machtergreifung bestehen und überdauerte auch dessen offensichtlich erzwungene
„Gleichschaltung.“ Auch nach dem im Vergleich zu anderen Organisationen des Musiklebens
relativ spät erfolgten Bekenntnis des Verbands zum neuen Regime am 15. April 1933, das mit
einem Austausch des Vorstands einherging, weigerten sich die neuen Verantwortlichen, sich dem
Reichskartell der deutschen Musikerschaft anzuschließen, einer Art Vorläuferinstitution der
eigentlichen Reichsmusikkammer, die vom Berliner Geigenprofessor Gustav Havemann initiiert
worden war.36
Havemann, seit Mai 1932 in der Partei und im Kampfbund für deutsche Kultur aktiv, in
dessen Auftrag er auch handelte, war die treibende Kraft für die Zerschlagung des alten Verbands.
Bereits Mitte März hatte er beim Innenministerium darum gebeten, das Verbandsgebäude in der
Bernburger Straße und weitere Büros zu besetzen und kommissarisch von Parteigenossen des
Kampfbundes verwalten zu lassen.37 Die „Gleichschaltung“ lief allerdings nicht so, wie sich
Havemann das ausgemalt hatte. Die neue Führung des Musiker-Verbands ging aus der
Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) hervor, einem gewerkschaftsähnlichen
Apparat der NSDAP, der im Zuge der generellen Zerschlagung der Gewerkschaften Anfang Mai
von der Deutschen Arbeitsfront absorbiert wurde.38 In Havemann sah man nichts als einen
„marxistischen Parasiten“, der „Knall und Fall“ Nationalsozialist geworden sei und nun glaube,
36 Vgl. Deutscher Musiker-Verband an RMVP, 28.4.1933, in: BArch R55/1138-124. Zur Gründung des
Reichskartells vgl. Steinweis, Art, S. 35f. 37 Vgl. Havemann an Daluege, 17.3.1933, in: BARch RK Havemann, 1790; Havemann an Metzner, 17.3.1933, in:
ebd., 1792. Zu Havemanns Lebenslauf vgl. Beiträge zum Künstlerleben des deutschen Geigers Gustav Havemann,
1882–1960, hg. von Wolfgang Havemann, Dresden 1978, S. 3. 38 Vgl. Deutscher Musiker-Verband an RMVP, 28.4.1933, in: BArch R55/1138-124.
15
alles bestimmen zu können. Sogar ein Verfahren vor dem Untersuchungs- und
Schlichtungsausschuss strengte der neue Vorstand gegen ihn an, wenn auch ohne Erfolg.39
Die jahrzehntelang gewachsenen Konfliktlinien zwischen gewerkschaftlich organisierten
und wirtschaftsfriedlich orientierten Musikern währten somit auch beim Bau des neuen
Kulturapparates der Nazis fort, wobei die konservativen Kräfte mit der Machtergreifung (wieder)
klar an Einfluss gewannen. Der Reichsverband deutscher Orchester und Orchestermusiker zählte
zu den ersten Organisationen, die Havemann Gefolgschaft leisteten, was sich ein Stück weit bezahlt
machte. Leo Bechler, der Vorsitzende der in der Weimarer Republik noch weitgehend
marginalisierten Vereinigung, wurde umgehend in den Vorstand des Reichskartells berufen. Auch
Robert Hernried, der Schriftleiter für die neu zu gestaltende Branchenzeitschrift „Musik im
Zeitbewusstsein“, die nach der Gründung der RMK im November 1933 übernommen wurde, kam
von dort.40 Und auch Verbandsmitglied Alfred Erdmann, langjähriger Hornist des Wuppertaler
Städtischen Orchesters, der in den Zwanzigerjahren fleißiger Beiträger für Hernried gewesen war
und sich erbitterte Schreibfehden mit dem Musiker-Verband lieferte, engagierte sich in Havemanns
Reichskartell. Erdmann durfte für das erste halbe Jahr auch in der Reichsmusikkammer als Leiter
der Fachschaft Orchestermusiker Verantwortung übernehmen, ehe er nach Wuppertal zurückging
und sich von dort wieder journalistisch für die Anliegen seines Standes einsetzte.41
39 Deutscher Musikerverband an Göhring und Goebbels, 19.5.1933, in: BArch RK Havemann, 1564. Zum
sogenannten Uschla-Verfahren vgl. Seidel an Göring, 6.5.1933, in: BArch RK Havemann, 1788. Havemann wurde
u.a. vorgeworfen, dass er philosemitisch sei. Vgl. zu der Auseinandersetzung auch Seidel an Hitler, 26.5.1933, in:
ebd., 1482; Notruf an unseren Führer und Volkskanzler, o.D. [26.5.9133], in: ebd., 1500. Zu seiner Reputation vgl.
auch Kater, Twisted Muse, S. 23f. Vgl. dazu übergreifend Steinweis, Art, S. 38f. Er irrt allerdings, wenn er
Musikästhetik und Berufsorganisation gleichsetzt und die ernsten Musiker um Havemanns Kartell den
Unterhaltungsmusikern des Musiker-Verbands gegenüberstellt, denn, wie ausführlich gezeigt, stützte sich letzterer
auch auf Orchestermusiker. 40 Dass Hernried Jude war, sollte erst einige Zeit später herauskommen und Presseamtsleiter Friedrich Mahling den
Job kosten, vgl. Steinweis, Art, S. 53 (dort als Professor Herrenried bezeichnet). 41 Vgl. O.K., Zum 25jährigen Dienstjubliäum von Alfred Erdmann, in: Die Musikwoche Nr. 20, 15.5.1937, o.S. Mir
ist im Moment noch unklar, warum er wieder gehen musste. Wohl, weil er ein Verteidiger des
Orchestermusikerbeamtentums war…
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Havemann selbst wurde im November 1933 die Geschäftsführung der Reichsmusikerschaft
in der RMK anvertraut. Die Leiter der anderen Fachschaften unter ihm – Karl Stietz für die
Ensemble- und freistehenden Musiker, Hermann Abendroth für die Musikerzieher und Karl
Klingler für die Kapellmeister und Solisten – hatten gleichfalls vor 1933 mit dem Musiker-Verband
nichts am Hut gehabt.42 Der einzige Gewerkschafts-Funktionär, der auch im neuen Regime etwas
prominenter in Erscheinung trat, war Hermann Becker, der für die Orchestermusiker zuständig
gewesen und insofern Erdmanns ausgesprochener Intimfeind war. Er wurde sein Nachfolger in der
RMK, konnte sich allerdings ebenso wenig auf diesem Posten behaupten.43 Auch am Personal
spiegelte sich demnach deutlich wider, dass die Gründung der Reichsmusikkammer einen klaren
Sieg für Goebbels über seinen Rivalen Robert Ley bedeutete, der die künstlerischen Berufe gerne
in seiner Arbeitsfront behalten hätte.44
Personell betrachtet musste sich ein großer Teil der ausübenden Musiker also mit einer
neuen, deutlich konservativeren Führungsriege anfreunden, die sich allerdings fast so schnell
wieder mit dem neue Regime überwarf, wie sie sich für es erwärmt hatte. Mit Figuren wie Strauss,
dessen Stellvertreter Furtwängler oder auch Havemann war kein Staat zu machen, wie Goebbels
und seine rechte Hand in der Kammer, Hans Hinkel, bald feststellen mussten, weil alle drei
künstlerische Gesichtspunkte wichtiger erachteten als parteipolitische und ideologische
Prärogativen. Ihre Nachfolger, Peter Raabe als Präsident sowie Leiter der Fachschaft Musik und
Paul Graener als Nachfolger von Furtwängler und Strauss bei den Komponisten waren zwar
42 Karl Stietz war Pianist; Hermann Abendroth Dirigent, Karl Klingler Geiger und Primarius des Klingler-Quartetts. 43 Vgl. etwa Hermann Becker, Anstellungs- und Besoldungsfragen der deutschen Kulturorchester, in: Musik im
Zeitbewußtsein Nr 28, 13.7.1935, S. 3f.; ders., Der Bankrott des RDO, in: DMZ Nr. 18, 27.3.1926, S. 293f. Beckers
Nachfolger wurde Hermann Henrich, der vorher Geschäftsführer der gesamten Reichsmusikerschaft war. Zu Becker
gibt es seltsamerweise keinen Eintrag in Priebergs Handbuch deutscher Musiker. 44 Vgl. zum Konflikt im Detail Steinweis, Art, S. 38–44.
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sicherlich nicht weniger konservativ, aber politisch opportuner und in künstlerischen Fragen
biegsamer.45
Inwieweit der mit der Machtergreifung einhergehende Rechtsruck in der Musikorganisation
auf breite Zustimmung, Achselzucken oder Ablehnung unter Musikern stieß, ist schwer zu sagen.
Alan Steinweis hat geschätzt, dass etwa 20 Prozent der im Nationalsozialismus aktiven Musiker
Mitglied der NSDAP waren; 6 Prozent waren es bereits vor 1933, etwa 10 kamen in jenem Jahr
hinzu. Damit lagen Musiker in etwa gleichauf mit den Lehrern (23 Prozent), und deutlich unterhalb
der Parteizugehörigkeitsquoten in anderen Berufsfeldern wie der Medizin (45 Prozent) oder der
Rechtswissenschaft (35 Prozent). Allerdings war der Zuspruch größer im Vergleich zur
Gesamtbevölkerung, von der jeder zehnte der Partei beitrat.46
***
Die leicht überdurchschnittliche Zustimmung lässt sich womöglich darauf zurückführen, dass die
Musikpolitik der Nationalsozialisten in wesentlichen Punkten die Agenda des Musiker-Verbands
aufgriff und teils auch umsetzte – wenn man so will, ausnahmsweise mal linke Politik im rechten
Gewande und nicht umgekehrt.47 Schon die Organisation der Reichsmusikerschaft stand in der
Tradition der zerschlagenen Musikergewerkschaft: Nicht nur bezog Havemann mit seiner
45 Die jeweiligen Affären sind soweit bekannt, dass sie hier nicht noch einmal dargestellt werden müssen. Vgl. Kater,
Muse; Steinweis, Art. Zu Raabe und Graener vgl. Okrassa, Peter Raabe; Dommann, Graener. 46 Vgl. Steinweis, Art, S. 29f. Kater kommt, basierend auf anderer Quellengrundlage, zur selben Einschätzung von
20 Prozent, vgl. Kater, Twisted Muse, S. 11. Anteile der anderen genannten Berufe nach Jarausch, Konrad H. u.
Gerhard Arminger, The German Teaching Profession and Nazi Party Membership: A Demographic Logit Model, in:
The Journal of Interdisciplinary History 20. 1989, S. 197–225, hier 201f.; 223f 47 Dieses Argument hat wohl Götz Aly am profiliertesten ausbuchstabiert in letzter Zeit, vgl. ders., Hitlers
Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 49– 90. Einschränkend ist
hinzuzufügen, dass er diese Politik vor allem aus der Sicht des Staates schildert und zudem die Kriegszeit für seine
Darstellung ganz zentral ist.
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Abteilung das beschlagnahmte Verbandsgebäude in Berlin-Mitte. Auch die Gliederung lehnte sich
mit der Aufteilung in Orchester- und Ensemblemusiker, in Musikerzieher und Kirchenmusiker an
jene des Musiker-Verbandes an; neu war lediglich die Fachschaft der Kapellmeister und Solisten,
während die alte Gruppe III der Freistehenden, wo sich gegen Ende der Weimarer Republik die
Arbeitslosen gesammelt hatten, abgeschafft bzw. mit den Ensemblemusikern zusammengeführt
worden war. Augenfällig wurde diese Kontinuität besonders in der Gestaltung der Fachzeitschrift
Musik im Zeitbewußtsein, die sich seit Anfang 1935 wieder klar an der untergegangenen Deutschen
Musiker-Zeitung orientierte.48
Trotz der Dominanz der konservativen Kräfte in der Reichsmusikkammer widmeten sich
die ersten durchgreifenden Reformen überwiegend dem Bereich der Ensemble- und
Unterhaltungsmusik, wo die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt am härtesten war.49 Die anfangs
durchgeführten „Aufnahmeprüfungen“ in die Reichsmusikkammer zielten in erster Linie darauf
ab, Dilettanten zu identifizieren und ihnen die sogenannte braune Karte, den obligatorischen
Mitgliedsausweis für professionelle Musiker bei der Kammer, zu verwehren. Berichten zufolge
stellten sich diese Prüfungen als durchaus effektiv heraus, wobei komische Begebenheiten nicht
ausblieben, etwa, als ein Prüfling die Bayreuther Festspiele als eine Komposition Richard Wagners
angab oder ein anderer per Fragebogen ausrichten ließ: „Ich möchte nur wissen, was mein Beruf
mit Beethoven zu tun hat.“50
48 Der Grund für die Neugestaltung ist mir im Moment noch unklar. Womöglich hatte es etwas mit Schriftleiter
Hernrieds Rausschmiss zu tun. Jedenfalls war Mahlings Abgang später (Juni 1935); das gleiche gilt für Havemann. 49 Eine Ausnahme bildete die 1934 im Urheberrecht auf Strauss‘ Betreiben hin vorgenommene Verlängerung der
Schutzfristen von Kompositionen von 30 auf 50 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Damit einher ging eine Reform
des Verteilungsplans der STAGMA zugunsten von Komponisten sogenannter ernster Musik. 50 Karl Stietz, Berufsbereinigung. Prüfungen, Ergebnisse, Folgerungen, in: Musik im Zeitbewußtsein Nr. 16/17,
20.4.1935, S. 10–12. Die Prüfungen sollten lediglich in strittigen Fällen durchgeführt werden. Vgl. dazu
Prüfungsausschüsse bei den Landesmusikerschaften, in: Amtliche Mitteilungen der RMK Nr. 13, 18.4.1934.
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Ganz allgemein hieß Wettbewerbsentzerrung das Gebot der Stunde: Laien wurde es
verboten, öffentlich oder gegen Entgelt aufzutreten;51 Nebenberufler wurden zwar von der
Mitgliedschaft bei der Kammer befreit, mussten jedoch einen Tagesausweis erwerben, wenn sie
auftreten wollten; das Engagement von Kapellen in Kurorten wurde gleichfalls an eine
Genehmigung gebunden, die all jenen Orchestern verwehrt werden sollte, die ganzjährig anderswo
verpflichtet waren oder deren Heimatort weit entfernt war; bayerische Volksbräuche wurden vor
Entstellung geschützt; den Rundfunkorchestern wurde jenseits von Werbeveranstaltungen jegliche
Konzerttätigkeit außerhalb der Sendeanstalten untersagt; schließlich wurde die Aufnahme von
Nichtariern in die Kammer an eine besondere Prüfung gebunden, da sie als „Träger deutschen
Kulturgutes“ grundsätzlich nicht in Betracht kämen.52 Der unbedingte Wille, die „Befriedung der
wirtschaftlichen Verhältnisse im Musikleben“ rasch herbeizuführen, wie die entsprechenden
Maßnahmen teils offiziell hießen, war unübersehbar.
Wer allerdings glaubte, mit dieser Art staatlicher Regulierung die Strukturprobleme auf
dem musikalischen Arbeitsmarkt in kurzer Zeit lösen zu können, die in unterschiedlichen
Variationen seit fast 50 Jahren bestanden hatten, sah sich bald eines besseren belehrt. Trotz aller
Kontrollwut des NS-Regimes haperte es bei den Maßnahmen gegen Laien und Nebenberufler an
der effektiven Umsetzung.53 Goebbels kam relativ bald auf den Trichter, es mit der Regulierung
und Professionalisierung der Künste nicht allzu weit treiben, auch um die Freunde der Laienmusik,
51 Allerdings waren Feste, Feiern und Märsche davon ausgenommen, weshalb diese Bestimmung sich eher negativ
für freistehende Berufsmusiker ausgewirkt haben dürfte, weil diese Anlässe wichtige Gelegenheiten zum Broterwerb
darstellten. Vgl. Vereinbarung zwischen der Reichsmusikkammer und der Reichsleitung des Arbeitsdienstes, in:
Amtliche Mitteilungen der RMK Nr. 8, 7.3.1934, S. 25. 52 Vgl. Zweite Anordnung zur Befriedung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Musikleben, in: Amtliche
Mitteilungen der RMK Nr. 15, 2.5.1934, S. 49; Richtlinien für die Aufnahme von Nichtariern in die Fachverbände
der RMK, in: ebd., Nr. 14., 25.4.1934, Anhang (o.S.). zur Kursache und zum Rundfunk im Moment noch Vermerk
Rechtsverhältnisse der Musikpflege, 26.10.1943, in: BArch R 36/2391. 53 Beispielsweise wurden allein in Berlin im Laufe von drei Monaten fast 400 Verstöße von Nebenberuflern
festgestellt, was allerdings nur die Spitze des Eisbergs gewesen sein dürfte. Vgl. Kontrollabteilung der
Landesmusikerschaft Berlin-Brandenburg, Sonderbericht, 28.9.1934, in:
Landesarchiv Berlin (LAB), A Pr. Br. Rep 243-01 Nr. 314, Bl. 2.
20
die zahlenmäßig die Berufsmusiker um ein Vielfaches überstiegen, nicht dauerhaft vor den Kopf
zu stoßen. Im November 1935 ließ er die Aufnahmeprüfungen wieder fallen, und zwei Jahre später
wurden auch die offiziellen Regelungen zur Einschränkung der Laienmusik deutlich gelockert.54
Mit der Rücknahme der Eingangstests kehrte Goebbels zugleich, wenn auch sehr wahrscheinlich
unbewusst, zur Verbandspolitik der früheren Musikergewerkschaft zurück, die im Gegensatz zu
anderen Berufsverbänden sich stets geweigert hatte, die Mitgliedschaft von der künstlerischen
Befähigung abhängig zu machen.
Eine noch eindeutigere Kontinuität zur Politik des Musiker-Verbands wies die erste
substanzielle Maßnahme auf, die das NS-Regime für Musiker im Unterhaltungsbereich vornahm:
die Verabschiedung von neuen Tarifordnungen. Sie galten jeweils lediglich für ein Land, waren
aber abgesehen von den Lohnmindestsätzen weitgehend identisch. Die Ordnungen, die auf Cafés,
Kabaretts, Bars, Restaurants und Weinstuben, nicht aber für Varietés, Kur- und Kulturorchester
Anwendung fanden, fixierten endgültig einige Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen, für die
der Musiker-Verband in den Zwanzigerjahren vehement gekämpft hatte, und die teilweise auch
schon eine Umsetzung erfahren hatten.55 Dazu gehörte insbesondere die Klarstellung, dass der
Lokalinhaber alleiniger Arbeitgeber der Musiker sei, eine Regelung, die in der späten Weimarer
Republik sich im Zuge der Rechtswegs bereits eingebürgert hatte. Daneben wurde der freie Tag in
der Woche unter der Bedingung rechtsverbindlich, dass die Musiker mindestens sechs Stunden pro
Tag beschäftigt waren. Auch einen Urlaubsanspruch bestimmte die Tarifordnung, wenngleich
dieser relativ gering ausfiel mit lediglich sechs Tagen im ersten Anstellungsjahr. Die Löhne waren
zwar relativ niedrig angesetzt, allerdings verstanden sie sich als Mindestsätze, und zudem mussten
Gaststättenbetreiber fortan Monatsgehälter zahlen, was genauso ein Anliegen des Musiker-
54 Vgl. dazu im Detail Steinweis, Art, S. 89f. 55 Vgl. dazu Kap. 8. Gut zusammengefasst sind die Forderungen des Verbandes in: Musikerkalender, hg. vom
Deutschen Musikerverband, Berlin 1928, S. 133–35.
21
Verbands gewesen war wie die Regelung der Höchstarbeitszeit, Pausen- und
Überstundenregelung.56
Es ist müßig, die Frage nach dem Ausmaß einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen im
Detail beantworten zu wollen. Insgesamt dürfte der Arbeitsalltag eines Ensemblemusikers im Jahr
1926 und zehn Jahre später relativ geringe Unterschiede aufgewiesen haben. Wichtiger ist die
Einsicht, dass die angeblich „erste Tarifordnung,“ ideologisch verbrämt als „vom Geist des
Nationalsozialismus diktierten Buchstaben“, welche nun „mit dem Blute nationalsozialistischer
Lebensauffassung zu tränken“ wären, dass dieses Regelwerk so gar nichts Ideologisches an sich
hatte. Vielmehr knüpfte es nahtlos an die Positionen der Musikergewerkschaft an, die sich bereits
zehn Jahre zuvor für einen einheitlichen, musikerfreundlichen Reichstarif stark gemacht hatte.57
Sicherlich war auch die Durchsetzung der Tarifordnung mit Problemen behaftet. Doch
diejenigen Musiker, die ihre neuen Rechte kannten, fanden in den Rechtsstellen der
Reichsmusikkammer einen zuverlässigen Anwalt ihrer Interessen – zumindest sofern ihre Anliegen
rein arbeitsrechtlicher Natur waren und keine Anhaltspunkte für politisch-ideologisches
Fehlverhalten aufwiesen. Der Jurist Hermann Voss, der in Köln für die Rechtsberatung und -
vertretung von Musikern zuständig war und in der frühen Bundesrepublik noch eine große
Funktionärskarriere vor sich haben sollte, erinnerte sich, dass er vor allem gegen Gaststätten
vorgehen musste, welche Musikern ihren dienstfreien Tag in der Woche vorenthielten.58 Sogar
noch mitten im Krieg kümmerte sich die Kammer um die Anliegen des „kleinen Musikers“. So
wurde dem im Bordorchester der Wilhelm Gustloff angestellten Musiker Alfred Wahnschaffe im
56 Vgl. Tarifordnungen für Niedersachsen, Rheinland, in: Amtliche Mitteilungen der RMK Nr. 3, 13.2.1936, S. 15. 57 Hermann Stuckenbrock, Die praktischen Auswirkungen der Tarifordnung, in: Musik im Zeitbewußtsein Nr. 29,
20.7.1935, S. 8f. Vgl. auch Stern, Wilhelm, Der Berufsmusiker, insbesondere seine Stellung als Kapellenmitglied,
Köln 1939, S. 23–26. Es ist ein typisches Beispiel dafür, dass die Propaganda nationalsozialistischer Medien in der
Sekundärliteratur nicht kritisch genug hinterfragt worden ist. Dieses Problem benennt auch treffend Potter, Art of
Suppression, S. xy? 58 Vgl. Prieberg, NS-Staat, S. 185f. Zur weiteren Karriere von Voss als Gründungsgeschäftsführer der Deutschen
Orchestervereinigung vgl. Kap. 11.
22
Frühjahr 1942 zu seinem Recht verholfen, nachdem dieser fristlos mit der Begründung entlassen
worden war, dass für weitere Veranstaltungen die Kohlen fehlten. Dieses Unternehmerrisiko, so
die Belehrung aus Berlin, dürfe nicht auf die Musiker abgewälzt werden; der Schaden sei zu
ersetzen.59
Im Vergleich zu den Ensemblemusikern tat sich in der Fachschaft der Orchestermusiker
zunächst relativ wenig, ganz zum Verdruss ihrer Mitglieder, die freilich verhalten, aber in der
Sache unzweideutig ihren Unmut auch zum Ausdruck brachten. Sie hatten auch einigen Anlass
dazu, denn die oben skizzierten Gehaltskürzungen und sonstigen Sonderregelungen an Theatern
und Orchestern, die von Ländern und Gemeinden im Zuge des Notverordnungsrechts 1931/32
erwirkt wurden, waren vielerorts noch immer in Kraft. Wie oben dargestellt, hatten sie u.a. dazu
geführt, dass Orchestermusiker bis zu 35 Prozent weniger Gehalt oder Pension bezogen als
vergleichbar eingestufte Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst. Mehr als zwei Jahre nach
der Machtergreifung versuchte Orchestermusiker Hermann Becker die Bestellung des
Sondertreuhänders für Arbeit seinen Kollegen als Fortschritt in dieser Angelegenheit zu verkaufen;
recht gelingen wollte es ihm nicht. Tatsächlich sollte es noch einmal weitere drei Jahre dauern, ehe
die Tarifordnung für Kulturorchester zum 1. Mai 1938 in Kraft trat. Hätten die Orchestermusiker
Hitlers Vierjahresversprechen vom 1. Februar 1933 wörtlich genommen, ihr Urteil wäre
vernichtend ausgefallen.60
Es klang fast wie eine Entschuldigung, als Havemanns Nachfolger als Geschäftsführer der
Reichsmusikerschaft, Hermann Henrich, im Frühjahr 1938 endlich den Abschluss der
59 Vgl. Leiter der Rechtsstelle an Frontbühne Borderorchester M/S „Wilhelm Gustloff“, 11.2.1942, in: LAB, A Pr.
Br. Rep 243-01 Nr. 82, Bl. 1. Zimmereiner an Wahnschaffe, 16.4.1942, in: ebd., Bl. 2. 60 Vgl. Hermann Becker, Anstellungs- und Besoldungsfragen der deutschen Kulturorchester, in: Musik im
Zeitbewußtsein Nr. 28, 13.7.1935, S. 3.Vgl. dazu auch Alfred Erdmann, Sind die Notverordnungsmaßnahmen für die
Mitglieder der deutschen Kulturorchester in der heutigen Zeit noch aufrecht zu erhalten?, in: Die Musikwoche Nr.
40, 5.10.1935, S. 4f. Hitler sagte wörtlich im Rundfunk:„Nun deutsches Volk, gib uns Zeit von vier Jahren, und dann
urteile und richte uns!“ Zit. nach Benz, Wolfgang, Dritten Reiches, S. 95.
23
Tarifordnung verkündete und ihre Grundzüge erläuterte. Es bedürfe eigentlich keiner Begründung,
„daß im nationalsozialistischen Staat eine Diskussion im parlamentarischen Sinn in kleinem oder
größeren Kreise nicht in Frage kommt“, schrieb er in der Musikwoche. Gerade weil sich aber so
viele Betroffene im Vorfeld zu Wort gemeldet hätten mit Fragen, Anregungen und Kritik, hätte es
auch so lange gedauert, um diese enorm komplexe Materie gänzlich zu überblicken und eine
gerechte und beständige Lösung für alle Kulturorchester zu erarbeiten. Das letztendlich festgelegte
Arrangement, das eine einheitliche Tarifordnung in Verbindung mit der Gründung einer
Versorgungsanstalt für alle öffentlich-rechtlich finanzierten Orchester vorsah, schuf nach Ansicht
Henrichs erstmals „einen wirklichen Berufsstand des deutschen Orchestermusikers“ von der
„Kulturzelle“ des Stadtorchesters in der Provinz bis zur „Spitze des stolzen Pyramidenbaus“ der
führenden Klangkörper in der Metropole.61
Mit der neuen Tarifordnung erfuhr ein weiterer Baustein der gewerkschaftlichen Agenda
aus der Republikzeit eine Umsetzung, denn mit ihr ging die Abschaffung des Berufsbeamtentums
im Orchester einher. Dessen Bewahrung und Ausweitung war dagegen wesentliches
Gründungsmotiv und letztlich heilige Kuh des Reichsverbands der Orchestermusiker gewesen.
Noch kurz vor der Verkündigung der Neuregelung hatte besagter Erdmann das Beamtentun von
Orchestermusikern noch einmal verteidigt mit dem Argument, dass diese „als öffentliche
Kulturträger obrigkeitliche Funktionen“ wahrnehmen würden.62 Es spricht vieles dafür, dass sich
just wegen dieser Frage die Verabschiedung so lange hinauszögerte, denn auch Präsident Raabe,
der zugleich der Reichsmusikerschaft vorstand, war ein Anhänger des Berufsbeamtentums.63
61 Hermann Henrich, Der Sinn der Tarifordnung, in: Die Musikwoche Nr. 15, 9.4.1938, S. 245f. Diese Zeitschrift
löste im September 1935 Musik im Zeitbewußtsein ab. 62 Alfred Erdmann, Was die deutsche Orchestermusikerschaft vom Jahre 1937 erwartet, in: Die Musikwoche Nr. 4,
23.1.1937, S. 1f. 63 Offensichtlich hatte Raabe jedoch wenig Einfluss auf diese Angelegenheit. Dafür spricht nicht nur das Ergebnis,
sondern auch, dass die Tarifordnung in Raabes Standardbiographie lediglich gestreift wird. Vgl. Okrassa, Peter
Raabe, S. 323.
24
Ein näherer Blick in die Tarifordnung selbst lässt darüber hinaus erkennen, dass der zuletzt
gültige, 1928 zwischen Musiker-Verband und Bühnenverein ausgehandelte Tarifvertrag, der im
Übrigen übergangsweise auch im NS-Regime Anwendung gefunden hatte, als Vorbild diente: Sei
es die Probenzeit von 3 Stunden, die Regelungen zum dienstfreien Tag, oder die Ruhepausen vor
und nach den Aufführungen – viele Bestimmungen wurden weitgehend unverändert
übernommen.64 Andere Bereiche wurden zugunsten der Musiker verbessert, etwa die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, die je nach Dienstalter teils ganz erheblich verlängert wurde,
die Verlängerung des garantierten Urlaubs auf drei Wochen, die grundsätzliche Anstellung auf
unbestimmte Zeit oder die reguläre Kündigungsfrist, die auf sechs Monate ausgedehnt wurde.65
Wirklich neu an der Tarifordnung war in erster Linie die zentrale Festlegung der Vergütung
im Zuge eines gestuften Gehaltsgefüges. Die Kulturorchester wurden je nach ihrer künstlerischen
Leistungsfähigkeit in fünf Klassen plus Sonderklasse eingeteilt, in denen jeweils dieselben
Gehaltsstrukturen griffen. Die Standardisierung brachte jedoch keineswegs notwendigerweise
finanzielle Verbesserungen für alle Orchestermusiker mit sich, und dort, wo es dazu kam, schien
die Gehaltssteigerung sehr gering.66 Stattdessen musste das Tarifwerk in gewissem Umfang sogar
einen Bestandsschutz gewähren für bereits angestellte Musiker, die ansonsten schlechter gestellt
worden wären. Dementsprechend bemühte Henrich in seiner Erläuterung (genauso wie die
Tarifordnung selbst in der Präambel) die „nationalsozialistische Weltanschauung“ und appellierte
an das Künstlerethos im Orchestermusiker, das keine „kleinlichen Einzelinteressen“ kennen würde,
„wenn er auch einmal ein paar Mark weniger zu bekommen glaubt.“67
64 Vgl. Anonymus, Der neue Schlichterspruch im Bühnentarifstreit, in: DMZ Nr. 26, 30.6.1928, S. 561–65. Zur
übergangsweisen Anwendung vgl. Hermann Henrich, Der Sinn der Tarifordnung, in: Die Musikwoche Nr. 15,
9.4.1938, S. 245f. 65 Vgl. Tarifordnung für die deutschen Kulturorchester, in: Reichsarbeitsblatt VI Nr. 14, 1938, S. 597–600; 66 Dies impliziert zumindest die Tabelle Einkommen der Orchestermitglieder nach der bisherigen und nach der
neuen Regelung, o.D. [Dez. 1938], in: BArch R 55/199, S. 16, die die Lohnsteigerungen für ein Orchester der
Sonderklasse aufzeigt. Sie lagen überwiegend im niedrigen zweistelligen Bereich pro Monat. 67 Hermann Henrich, Der Sinn der Tarifordnung, in: Die Musikwoche Nr. 15, 9.4.1938, S. 245f.
25
Letztlich hing das Gehalt der Musiker von der Eingruppierung des Orchesters ab, die die
lokalen Träger vornahmen und durch den Sondertreuhänder der Arbeit lediglich bestätigt werden
sollten. Genau hierbei kam es jedoch zu immensen Problemen, weil viele Kommunen, klamm wie
Kirchenmäuse, ihre Orchester niedriger einstufen lassen wollten als geplant oder sogar zur Gänze
Dispensierung erbaten. Die eigentliche Idee, mit der arbeitsrechtlichen Tarifordnung zugleich eine
künstlerische Hierarchie der deutschen Orchesterlandschaft herzustellen, war damit obsolet
geworden, ehe sie überhaupt realisiert worden war. Der zuständige Sondertreuhänder spielte clever
den schwarzen Peter an die örtlichen Behörden zurück, indem er die Einstufung in den unteren drei
Klassen diesen selbst überließ, wodurch etwaig aufkommende Proteste vor Ort verhandelt werden
mussten.68
Neu an der Tarifordnung und wirkungsgeschichtlich wohl am folgenreichsten war
schließlich die rechtliche Fixierung der sogenannten Kulturorchester auf der Grundlage
musikästhetischer Gesichtspunkte. Sie wurden definiert als „Orchesterunternehmen, die
regelmäßig Operndienst versehen oder Konzerte ernst zu wertender Musik spielen.“ Schon
Orchester, die überwiegend Operette spielten, fielen nicht mehr unter den Geltungsbereich der
Tarifordnung. Im Zweifelsfalle blieb die Entscheidung dem Sondertreuhänder vorbehalten. 69 Neu
war daran nicht so sehr der Begriff, der, soweit ersichtlich, anfangs der Weimarer Republik zum
ersten Mal auftauchte und im Laufe der Zwanzigerjahre immer gebräuchlicher wurde, um jene
Orchester zu bezeichnen, die von der öffentlichen Hand finanziert wurden.70 Auch die
68 Vgl. Rüdiger an Goebbels, 16.12.1938, in: BArch R 55/199; IB an Goebbels, 21.12.1938, in: ebd.; vgl. dazu auch
Steinweis, S. 81f. 69 Tarifordnung für die deutschen Kulturorchester, in: Reichsarbeitsblatt VI Nr. 14, 1938, hier S. 597. 70 Der früheste mir bekannte Nachweis ist die Verwendung des Begriffs in einem Antrag der ehemaligen
Hoforchester Berlin, Wiesbaden, Kassel und Hannover, an die preußische Landesregierung vom Juni 1920, die
Orchestermitglieder als vollwertige Beamte in Stufe 8 der Besoldungsordnung einzugruppieren. Wörtlich hieß es
darin, „die Erhaltung der Kulturorchester ist für den Staat eine dringende Notwendigkeit, von der heutigen […]
aufgeklärten Zeit muß gefordert werden, daß endlich mit den veralteten Anschauungen, welche den Musikern
zugebilligt wird, gebrochen werden muß.“ Zit. nach C. Draegert, Den Manen Albert Diedrichs, in: DMZ Nr. 47,
21.11.1925, S. 1147f. Auch unter den Orchestermusikern des Musiker-Verbands wurde der Begriff immer öfter
26
Unterscheidung zwischen hochkultureller Musik und leichter Muse war nichts, was dem
Arbeitsrecht von Musikern in der Wendung vom „höheren Kunstinteresse“ bereits seit
Kaiserreichzeiten nur allzu bekannt gewesen war. Wirklich neu an diesem Regelwerk war, dass es
ebenjenes „höhere Kunstinteresse“ isolierte und dadurch nicht nur Programmpolitik im
Tarifverordnungswege betrieb, sondern maßgeblich in die nach wie vor recht buntscheckige
Orchesterlandschaft eingriff. Die Bitten mittlerer und kleinerer Gemeinden, auf eine Einstufung
verzichten zu wollten, rührten eben nicht nur aus finanziellen Nöten heraus, sondern hatten auch
damit zu tun, dass die jeweiligen Kapellen bislang musikalisch breiter aufgestellt waren, als es die
neue Kulturorchesterdefinition erlaubte. Die Kommunen waren demnach vor die Wahl gestellt,
entweder als provinzielle Kulturbanausen zu gelten, die sich kein „Kulturorchester“ leisten wollten,
oder aber einen Klangkörper zu subventionieren, der ausschließlich den Musikgeschmack einer
relativ dünnen (Ober-)Schicht bediente.71 Die Tarifordnung von 1938, die bis heute das Gerüst für
die Gehälter von Orchestermusikern in Deutschland geblieben ist, schuf somit den Gegenstand bis
zu einem gewissen Grade überhaupt erst, den sie regeln sollte: die einzigartige
Kulturorchesterlandschaft, für die Deutschland heute noch weltweit bekannt ist.72
verwandt, vgl. zum Beispiel Anonymus, Luft-Kulturorchester?, in: DMZ Nr. 36, 4.9.1926, S. 847f; Anonymus,
Aufbau im Abbau, in: DMZ Nr. 17, 26.4.1930, S. 345. Daran zeigt sich, dass die Begriffsgeschichte komplexer ist,
als es Lutz Felbick in seinem einseitigen und teils fehlerhaften Artikel ausführt: Er vertritt, dass der Reichsverband
der deutschen Orchester den Begriff 1926 erfunden hätte, und dieser deshalb schon zu Weimarer Zeiten
ausschließlich mit deutschnationalem Gedankengut und entsprechender Musikästhetik aufgeladen gewesen sei, vgl.
ders., Das „hohe Kulturgut deutscher Musik“ und das „Entartete“ – über die Problematik des Kulturorchester-
Begriffs, in: Zeitschrift für Kulturmanagement 2. 2015, S. 85–115. Insofern ist auch der von Felbick erstellte
entsprechende Wikipedia-Eintrag mit Vorsicht zu genießen. 71 Noch zwei Jahre vor der Festlegung der Tarifordnung wurde in der Musikwoche ein Loblied auf die Flexibilität der
Orchester der Kleinstadt (in diesem Fall bis zu 50.000 Einwohner) gesungen, die als Sinfonieorchester, Tanz-
Ensemble, Kurorchester und Kirchweihkapelle zum Einsatz kamen: „Der Orchestermusiker der kleinen Stadt bildet
also eine Personalunion aller verschiedenen Unterteilungen der RMK.“ Günther Köhler, Der Orchestermusiker im
Kulturleben der Kleinstadt, in: Die Musikwoche Nr. 7, 15.2.1936, S. 2f. 72 Vgl. dazu auch Felbick, Kulturgut, v.a. S. xy…Ohne Zweifel spielen die Sinfonieorchester in Deutschland im
Vergleich zu anderen westlichen Ländern wie den USA oder England in weit geringerem Ausmaß Programme der
leichten Musik.
27
Dass die Idee des Kulturorchesters aus der Perspektive vieler Musiker eine Vision
musikästhetischer Puristen blieb, zeigt sich nicht zuletzt an denjenigen öffentlich subventionierten
Orchestern, die es nach wie vor gewohnt waren, im Sommer als Kurkapelle dem Publikum in den
Urlaub zu folgen und dort für musikalische Unterhaltung zu sorgen. Es war immerhin die Hälfte
aller als Kulturorchester eingestuften Klangkörper. Die Entlohnung nach der neuen Tarifordnung
hätte die Kurorte in den finanziellen Ruin getrieben, sodass all diese Orchester im Winter nach
Kulturtarif, im Sommer dagegen nach wie vor nach dem niedrigeren Kurtarif bezahlt wurden. Der
Deal lautete, dass die Bäderverwaltungen zumindest die Sozialleistungen der Kulturorchester
weiterzahlten, welche für Kurkapellen eigentlich nicht vorgesehen waren. Im Gegenzug erhielten
sie freie Hand in der Programmpolitik.73 Die Umsetzung einer „reinen“ Kulturorchesterlandschaft
im Sinne der Definition, wie sie das Regime vorgenommen hatte, blieb insofern ein Wunschtraum.
Zur vollen Blüte entwickelte sie sich erst in der Bundesrepublik.
***
Welche Folgen zeitigten nun all diese Reformmaßnahmen? Zunächst: Frauen profitierten von den
neuen Tarifordnungen kaum. An ihrem äußerst geringen Anteil in den Sinfonieorchestern wie
allgemein an ausübenden Musikern hatte sich so gut wie gar nichts geändert, im Gegenteil: Die
Anzahl von angestellten Musikerinnen ging von mehr als 5.300 im Juni 1933 um etwa ein Drittel
auf gut 3.500 im Mai 1939 zurück. Im Gegensatz dazu legten selbständige Musiklehrerinnen zu,
von 9.100 auf fast 12.400.74 Demnach hatten Musikerinnen, die auf die Bühnen strebten, auch vom
neuen Regime wenig zu erwarten, was nicht weiter verwundert bei einer Familienpolitik, die unter
73 Vgl. Flügel, Vermerk, in: BArch R 55/199, Bl. 61. 74 Vgl. Tabellen 1 bis 3 im Anhang.
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anderem zinslose Kredite an Ehemänner ausgab, sofern deren Frauen die Arbeit aufgaben oder erst
gar keine annahmen.75 Das Berliner Frauen-Kammerorchester, das 1934 gegründet wurde, blieb
bis Kriegsausbruch das einzige seiner Art und diente mit Auftritten im Ausland sowie bei
Veranstaltungen von Kraft durch Freude und der nationalsozialistischen Kulturgemeinde in erster
Linie Propagandazwecken. Erst nach Ausbruch des Krieges wurden Stimmen lauter, die in
Erinnerung an den Ersten Weltkrieg Frauen an die Instrumente riefen und detaillierte Vorschläge
zur Gründung von reinen Frauen-Sinfonie-Orchestern machten. Insgesamt stießen solche Ideen auf
wenig Resonanz; die infolge von Einberufungen freiwerdenden Stellen wurden weit öfter mit
Ausländern besetzt. Mit dem im Oktober 1939 gebildeten Wiener Frauensymphonieorchester,
gleichfalls ein reines Streicherensemble, kam es lediglich zu einer einzigen weiteren Gründung
eines größeren Ensembles.76
Der Rückgang angestellter Musikerinnen folgte ganz dem Trend einer beträchtlichen
Schrumpfung des musikalischen Arbeitsmarktes allgemein: 1939 gab es weniger hauptberufliche
Stellen für Musiker als 1925, obwohl die Reichsbevölkerung im selben Zeitraum um fast 30
Prozent von 62 auf 79 Millionen anstieg, nicht zuletzt bedingt durch die Reintegration des
Saarlandes, den Anschluss Österreichs sowie die Besetzung des Sudetenlandes, die allesamt von
der Berufszählung von 1939 erfasst wurden. Insgesamt, das heißt haupt- und nebenberuflich
erwerbstätige Musikerinnen und Musiker addiert, schrumpfte das Berufsfeld zwischen 1933 und
1939 um etwas mehr als 3.000 Personen von etwa 119.500 auf knapp 116.300 Erwerbstätige. Die
Anzahl der nebenberuflichen Musiker nahm im selben Zeitraum deutlich zu, was fast
75 Benz, Dritten Reiches, S. 96f. 76 Vgl. Friedel, Claudia, Frauenensembles im Dritten Reich, in: Info / Frau und Musik, Internationaler Arbeitskreis
e.V.: Archivnachrichten 19. 1990, S. 1–10; Prieberg, NS-Staat, S. 295. Zu den Vorschlägen vgl. Wilhelm Altmann,
Frauen – Orchester?, in: Allgemeine Musikzeitung Nr. 46, 17.11.1939, S. 619–21. Die Redaktion fühlte sich
bemüßigt, sich von Altmann zu distanzieren. Auch Peter Raabe war ein Befürworter der Frauenorchester nach
Ausbruch des Krieges. Zu Wien vgl. Othmar Wetchn, Wiener Frauensymphonieorchester, in: Die Musikwoche Nr.
30, 20.9.1941, S. 309. Zur Besetzung von freiwerdenden Stellen mit Ausländern vgl. ausführlich Kap. 10.
29
ausschließlich darauf zurückzuführen war, dass nun viele Männer anfingen, nebenher
Musikunterricht zu geben oder anderweitig freischaffend als Musiker zu arbeiten.77 Hauptberuflich
angestellte Musiker gab es 1939 noch knapp 49.000. Damit standen zwar wieder gut 13.000 mehr
Musiker in Lohn Brot im Vergleich zu 1933; die übrigen 16.000, die 1933 als arbeitslose abhängig
Beschäftigte gezählt wurden, gingen der Musik jedoch nur noch nebenbei nach oder hatten sogar
das Berufsfeld ganz verlassen.78
Diese Zahlen, so sperrig sie zu lesen sind, lassen letztlich nur den Schluss zu, dass
ungeachtet aller Reformbemühungen der Reichsmusikkammer und den
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Deutschen Arbeitsfront, welche insbesondere durch ihre
Organisation Kraft durch Freude initiiert wurden, der Musikerberuf generell an Attraktivität
einbüßte.79 Natürlich war diese Entwicklung auch auf Faktoren zurückführen, die nicht in der
Verantwortung des NS-Staates lagen, wie etwa die fortschreitende Mechanisierung der Musik und
das Absterben der Stummfilmkultur.80 Entscheidender dürfte dennoch zum einen die
segregierende, zaghafte, und teils recht spät einsetzende Reformpolitik des NS-Staates gewesen
sein. Zum anderen stand das Wohl von Musikerinnen und Musikern in einer auf Autarkie und
Aufrüstung ausgerichteten Wirtschaftspolitik, die sich spätestens seit dem Nürnberger
Reichsparteitag vom September 1936 in den Dienst der Kriegsvorbereitung stellte, auch relativ
weit hintan. Hermann Blume hatte diesen Umstand bereits 1934 erkannt, als er den vielen
77 Dieser Anstieg ist nicht einfach zu erklären. Dass er nur mit der territorialen Expansion zu tun hat, ist eher
unwahrscheinlich, denn laut Prieberg gab es in Österreich viel weniger Musikschüler als angenommen, vgl. Prieberg,
NS-Staat, S. 296. Hinzukommt, dass die RMK die Erteilung von Musikunterricht an eine Eignungsprüfung knüpfte,
was diese Entwicklung umso mehr erklärungsbedürftig macht. Insofern suggerieren diese Zahlen die geringe
Durchsetzungsmacht der RMK, vor allem aber eine gewisse empirische Evidenz jenseits der Selbstdarstellung durch
NS-Funktionäre, dass die Hausmusik in den Dreißigerjahren (wieder) mehr gepflegt wurde. Vgl. zu deren
Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert Applegate, Hausmusik. 78 Vgl. Anhang Tabelle 1. 79 Zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vgl. im Detail Steinweis, Art, S. 74–79. 80 Dies zeigt sich auch im Vergleich mit anderen Staaten wie Großbritannien oder den USA???
30
Musikern, die sich bislang vom neuen Staat übergangen fühlten, zurief, dass es ja keinen Zweck
hätte, „etwa den Arbeitskolonnen der Reichsautostraßen […] Musikkapellen zuzuteilen.“81
Insofern ist es nur plausibel, dass viele Musiker ihren erlernten Hauptberuf niederlegten
und sich Arbeit in einer anderen, florierenden Branche suchten oder zumindest damit
kokettierten.82 In den Stationen des Kapellenmusikers Heinrich Bock spiegelt sich vielleicht ein
typischer Lebensweg eines einfachen Musikers durch die Dreißigerjahre wider. Nachdem Bock bei
einer SA-Kapelle kaum entlohnt worden war, kehrte er dieser den Rücken und blieb freischaffend,
also weitgehend brotlos, ehe ihn die Deutsche Arbeitsfront 1936 für eine Schiffskapelle auf einem
Feriendampfer anheuerte. Der Kriegsausbruch beendete abrupt dieses Engagement; Bock ging in
eine Rüstungsfabrik und ließ sich zum Propeller-Dreher ausbilden.83 Demgegenüber klagte ein
junger Orchestermusiker, der sein Handwerk noch in einer städtischen Lehrlingskapelle gelernt
hatte und unbedingt Karriere in einem „Kulturorchester“ machen wollte, über fehlende soziale
Mobilität und Aufstiegschancen. Die Verantwortlichen dieser hochkulturellen Institutionen
würden Bewerbungen von Musikern aus überlebten Stadtpfeifen erst gar nicht prüfen; die dort
üblichen bescheidenen Einkünfte würden allerdings kaum zum Leben reichen.84
Andere wiederum blieben ihrem Beruf zwar grundsätzlich treu, wechselten aber die
Berufskleidung und verschwanden dadurch aus der Zivilstatistik. Mit der Wiedereinführung der
Wehrpflicht im März 1935 setzte ein massiver Neuaufbau der Wehrmacht ein, der natürlich auch
die Militärmusik betraf. Zahlreiche neue Regimentskapellen wurden gebildet und deren Stärke um
10 Mann auf 37 Musiker erhöht. Der Aufbau von qualitativ hochstehenden Blasorchestern bei der
81 Hermann Blume, Arbeit, Arbeit! Das Gebot der Stunde, in: Musik im Zeitbewußtsein Nr. 36, 8.9.1934, S. 1.
Hermann Blume war zu diesem Zeitpunkt Sonderbeauftragter für Musikwesen beim Reichsarbeitsminister. 82 Vgl. Benz, Dritten Reiches, S. 105f. 83 Vgl. Bock, Erinnerungen, in: DTAE, Reg.nr. 1656.2, S. 41f. 84 H. Gaiser, Die Not der Jungen – die Anstellung. Eine Stimme aus den Reihen der jungen Orchestermusiker, in: Die
Musikwoche Nr. 39, 24.9.1938, S. 605f.
31
neuen Waffengattung der Luftwaffe zählte zu den Lieblingsbeschäftigungen von dessen
Oberbefehlshaber Hermann Göring.85 Zudem wurde 1939 in Bückeburg die erste von mehreren
Militärmusikerschulen eingerichtet, um für angemessenen Nachwuchs zu sorgen; der wohl
prominenteste Eleve dieser Einrichtung war ein gewisser Hans Last, dem später in der
Bundesrepublik als James Last eine große Karriere bevorstehen sollte. Die Luftwaffe hatte bereits
ein Jahr vorher ihre eigene Spezialmusikschule in Sondershausen aufgemacht. Nicht zuletzt setzte
Hitler eine seit gut fünfzig Jahren bestehende Forderung der Militärmusik um und erhob die
Musikmeister in den Offiziersrang. Kurzum: das Militär war für Musiker in wenigen Jahren
(wieder) zu einer sicheren Bank geworden.86
Die Auswirkungen der abnehmenden Attraktivität des Berufsfeldes wurden noch zu
Friedenszeiten spürbar. Klagen über fehlenden Nachwuchs, insbesondere an Orchestermusikern,
nahmen zu. Nicht einmal diese selbst schienen sich darüber zu wundern, denn, so mutmaßte der
Geiger Ekkehard Vigelius, 99 von 100 Musikern würden ihrem Sohn nicht erlauben, eine
Musikerkarriere einzuschlagen: „der soll lieber etwas Gescheiteres anfangen!“, sei die
höchstwahrscheinliche Begründung.87 Tatsächlich fing das Problem bereits mit der geringen
Nachfrage nach einem Musikstudium an. „Wie sollen […] unsere Kulturorchester ihre Lücken
ausfüllen können, wenn der Wasserspiegel schon in den Reservoirs sich bedenklich senkt?“, fragte
resigniert Hanns Ludwig Kormann, Mitarbeiter an der Reichsmusikprüfstelle. Einmal mehr ein
Konzept des untergegangenen Musiker-Verbands aufgreifend, plädierte Kormann unter anderem
85 Göring war die künstlerische Anerkennung seiner Luftblasorchester derart wichtig, dass er sowohl beim
Allgemeinen Musikverein intervenierte, um sie bei den Tonkünstlerversammlungen unterzubringen, als auch bei der
STAGMA einen Sonderstellung für Komponisten erreichte, die neue Werke für seine Blasorchester komponierten.
Vgl. ADMV ; Dümling, Albrecht, Musik hat ihren Wert. 100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaft in
Deutschland, Regensburg 2003, S. 222. 86 Vgl. Panoff, Peter, Militärmusik in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1938, S. 163–88; Kandler, Georg, Zur
Geschichte der deutschen Soldatenmusik, in: Bernhard Schwertfeger u. Otto Volkmann (Hg.), Die Deutsche
Soldatenkunde, Leipzig 1937, S. 472–523, hier S. 518–23; Last ## 87 Ekkehard Vigelius, Formung und Ausbildung des Nachwuchses für die Kulturorchester, in: Die Musikwoche Nr.
23, 4.6.1938, S. 369f.
32
dafür, an den Musikhochschulen wieder Orchesterschulen einzurichten.88 Relativ zeitgleich mit
dem Übergang zum Angriffskrieg setzte so eine breite Debatte über die Reform des
Musikausbildungswesens auf allen Ebenen ein, von der Hitlerjungend und den Musikschulen zu
ebenjenen Orchesterschulen, die sich bis 1943 hinzog.89 Nicht erst der Krieg, sondern bereits die
Jahre der Kriegsvorbereitung führten zu einer spürbaren Ausdünnung des (zivilen) Berufsfeldes.
### Alltag und Freiräume jenseits der NS-Politik ###
***
So sehr die Maßnahmen der Reichsmusikkammer insgesamt darauf angelegt waren, verschiedene
Tätigkeitsbereiche von Musikern entlang künstlerischer Kriterien hierarchisch zu gruppieren und
sie sozial- und arbeitsrechtlich stärker voneinander abzugrenzen, so sehr zielte die kreative
Musikpolitik im engeren Sinne ins genaue Gegenteil. Neben dem häufig erörterten destruktiven
Part dieser Politik – etwa der Ausstellung Entartete Musik in Düsseldorf 1938 oder dem Jazzverbot
im Rundfunk im Oktober 1935 – starteten die Verantwortlichen verschiedene Initiativen, die
musikalische Volksgemeinschaft auch durch neue „deutsche“ Musik herzustellen.90
Die größte Aufmerksamkeit erhielt dabei die so genannte Unterhaltungsmusik, ein Begriff,
den die Nationalsozialisten sicherlich nicht erfunden hatten, aber zu dessen Veralltäglichung sie
doch wesentlich beitrugen.91 Dass sie besonders im Fokus der NS-Musikpolitik stand, hatte
mindestens drei Gründe: Erstens ging es den Nationalsozialisten darum, dem ihnen verhassten Jazz
88 Hans Ludwig Kormann, Zur Frage des Musiker-Nachwuchses, in: Die Musikwoche Nr. 12, 25.3.1939, S. 178f. Zu
den vom Musiker-Verband unterhaltenen Orchesterschulen vgl. Kap. 8. Zum Nachwuchsproblem vgl. auch Prieberg,
NS-Staat, S. 296. 89 Vgl. dazu Dokumente in BArch N 15/317 und R 36/2382, R 36/2386. 90 Vgl. zur Ausstellung Du Closel, Amaury, Erstickte Stimmen. „Entartete Musik“ im Dritten Reich, Wien 2010, S.
228–35; zum Jazz zusammenfassend Hasenbein, Heiko, Unerwünscht – toleriert – instrumentalisiert. Jazz und Swing
im Nationalsozialismus, in: 1999 Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 10/4. 1995, S. 38–52. 91 So ist die Fachschaft für Ensemble- und freistehende Musiker 1936 in Fachschaft Unterhaltungsmusiker genauso
umbenannt worden wie die traditionsreiche Zeitschrift Der Artist in Die Unterhaltungsmusik. Damit sollte das
französischstämmige „Ensemble“ ersetzt werden. Vgl. Herrock, Unterhaltungsmusik, in: Die Unterhaltungsmusik
Nr. 2650, 1.10.1936, S. 1239–41.
33
etwas Neues und Eigenes entgegenzusetzen. Zweitens hinterließ die Vertreibung der Juden aus
dem deutschen Musikleben nirgends eine größere Lücke als im Bereich der leichten Muse. Drittens
ließen sich die Massen mit moderner Kunstmusik, selbst wenn sie von noch so linientreuen
Komponisten wie Werner Egk oder Paul Graener geschrieben worden war, nicht begeistern.
Viertens schließlich konnte eine Aufwertung des Musikerberufs insgesamt nur gelingen, wenn
auch die Unterhaltungsmusik größere ästhetische Anerkennung erhalten würde. Insofern ist es auch
kein Zufall, dass Goebbels in seinen berühmten „Zehn Grundsätzen deutschen Musikschaffens“,
die er anlässlich der Reichsmusiktage in Düsseldorf im Frühsommer 1938 kundtat, bereits an
zweiter Stelle trocken festhielt: „Nicht jede Musik paßt für jeden.“ Daher, so der
Propagandaminister weiter, habe auch „jene Art von Unterhaltungsmusik, die in den breiten
Massen Eingang findet, ihre Daseinsberechtigung.“ Die „großen Meister der Vergangenheit“, die
es zu ehren gälte, erwähnte Goebbels dagegen erst in seinem vorletzten Punkt.92
Der verstärkte Einsatz für eine „neue Unterhaltungsmusik“, wie ihn etwa Hans Hinkel 1936
bei der 1. Reichstagung der Fachschaft Komponisten forderte,93 gab Vertretern verschiedener
Musikwelten ein gemeinsames Thema – und führte zu teils wahnwitzigen Vorschlägen. Auf der
einen Seite – und in unfreiwilliger Kontinuität zum freigeistigen ästhetischen Eklektizismus in der
Weimarer Republik – warben manche Ensemblemusiker dafür, Werke deutscher Komponisten für
die Ensemblemusik zu adaptieren oder zu arrangieren. Als geeignetes Material für das Kaffeehaus
wurde Barockmusik ebenso genannt wie Ausschnitte aus rezenten Opern von Graener (Friedemann
Bach) und Egk (Die Zaubergeige). Auch verschiedene Lieder von Richard Strauss, deren
Gesangsstimme der Primarius übernehmen sollte, gelangten in die Diskussion, und selbst Bruckner
92 Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens, in: Amtliche Mitteilungen der RMK Nr. 11, 1.6.1938, S. 41.
Grundlegend zu diesem Thema ist die (all)umfassende Dissertation von Jockwer, Axel, Unterhaltungsmusik im
Dritten Reich, Konstanz Diss. 2005. Leider hat der Autor darauf verzichtet, seine Studie zu überarbeiten und als
Buch zu publizieren. 93 Vgl. 1. Reichstagung der deutschen Komponisten, in: Die Einheit H. 6, Nov. 1937, S. 3–6.
34
war keineswegs tabu. So wurde das Trio aus dem dritten Satz der 4. oder das Adagio aus der 7.
Sinfonie in der Unterhaltungsmusik zum Arrangement empfohlen, denn es gäbe auch für Musiker
dieser Sparte genug Anlässe, „in das fröhliche und fromme deutsche Herz Bruckners
einzudringen.“94 Während solche Ideen durchaus kontrovers diskutiert wurden, blieb dieser
Diskurs offenbar nicht folgenlos und wirkte sich unmittelbar auf die Programmpolitik der
Notenverlage aus: in einem Monatsheftchen vom Herbst 1936, das die „neuesten Schlager- und
Liedtexte“ versprach, fand sich etwa Schuberts „Ständchen“ direkt neben „Tante Jutta aus
Kalkutta“ wieder.95
Auf der anderen Seite befassten sich bekannte Persönlichkeiten der kunstmusikalischen
Welt plötzlich mit Wesen und Zukunft der Unterhaltungsmusik und suchten Unterschiede
einzuebnen: Furtwängler intervenierte in der Jazzdebatte und, konzedierend, dass er von dieser
Musikrichtung überhaupt keine Ahnung habe, gab er zu bedenken, sie doch nicht ganz zu
verdammen. Vielmehr ließe sich mit „klassischer Jazzmusik“ durchaus etwas anfangen, wenn man
„statt der Tanzmusik der Negerweiber […] das Rauschen der Palmen“ vertonen würde: „Das
Wesen der Musik sollte erfaßt werden, wodurch sie volkstümlich und gleichzeitig erhebend
würde.“96 Und Kammer-Präsident Peter Raabe fiel in einem Interview, gefragt nach seiner
Meinung zu Schlagern, eine Aufnahmeprüfung ein, in der der Proband gesagt hätte, er würde nun
den bekannten Schlager aus der Walküre „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ singen.
Schlager, so folgerte Raabe, seien eine Frage von Qualität und Werten: „Wir brauchen einen
beschwingten deutschen Tanz, der von der jazzmäßigen Verhottung Abstand nimmt“.97 Um
94 Lothar H. Br. Schmidt, Bruckner, der deutsche Mensch, in: Die Unterhaltungsmusik Nr. 2651, 8.10.1936, S.
1259f.. Für Barockmusik, vgl. Otto Icks, Gute Musik im Kaffeehaus, in: Der Artist Nr. 2459, 3.2.1933, o.S.; Zu
Strauss und den anderen Zeitgenossen vgl. Kreuz und quer durch die Musik, in: ebd. Nr. 2640, 23.7.1936, S. 843. 95 Kreuz und quer durch die Musik, in: Der Artist Nr. 2467, 10.9.1936, S. 1129. Zur Diskussion vgl. auch Jockwer,
Unterhaltungsmusik, S. 161–67. 96 Reinmar von Zweter, Kreuz und quer durch die Musik, in: Der Artist Nr. 2640, 23.7.1936, S. 2369. 97 Ders., Kreuz und quer durch die Musik, in: Die Unterhaltungsmusik Nr. 2652, 15.10.1936, S. 1290f.
35
derartige Musik zu schaffen, so Raabe an anderer Stelle, müssten auch jene Komponisten in die
Pflicht genommen werden, die bereits Karriere in der kunstmusikalischen Welt gemacht hätten; sie
dürften „sich nicht für zu gut halten, gute Unterhaltungsmusik zu schreiben.“98
Es fehlte demnach weder an Bekenntnissen zur musikalischen Volksgemeinschaft noch an
(wenngleich noch so abstrusen) Vorschlägen für eine neue Unterhaltungsmusik. In der Praxis
jedoch scheiterten konkrete Initiativen regelmäßig, weil ästhetische Gesichtspunkte und
Präferenzen den Musikern und hierunter insbesondere den Komponisten, aber auch dem Publikum
letztlich wichtiger waren als ideologische Vorgaben. Den Anfang solcher Initiativen machte der
sogenannte große Werbefeldzug des Berufsstands der Komponisten. Deren nicht zufällig so
betiteltes Mitteilungsblatt Die Einheit rief im August 1934 „die Schaffenden an die Front“:99
Frische „deutsche“ Musik sollte in einem Wettbewerb in acht verschiedenen Kategorien ermittelt
und die gekürten Werke im Rundfunk und Sonderkonzerten beworben werden. Die ersten drei
Kategorien waren der Unterhaltungsmusik vorbehalten. Sie hießen Tanzmusik,
Unterhaltungsmusik und künstlerische Unterhaltungsmusik. Die Beurteilung der Werke erfolgte
zunächst durch Prüfungsausschüsse, die bei den verschiedenen Musikhochschulen im Land
angesiedelt waren und mit dem jeweiligen Vertrauensmann des altehrwürdigen Allgemeinen
Deutschen Musikvereins kooperieren sollten. Faktisch weitete der Werbefeldzug damit die
jahrzehntelange Praxis dieses Vereins, eingesandte Kompositionen der Kunstmusik jährlich bei
Tonkünstlerfesten zu präsentieren, auf das gesamte musikalische Spektrum aus, was auch dazu
führte, dass Genres wie Massensingen oder Unterhaltungsmusik seit 1934 Teil dieser
Veranstaltungen wurden.100
98 Der zweite deutsche Komponistentag, in: Die Einheit H. 5, Dezember 1935, S. 1–12, hier S. 10 99 Die schaffenden an die Front., in: Die Einheit H. 2, August 1934, S. 1f. 100 Vgl. Bestimmungen für den großen Werbefeldzug des Berufsstandes der Komponisten, in: Die Einheit H. 2,
August 1934, S. 3f. Kopsch, Vermerk, 8.8.1934, in: GSA, 70 ADMV, Bd. 152. Die restlichen Kategorien lauteten:
Kammermusik und Lieder; Symphonische Musik; Musik, die für Thingplätze und andere Volksveranstaltungen
36
Für die Werkauswahl im Bereich Unterhaltungsmusik sollten extra Fachleute hinzugezogen
werden, was die einseitige Besetzung der Prüfungsausschüsse durch Vertreter der ernsten Musik
widerspiegelt. In musikalischer Hinsicht wurden keine weiteren Vorgaben gemacht außer einer
allgemeinen Warnung, das eigene Werk strengstens auf Eignung zu prüfen und der Empfehlung,
für die Instrumentation eines Werkes der drei Unterhaltungskategorien „amerikanische
Besetzungen“ zu vermeiden. Stattdessen sollte lieber auf Instrumente gesetzt werden, die „dem
deutschen Wesen entsprechen“, wie etwa das Horn…101 Trotz reger Beteiligung endete der
Wettbewerb in einem Fiasko, zumindest für die Unterhaltungsmusik: Zum einen hatten sich vor
allem bekanntere Komponisten daran beteiligt, während man mit der Maßnahme eigentlich
schlummerndes Talent heben wollte. Zum anderen waren die Einsendungen allgemein von mäßiger
Qualität, ganz besonders jedoch in den drei genannten Kategorien der Unterhaltungsmusik. Dort
gingen zwar die meisten Vorschläge ein, diese blieben aber so weit hinter den Anforderungen der
Prüfungsinstanzen zurück, dass die geplanten Aufführungen für diese Genres komplett gestrichen
wurden.102
Es war nur die erste von mehreren Ohrfeigen, die Komponisten der Kunstmusik ihren
Kollegen von der leichten Muse verpassten und damit jede Vorstellung einer musikalischen
Volksgemeinschaft oder auch nur berufsständischer Einheit ad absurdum führten. Die ab 1936
jährlich auf Schloss Burg nahe Remscheid stattfindenden Komponistentagungen spiegelten die
Geringschätzung ersterer für letztere deutlich wider: Auf der ersten waren so wenige Vertreter der
geeignet ist; Operetten und Singspiele; Oper. Einige dieser Genres wurden 1935 auf dem Tonkünstlerfest in Weimar
präsentiert, vgl. Ernst Laaf, 67. Tonkünstlerversammlung des ADMV, in: Deutsche Musik-Zeitung Nr. 7, 14.7.1936,
S. 56–59; Vgl. zum Musikverein auch Kaminiarz, Irina, Richard Strauss. Briefe aus dem Archiv des Allgemeinen
Deutschen Musikvereins, Weimar / Köln / Wien 1995, S. 17f. 101 Bestimmungen für den großen Werbefeldzug des Berufsstandes der Komponisten, in: Die Einheit H. 2, August
1934, S. 3f. 102 Vgl. Der Werbefeldzug, in: Die Einheit H. 3, Dezember 1934, S. 16.
37
U-Musik zugegen, dass Graener sich wortreich gegen deren künstlerisches Schaffen ausließ.103
1937 mündete der extra angesetzte „heitere musikalische Abend“ in einem Lokal in derart
lautstarkem Missmut gegen die aufgeführten Werke von Tonsetzern wie Hanns Löhr oder Will
Meisel, dass die Veranstaltung abgebrochen werden musste. Und auch in den darauffolgenden
Jahren fühlten sich die anwesenden Vertreter der Unterhaltungsmusik als Komponisten zweiter
Klasse regelmäßig zurückgesetzt.104
Umgekehrt erhielt diejenige Unterhaltungsmusik, die sich dem System anbiederte und allzu
ambitioniert oder altbacken daherkam, eher selten die Gunst des Publikums. Das Musikfestival in
Bad Pyrmont richtete im August 1936 unter dem Motto „Neue unterhaltsame Musik“ einen
Kompositionswettbewerb aus, der der Kurmusik neues Leben einhauchen sollte. Zwar lobte eine
Besprechung die ein oder andere neue Komposition, etwa Boris Blachers Kurmusik für ihren
schmissigen Charakter. Insgesamt aber überwog vorsichtig geäußerte Kritik. An der
Charakterisierung von Hermann Erpfs Nachtmusik, die nach dem Geschmack des Rezensenten zu
sehr mit Polyphonie und Kontrapunktik aufgeladen war, kann man Leichtigkeit und
Unterhaltungswert der Konzerte zumindest erahnen. Das Fazit fiel jedenfalls eindeutig aus: „Eine
neue deutsche Unterhaltungsmusik gibt es noch nicht“ – weil die meisten neuen Werke keinerlei
Bindung zum Publikum gefunden hätten.105 Im Bereich der Tanzmusik schließlich, ein Eisen, das
die Komponistenfachschaft überhaupt erst gar nicht anfasste, führte ein von den Rundfunkanstalten
103 Graeners Anwürfe gegen die U-Musik waren allerdings auch persönlich motiviert, weil er in schweren Geldnöten
steckte und den Kollegen die üppigen Tantiemen neidete, was soweit ging, dass er versuchte, den eh schon
einseitigen Verteilungsschlüssel weiter zu Gunsten der E-Musik zu verlagern. Vgl. dazu
Domann, Andreas, Paul Graener als nationalsozialistischer Kulturpolitiker, in: Albrecht Riethmüller u. Michael
Custodis (Hg.), Die Reichsmusikkammer. Kunst im Bann der Nazi-Diktatur, Köln / Weimar / Wien 2015, S. 69–85,
hier 76–78. 104 Vgl. zu den Tagungen im Detail Jockwer, Unterhaltungsmusik, S. 169–74. 105 Walter Riekenberg, Pyrmonter Musikfest 1936, in: Der Artist Nr. 2647, 10.9.1936, S. 1131–34; Anonymus,
„Neue unterhaltsame Musik“, in: ebd. Nr. 2643, 13.8.1936, S. 1007f. Keine der in Pyrmont gebotenen
Kompositionen konnten auf Tonträger ausfindig gemacht werden. Zum Musikfest vgl. auch Jockwer,
Unterhaltungsmusik, S. 170f.
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im Zuge des Jazzverbots initiierter öffentlicher Wettbewerb zu einem glatten Eigentor: Beim
Berliner Finale im März 1936 ging der von den rund 7.000 Zuhörern hoch favorisierte Fritz Weber
mit seiner jazzverdächtigen Band leer aus, während der biedere Willy Burkart den ersten Preis
errang; Weber füllte danach die Säle im Reich, während man von Burkart nie wieder etwas hören
sollte…106
So wenig bei all diesen Initiativen musikalisch hängenblieb, so wenig dadurch eine
musikalische Volksgemeinschaft im Publikum oder auch nur innerhalb der Zunft geschaffen wurde
– folgenlos blieben sie nicht. Die vergebliche Suche nach einer neuen deutschen
Unterhaltungsmusik, die diesem Musikspektrum zugleich zu höherem Prestige verhelfen sollte,
trug zumindest dazu bei, dass ihre Urheber in finanzieller Hinsicht wieder bessergestellt wurden.
Nicht ganz zufällig ging die Initiative von Norbert Schultze aus, dem Komponisten von Lili
Marleen und Bomben auf Engelland, der sich in seinen Memoiren als verhinderter
Opernkapellmeister inszenierte. Als durch und durch angepasster Wanderer zwischen allen
möglichen musikalischen Welten war er ganz nach Goebbels musikpolitischem Geschmack.
Schultze machte sich die Ideologie der musikalischen Volksgemeinschaft zu eigen und wandte sie
auf den Verteilungsschlüssel der STAGMA an. Er ließ 1940 eine Denkschrift in der deutschen
Musikwelt verbreiten, in der er sich auf den Standpunkt stellte, dass die „Einteilung der deutschen
Komponisten und ihrer Werke in eine kulturell wertvollere und eine kulturell minder wertvolle
Klasse in keiner Weise mehr den Tatsachen entspricht.“107
106 Vgl. im Detail Ritzel, Fred, „...und nun an die Front, deutsche Kapellen, deutsche Musiker!“ Informationen und
Überlegungen zu Wettbewerben in der populären Musikszene aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, in: Dietrich Helms
u. Thomas Phleps (Hg.), Keiner darf gewinnen. Populäre Musik im Wettbewerb, Bielefeld 2005, S. 41–55. Vgl. dazu
und zu weiteren gescheiterten Initiativen auch Kater, Jazz, S. 110–17. 107 Zit. nach Arbeitstagung auf Schloß Burg, in: Mitteilungen der Fachschaft Komponisten November 1940, S. 11.
Vgl. auch seine eigene Darstellung in Schultze, Norbert, Mit dir, Lili Marleen. Die Lebenserinnerungen des
Komponisten Norbert Schultze, Zürich / Mainz 1995, S. 86f.; Prieberg, NS-Staat, S. 264f.
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Schultze rüttelte damit am sogenannten ernsten Drittel, einer Regelung, die 1934 auf
Drängen von Richard Strauss überhaupt erst eingeführt worden war. Sie bestimmte, dass
ungeachtet der die Mittel generierenden Musikveranstaltung ein Drittel der Gesamteinnahmen
pauschal an Komponisten von Kunstmusik ausgeschüttet wurde. Schultzes kleine Revolution
führte zu lebhaften Diskussionen auf Schloss Burg zwischen den beiden Lagern, die freilich
ergebnislos blieben. Goebbels, den Propagandawert von U-Musik im Krieg vor Augen, legte sich
kurz darauf fest, Schultzes Vorstoß zu folgen und den Verteilungsschlüssel zu ihren Gunsten neu
zu justieren. Die Revanche der leichten Muse war gelungen.108
Doch auch die langfristigen Folgen dieser erzwungenen Begegnungen und
Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der ernsten und leichten Muse sollten nicht
unterschätzt werden. Die Leitidee einer künstlerisch wertvollen Unterhaltungsmusik, die alle
Debatten und Vorstöße mehr oder weniger prägte, warf ihre Schatten bis in die Sechzigerjahre
voraus. Der vergleichsweise trostlose Zustand dieser Musikwelt in der jungen Bundesrepublik, in
der Schlager-Orchester von vorgestern und Cover-Bands, die britische Vorbilder nachahmten, die
Bühnen dominierten, hatte viele Gründe. Einer davon ist jedoch sicherlich darin zu suchen, dass
die Juden- und Musikpolitik zu einem spürbaren Kreativitätseinbruch führte, ein anderer darin,
dass das anhaltend vermittelte Gefühl ästhetischer Minderwertigkeit in einen Komplex umschlug,
auch als Unterhaltungsmusiker „wertvolle“ und „erhebende“ Musik für die Nachwelt und vielleicht
sogar Ewigkeit schaffen zu müssen.109
*** Jüdisches Musikleben bis 1941 *** Schluss
108 Vgl. dazu ausführlich Dümling, Verwertungsgesellschaft, S. 222–31. Vor Strauss’ Reform erhielten Komponisten
der ernsten Musik etwa ein Viertel der Einnahmen. 109 Vgl. dazu auch Nathaus, Klaus, Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum. Populärmusik und soziale
Differenzierung in Westdeutschland, circa 1950–1985, in: Sven Oliver Müller u.a. (Hg.), Kommunikation im
Musikleben. Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 251–275.
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Anhang
Erwerbstätige Musiker im Hauptberuf (Musiker, Musiklehrer und Kapellmeister110)
Stichjahr Summe davon Frauen davon selbständig /
Frauen
davon abhängig /
Frauen
Abhängige
Erwerbslose / Anteil
1925 67.688 13.086 18.486 / 9.080 49.202 / 4.006 nicht erhoben
1933 84.362 14.423 17.982 / 9.100 66.380 / 5.323 29.077 / 43,8 %
1939 72.018 15.949 23.144 / 12.383 48.874 / 3.566 nicht erhoben
Erwerbstätige Musiker im Nebenberuf (Musiker, Musiklehrer und Kapellmeister)
Stichjahr Summe davon Frauen davon selbständig /
Frauenanteil
davon abhängig
1925 20.712 293 nicht erhoben 20.712 / 293
1933 35.101 1.419 6.044 / 768 29.057 / 651
1939 44.254 2.960 15.500 / 1917 28.754 / 1.043
Erwerbstätige Musiker im Haupt- und Nebenberuf (Musiker, Musiklehrer und Kapellmeister)
Stichjahr Summe davon Frauen davon selbständig /
Frauenanteil
davon abhängig
1925 88.400 13.379 18.486 / 9.080 69.914 / 4.299
1933 119.463 15.842 24.026 / 9.868 95.437 / 5.974
1939 116.272 18.909 38.644 / 14.300 77.628 / 4.609
110 Mit Musikern sind ausübende und schaffende gemeint. Grundlage sind die drei Berufszählungen, abgedruckt in
den jeweiligen Bänden der Statistik des Deutschen Reichs.