Hope Solo mit Ann Killion - Mein Leben als Hope Solo
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Transcript of Hope Solo mit Ann Killion - Mein Leben als Hope Solo
Edel:Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright der deutschen Ausgabe © 2013 Edel Germany GmbH,
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
1. Auflage 2013
Titel der Originalausgabe: A Memoir Of Hope Solo
Published by arrangement with Harper, an imprint of
HarperCollins Publishers, LCC
Copyright © 2012 Hope Solo
Übersetzung: Michael Sailer
Projektkoordination: Constanze Gölz
Lektorat: Clemens Hoffmann für bookwise GmbH, München
Fotos im Innenteil: mit freundlicher Genehmigung von Hope Solo;
nicht von Hope Solo zur Verfügung gestellte Bilder sind anderweitig
gekennzeichnet
Satz und Layout: BUCHFLINK Rüdiger Wagner, Nördlingen
Design Originalcover: Milan Bozie
Umschlagadaption: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und
Passionen mbH | www.groothuis.de
Druck und Bindung: optimal media GmbH, Glienholzweg 7
17207 Röbel / Müritz
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch
teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Printed in Germany
ISBN 978-3-8419-0226-9
6 |
Inhalt
Vorbemerkung ........................................................................ 9
Prolog ...................................................................................... 11
1 Ein Leben im Schatten des Smiley ..................................... 17
2 Gottes zweites Paradies ........................................................ 33
3 Ein Doppelleben .................................................................... 49
4 Irgendwohin – egal wohin –, nur weit weg ...................... 61
5 Kahle Äste, kurz vor der Blüte ............................................ 72
6 Die 99er .................................................................................. 87
7 „Ich hätte schon vor langer Zeit sterben sollen“ ............ 101
8 Ein Arm wie Frankensteins Monster ................................... 113
9 Made In The WUSA .............................................................. 128
10 Ene mene muh und raus bist du ......................................... 144
| 7
11 „So weint nur eine Tochter“ ................................................ 161
12 Schatten .................................................................................. 175
13 „Lass dich nie von einem Bauchgefühl leiten“ .................. 183
14 Kaltgestellt und angeprangert ............................................ 198
15 „Lass dir deine Freude nicht vom Teufel rauben“ ........... 212
16 Die neue Nummer eins ......................................................... 230
17 So verdammt schön .............................................................. 247
18 Professionell unprofessionell .............................................. 257
19 Seattle’s Beste ........................................................................ 270
20 Einer ist genug ....................................................................... 285
21 Ein Silberstreif am Horizont ................................................ 296
22 Nackte Tatsachen auf der Wiese ........................................ 307
Danksagung ............................................................................ 327
| 183
KAPITEL DREIZEHN
„Lass dich nie
von einem Bauchgefühl leiten“
E s ist alles in Ordnung! Alles okay!“ Ich hörte, wie Kate Mark-
graf mich anschrie. Der nasse Ball war mir soeben durch die
Fingerspitzen gerutscht, über meinen Kopf ins Netz.
Ein Tor. Im allerersten Spiel der WM. Ich riss die Arme hoch
und brüllte vor Enttäuschung. Es stand 1:1 in der zweiten Halb-
zeit gegen Nordkorea, auf einem feuchten, rutschigen Platz in
Chengdu.
„Okay, okay“, sagte ich zu mir selbst. „Reiß dich zusammen,
Hope.“ Ich war eher sauer als verunsichert. Unser Auftaktspiel
lief nicht gut. Deswegen war Greg so angespannt gewesen, seit
er damals Nordkorea beobachtet hatte. Sie spielten aggressiv,
technisch gut, waren uns überlegen. Schon nach zwölf Sekunden
musste ich einen wuchtigen Schuss meistern. Nordkorea hatte
mehr Ballbesitz. Wir rannten hinterher.
Am Morgen hatte ich in mein Tagebuch geschrieben:
Papa, der erste Spieltag; ich weiß nicht, wie ich mich fühle. Mir ist ein
bisschen mulmig, aber schon seit Tagen. Würde gerne ein Nickerchen
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machen, aber meine Augen zucken, und ich höre mein Herz gegen die
Matratze schlagen. Du fehlst mir, Papa. Ich brauche dich. Hilf mir,
den Augenblick zu erleben. Papa, ich liebe dich so sehr. Ich trage dein
Armband. Ich habe dich bei mir. Bild im Spind, Armband und Halskette
an, Asche im Tor, ich und mein Papa gemeinsam im Tor. Zeit, der Welt zu
zeigen, aus welchem Holz diese Solos geschnitzt sind.
Ich ging stark, voller Lebenskraft und Konzentration in mein
erstes großes Turnier. In der ersten Halbzeit hielten wir das 0:0;
ich musste einmal knapp retten und kam bei Steilpässen raus,
um ihre unermüdlichen Attacken zu unterbinden. Kurz nach
der Halbzeitpause brachte Abby uns ins Spiel: Auf Vorlage von
Kristine Lilly drosch sie den Ball Richtung Tor. Er sprang
der nordkoreanischen Keeperin von den Handschuhen und ins
Netz. Ein eklatanter Beweis für das, was ich bereits wusste: Die
Bedingungen waren hart für Torhüter, das Spielfeld klatschnass,
der Ball schwer, und das neue Design der Balloberfläche machte
ihn noch unberechenbarer.
Minuten nachdem sie die Führung erzielt hatte, knallte Abby
mit einer Nordkoreanerin zusammen, fiel zu Boden und blutete
aus einer Platzwunde am Kopf. Das Spiel lief weiter, während sie
genäht wurde, und Greg wechselte sie nicht aus. Wir schauten
immer wieder zur Seitenlinie, ob eine Ersatzspielerin bereitstand,
mussten aber in Unterzahl weiterspielen. Gregs Entscheidung,
uns zu zehnt weitermachen zu lassen, bis Abby zurückkam, gab
den sowieso überlegenen Nordkoreanerinnen zusätzlichen
Schub und erhöhte den Druck. Sie ließen den Ball vor unserem
Tor mühelos durch die Reihen laufen, und schließlich landete
ein weiter Pass an der Strafraumkante bei Kil Son Hui. Sie schoss;
ich dachte, ich könnte den Ball halten, aber der scharfe Schuss
glitt durch meine nassen Handschuhe ins Tor. Es stand 1:1.
Abby war schon drei Minuten draußen, jetzt stand es unent-
schieden, und wir schwammen. Dennoch ließ uns Greg weiter in
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Unterzahl spielen. Seine Botschaft war klar: Ohne Abby sind wir
verloren. Unsere Ersatzspielerinnen taugen nichts.
Ich gewann meine Ruhe zurück, stand aber weiterhin enorm
unter Druck. Die Nordkoreanerinnen ließen den Ball in den
eigenen Reihen laufen, während unser Team nicht an den Ball
kam. Nach einem Foul von Carli schlug Nordkorea den Freistoß
weit vors Tor und ließ den Ball über sechs Stationen laufen.
Shannon Boxx fälschte direkt vor mir einen Schuss auf den
rechten Pfosten ab; ich bewegte mich erst nach rechts, dann
nach links Richtung Ball. Aber Kim Yong Ae schnappte ihn sich
und schoss über meine ausgestreckte rechte Hand ins Tor.
Jetzt lagen wir 1:2 zurück. Noch nie hatten wir bei einer
Weltmeisterschaft ein Gruppenspiel verloren. Ich sah die Angst
in den Augen meiner Teamkameradinnen. Greg wirkte an der
Seitenauslinie wie paralysiert und unternahm nichts, um den
Schwung der Nordkoreanerinnen zu brechen. Nach zehn langen
Minuten und zwei Gegentoren lief Abby endlich zurück auf
den Platz, mit elf Stichen am Kopf. Wieder vollzählig, gewannen
wir unsere Ruhe zurück. In der 69. Minute versenkte Heather
O’Reilly einen Schuss in der oberen rechten Torecke. Das Spiel
war wieder offen, aber Nordkorea setzte seinen Sturmlauf fort.
In der Nachspielzeit wähnten sie einen Gewaltschuss schon im
Tor, aber ich hechtete ins entfernte rechte Eck und konnte den
Ball gerade noch abwehren. Nur Sekunden später ballerte eine
andere nordkoreanische Stür merin eine Direktabnahme aufs
Tor, die ich ebenfalls abfing. Ich rettete uns das Leben. Endlich
ertönte der Abpfiff. Wir hatten das Unentschieden gerettet und
in der Gruppenphase einen vielleicht entscheidenden Punkt
errungen.
Ich war alles andere als glücklich über die Gegentore – vor
allem das erste, als mir der Ball durch die Handschuhe gerutscht
war – und dennoch stolz. Einige Male hatte ich spektakulär ge-
rettet und unser Team im Spiel gehalten. Ich hatte einen bitteren
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Schnellkurs im Umgang mit rutschigen Bällen erhalten – ein
Fehler, der mir nicht noch einmal unterlaufen würde. Obwohl
wir alle nicht unseren besten Tag hatten – weder ich noch die
Feldspielerinnen und unser Coach –, waren wir mit einem Punkt
davongekommen. Dass ich am Ende über mich hinausgewachsen
war, stärkte mein Selbstvertrauen.
Nach dem Abpfiff kam Greg aufs Spielfeld. „Danke für die
Paraden“, sagte er und umarmte mich. Dann deutete er zum
Himmel. „Jemand dort oben wacht über dich.“
Ich erstarrte. Es war das erste Mal seit meiner Rückkehr von
der Beerdigung – vor fast drei Monaten –, dass Greg meinen
Verlust offen würdigte. In den letzten Vorbereitungswochen in
den USA hatte er sich nie an mich gewandt oder mich gefragt,
wie es mir ging. Und da wollte er jetzt, da ich in einem WM-Spiel
zu Höchstform aufgelaufen war, meinen Vater als Motivations-
faktor benutzen? Das fand ich beleidigend. Aber ich sagte nichts.
Innerlich am Brodeln, ließ ich mich umarmen.
II
Die Asche war in einem kleinen Behälter, etwa so groß wie
mein Daumen, den ich vor jedem Spiel in meinen Spind stellte.
Obwohl ich beim Einlaufen ins Stadion normalerweise keine
Torwarthandschuhe trug, griff ich in China darauf zurück. In
der Umkleidekabine schüttete ich eine kleine Spur Asche in
meinen linken Handschuh. Auf dem Spielfeld legte ich, während
die Nationalhymne gespielt wurde, die rechte Hand aufs Herz,
in der linken hielt ich den linken Handschuh. Auf dem Weg in
mein Tor bekreuzigte ich mich, küsste meine geballte Faust,
öffnete den Handschuh und ließ die Asche herausrieseln, wäh-
rend ich im Stillen ein kleines Gebet sprach. Meine Worte bei
der Trauerfeier waren ernst gemeint: Mein Vater würde immer
mit mir im Tor stehen.
| 187
Nach dem Nordkoreaspiel blieben wir noch ein paar Tage
im grauen Chengdu – die Stadt ist berühmt für ihre wenigen
Sonnenstunden –, um gegen Schweden anzutreten, die Nummer
drei der Weltrangliste.
14. September 2007
Das zweite Spiel – bin so nervös, Papa. Bitte steh mir bei. Lass mich
begreifen, dass ich nach dem letzten Spiel nichts mehr beweisen muss.
Hilf mir, den Augenblick zu leben. Genau durch die Finger, Papa, dabei
spielte ich so gut. Ich will nur entspannt spielen, im Augenblick, jede
Minute genießen. Lass uns Spaß haben, Papa.
Im Spiel gegen Schweden zeigte sich unsere Mannschaft stark
verbessert. Die Verkrampftheit und Dramatik aus dem Nord-
koreaspiel waren vergessen. Abby traf zweimal, das erste Mal per
Strafstoß, und unsere Abwehr stand viel gefestigter. Ich traf auf
meine alte Freundin Lotta Schelin – den aufsteigenden Stern des
schwedischen Teams –, aber sie konnte mich nicht überwinden.
Es war mein erster WM-Sieg, und zwar ohne Gegentor. Flüsternd
dankte ich meinem Vater.
Dann verließen wir Chengdu Richtung Shanghai und kamen
wenige Tage vor dem Taifun Wipha in der Stadt an. Gegen Nigeria
spielten wir im strömenden Regen um den Gruppensieg. Lori
Chalupny traf nach nur 53 Sekunden ins Tor, die restliche Spiel-
zeit lief Nigeria dem Rückstand hinterher. Gegen Ende musste
ich mich dennoch einige Male strecken, um den Sieg zu retten.
Wieder blieb ich ohne Gegentor.
Trotz der schweren Vorrunde waren wir Gruppensieger
und standen im Viertelfinale gegen England. Das Spiel fand in
Tianjin in Nordchina statt, ein gutes Stück von Shanghai ent-
fernt. Unsere ganzen Verwandten reisten mit uns. Am Abend vor
dem Spiel ging ich hinüber ins Familienhotel. Meine große
Gruppe von Unterstützern war rechtzeitig eingetroffen: meine
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Mutter, Marcus und seine Verlobte Debbie, Tante Susie, Oma
Alice und Opa Pete, Adrian sowie Cheryls Eltern Mary und Dick.
Zu den Spielen trugen sie zu Ehren meines Vaters Trauerflor.
Bei meiner Familie zu sein war tröstlich für mich. Sie waren die
Einzigen, die wirklich wussten, wie sehr mir mein Vater fehlte
und wie sehr ich darunter litt. Mir war schmerzhaft bewusst, wie
viel gemeinsame Zeit mit ihm ich unwiderruflich verpasst hatte,
weil ich ständig auf Reisen war.
Mit dem Rest meiner Familie würde ich diesen Fehler nicht
noch mal begehen. Und wir hatten in China alle etwas zu feiern:
Marcus und Debbie hatten gerade erfahren, dass sie ein Baby
bekamen, gezeugt nur wenige Wochen nach dem Tod meines
Vaters.
Am Abend vor dem Viertelfinale spielte ich mit meinen Groß-
eltern und Adrian Cribbage und sprach mit Marcus über unseren
Papa. Meine Mama – wie immer die begeisterte Fotografin –
zeigte uns die Bilder, die sie geschossen hatte. Alles war sehr
zwanglos. Wieder auf meinem Zimmer, kruschte ich herum,
bevor ich ins Bett ging – wie üblich als eine der Letzten, weil ich
mal wieder mit meiner wiederkehrenden Schlaflosigkeit kämpfte.
22. September 2007
Hey Papa. Warum ist der heutige Tag so hart? Heute habe ich Angst.
Marcus hat Angst. Ich bin froh, dass wir wenigstens ein bisschen
zusammen sein konnten – er ist sehr bewegt. Will, dass wir für dich
das volle Programm durchziehen. Steh mir bei in dem einsamen Tor.
Wir spielen dieses Viertelfinale gegen England gemeinsam. Aber ich
spiele für dich, für alles, was du mir beigebracht hast. Die Familie kommt
immer zuerst, stimmt’s, Papa?
England hatte im Erwachsenenbereich noch nicht viel erreicht –
wir standen ihnen zum ersten Mal in einem WM-Spiel gegen-
über –, galt jedoch als aufstrebendes Team. Ich hielt Kelly Smith,
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mit der ich in Philadelphia gespielt hatte, für eine der besten
Spielerinnen der Welt. In der ersten Halbzeit spielten wir ver-
krampft und blieben ohne Torerfolg, aber unsere Abwehr war
stark. In der zweiten Hälfte erzielten wir innerhalb von zehn
Minuten drei schnelle Tore – eine uneinholbare Führung.
Unsere Ambitionen dämpften die Feierlaune nach dem Spiel.
Wir waren unserem Ziel schon sehr nah, standen im WM-Halb-
finale. So weit war die Mannschaft von 2003 auch gekommen,
aber wir wollten mehr. Unser schwieriger Start gegen Nord-
korea erschien uns jetzt wie ein Glücksfall. Wir hatten gegen
ein gutes Team Nerven und Unerfahrenheit gezeigt und Lehren
daraus gezogen. Ich war noch immer nicht der Meinung, dass
wir wie die Nummer eins der Weltrangliste spielten. Unser
Angriff war ungestüm, aber wenig kreativ. Aber wir hatten 50
reguläre Spiele nicht mehr verloren. Jetzt ging es gegen die
Brasiliane rinnen, die drei Monate zuvor in New York unorgani-
siert und schlecht vorbereitet aufgetreten waren. Und ich war
seit drei WM-Spielen ohne Gegentreffer. Ich war in Höchst-
form, und ich war bereit.
III
Am Dienstagabend, zwei Tage vor dem Halbfinale, aßen wir
im Mannschaftshotel in Hangzhou zu Abend. In Hangzhou hatte
ich im Januar 2001 einen meiner ersten Länderspieleinsätze
erlebt und erfahren, dass mein Vater unter Mordverdacht stand.
Das schien so lange her zu sein. Die Erinnerung an den fal-
schen Verdacht schmerzte mich, weil mein Vater grundlos leiden
hatte müssen. Ich wünschte so sehr, er könnte das Halbfinale
sehen – und Brasiliens unglaubliche Spielerin Marta für mich ins
Stolpern bringen.
Mein Torwarttrainer Phil kam während des Essens zu mir und
tippte mir auf die Schulter. „Hope“, flüsterte er mir gebückt ins
190 |
Ohr, „Greg möchte dich nach dem Essen auf seinem Zimmer
sprechen.“
Ich starrte ihn an. Der Ballon von Selbstvertrauen in mir
zerplatzte. „Wieso?“, fragte ich.
Phil schaute mich nur an und ging davon.
Ich schob meinen Teller weg, weil mir plötzlich schlecht
war. Ich wusste, was passieren würde. Vielleicht hatte ich das seit
zwei Jahren erwartet.
Als ich den Speisesaal verließ, sah ich Greg hereinkommen.
Er würde eine Weile dableiben, also ging ich auf mein Zimmer
und rief Adrian an. Ich versuchte zu sprechen, aber stattdessen
kamen mir die Tränen. „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht“,
jammerte ich schließlich.
„Das wird schon, Hope“, vertröstete er mich. „Reiß dich
zusammen. Du musst mit ihm reden.“
Während ich Adrian zuhörte, atmete ich tief durch, um
mich zu beruhigen. Adrian hatte recht; ich wollte nicht wie
ein Wrack dastehen, wenn ich mit Greg sprach. Ich hängte
auf, und sofort läutete mein Telefon. Es war Phil; er fragte, wo ich
sei.
„Ich bin gleich unten“, antwortete ich.
Ich nahm den Fahrstuhl in Gregs Etage. Als ich in sein Zimmer
kam, saß er im Sessel, spielte Gitarre und sang für sich selbst.
„Hey, Hope, kennst du den Song?“ Er lächelte und strich über
die Saiten.
Sollte das ein Witz sein? Er war drauf und dran, mir das
Schrecklichste mitzuteilen, was mir in meiner ganzen Fußball-
laufbahn passiert war, und wollte über Pink Floyd plaudern?
Ich starrte ihn nur an. Verarsch mich nicht, Greg, dachte ich, als ich
mich auf dem Sofa niederließ. Sicherlich verriet mein Gesicht
meine Gedanken. Als er meine Miene sah, wurde Greg zum
harten Mann, zu demselben Arschloch, das mich den ganzen
Sommer über angebrüllt hatte.
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„Wieso kommst du zu spät? Ich sagte, du sollst um sieben da
sein.“
Ich schaute zu Phil, der am anderen Ende des Sofas saß.
„Man hat mir gesagt, nach dem Essen“, erwiderte ich.
Ich legte die Hände auf die Knie, betrachtete sie und holte
tief Luft, um mich zu fassen. Greg, links neben mir sitzend, lehnte
sich vor und richtete seinen Finger auf mich. „Schau mich
verdammt noch mal an, wenn ich mit dir rede“, blaffte er. „Ich
habe es satt, von dir nicht respektiert zu werden. Erst kommst
du zu spät, und jetzt schaust du mich nicht mal an.“
Ich war schockiert. Dass es schlimm werden würde, hatte ich
mir gedacht, aber die Wut in seiner Stimme war verblüffend.
Okay, dachte ich, ich soll dich anschauen, du Arschloch? Ich blickte
wieder auf meine Knie, sammelte mich, hob dann langsam den
Kopf und starrte ihn an, ohne den Blick abzuwenden, während
er meine Karriere zum Scheitern verurteilte.
Ich sei nicht reif für ein großes Turnier, meinte Greg. Das habe
er sich von Anfang an gedacht, und bestätigt habe es sich im ers-
ten Spiel, als mir der Ball durch die Hände gerutscht war. Nach
diesem geschenkten Tor hätte er mich auf die Bank setzen sollen.
Bri könne gegen Brasilien auf eine siegreiche Bilanz zurück-
blicken, sagte Greg. Sie komme besser mit der brasilianischen
Spielweise zurecht. Die Goldmedaille bei den Olympischen Spie-
len 2004 gegen Brasilien habe sie praktisch alleine gewonnen.
Und sie habe gerade erst in New York gegen Brasilien gespielt.
Ich beobachtete, wie sich sein Mund bewegte, und hörte,
wie die Worte herauskamen. Ich konnte sie mir gedruckt in der
Zeitung vorstellen, von ESPN aufgezeichnet und im Fernsehen
ausgestrahlt, in Schlagzeilen und Kurzzitate gegossen. Briana
Scurry, eine der Heldinnen der WM 1999, erobert ihren Stammplatz
im Tor zurück.
Ich war wie betäubt. Greg erwartete eine Antwort. Die Genug-
tuung, mich weinen oder toben zu sehen, gönnte ich ihm nicht,
192 |
sondern riss mich zusammen, um meinem Zorn in klaren, prä-
zisen Worten Ausdruck zu geben. „Greg, ich muss deine Ent-
scheidung respektieren, weil du mein Coach bist“, sagte ich.
„Aber ich stimme dir nicht zu. Es spielt keine Rolle, was Bri vor
drei Jahren geschafft hat. Sie hat seit über drei Monaten kein
Spiel absolviert, war seit drei Jahren nicht mehr deine Nummer
eins, und ich spiele so gut wie noch nie. Ich werde mit deiner
Entscheidung niemals einverstanden sein. Und wenn mich
irgend wer fragt, werde ich sagen, dass diese Entscheidung
falsch ist.“
Greg lächelte. Jetzt war er wieder der coole Typ. „Deshalb
mag ich dich so, Hope“, sagte er. „Ich erwarte von meinen
Spiele rinnen, dass sie auf dem Platz stehen wollen. Dass sie
wütend sind, wenn sie nicht spielen. Ich habe dir vier WM-Spiele
gegeben. Ich habe dich so weit gebracht.“
„Ich habe mich selbst so weit gebracht“, blaffte ich zurück.
„Eine Menge Leute haben an mich geglaubt – lange vor deiner
Zeit.“
Greg war noch nicht fertig. Er erzählte, Lil und Abby hätten
sich dafür eingesetzt, Bri spielen zu lassen. „Ich bin derselben
Meinung wie die Spielführerinnen“, sagte er. „Das ist ein Bauch-
gefühl.“
Es hatte also hinter meinem Rücken ein Treffen stattgefunden?
Eine Entscheidung, die darauf beruhte, wen sie lieber mochten?
Ich blickte Greg an und schüttelte angewidert den Kopf. Er
war ein schwacher Anführer, der sich seiner Verantwortung
entledigte. Greg hatte nicht die Eier, zu seinen Entscheidungen
zu stehen. Stattdessen schob er den Spielerinnen den Schwarzen
Peter zu.
„Du kannst dich nicht von einem Bauchgefühl leiten lassen,
Greg“, sagte ich. „Ich bin seit drei Jahren deine Stammtorhüterin.
Und jetzt, im wichtigsten Spiel des Turniers, schmeißt du mich
raus, weil dein Bauch dir das sagt?“
| 193
Mein Ton gefiel Greg offenbar nicht. Ich weinte nicht und
knickte auch nicht ein. Statt es ihm leichtzumachen, hielt ich mit
Worten und Logik dagegen und hatte meine Gefühle im Zaum.
Deshalb versuchte er, mich zu provozieren, so wie den ganzen
Sommer über auf dem Platz. Er kritisierte mein Training und
sagte, Bri sei viel besser auf Zack gewesen.
Was auch immer er an Begründungen daherbrachte, meine
Arbeitsmoral konnte er nicht infrage stellen. Nach dem Eng-
landspiel hatte er allen Stammspielerinnen gesagt, sie sollten es
im Training langsam angehen lassen. Wir hatten im schwülen
chinesischen Monsun in elf Tagen vier harte Spiele absolviert,
deshalb hatte er uns ausdrücklich eingeschärft, wir sollten uns
ausruhen. Ich war nicht die Einzige, die sich zurückhielt. Bri
andererseits war seit drei Monaten ohne Spiel – klar, dass sie
ihr Letztes gab.
Ich sah rüber zu Phil und wusste nicht, was ich sagen sollte. Alle
Logik war vollkommen für die Katz. Greg war total durcheinander;
seine Rechtfertigungen, mich auf die Bank zu setzen, wechselten
jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte. Diskutieren war zweck-
los. Er war in Panik, und ich musste es ausbaden.
Wir schwiegen beide. Ich hatte nichts mehr zu sagen, also
stand ich auf und wollte gehen. Greg lehnte sich rüber und stieß
mich wieder aufs Sofa. „Du gehst verdammt noch mal erst, wenn
ich sage, dass du gehen darfst“, schärfte er mir ein.
Dass er mich angerührt hatte, machte mich fassungslos. Ich
wollte zurückhauen, ihn fester schlagen, als ich Marcus damals
geschlagen hatte, oder die Cheerleaderin oder irgendjemanden
in meinem Leben. Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich, ich
würde es wirklich tun – ich fühlte, wie sich meine Hand bewegte.
Aber ich durfte mich nicht provozieren lassen. Also riss ich
mich zusammen und warf einen Blick rüber zu Phil, froh, einen
Zeugen zu haben. „Sind wir fertig?“, fragte ich eisig.
194 |
Auf dem Weg in mein Zimmer zitterte ich vor Wut.
Für den kurzen Aufenthalt in Hangzhou teilte ich mir das
Zimmer mit einer anderen Torhüterin, Nicole Barnhart, was
etwas eigenartig war. Normalerweise wohnen Torhüterinnen
nicht zusammen. Ich zog es vor, den Raum nicht mit jemandem
zu teilen, der um meinen Platz wetteiferte. Ich wollte mich Barnie
nicht anvertrauen, aber sie war nun mal da, als ich Marcus anrief.
All die Gefühle, die ich in der letzten halben Stunde mühsam
unterdrückt hatte, sprudelten jetzt aus mir heraus. Ich weinte
und schimpfte auf Greg und gab mir keine Mühe, irgendetwas
zurückzuhalten.
III
Ich ging aus dem Zimmer und den Gang entlang zu Kristine
Lilly. Lil spielte ihre fünfte Weltmeisterschaft, sie war die letzte
verbliebene Spielerin der ersten WM 1991. Wir standen uns nie
sehr nahe, aber ich respektierte ihr Können. Ihre Erfolgsstory
wirkte allerdings nicht einschüchternd auf mich. Sie musste mich
anhören und ausreden lassen.
„Lil, ich bin seit drei Jahren eure Stammtorhüterin“, sagte
ich. „Wie kannst du im Halbfinale der WM beschließen, dass du
jemand anderen im Tor haben willst?“
Lil wirkte über meine Frage erschrocken; offenbar hatte sie
nicht damit gerechnet, dass Greg etwas von ihrem Privatgespräch
ausplaudern würde. Auf diese Konfrontation war sie definitiv
nicht vorbereitet. Sie stotterte und meinte, sie denke nicht, dass
es etwas ausmache, wer im Tor steht.
„Lil, du bist unsere Spielführerin“, meinte ich weiterhin. „Es
sollte dir gefälligst etwas aus machen, wer im Tor steht. Du soll-
test eine Meinung dazu haben. Aber wenn nicht, wenn du denkst,
das sei egal, wie kannst du dann hingehen und dich so für Bri
einsetzen?“
| 195
Bei diesen Worten glaubte ich, einen kurzen Zweifel über ihre
Augen huschen zu sehen. Hatte sie einen Fehler gemacht? „Es
hat einen Grund, dass ich eure Stammtorhüterin bin“, redete
ich weiter. „Weil ich die anderen ausgestochen habe. Du solltest
wollen, dass die besten Spielerinnen auf dem Platz stehen. Es
ist so arrogant, zu behaupten, es sei egal, wer im Tor steht.“ Ich
schrie nicht, sondern war ganz ruhig. „Ich habe jeden Respekt
verloren, den ich einmal vor dir hatte“, sagte ich.
Dann ging ich weg, weiter den Gang entlang zu Abby und
sagte ihr genau dasselbe. Von ihr fühlte ich mich noch mehr
verraten – sie und ich entstammten derselben Generation von
Spielerinnen.
„Wie konntest du mir so in den Rücken fallen?“, fragte ich.
Abby hatte zumindest eine Antwort parat. „Hope, ich halte Bri
für die bessere Torhüterin.“
Das brachte mich zum Schweigen. Ich hielt es nicht für richtig,
und ich glaubte nicht, dass Abby viel von Torhütern verstand.
Aber wenigstens hatte sie eine Meinung und stand zu ihrer
Rolle in der Angelegenheit. Das musste ich anerkennen.
Ich ging zurück auf mein Zimmer, legte mich aufs Bett und rief
meine Mutter an. „Ich spiele gegen Brasilien nicht mit, Mama“,
sagte ich weinend.
„Du schwindelst“, lachte meine Mutter.
Ich log nicht. Es war kein böser Traum. Ich rollte mich zur
Seite und vergoss bittere Tränen.
V
Tags darauf trainierten wir im Stadion. Ich fühlte mich innerlich
wie tot, aber ich hielt meinen Kopf aufrecht. Es waren nicht viele
US-Medienleute in China – die Reise war kostspielig, und die
meisten Sender und Zeitungen sparten ihr Budget für die Olym-
pischen Spiele in Peking im folgenden Jahr. Aber die Reporter, die
196 |
da waren, bekamen den Wechsel im Tor mit; in den Interviews
nach dem Training war er das beherrschende Thema. Greg
begründete seine Entscheidung vor der Presse damit, dass ihn
Bri mit ihrer Leistung im Training und ihrer Vorgeschichte gegen
Brasilien überzeugt habe. Auf die Frage, ob mein Selbstvertrauen
erschüttert sei, sagte er, das interessiere ihn nicht; die Mann-
schaft sei hier, um Weltmeister zu werden.
Lil blieb bei ihrer Theorie, ein so grundlegender Wechsel sei
nicht weiter von Belang. „Aus Sicht des Teams spielt das keine
große Rolle“, sagte sie den Journalisten.
Die ESPN-Reporter spürten mich auf. „Ich bin nicht glücklich
darüber, kein bisschen“, antwortete ich. „Aber die Entscheidung
liegt beim Trainer, und ich muss sie hinnehmen. Ich muss für
mein Team da sein. Sie werden mich brauchen. Sie werden alle 21
Spielerinnen brauchen.“
27. September 2007
Die Beste der Welt, Papa? Ich weiß nicht recht, ob die Welt das so
sieht. Kannst du dir das vorstellen – Halbfinale, und ich sitze auf
der Bank. Aber ich brauche dich auch dort an meiner Seite, Papa. Er ist
der Feigling, für den wir ihn immer hielten. Was wird jetzt passieren,
Papa? Ist meine Karriere mit dem Spiel gegen England beendet? Papa,
es ist hart. Meine Mühen waren umsonst. Bitte hilf mir und Marcus, das
durchzustehen, Papa. Ich spiele noch immer für dich. Mit all meiner
Liebe – Baby Hope
Am Donnerstag, den 27. September sorgte die Nachricht, dass
ich meinen Stammplatz verloren hatte, zu Hause für Furore,
in Blogs und Sportsendungen. Die ESPN-Kommentatoren, Julie
Foudy und der frühere US-Coach Tony DiCicco, zeigten sich
über Gregs Entscheidung verwundert. Wieso nahm jemand eine
so tief greifende Veränderung vor, wo doch alles so gut lief? „Es
| 197
wirkt sich negativ aus, wenn man nur auf positive Dinge achtet“,
sagte Julie. „Ich halte die Entscheidung für falsch.“
DiCicco stimmte ihr zu. „Wenn es keinen Torwartstreit gibt,
wieso dann einen entfachen?“
„Das ist die Art Entscheidung, die einem den Job rettet oder
einen schnell arbeitslos macht“, meinte ESPN-Kommentator Rob
Stone.
Wegen des Zeitunterschieds liefen unsere Spiele in den USA
im Morgengrauen. In Seattle, wo es noch dunkel war, schaltete
Lesle Gallimore den Fernseher ein und las den Lauftext auf
dem Schirm. „Hope Solo im Tor durch Briana Scurry ersetzt.“ Sie
tastete nach ihrem Telefon und rief Amy an. „Ist Hope verletzt?
Was ist los?“
Ich trug in Hangzhou keine Asche bei mir. Auf der Bank würde
mein Papa nicht bei mir sein. Und dann begann das Spiel.
Das schlimmste WM-Spiel in der US-Geschichte. Beim 0:4
gegen Brasilien wurde mein Team vollkommen auf dem falschen
Fuß erwischt und überrumpelt.
198 |
KAPITEL VIERZEHN
Kaltgestellt und angeprangert
A ls die Schlacht geschlagen und die Brasilianerinnen da-
vongetanzt waren, bahnte ich mir meinen Weg über den
Platz. Abby hielt mich auf. „Hope, ich habe mich geirrt“, stam-
melte sie.
Ich nickte, aber ich war unterwegs zu meiner Familie, um
ihnen für die Unterstützung zu danken. Ich überquerte das
Spielfeld, und Marcus beugte sich mir über das Geländer ent-
gegen. Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben. In den
Händen hielt er seinen Behälter mit der Asche meines Vaters.
„Das hätte für Papa sein sollen“, sagte er mit bebender Stimme,
den Tränen nahe.
Das versetzte mir den letzten Schlag. Ich hatte mir so sehr
gewünscht, für meine Familie Stärke zu zeigen, zu Ehren meines
Vaters. Ich sehnte mich danach, sie stolz zu machen. Jetzt war da
nur noch mehr Schmerz. Aber es gab mir Kraft, meiner Familie
nahe zu sein. Und Adrian, der am Ende des Spiels durchs Stadion
zu der Tribüne über dem Tunnel gelaufen war, durch den Greg
hinausging, um ihn anzuschreien und ihm zu sagen, was für ein
Idiot er war. Adrian war wie ich und kümmerte sich nicht darum,
wer ihn hörte.
| 199
Während sich das Stadion leerte, reichte ich meinen Verwand-
ten die Hand und bedankte mich. Schließlich kam mich ein
Sicherheitsmann holen. Als letzte Spielerin verließ ich das Feld
Richtung Tunnel zur Umkleidekabine. Adrian wartete dort auf
der Tribüne auf mich. „Sei stark, Hope“, sagte er. „Sei zuversicht-
lich. Sei aufrichtig. Hab keine Angst, diesem Arschloch zu sagen,
was du denkst.“
In den Katakomben des Stadions warteten Reporter auf
uns, gegen die Metallabsperrungen gedrängt, um zu hören, was
wir zu der historischen Niederlage zu sagen hatten. Unser Presse-
beauftragter Aaron Heifetz wich mir nicht von der Seite, als ich
an den Journalisten und ESPN-Kameras vorbeiging. Ich war fast
am Bus, als sich eine Frau, die ich nicht kannte, übers Geländer
reckte und mir eine Frage stellte.
Heifetz antwortete an meiner Stelle. „Sie hat nicht gespielt“,
blaffte er. „Sprechen Sie bitte nur mit denen, die mitgespielt
haben.“
Ich blieb stehen. Ich durfte nicht für mich sprechen? „Heif,
das entscheide ich selbst“, sagte ich und wandte mich zu der
Frau mit dem Mikrofon.
„Die Entscheidung war falsch“, sagte ich, „und ich denke,
jeder, der was von Fußball versteht, weiß das. Ich habe nicht
den geringsten Zweifel, dass ich diese Bälle gehalten hätte.
Und Tatsache ist: Wir schreiben nicht mehr 2004. Jetzt ist
2007, und man muss in der Gegenwart leben. Man lebt nicht
von großen Namen. Man kann nicht von der Vergangenheit
zehren. Es ist egal, was jemand in einem olympischen Endspiel
vor drei Jahren geleistet hat. Was zählt, ist jetzt, das ist meine
Meinung.“
Ich wandte mich ab und ging zum Bus. „Sag mir nie mehr,
welche Interviews ich geben darf“, erklärte ich Heifetz.
Er war außer sich. Wahrscheinlich sei er jetzt seinen Job los,
sagte er, dann ging er zurück, maßregelte die Journalistin, weil
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sie mich belästigt hatte, und führte Bri, ohne anzuhalten, an der
Reportermeute vorbei.
Im Mannschaftsbus ging ich nach hinten und setzte mich zu
meinen engeren Freundinnen. Die Stimmung war zappenduster,
kaum jemand sprach ein Wort. Die Spielerinnen waren erschöpft,
wütend, schockiert. „Ich habe gerade ein Interview gegeben“,
sagte ich zu Carli, Tina, zu allen, die in der Nähe waren.
„Was hast du gesagt?“
„Dass ich überzeugt bin, dass ich diese Bälle gehalten hätte.“
„Au weia, Hope“, kicherte jemand.
„Das geht schon in Ordnung“, meinte Carli.
„Ich weiß nicht recht“, erwiderte ich und stöpselte mir meine
Kopfhörer ins Ohr.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass irgendwas in Ordnung ging.
Unser Team hatte soeben die schlimmste WM-Pleite aller Zeiten
erlitten, die erste Niederlage seit fast drei Jahren. In 90 Minuten
war alles, wofür wir gearbeitet hatten, zusammen gebrochen.
Der Bus verließ das Stadion und brachte uns in unser Hotel in
Hangzhou. Dort wollten wir essen, kurz unsere Familien treffen
und dann die lange Busreise zurück nach Shanghai antreten.
Als wir in der Lobby standen und uns leise unterhielten, kamen
die Brasilianerinnen und ihre Fans rein. Sie waren im selben
Hotel untergebracht – eine saudumme Entscheidung der chi-
nesischen Organisatoren. Die Brasilianerinnen tanzten in der
Lobby Samba, schlugen ihre Trommeln und schlängelten sich
durch die kleinen Gruppen amerikanischer Fans. Man spürte,
wie die Spannung zunahm – es hätte mich nicht gewundert,
wenn eine Schlägerei ausgebrochen wäre. Brasilien feierte auf
typisch brasilianische Weise, aber damit rieben sie uns unsere
Pleite förmlich unter die Nase.
Kurz darauf saßen wir wieder im Bus und fuhren durch die
Nacht nach Shanghai, wo ein paar Tage darauf das Spiel um den
dritten Platz anstand. Einige schliefen, andere checkten ihre
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Telefone, sprachen mit Verwandten in den Staaten, wo es immer
noch früh am Morgen war.
Carli smste mit ihrem Trainer James in New Jersey und wandte
sich zu mir. „Hope, James meint, das entwickelt sich zu Hause zur
Bombe. Es kommt überall in den Nachrichten.“
„Was?“
„Dein Interview.“
Den Rest der Fahrt über starrte ich aus dem Fenster, sah die
Lichter in der dunklen Nacht vorbeirauschen und ließ meine
Worte in meinem Kopf noch mal ablaufen. Ich hatte gesagt, was
ich von Gregs Entscheidung hielt – wahrscheinlich hatte er der
Presse seine Gründe mitgeteilt, wieso er auf Bri setzte. Das, fand
ich, gab mir das Recht, meinen Standpunkt zu verdeutlichen.
Als wir am Westin-Hotel in Shanghai ankamen, klemmte ich
mich mit Carli und Marci Miller, mit der ich mir das Zimmer
teilte, vor den Computer. Wir fanden das Interview auf ESPN
und sahen es uns an. „Das ist nicht so schlimm, oder?“, fragte
ich. „Es war an Greg gerichtet, nicht an Bri.“
Zögernd stimmten mir Carli und Marci bei. Nein, es war nicht
so furchtbar.
„Na ja“, sagte ich und versuchte dabei zu lächeln, „es ist
wohl nur eine Frage der Zeit, dass mir die älteren Spielerinnen
die Hölle heißmachen.“
Und schon läutete mein Telefon. Ich blickte zu Carli und
Marci. „Das sind sie, garantiert“, sagte ich beim Abnehmen.
Es war Lil. Sie sagte, die älteren Spielerinnen wollten mit mir
sprechen, und bat mich, in ihr Zimmer zu kommen.
II
Ich ging den Flur entlang. Inzwischen war es nach Mitternacht.
Ich öffnete die Tür zu Lils Zimmer und sah die Altstars, die mich
grimmig erwarteten. Kate Markgraf stand bei der Tür. Lil, Shannon
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Boxx, Christie Rampone, Abby und Bri saßen auf den Betten.
Ich ging zur anderen Seite des Zimmers und lehnte mich an die
Wand.
Sie hatten das Interview gesehen und teilten mir mit, in ihren
Augen hätte ich eine Teamregel gebrochen.
„Nun, ich bin Profisportlerin – natürlich bin ich überzeugt,
dass ich auf dem Platz etwas bewirkt hätte“, sagte ich. „Genau
wie ihr“, fügte ich hinzu. „Wir sollten alle glauben, dass wir was
bewirken können, oder wozu sind wir sonst Profis?“
„Ich kann dich verdammt noch mal nicht mal ansehen“,
sagte Kate Markgraf. „Was zum Teufel glaubst du, wer du bist?
Ich halte es nicht mal in einem Raum mit dir aus.“
Sie ging raus und schlug die Tür hinter sich zu. Wow, dachte
ich, das scheint mir übertrieben dramatisch.
Jetzt waren wir zu fünft. Ich stand da und ließ sie alle zu Wort
kommen. Sie sagten, man werfe keine Mannschaftskameradin
den Wölfen zum Fraß vor, ich hätte gegen die Regeln verstoßen
und das Team verraten. Ich bekam zu hören, ich hätte all das
ruiniert, worauf dieses Team beruhe, und niedergerissen, was
Julie Foudy und Mia und Lil und all die Spielerinnen aufgebaut
hätten, die uns den Weg geebnet hatten.
„Es geht hier nicht um Julie Foudy oder irgendwen sonst aus
der Vergangenheit“, sagte ich. „Es geht um unser Team. Ich
käme nie auf die Idee, Bri wehzutun. Ich respektiere Bri absolut.
Aber als professionelle Athletin bin ich überzeugt, dass ich in
dem Spiel etwas bewirkt hätte. Ich glaube fest genug an mich,
um zu wissen, dass ich es besser gemacht hätte. Ich denke, wir
alle sind genug von uns überzeugt, um zu glauben, dass wir das
Ergebnis beeinflussen können.“
„Wirst du dich wenigstens bei Bri entschuldigen?“, fragte
jemand.
Ich wandte mich zu Bri, um sie wissen zu lassen, dass ich ihr
nicht wehtun wollte, nicht nach allem, was sie für mich getan
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hatte, als mein Vater starb. Ich fühlte mich an die Wand ge-
drängt.
Bri sprach zuerst. Sie gestand, ich hätte sie sehr verletzt. Sie
habe versucht, für mich da zu sein, als mein Vater starb, und sei
schockiert, dass ich ihr das antue.
„Es tut mir leid, Bri“, sagte ich, „wirklich. Ich wollte dich
nicht verletzen. Mein Kommentar war an Greg gerichtet, nicht
an dich.“
Mir war klar, wie plump und peinlich sich das anhörte. Gerne
wäre ich in diesem Moment mit Bri allein gewesen, aber ich war
in einem Zimmer voller wütender Frauen, die einen öffentlichen
Akt der Buße von mir forderten. Alles wirkte irgendwie gezwun-
gen, inszeniert.
„Hope, wir haben deine Sicht der Dinge gehört“, sagte Christie
Rampone. „Du hast gehört, wie wir uns fühlen. Was machen wir
nun, um voranzukommen und die Sache wiedergutzumachen?“
Dankbar blickte ich zu Pearcie. Sie versuchte als Einzige, uns
aus diesem Schlamassel rauszubringen, all den scharfen Worten
und dem Zorn. Die Gruppe beschloss, ich solle die gesamte
Mannschaft um Verzeihung bitten. Für den Morgen wurde ein
Treffen anberaumt.
Ich verbrachte ein paar qualvolle Stunden in meinem Zimmer
und fand keinen Schlaf. Den Großteil der Nacht weinte ich und
überlegte, was ich tun sollte. Ich habe mein Leben lang immer
gesagt, was ich denke, und konnte stets dafür geradestehen.
Jetzt musste ich deswegen durchs Feuer. Es war schrecklich, Bri
wehgetan zu haben. Sie war so gut zu mir gewesen, als mein Vater
starb. Ich schwor mir, am Morgen mit ihr zu reden und die Sache
zwischen uns ins Lot zu bringen.
Als ich am nächsten Morgen zu dem Treffen ging, sah ich Bri
an der Tür stehen. „Hast du eine Sekunde für mich?“, fragte ich
sie. „Bitte lass dir versichern, dass ich dir nie wehtun wollen
würde. Ich habe solche Achtung vor dir.“
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Sie wandte sich ab. „Hope, ich kann dich jetzt nicht ansehen“,
sagte sie.
Okay, dachte ich, das wird seine Zeit brauchen. Die Bedingungen
stellt Bri. Ich muss geduldig sein.
Ich betrat den Raum und spürte, wie mich 20 Augenpaare
durchbohrten, als stünde ich auf einer Bühne. Ich sagte das-
selbe, was ich Abends zuvor im kleinen Kreis in Lils Zimmer
gesagt hatte: „Ich wollte Bri nicht wehtun. Mein Kommentar
galt Greg und seiner Argumentation. Ich sagte, ich hätte diese
Bälle gehalten, weil ich absolut überzeugt sein muss, dass ich
etwas ausrichten hätte können.“
Kein Anzeichen von Unterstützung, stattdessen Feindseligkeit
und Wut. Sogar Hass. Harte Worte flogen mir entgegen.
„Du hörst dich nicht aufrichtig an.“
„Kümmert es dich überhaupt, was du angerichtet hast?“
„Wie kannst du der Mannschaft so in den Rücken fallen?“
„Weißt du, wie furchtbar du im Fernsehen ausgesehen hast,
schmollend auf der Bank?“
„Seit Greg dir mitgeteilt hat, dass du nicht auflaufen wirst,
versinkst du in Selbstmitleid. Manche von uns sitzen bei jedem
Spiel auf der Bank.“
In der Hoffnung auf ein mitfühlendes Gesicht blickte ich
meine wenigen guten Freundinnen an, sah aber nur leeres, kaltes
Starren. Ich schaute zu den jüngeren Spielerinnen, zu Aly
und Cat, Leslie Osborne, Lori Chalupny und Tina Frimpong,
meiner ehemaligen UW-Teamkameradin, und fühlte mich wie
eine Geächtete. Alle waren auf der Seite von Lil und Abby.
Niemand trat für mich ein. Nur in Carlis Gesichtsausdruck fand
ich eine Spur von Mitgefühl.
„Du hast dich nicht mal bei Bri entschuldigt“, sagte jemand.
Ich hatte Bri schon am Abend zuvor in Lils Zimmer gesagt,
dass es mir leidtat, und gerade eben vor der Tür mit ihr ge-
sprochen. Dennoch entschuldigte ich mich noch einmal bei Bri,
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vor allen anderen. Bis jetzt hatte ich bei dem Treffen die Fassung
bewahrt, aber als ich den Mund auftat, brach meine Stimme. „Es
tut mir leid, Bri“, sagte ich. „Ich wollte dir nie wehtun. Es tut mir
leid, dass ich es getan habe.“
Dann schickte man mich raus, um über mein weiteres Schick-
sal zu befinden.
III
Später am Morgen hatten wir ein Training im Pool des Hotels,
um unsere Beine zu regenerieren. Mir war unwohl, ich wusste
nicht, wie ich mich verhalten sollte. Niemand sprach mit mir, und
ich hatte keine Ahnung, was in meiner Abwesenheit beschlossen
worden war.
Im Pool hielten sich meine Mitspielerinnen von mir fern, als
hätte ich eine ansteckende Krankheit. Nach den Übungen ver-
ließ ich den Pool als Erste. Sobald ich draußen war, versammelten
sich die anderen zum gemeinsamen Hurraruf.
O Gott, dachte ich, ich sehe nicht gerade wie ein Teamplayer
aus.
Sofort sprang ich wieder ins Wasser. Erst da dämmerte mir,
dass der Hurraruf meinem Weggehen gegolten hatte.
Nach dem Training stellte sich Greg in der Hotellobby einer
kleinen Abordnung der Presse. So gut wie alle Fragen drehten
sich um mich. „Es gibt immer eine Möglichkeit zur Versöhnung“,
betonte er. „Wir werden uns bemühen, diese Hürde zu über-
winden.“
Aber meine Teamkameradinnen hatten sich bereits entschie-
den, dass eine Versöhnung nicht infrage kam. Nachdem ich
das Treffen verlassen hatte, befanden sie meine Entschuldigung
für Heuchelei. Ich musste bestraft werden. Sie würden nicht
zulassen, dass ich um den dritten Platz mitspielte. Ich durfte
nicht mal zu dem Spiel gehen, nicht mehr mit der Mannschaft