Hausfeld Rechtsanwälte LLP Kurfürstendamm 218 D-10719...

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Hausfeld Rechtsanwälte LLP ist eine Limited Liability Partnership nach dem Recht des Staates New York, registriert in New York, USA, Department of State, Divison of Corporations, State Records & Uniform Commercial Code, mit der Registrierungsnummer 150928000675 und eingetragen im Partnerschaftsregister des Amtsgerichts Charlottenburg unter der Nummer PR 1068 B. Hausfeld Rechtsanwälte LLP hat ihren Geschäftssitz in Berlin, Deutschland, USt-ID-Nr. DE303392495, Berufshaftpflichtversicherung: XL Catlin Insurance Company Limited, Deutschland Hausfeld Rechtsanwälte LLP Kurfürstendamm 218 D-10719 Berlin +49 (0)30 322 903 001 main +49 (0)30 322 903 100 fax Christopher Rother Rechtsanwalt / Partner [email protected] Lene Kohl Rechtsanwältin / Senior Associate [email protected] Fabian Beulke Rechtsanwalt / Associate [email protected] 3. Januar 2017 Klage des Herrn[...], Kläger, - Prozessbevollmächtigte: Hausfeld Rechtsanwälte LLP, Kurfürstendamm 218, 10719 Berlin - gegen die Volkswagen AG, vertreten durch den Vorstand Matthias Müller, Herbert Diess, Karlheinz Blessing, Francisco J. Garcia Sanz, Jochem Heizmann, Christine Hohmann-Dennhardt, Andreas Renschler, Rupert Stadler, Frank Witter, Berliner Ring 2, 38440 Wolfsburg, Beklagte.

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Hausfeld Rechtsanwälte LLP ist eine Limited Liability Partnership nach dem Recht des Staates New York, registriert in New York, USA, Department of State, Divison of Corporations, State Records & Uniform Commercial Code, mit der Registrierungsnummer 150928000675 und eingetragen im Partnerschaftsregister

des Amtsgerichts Charlottenburg unter der Nummer PR 1068 B. Hausfeld Rechtsanwälte LLP hat ihren Geschäftssitz in Berlin, Deutschland, USt-ID-Nr. DE303392495, Berufshaftpflichtversicherung: XL Catlin Insurance Company Limited, Deutschland

Hausfeld Rechtsanwälte LLP Kurfürstendamm 218 D-10719 Berlin +49 (0)30 322 903 001 main +49 (0)30 322 903 100 fax Christopher Rother Rechtsanwalt / Partner [email protected] Lene Kohl Rechtsanwältin / Senior Associate [email protected] Fabian Beulke Rechtsanwalt / Associate [email protected]

3. Januar 2017

Klage

des Herrn[...],

Kläger,

- Prozessbevollmächtigte: Hausfeld Rechtsanwälte LLP,

Kurfürstendamm 218, 10719 Berlin -

gegen

die Volkswagen AG,

vertreten durch den Vorstand Matthias Müller, Herbert Diess, Karlheinz Blessing, Francisco J.

Garcia Sanz, Jochem Heizmann, Christine Hohmann-Dennhardt, Andreas Renschler, Rupert

Stadler, Frank Witter, Berliner Ring 2, 38440 Wolfsburg,

Beklagte.

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Namens und in Vollmacht des Klägers erheben wir Klage. Im Termin zur mündlichen Verhandlung

werden wir folgende Anträge stellen:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 41.000 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 31. Dezember 2016 Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des PKWs VW Eos [...] mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer [...] zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des PKWs VW Eos [...] mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer [...] in Annahmeverzug befindet.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in

Höhe von 2.613,24 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Hilfsweise für den Fall, dass das Gericht den Antrag zu 1. auf Rückzahlung des Kaufpreises abweist:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 17.000 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

5. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche künftigen Schäden zu ersetzen, die ihm aufgrund der Ausstellung der falschen Übereinstimmungsbescheinigung für den PKW VW Eos [...] mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer [...] entstehen.

Für den Fall der Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens und nicht rechtzeitiger

Verteidigungsanzeige durch die Beklagte, beantragen wir bereits jetzt den Erlass eines

Versäumnisurteils nach § 331 Abs. 3 ZPO.

Begründung:

Der Kläger ist Eigentümer eines PKW mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 189 EU 5, der mit

einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet ist. Er macht gegen die Beklagte, die Herstellerin

des PKW ist, Schadensersatzansprüche geltend.

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Der Übersichtlichkeit halber stellen wir ein Inhaltsverzeichnis voran:

A. Zum Sachverhalt ......................................................................................................................... 5 I. Das Fahrzeug des Klägers ...................................................................................................... 5 II. Die Aufdeckung des VW-Abgasskandals................................................................................ 6

1. Die Ermittlungen der US-Behörden ..................................................................................... 6 2. Der Skandal weitet sich aus ................................................................................................ 8

III. Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig ...................................... 9 IV. Interne Ermittlungen der Beklagten ..................................................................................... 9 V. Das Verfahren des Kraftfahrt-Bundesamts ........................................................................... 17

1. Die Einleitung des Verfahrens ........................................................................................... 17 2. Die Stellungnahme der Beklagten ..................................................................................... 18 3. Die Bescheide des KBA .................................................................................................... 21 4. Die Rückrufaktion .............................................................................................................. 32

VI. Der weitere Verlauf des Abgasskandals in den USA ........................................................ 35 VII. Die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland durch die Europäische Kommission aufgrund Vollzugsdefizits .................................................................... 45 VIII. Vorgerichtliche Korrespondenz zwischen den Parteien .................................................... 48

B. Zur Rechtlichen Würdigung ....................................................................................................... 50 I. Vorbemerkungen ................................................................................................................... 50

1. Grundbegriffe des Typgenehmigungsrechts ..................................................................... 50 a) Betriebserlaubnis/EG-Typgenehmigung ....................................................................... 50

aa) Voraussetzungen für die Erteilung einer EG-Typgenehmigung ............................ 51 bb) Genehmigungsverfahren ....................................................................................... 51

b) Übereinstimmungsbescheinigung ................................................................................. 52 c) Zulassung ...................................................................................................................... 53

2. „Unzulässige Abschalteinrichtungen“ gemäß Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ................. 53 a) Feststellung des KBA – Tatbestandswirkung ................................................................ 54 b) Rechtsfolgen des Einbaus der unzulässigen Abschalteinrichtungen............................ 54

aa) Nichtübereinstimmung mit dem genehmigten Fahrzeugtyp .................................. 54 bb) Erlöschen der EG-Typgenehmigung kraft Gesetzes ............................................ 56 cc) Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung ............................................... 61

II. Hauptantrag zu 1 ................................................................................................................... 68 1. Verschulden bei Vertragsschluss ...................................................................................... 68

a) Schuldverhältnis – Grundsätze der Sachwalterhaftung ................................................ 68 aa) Beteiligung am Vertragsschluss ............................................................................ 69 bb) Inanspruchnahme besonderen Vertrauens ........................................................... 69 cc) Einfluss auf das Zustandekommen des Kaufvertrages ......................................... 71 dd) Zwischenergebnis ................................................................................................. 72

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b) Pflichtverletzung ............................................................................................................ 72 c) Vertretenmüssen ........................................................................................................... 72 d) Kausaler Schaden ......................................................................................................... 72 e) Rechtsfolge.................................................................................................................... 73

aa) Erstattung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs ......... 73 bb) Kein Nutzungsersatz ............................................................................................. 74

f) Ergebnis ........................................................................................................................ 77 2. Prospekthaftung ................................................................................................................ 77

a) Anwendbarkeit der Grundsätze der Prospekthaftung ................................................... 77 b) Schadensersatzpflicht ................................................................................................... 78

3. Deliktische Haftung – § 823 Abs. 2 BGB .......................................................................... 78 a) Verletzung eines Schutzgesetzes ................................................................................. 78

aa) Verstoß gegen § 6 Abs. 1 EG-FGV ....................................................................... 79 bb) Verstoß gegen § 27 Abs. 1 EG-FGV ..................................................................... 79 cc) Europarechtskonforme Auslegung von § 823 Abs. 2 BGB ................................... 80 dd) Schutzgesetzeigenschaft ...................................................................................... 80

b) Rechtswidrigkeit ............................................................................................................ 82 c) Verschulden................................................................................................................... 82

aa) Dr. Frank von Buch als Haftungsvertreter der Beklagten analog § 31 BGB ......... 84 bb) Wissenszurechnung analog § 166 Abs. 1 BGB .................................................... 85

d) Kausaler Schaden ......................................................................................................... 87 4. Haftung für Verrichtungsgehilfen - § 831 BGB .................................................................. 87

a) Unerlaubte Handlung eines Verrichtungsgehilfen ......................................................... 88 aa) Objektiver Tatbestand einer unerlaubten Handlung ............................................. 88 bb) Dr. Frank von Buch als Verrichtungsgehilfe .......................................................... 88

b) In Ausführung der Verrichtung verursachter Schaden .................................................. 89 c) Verschulden................................................................................................................... 89 d) Rechtsfolge.................................................................................................................... 89

5. Zinsanspruch ..................................................................................................................... 89 III. Hauptantrag zu 2) .............................................................................................................. 89 IV. Hauptantrag zu 3) .............................................................................................................. 90

1. Erstattungsfähigkeit der vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren .................................. 90 2. Anspruchshöhe ................................................................................................................. 90

V. Hilfsanträge ........................................................................................................................... 91 1. Selbständiger Garantievertrag .......................................................................................... 91 2. Verletzung der Garantie .................................................................................................... 92 3. Verschulden ...................................................................................................................... 92 4. Schaden ............................................................................................................................ 92

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A. Zum Sachverhalt

I. Das Fahrzeug des Klägers

1 2010 kaufte der Kläger bei der [...], einem von der Beklagten autorisierten Fahrzeughändler in [...],

zum Kaufpreis von 41.000 € einen neuen Volkswagen Eos [...] mit einem Dieselmotor EA 189 EU 5

mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer („FIN“) [...], der am 22. Juli 2010 auf den Kläger

erstzugelassen und am [...] 2010 an ihn ausgeliefert wurde.

Beweis: Rechnung der [...] vom 21. Juli 2010,

in Kopie anbei als Anlage K1;

Zulassungbescheinigung Teil II (Fahrzeugbrief) vom 22. Juli 2010,

in Kopie anbei als Anlage K2

2 Dem Kläger wurde dabei eine von der Beklagten für den PKW ausgestellte, vom damaligen Leiter

Typprüfung Dr. Frank von Buch unterzeichnete EG-Übereinstimmungsbescheinigung (Certificate of

Conformity, „CoC“) ausgehändigt, wonach das Fahrzeug mit dem in der am 25. September 2009

vom Kraftfahrt-Bundesamt („KBA“) erteilten Genehmigung e1*2001/116*0349*12 beschriebenen

Typ „in jeder Hinsicht“ übereinstimme.

Beweis: Übereinstimmungsbescheinigung vom 7. Juli 2010,

in Kopie anbei als Anlage K3

3 Diese EG-Typgenehmigung e1*2001/116*0349*12 hatte die Beklagte beim KBA als der in

Deutschland zuständigen Typgenehmigungsbehörde beantragt. Dem Antrag war die nach § 4 Abs.

1 Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme,

Bauteile und selbständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge (EG-

Fahrzeuggenehmigungsverordnung, „EG-FGV“) i.V.m. Art. 6 und 7 der Richtlinie 2007/46/EG des

Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 zur Schaffung eines Rahmens für

die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen

und selbständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge („Richtlinie 2007/46/EG“)

erforderliche Beschreibungsmappe, einschließlich Beschreibungsbogen und

Typgenehmigungsbogen, beigefügt.

6

4 Wie sich später herausstellte, ist der PKW des Klägers vom sogenannten VW-Abgasskandal

betroffen, also mit einer Software ausgestattet, die anhand des Fahrverhaltens erkennt, wenn sich

das Fahrzeug auf dem Prüfstand im Labor befindet und im realen Fahrbetrieb in einen Modus

umschaltet, in dem die NOx-Emissionen erheblich höher sind als auf dem Prüfstand (Näheres zur

Funktionsweise der Software unter sub V.).

Beweis: Sachverständigengutachten

5 Die Beklagte hat diese Manipulationssoftware in den ihrem Antrag auf die Typgenehmigung

e1*2001/116*0349*12 beigefügten Dokumenten nicht erwähnt. Im Typgenehmigungsbogen wurde

daher Folgendes bescheinigt:

„Der Fahrzeugtyp erfüllt die technischen Anforderungen aller einschlägigen in Anhang IV/Anhang XI der Richtlinie 2007/46/EG vorgeschriebenen Rechtsakte.“

6 Im CoC findet die Manipulationssoftware ebenfalls keine Erwähnung, obwohl Herr Dr. von Buch von

dem Vorhandensein dieser Software wusste. Der Kläger wurde insofern beim Kauf des Fahrzeugs

auch nicht über das Vorhandensein der Manipulationssoftware informiert. Er ging angesichts der

Angaben im CoC davon aus, dass der PKW mit dem genehmigten Typ übereinstimme und alle

europäischen und nationalen Vorschriften erfülle. Er glaubte, dass die NOx-Emissionen des von ihm

erworbenen Fahrzeugs auch im realen Fahrbetrieb mit den offiziellen Angaben der Beklagten in

Einklang stünden, also einen umweltbewussten Kauf zu tätigen. Hätte er von dem Vorhandensein

der Manipulationssoftware gewusst, hätte er das Fahrzeug keinesfalls erworben.

7 Wäre es beim Kauf durch den Kläger nicht mit der beschriebenen Manipulationssoftware

ausgestattet gewesen und hätte es, wie im CoC angegeben, mit dem in der EG-Typgenehmigung

e1*2001/116*0349*12 beschriebenen Typ übereingestimmt, wäre das Fahrzeug des Klägers, das

derzeit einen Kilometerstand von ca. [...] km hat, heute 17.000 € wert. Tatsächlich beträgt der Wert

angesichts der kraft Gesetzes erloschenen Typgenehmigung (siehe dazu in der rechtlichen

Würdigung unter Rn. 214 ff.) aber 0 €.

Beweis: Sachverständigengutachten

II. Die Aufdeckung des VW-Abgasskandals

1. Die Ermittlungen der US-Behörden

7

8 Im Mai 2014 veröffentlichte die Universität von West Virginia in Zusammenarbeit mit dem International Council on Clean Transportation („ICCT“) eine Untersuchung, wonach bei Abgasmessungen große Differenzen beim Stickoxidausstoß von VW-Dieselfahrzeugen festgestellt worden waren. Die Fahrzeuge erfüllten unter Testbedingungen auf einem Prüfstand des California Air Resouces Board („CARB“) die Vorgaben der US-Umweltbehörde Environmental Protection Agency („EPA“). Unter realen Fahrbedingungen wurden mit einem transportablen Mess-System (PEMS) allerdings bis zu 35-fach höhere Stickoxidwerte ermittelt.

Beweis: Untersuchung der Universität West Virginia und des ICCT vom 15. Mai

2014, in Kopie anbei als Anlage K4

9 Die Volkswagen Group of America, Inc. („VW GoA“), eine 100%ige Tochtergesellschaft der Beklagten, die diese in den USA vertritt, erklärte die festgestellten Abweichungen gegenüber den US-Behörden zunächst mit einem Softwarefehler und rief die in den USA betroffenen Fahrzeuge im Dezember 2014 zurück, um eine Neukalibrierung der Dieselmotoren vorzunehmen. Da Nachprüfungen des CARB im Juli 2015 keine Verbesserung bei den Stickoxidwerten unter Realbedingungen ergaben, verlangten die US-Behörden von der VW GoA eine Erklärung und drohten andernfalls die Zulassung für 2016er VW-Modelle zu verweigern. Daraufhin gab die VW GoA am 3. September 2015 gegenüber den US-Behörden Manipulationen zur Umgehung der US-amerikanischen Abgasnormen zu. In der auf den 29. Februar 2016 datierten Erwiderung auf eine Klage wegen der Verletzung der Ad-hoc-Pflichten gemäß § 15 Abs. 1 WpHG vor dem Landgericht Braunschweig, schreibt die Beklagte hierzu:

„Am 3. Sept. 2015 wurde dann von Herrn Stuart Johnson, Leiter des Engineering and Environmental Office bei VW GoA, sowie weiteren VW-Mitarbeitern bei einem Termin mit CARB und EPA in Washington, D.C., der Einsatz eines Defeat Device in der Eröffnungserklärung offengelegt und die technischen Hintergründe hierzu erläutert.“

10 Am 18. September 2015 unterrichtete die EPA in einer Pressekonferenz die Öffentlichkeit über dieses Eingeständnis sowie über die Verwendung sogenannter „Defeat Devices“, d.h. illegaler Abschalteinrichtungen, in der Motorsteuerung von VW-Konzern-Dieselfahrzeugen der Modelljahre 2009 bis 2015, insbesondere den VW-Modellen Jetta, Beetle, Golf und Passat sowie dem Audi-Modell A3. Es handele sich um eine spezielle Software, die erkenne, ob die Fahrzeuge Abgastests unterzogen würden oder im Normalbetrieb unterwegs seien. Beim normalen Fahren schalte die Software die Abgasbegrenzung aus und bei offiziellen Emissionstests, die das Programm an Parametern wie Steuerradwinkel und Geschwindigkeit erkenne, an, um die Messung des Schadstoffausstoßes zu manipulieren.

Beweis: Berichterstattung von Spiegel Online vom 20. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K5;

8

Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des

Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur („BMVI“) aus April

2016, S.4, auszugsweise in Kopie anbei als Anlage K6

11 Gleichzeitig erließ die EPA eine sogenannte „Notice of Violation“ gegen die Beklagte, wodurch die Beklagte förmlich über die ihr zur Last gelegten Verstöße gegen das US-amerikanische Luftreinhaltegesetz (Clean Air Act) informiert wurde.

Beweis: Notice of Violation der EPA vom 18. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K7

2. Der Skandal weitet sich aus

12 Am 20. September 2015 gab die Beklagte die massiven Abgasmanipulationen an ihren Dieselmodellen in den USA auch öffentlich zu. Darüber hinaus erklärte sie zwei Tage später, dass sich die Software zur Manipulation von Abgaswerten in vielen VW-Konzern-Autos weltweit befinde. In einer Pressemitteilung der Beklagten vom 22. September 2015 heißt es in diesem Zusammenhang:

„Auffällig sind Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA 189 mit einem Gesamtvolumen von weltweit rund elf Millionen Fahrzeugen.“

Beweis: Pressemitteilung der Beklagten vom 22. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K8

13 Nach einer weiteren Pressemitteilung der Beklagten vom 25. September 2015 sind allein von der Marke Volkswagen Pkw fünf Millionen Fahrzeuge weltweit betroffen, „zum Beispiel der Volkswagen Golf der sechsten Generation, der Volkswagen Passat der siebten Generation und die erste Generation des Volkswagen Tiguan“.

Beweis: Pressemitteilung der Beklagten vom 25. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K9

14 In einer Sitzung vom 23. September 2015 räumte die Beklagte gegenüber der Untersuchungskommission des BMVI, die der Bundesverkehrsminister am 22. September 2015 eingesetzt hat, ein, „dass sich auch in bestimmten in der EU typgenehmigten Diesel-Kraftfahrzeugen unzulässige Abschalteinrichtungen befinden“. Hierbei handele es sich überwiegend um Fahrzeuge der Emissionsklasse „Euro 5“ mit Motoren der Baureihe EA 189 mit 2.0-, 1.6- und 1.2-Liter Hubraum. Nach den Angaben im Untersuchungsbericht der Kommission „Volkswagen“ des BMVI, beläuft sich die Zahl der weltweit betroffenen Konzernfahrzeuge auf „bis zu 11 Mio. Fahrzeuge, davon etwa 8,5 Mio. Fahrzeuge in der Europäischen Union und etwa 2,5 Mio. Fahrzeuge in Deutschland“.

9

Beweis: Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des BMVI aus April

2016, S.12 (Anlage K6)

15 Ebenfalls am 23. September 2015 trat der damalige Vorstandsvorsitzende der Beklagten, Martin Winterkorn, aufgrund des Abgasskandals zurück. Dass auch der europäische Markt von dem Skandal betroffen ist, wurde einen Tag später bekannt, als Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt erklärte, allein in Deutschland seien 2,8 Millionen manipulierte Fahrzeuge unterwegs.

Beweis: Berichterstattung von Spiegel Online vom 27. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K10

III. Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig

16 Um die Verantwortlichkeiten zu klären, leitete die Staatsanwaltschaft Braunschweig Ende September

2015 ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges durch den Verkauf von Kraftfahrzeugen mit

manipulierten Abgaswerten ein, das bis heute andauert.

Beweis: Presseinformation der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 29. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K11

17 Zur „Sicherstellung von Unterlagen und Datenträgern, die mit Blick auf in Betracht kommende

Straftatbestände Auskunft über die genaue Vorgehensweise der an der Manipulation der Abgaswerte

von Dieselfahrzeugen beteiligten Firmenmitarbeiter und deren Identität geben können“, führte sie am

8. Oktober 2015 mit Unterstützung des Landeskriminalamtes Niedersachen Durchsuchungen, u.a.

in den Geschäftsräumen der Beklagten in Wolfsburg, durch.

Beweis: Presseinformation der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 8. Oktober 2015,

in Kopie anbei als Anlage K12

IV. Interne Ermittlungen der Beklagten

18 Noch im September 2015 begann die interne Revision der Beklagten zu ermitteln. Nach einem

Bericht der Bild am Sonntag stieß diese auf „brisante Dokumente“, wonach die Robert Bosch GmbH

(„Bosch“), die die Manipulationssoftware entwickelt und an die Beklagte geliefert hat, die Beklagte

schon 2007 gewarnt habe, dass der Einsatz gesetzwidrig sei.

Beweis: Berichterstattung von Bild.de vom 27. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K13

10

19 In der Tat wies Bosch die Beklagte darauf hin, dass die Software als „defeat device“ genutzt werden

könne, was nach der EU- und US-Gesetzgebung verboten sei. Mit Schreiben vom 2. Juni 2008,

gerichtet an Herrn Thorsten Schmidt in der Abteilung Antriebselektronik (EAE/11) und in Kopie an

die Herren Dr. Kornmesser (EAEF/1), Sperling (EAOE/3) und Windrich (EAOE/3), bat Bosch die

Beklagte sogar um Unterzeichnung eines Haftungsausschlusses. Darin heißt es insbesondere:

20 „Die von Ihrem Haus angeforderte Weiterentwicklung bedeutet – zusätzlich zur vorhandenen Möglichkeit der Aktivierung einer zusätzlichen Anfettung über Testereingriff – noch einen weiteren Pfad zur potenziellen Bedatung als ‚defeat device‘. Wir bitten Sie, beiligende Haftungsausschlussklauseln in Ihrem Haus unterschreiben zu lassen.

(1) Haftungsausschluss und Freistellung von BOSCH betreffend Anfettung / Abmagerung:

21 Auf ausdrücklichen Wunsch der Volkswagen AG erhält diese die kundenspezifische Funktion %BGFAWU 10.x.

22 In dieser Funktion kann u.a. abhängig vom Fahrerwunschmoment (oder vergleichbaren bzw. davon abgeleiteten Größen) und der Drehzahl eine Anfettung / Abmagerung appliziert werden (z.B. Kennfeld LAMFA). Die entsprechenden Kennfelder können so bedatet werden, dass die gesetzlichen Anforderungen bzgl. Emissionsminderung erfüllt werden. Es besteht aber auch die Möglichkeit einer Bedatung, mit der die Emissionen im Alltagsgebrauch erhöht werden, in dem die Wirksamkeit des Emissionsminderungssystems in unzulässiger Weise reduziert wird (‚defeat device‘). Die Nutzung eines ‚defeat devices‘ ist insbesondere gemäß EU / ECE Gesetzgebung (siehe Definition Fußnote 1) und US-Gesetzgebung (CARB / EPA) (siehe Definition Fußnote 2) verboten.

23 Der Volkswagen AG ist bekannt, welche Verwendungen und Bedatungen der Funktion zu einer emissionsrelevanten Beeinflussung führen können und unter welchen Umständen dies gegen ein Verbot von ‚defeat devices‘ verstoßen kann. Mit der Beauftragung für die Verwendung der Funktion BGFAWU 10.x. übernimmt die Volkswagen AG die volle und alleinige Verantwortung für die Bedatung.

24 BOSCH schließt gegenüber der Volkswagen AG und, soweit in dieser Vereinbarung ausschließbar, auch gegenüber Dritten jegliche Haftung aus jedem Rechtsgrund und gemäß jeder anwendbaren Rechtsordnung aus, die auf eine durch die Funktion verursachte gesetzeswidrige emissionsrelevante Beeinflussung gestützt werden kann und die nicht auf einer vorsätzlichen Pflichtverletzung von BOSCH beruht. Dieser Haftungsausschluss umfasst insbesondere die Haftung für Schäden in Zusammenhang mit Bußgeldern, Stilllegungsanordnungen und anderen Handlungen von Behörden sowie in Zusammenhang mit Rückrufaktionen.

11

25 Die Volkswagen AG wird BOSCH von allen etwaigen Schadensersatzansprüchen Dritter freistellen, wenn und soweit der Anspruchsteller seinen Anspruch damit begründet, die Funktion habe zu einer gesetzeswidrigen emissionsrelevanten Beeinflussung geführt, es sei denn, diese beruht auf einer vorsätzlichen Pflichtverletzung von BOSCH.‘

26 Fußnote 1: EU / ECE Gesetzgebung (Directive 98/69/EC Annex I 2.16 and 5.1.1)

‘Defeat device’ means any element of design which senses temperature,

vehicle speed, engine RPM, transmission gear, manifold vacuum or any

other parameter for the purpose of activating, modulating, delaying or

deactivating the operation of any part of the emission control system under

conditions which may reasonably be expected to be encountered in normal

vehicle operation and use. Such an element of design may not be

considered a defeat device if:

• the need for the device is justified in terms of protecting the engine

against damage or accident and for safe operation of the vehicle, or

the device does not function beyond the requirements of engine

starting, or

• the device does not function beyond the requirements of engine

starting, or

• conditions are substantially included in the Type I or Type VI test

procedures.

The use of a defeat device is prohibited.

27 Fußnote 2: US – Gesetzgebung (CARB/EPA) (e.g. Title 40 Part 86 Subpart S)

‘Defeat Device’ means an Auxiliary Emission Control Device (AECD) that

reduces the effectiveness of the emission control system under conditions

which may reasonably be expected to be encountered in normal urban

vehicle operation and use, unless

• such conditions are substantially included in the FTP test

• the AECD is justified in terms of protecting the vehicle against damage

or accident, or

• the AECD does not go beyond the requirements of engine starting.

‘AECD’ means any element of design which senses temperature, vehicle

speed, engine RPM, transmission gear, manifold vacuum, or any other

12

parameter for the purpose of activating, modulating, delaying, or

deactivating the operation of any part of the emission control system.

(2) Haftungsausschluss und Freistellung von BOSCH betreffend Kundendiensttesterfunktionalität

28 Auf ausdrücklichen Wunsch der Volkswagen AG erhält diese die kundenspezifische Funktion BGFAWU 10.x.

29 In dieser Funktion gibt es die Möglichkeit, über den Kundendiensttester in einem Serienfahrzeug einen schon in der SG-SW enthaltenen alternativen Datensatz zu aktivieren, der den Standarddatensatz dauerhaft ersetzt / modifiziert. Damit wird der zertifizierte Datensatz durch einen anderen ggf. nicht zertifizierten Datensatz ersetzt. Prinzipiell hat der Hersteller die Möglichkeit, beide Datensätze zu zertifizieren. Ist dies nicht der Fall, wird mittels dieser Aktivierung / Umschaltung ein nicht zertifizierter Zustand für das betroffene Fahrzeug hergestellt. Sollte diese Umschaltung z.B. zu höheren Emissionen führen, könnte prinzipiell die Allgemeine Betriebserlaubnis erlöschen.

30 Der Volkswagen AG ist bekannt, welche Verwendungen und Bedatungen der Funktion zu einer emissionsrelevanten Beeinflussung führen können, so dass ggf. die Allgemeine Betriebserlaubnis erlischt. Mit der Beauftragung für die Verwendung der Funktion BGFAWU 10.x. übernimmt die Volkswagen AG die volle und alleinige Verantwortung für diese Funktionalität.

31 BOSCH schließt gegenüber der Volkswagen AG und, soweit in dieser Vereinbarung ausschließbar, auch gegenüber Dritten jegliche Haftung aus jedem Rechtsgrund und gemäß jeder anwendbaren Rechtsordnung aus, die auf eine durch die Funktion verursachte gesetzeswidrige emissionsrelevante Beeinflussung gestützt werden kann und die nicht auf einer vorsätzlichen Pflichtverletzung von BOSCH beruht. Dieser Haftungsausschluss umfasst insbesondere die Haftung für Schäden in Zusammenhang mit Bußgeldern, Stilllegungsanordnungen und anderen Handlungen von Behörden sowie in Zusammenhang mit Rückrufaktionen.

32 Die Volkswagen AG wird BOSCH von allen etwaigen Schadensersatzansprüchen Dritter freistellen, wenn und soweit der Anspruchsteller seinen Anspruch damit begründet, die Funktion habe zu einer gesetzeswidrigen emissionsrelevanten Beeinflussung geführt, es sei denn, diese beruht auf einer vorsätzlichen Pflichtverletzung von BOSCH.‘“

33 Wie die Presse berichtete, fiel die Entscheidung zum Einbau der Manipulationssoftware in

Dieselfahrzeugen nach einem ersten Zwischenbericht zu den internen Ermittlungen schon zuvor, in

den Jahren 2005 und 2006, in der Motorenentwicklung in der VW-Zentrale in Wolfsburg.

13

Beweis: Berichterstattung von Zeit Online vom 28. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K14;

Berichterstattung von Spiegel Online vom 29. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K15

34 In der schon in Rn. 9 erwähnten Klageerwiderung der Beklagten vom 29. Februar 2016 wird das

bestätigt. Darin heißt es:

35 „Die finale Entscheidung zur Erteilung des Entwicklungsauftrags 189 und die Freigabe erster Entwicklungsmittel erfolgte am 22. Nov. 2005 im Produktstrategiekomitee der Marke Volkswagen Pkw und der VW-Gruppe, nachdem der Entwicklungsauftrag für die Dieselmotoren-Baureihe EA 189 in den vorangegangenen Monaten vorbereitet worden war. Es handelt sich bei den Dieselmotoren der Baureihe EA 189 somit um eine Eigenentwicklung von VOLKSWAGEN, die in der Verantwortung der Marke Volkswagen Pkw lag. Gewisse Teilumfänge der Entwicklungsarbeiten wurden aber – wie bei Entwicklungsaufträgen dieses Umfangs und dieser Komplexität üblich – durch externe Dienstleister wie etwa die Zulieferer der Motorsteuerung durchgeführt.

[…]

36 Die der Dieselthematik zugrunde liegende Softwareveränderung wurde in Fahrzeugen mit Dieselmotoren der Baureihe EA 189 vorgenommen, damit die Fahrzeuge im Prüfstandbetrieb gesetzeskonforme Stickoxidwerte emittieren. Zu diesem Zweck enthielt die in den VW-Dieselmotoren des Typs EA 189 verwendete Software eine Modifizierung der zulässigen und notwendigen Motorsteuerungselemente. […]

37 In der Software der betroffenen Motorsteuerung wurden wenige Kennfelder so umprogrammiert, dass diese in einem Prüfstandlauf dafür sorgten, das gesetzeskonforme Stickoxidwerte erreicht wurden. Denn die modifizierte Software konnte erkennen, dass sich ein Fahrzeug zu Emissionstestzwecken auf einem Rollenprüfstand befindet, da sie das Fahrprofil eines Labortests als sog. ‚Integral der Geschwindigkeit über Zeit‘ identifizierte.

Beweis: Sachverständigengutachten

38 Bei Dieselmotoren Typ EA 189 der ersten Generation, die noch nicht mit einem SCR-System ausgestattet waren, betraf diese Softwareveränderung zunächst nur die Ansteuerung der Abgasrückführung und des NOx-Speicherkats. Konkret wurde dies dadurch erreicht, dass bei der Messung der Abgasemissionen das Kennfeld für die Abgasrückführungsmenge so ausgelegt wurde, dass der Motor eine erhöhte Abgasrückführungsmenge

14

im Vergleich zum üblichen Straßenbetrieb hat. Der Motor in diesem Fahrzeug erzeugt dadurch geringere Stickoxid-Emissionen. Dadurch erhöhen sich – wie dargelegt – gleichzeitig die Rußemissionen. Mit dieser softwaregesteuerten Veränderung des Kennfeldes wurden somit optimierte Abgaswerte erzeugt, was als Defeat Device gegen den US-amerikanischen Clean Air Act verstößt.

39 Bei Dieselmotoren ab der zweiten Generation wurde dann zusätzlich die Dosierfunktion des inzwischen vorhandenen SCR-Systems angesteuert, um den AdBlue-Verbrauch im Normalbetrieb möglichst gering zu halten. So wurde bei erkanntem Prüfstandbetrieb mehr AdBlue in den Abgasstrom eingespritzt, was in der Folge zu besonders niedrigen Stickoxid-Werten führte, während im Normalbetrieb weniger AdBlue eingespritzt wurde, was die Stickoxidwerte auf der Straße deutlich erhöhte.

Beweis: Sachverständigengutachten

[…]

40 Vor diesem Hintergrund stellte sich die der Dieselthematik zugrunde liegende Softwareveränderung in entwicklungstechnischer Hinsicht als verhältnismäßig kleiner, wenn auch schwerwiegender Eingriff in die vorhandene, hochkomplexe Motorsteuerungssoftware dar. Aus diesem Grund war es möglich, die problematische Softwareveränderung, die zu der regelwidrigen Prüflaufoptimierung führte, innerhalb des ohnehin für die Entwicklung der Steuerungssoftware zur Verfügung stehenden Kostenbudgets umzusetzen. Denn es waren nur einige wenige Veränderungen bestehender Kennfelder erforderlich, um die vorhandenen Softwareapplikationen so zu modifizieren, dass sie die Abgaswerte im Prüflaufmodus optimierten. Personen, die mit der konkreten Softwareprogrammierung weder befasst noch über die regelwidrige Zusatzentwicklung informiert waren, konnten diese Zusatzprogrammierung daher nicht erkennen.

Beweis: Sachverständigengutachten

41 Zudem gab es bis vor kurzem auch noch keine geeigneten mobilen Testgeräte, die im normalen Fahrbetrieb Grenzwertmessungen durchführen konnten. Dieser Umstand und die damit einhergehende seinerzeit als gering erscheinende Entdeckungsgefahr mag ebenfalls dazu beigetragen haben, dass die betreffenden Ingenieure bei VW sich zu der unzulässigen Softwareveränderung haben hinreißen lassen.

[…]

42 Die Softwareveränderung selbst wurde nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand wahrscheinlich im November 2006 vorgenommen. Soweit bislang bekannt, waren einzelne Mitarbeiter auf Arbeitsebenen unterhalb

15

des Vorstands von VOLKSWAGEN beteiligt, und zwar in den Abteilungen Antriebs-Elektronik (EAE), Dieselmotoren-Entwicklung (EAD) und Aggregate-Testcenter (EAS).“

43 Die interne Konzernrevision deckte nach Medienberichterstattung im September 2015 außerdem auf,

dass ein VW-Motorentechniker den damaligen Chef der VW-Motorenentwicklung und späteren

Markenvorstand Heinz-Jakob Neußer schon im Jahr 2011 „vor illegalen Praktiken“ im

Zusammenhang mit den Abgaswerten warnte.

Beweis: Berichterstattung von Faz.net vom 26. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K16;

Berichterstattung von Sueddeutsche.de vom 29. September 2015,

in Kopie anbei als Anlage K17;

Berichterstattung von Spiegel Online vom 29. September 2015 (Anlage K15)

44 Darüber unterrichtet beschloss der Aufsichtsrat daraufhin in einer Sitzung am 25. September 2015,

die Kanzlei Jones Day „mit einer umfassenden Untersuchung der Diesel-Thematik“ zu beauftragen,

wie die Presse verlautbarte, „weil die interne Prüfung keine rückhaltlose Aufklärung garantiere“. Die

Beklagte kündigte zunächst an, die Zwischenergebnisse dieser Untersuchung bis Ende April 2016

zu veröffentlichen, rückte davon am 22. April 2016 aber dann wieder ab.

Beweis: Pressemitteilung der Beklagten vom 22. April 2016,

in Kopie anbei als Anlage K18;

Berichterstattung von Faz.net vom 26. September 2015 (Anlage K16)

45 Neußer wurde ebenso wie der Entwicklungschef der Audi AG („Audi“), Ulrich Hackenberg, und der

Porsche-Entwicklungsvorstand Wolfgang Hatz dauerhaft beurlaubt.

Beweis: Berichterstattung von Sueddeutsche.de vom 29. September 2015 (Anlage K17);

Berichterstattung von Spiegel Online vom 29. September 2015 (Anlage K15)

46 Am 3. Oktober 2015 berichtete die Bild am Sonntag über „erste Geständnisse von VW-Ingenieuren“.

Mehrere Mitarbeiter der Motorenentwicklung in Wolfsburg hätten gegenüber der internen Revision

eingeräumt, im Jahr 2008 die Schummel-Software eingebaut zu haben. Zu diesem Zeitpunkt habe

der Dieselmotor EA 189, an dem seit 2005 getüftelt worden sei, kurz vor der Serienproduktion

gestanden. Die Ingenieure hätten erklärt, keine Lösung gefunden zu haben, mit der einerseits die

Abgasvorgaben und andererseits die Kosten eingehalten werden konnten. Deshalb sei entschieden

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worden, die Schummel-Software zu verwenden. Man habe vermeiden wollen, dass das für den

Konzern immens wichtige Motorenprojekt hätte gestoppt werden müssen. Der Motor sei für die

Serienproduktion freigegeben und im Motorenwerk Salzgitter gebaut worden. Und zwar nicht nur für

die US-Fahrzeuge, sondern weltweit. Die Software stamme von den Zulieferern Bosch und

Continental. Mehrere Ingenieure hätten den VW-Entwicklungschef Ulrich Hackenberg belastet:

Demnach hätte Hackenberg nicht nur vom Betrug gewusst, sondern das Ganze sogar in Auftrag

gegeben.

Beweis: Berichterstattung von Bild.de vom 3. Oktober 2015,

in Kopie anbei als Anlage K19

47 Rund ein halbes Jahr später berichteten die Medien unter Verweis auf die Ermittlungen der Kanzlei

Jones Day sowie die der Staatsanwaltschaft Braunschweig, unterhalb der Vorstandsebene würden

„fast alle Führungskräfte, die in die Entwicklung des Motors eingebunden waren, als belastet“ gelten.

Sie würden teilweise zu den Topmanagern im Konzern mit Jahresgehältern über einer halben Million

Euro zählen. In den Akten der Kanzlei Jones Day befänden sich umfangreiche Aussagen, darunter

„das als entscheidend eingestufte Geständnis des früheren Chefs des Bereichs Antriebselektronik“.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig habe mittlerweile eine Liste von 17 Verdächtigen. Der

Entschluss für den Betrug sei nach den bisherigen Erkenntnissen auf einer Sitzung am 20. November

2006 gefallen. Eine entscheidende Rolle solle dabei der damalige Leiter der Motorenentwicklung,

Rudolf Krebs, gespielt haben. Laut Teilnehmern der Besprechung habe Krebs den Einbau gebilligt.

Die Recherchen würden auch zeigen, dass der Betrug über die Jahre hinweg systematisch

fortentwickelt worden sei. Nach den bisherigen Erkenntnissen seien 2008 die ersten Motoren in den

USA serienmäßig mit der Betrugssoftware ausgestattet worden. Ab 2011 hätten VW-Mitarbeiter die

Software weiter entwickelt. Die Ingenieure seien mit der geringen Effizienz ihrer 2008 eingebauten

Betrugssoftware unzufrieden gewesen. Die Autos hätten immer im sauberen Testmodus gestartet

und die Abgasreinigung erst nach einer gewissen Zeit abgeschaltet – nach Auffassung der

Ingenieure zu spät. Denn dies habe dazu geführt, dass zwar zumindest zu Beginn der Fahrt weniger

Schadstoffe ausgestoßen worden seien, jedoch die Rußpartikelfilter schnell verstopften. Zur Abhilfe

hätten die Manager eine „Umkehrfunktion“ in der Software entwickelt, die im Januar 2013 erstmals

getestet und ab dem Modelljahr 2014 serienmäßig eingesetzt worden sei. Sie habe bewirkt, dass die

Motoren direkt nach dem Start im „schmutzigen“ Straßenmodus mit hohem Stickoxid-Ausstoß

gelaufen seien. Nur wenn die Software des Autos aufgrund von fehlenden Lenkradbewegungen

erkannt habe, dass es gerade auf dem Prüfstand sei, habe es in den „sauberen“ Modus geschaltet.

Dieses Software-Update sei am 5. Februar 2014 unter dem Namen „Einspritztuning“ vom VW-

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internen Arbeitskreis Produktsicherheit freigegeben worden. Im Zuge eines Rückrufs Ende 2014 –

also schon während der Auseinandersetzung mit den US-Behörden – seien auch ältere Motoren mit

der neuen Software ausgestattet worden.

Beweis: Berichterstattung von Tagesschau.de vom 27. April 2016,

in Kopie anbei als Anlage K20

48 Weitere knapp 5 Monate später wurde in den Medien berichtet, die Ermittler der Kanzlei Jones Day

hätten zahlreiche Unterlagen gefunden, die den Betrug belegen sollen. Ein zentrales Fundstück sei

eine E-Mail aus dem Jahr 2007, in der es um die strengen Abgaswerte in den USA gehe. Ein Audi-

Ingenieur solle unverblümt an einen größeren Kreis von Audi-Managern geschrieben haben, dass

man es „ganz ohne Bescheißen“ nicht schaffen werde. Jones Day sei im Zuge der Ermittlungen auf

immer mehr Hinweise gestoßen, wie stark Audi in den Betrug verwickelt gewesen sei. So hätten die

Audi-Ingenieure offenbar nicht nur eine Betrugssoftware bei ihren eigenen Premium-3-Liter-

Fahrzeugen eingesetzt, sondern auch den Betrug bei VW maßgeblich begleitet und unterstützt. Das

Tochterunternehmen Audi gelte mittlerweile im Konzern als die „Mutter des Betrugs“. Vier

hochrangige Motorenentwickler des Unternehmens seien beurlaubt worden, darunter der bisherige

Entwicklungsvorstand Stefan Knirsch. Er werde durch Zeugenaussagen und E-Mails belastet,

wonach er von dem Betrug gewusst habe. Nach den Erkenntnissen von Jones Day sei die

Beweislage gegen ihn erdrückend. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig habe mitgeteilt, sie prüfe

Vorwürfe gegen Audi-Mitarbeiter. Bei der Staatsanwaltschaft in München gebe es bereits seit einem

Jahr einen Prüfvorgang. In US-Akten würden etliche Audi-Mitarbeiter als belastet geführt.

Beweis: Berichterstattung von Tagesschau.de vom 21. September 2016,

in Kopie anbei als Anlage K21

V. Das Verfahren des Kraftfahrt-Bundesamts

1. Die Einleitung des Verfahrens

49 Am 21. September 2015 wurde das KBA angewiesen, „spezifische Nachprüfungen zu veranlassen und insbesondere zu klären, ob auch europaweit gültige Fahrzeugtypgenehmigungen des Herstellers VW vom Vorwurf der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen gemäß den Vorgaben der europäischen Typgenehmigungsvorschriften betroffen sind“.

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Beweis: Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des BMVI aus April

2016 (Anlage K6)

50 Daraufhin fand am 24. September 2015 ein Gespräch zwischen Vertretern des KBA und Vertretern der Beklagten statt, in dem letztere mitteilten, dass sie davon ausgingen, dass es bei dem den Emissions-Systemgenehmigungen zugrundeliegenden Messverfahren Manipulationen an den entsprechenden Fahrzeugen durch die Beklagte gegeben habe. Mit Datum vom 25. September 2015 übersandte das KBA der Beklagten ein Anhörungsschreiben gemäß § 28 VwVfG. Darin wurde die Beklagte gebeten mitzuteilen, ob in der Motorvariante EA 189 EU5 unzulässige Abschalteinrichtungen gemäß Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 Ziff. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge („Verordnung (EG) Nr. 715/2007“) verbaut und eingesetzt worden seien. Außerdem forderte das KBA die Beklagte auf, bis zum 7. Oktober 2015 einen verbindlichen Maßnahmen- und Zeitplan vorzulegen, ob und bis wann die betroffenen Fahrzeuge auch ohne Software die verbindliche Abgas-Verordnung einhalten können.

2. Die Stellungnahme der Beklagten

51 Mit Schreiben vom 7. Oktober 2015 erklärte die Beklagte gegenüber dem KBA, dass für den Normalbetrieb der betroffenen Fahrzeuge im Motorsteuergerät (MSG) eine Abstimmung (Modus 0) hinterlegt sei, bei der die physikalisch/chemisch untrennbare Koppelung der Entstehung von Stickoxiden (NOx) sowie Partikeln bei der motorischen Verbrennung so gestaltet sei, dass die entstehenden Partikel ein genügend niedriges Niveau aufwiesen, um die Dauerhaltbarkeit des Partikelfilters (DPF) zu gewährleisten. Darüber hinaus enthalte das MSG eine Fahrkurve als Integral der Geschwindigkeit, die nach jedem Motorstart aktiv sei und während dieser Aktivierung die Abgasrückführung (AGR) so steuere (Modus 1), dass bei der motorischen Verbrennung weniger NOx und dafür mehr Partikel entstehen. Diese vorbezeichnete Fahrkurve decke mit nur geringen Toleranzen von 1 bis 2 % den Verlauf des Weges über der Zeit im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) ab. Bei Abweichung der realen Fahrkurve durch Überschreiten der Toleranzschwellen werde die beschriebene Fahrkurve verlassen und die Abstimmung für den Normalbetrieb, Modus 0, aktiviert. Eine Rückkehr in die Applikation gemäß der beschriebenen Fahrkurve, also eine Rückkehr in den AGR-Modus 1, finde erst mit neuem Motorstart wieder statt.

52 Dem Schreiben der Beklagten an das KBA war eine Stellungnahme der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer vom 6. Oktober 2015 beigefügt, in der ebenfalls erläutert wurde, dass die Abgasrückführung im Dieselmotor EA 189 EU 5 nach zwei Betriebsmodi funktioniere. Bei dem Abgasrückführungs-Modus 1 (AGR-Modus 1) komme es zu einer relativ hohen

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Abgasrückführungsrate (AGR-Rate), während die AGR-Rate bei dem Abgasrückführungs-Modus 0 (AGR-Modus 0) geringer sei. Bei der Abgasrückführung werde Abgas aus dem Auslassbereich des Motors über ein Abgasrückführungsventil in den Ansaugtrakt des Motors geleitet und ein Teil der Frischladung ersetzt. Dies führe u.a. dazu, dass weniger NOx-Emissionen entstehen. Die AGR-Rate habe Einfluss auf die Höhe der Entstehung der NOx-Emissionen; es sei davon auszugehen, dass die NOx-Emissionen bei dem AGR-Modus 0 höher seien als bei AGR-Modus 1. Umgekehrt verhalte es sich mit der Partikelbelastung, sie sei bei hoher Abgasrückführung (AGR-Modus 1) höher als bei geringerer AGR (AGR-Modus 0). Es heißt in der Stellungnahme der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer vom 6. Oktober 2015 insbesondere:

53 „Die Schaltung zwischen den AGR-Betriebsmodi 1 und 0 erfolgt in Abhängigkeit davon, ob der für den Prüfmodus unter Laborbedingungen festgelegte NEFZ, mit geringen Puffern nach oben oder unten (max. 1 bis 2 % des NEFZ-Wegintegrals), durchfahren wird, ob also, mit anderen Worten, der Fahrzeugführer im realen Fahrbetrieb auf der Straße und im fließenden Verkehr

• unmittelbar nach dem Motorstart die vier hintereinander liegenden, identischen Fahrkurven von jeweils 195 Sekunden, die jeweils pro Abschnitt aus drei unterschiedlichen, nachzufahrenden auf- und abbauenden Geschwindigkeiten bestehen (15, 30 und 50 km/h; vgl. hierzu die Graphik und Beschreibung auf S. 5 -6), auf einer Wegstrecke von 4,052 Kilometer, sowie anschließend, nach einer definierten Pause,

• 400 sec lang eine Fahrlinie mit einem erneut vorgegebenem Geschwindigkeitsauf- und -abbau zwischen ca. 70, 50, 70, 100 und 120 km/h (vgl. hierzu die Graphik und Beschreibung auf S. 5-6), auf einer Wegstrecke von insgesamt exakt 6,955 km, nachfährt. Für den Prüfmodus sind i.Ü. weitere Parameter wie Umgebungstemperatur, Druck oder Wind maßgeblich.

54 Sofern das Fahrzeug diesen gesamten NEFZ im Strecke-Zeit-Korridor von Beginn an durchläuft, ist der AGR-Modus 1 aktiv, ansonsten ist das Fahrzeug automatisch im AGR-Modus 0.

55 Im realen Fahrbetrieb ist das Durchfahren des allein für Laborbedingungen modellierten synthetischen Fahrzyklus des NEFZ praktisch ausgeschlossen. Allein aufgrund der Erfordernisse des fließenden Verkehrs, der Sicherheit, der Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer, der unterschiedlichen Fahrgewohnheiten etc. ist es nach Maßgabe der praktischen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass in dem tatsächlichen Betrieb auf der Straße der höchst künstliche, aus 5

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eng definierten Fahrkurven bestehende synthetische Fahrzyklus des NEFZ nachgefahren wird.

56 Tatsächlich wird also wegen der engen und detaillierten Zeit-, Geschwindigkeits- und Streckenvorgaben des NEFZ der NEFZ-Strecke-Zeit-Korridor nur für den synthetischen Fahrzyklus unter den Laborbedingungen außerhalb des realen Verkehrs im Rollenprüfstandbetrieb durchfahren. Der AGR-Modus 1 findedamit praktisch nur für die Testfahrt unter Laborbedingungen Anwendung, der AGR-Modus 0 hingegen für den normalen Fahrbetrieb.“

57 Mit anderen Worten funktioniert die Abgasrückführung in den vom sogenannten Abgasskandal betroffenen Fahrzeugen, zu denen auch das Fahrzeug des Klägers gehört, nach den eigenen Angaben der Beklagten wie folgt:

58 Das Fahrzeug startet in Modus 1 mit einer relativ hohen Abgasrückführungsrate, die zu relativ geringen NOx-Emissionen und einer relativ hohen Partikelbelastung führt. Während der Fahrt gleicht eine Software das tatsächliche Fahrverhalten mit der im System hinterlegten Fahrkurve des für Laborbedingungen modellierten Neuen Europäischen Fahrzyklus („NEFZ“) ab. Registriert die Software, dass der tatsächliche Fahrverlauf von der Fahrkurve des NEFZ abweicht – was im realen Fahrbetrieb immer der Fall ist -, wird Modus 0 aktiviert, um die Dauerhaltbarkeit des Partikelfilters („DPF“) zu gewährleisten. Denn nur in Modus 0 mit einer gegenüber Modus 1 geringeren Abgasrückführungsrate und damit höheren NOx-Emissionen ist die Partikelbelastung derart gering, dass die Dauerhaltbarkeit des DPF gewährleistet ist. In Modus 0 befindet sich das Fahrzeug dann bis zu einem neuen Motorstart. Noch einfacher ausgedrückt: Anhand des Fahrverhaltens erkennt die Software, wenn sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand im Labor befindet bzw. wenn die Fahrkurve des NEFZ verlassen wird. Nur im Prüfmodus sind die NOx-Emissionen relativ gering. Im realen Fahrbetrieb sind die NOx-Emissionen dagegen erheblich höher.

Beweis: Sachverständigengutachten

59 Die Beklagte legte dem KBA am 7. Oktober 2015 auch einen Zeit- und Maßnahmenplan vor, wonach die betroffenen Fahrzeuge zurückgerufen und umgerüstet werden sollen. Die Presse berichtete in diesem Zusammenhang, VW plane für die von Manipulationen betroffenen 2-Liter-Autos eine Software-Lösung, bei den 1,6-Liter-Motoren sei mit großer Sicherheit zusätzlich eine motortechnische Anpassung nötig. Die technische Lösung für die 1,6-Liter-Motoren sei nicht vor September 2016 zu erwarten. Die neue Software für die 2-Liter-Autos solle noch 2015 vorliegen und von Anfang 2016 an eingebaut werden.

Beweis: Berichterstattung von Handelsblatt.com vom 7. Oktober 2015,

in Kopie anbei als Anlage K22

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3. Die Bescheide des KBA

60 Mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 ordnete das KBA gegenüber der Beklagten gemäß § 25 Abs. 2 EG-FGV folgende nachträgliche Nebenbestimmungen für betroffene Typgenehmigungen, u.a. auch für die Typgenehmigung e1*2001/116*0349*12 für das Modell des Klägers, an:

• Für die Systemgenehmigungen:

61 „Zur Gewährleistung der Vorschriftsmäßigkeit der mit dieser Typgenehmigung oder einem ihrer Nachtragsstände genehmigten Aggregate des Typs EA 189 EU5 sind die unzulässigen Abschalteinrichtungen entsprechend Nr. 2.16 der UN/ECE-Regelung Nr. 83 in Übereinstimmung mit Nr. 5.1.2.1 der UN/ECE-Regelung Nr. 83 und Artikel 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007 in Übereinstimmung mit Artikel 5 Abs. 2 S. 1 der VO (EG) Nr. 715/2007 zu entfernen und geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit insbesondere der Emissionen des genehmigten Systems nach der Entfernung dieser zu ergreifen; dies ist durch Beibringen geeigneter Nachweise zu belegen.

62 Der dem KBA am 07.10.2015 vorgelegte Zeit- und Maßnahmenplan (Anlage 2 – Zeit und Maßnahmenplan) ist einzuhalten. Konkrete Lösungen sind vor Applikation im Feld einschließlich der Wirksamkeit und technischen Machbarkeit, des zeitlichen Ablaufs sowie der Vorlage weiterer Unterlagen im Hinblick auf durchzuführende Rückrufaktionen vom KBA zu genehmigen. In Abhängigkeit vom weiteren Fortgang und den technischen Gegebenheiten wird das KBA im weiteren Verfahren endgültige Termine für den Ablauf der Rückrufaktion festlegen. Etwaig notwendig werdende Abweichungen vom Plan sind mit dem KBA rechtzeitig abzustimmen. Über den Erfolg der Rückrufaktionen ist dem KBA regelmäßig zu berichten.

63 Im Falle der Nichtbefolgung dieser Anordnungen ist das Kraftfahrt-Bundesamt gem. § 25 Abs. 3 EG-FGV dazu berechtigt, die Typgenehmigung ganz oder teilweise zu widerrufen oder zurückzunehmen.“

• Für die Gesamtfahrzeuggenehmigungen:

64 „Zur Gewährleistung der Vorschriftsmäßigkeit von mit dieser Typgenehmigung oder einem ihrer Nachtragsstände genehmigten, auch bereits im Verkehr befindlichen, Fahrzeugen die mit Aggregaten der Systemgenehmigungen für Emissionen (Aggregat des Typs EA 189 EU5) ausgerüstet sind, sind die unzulässigen Abschalteinrichtungen entsprechend Artikel 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007 zu entfernen. Dazu sind geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit der Fahrzeuge durch die Wiederherstellung der

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Vorschriftsmäßigkeit der dieser Genehmigung zu Grunde liegenden Systemgenehmigung für Emissionen nach VO (EG) Nr. 715/2007 sowie dadurch möglicherweise weiterer betroffener, der Gesamtfahrzeuggenehmigung zu Grunde liegender Systemgenehmigungen zu ergreifen; dies ist durch Beibringen geeigneter Nachweise zu belegen.

65 Der dem KBA am 07.10.2015 vorgelegte Zeit- und Maßnahmenplan (Anlage 2 – Zeit und Maßnahmenplan) ist einzuhalten. Konkrete Lösungen sind vor Applikation im Feld einschließlich der Wirksamkeit und technischen Machbarkeit, des zeitlichen Ablaufs sowie der Vorlage weiterer Unterlagen im Hinblick auf durchzuführende Rückrufaktionen vom KBA zu genehmigen. In Abhängigkeit vom weiteren Fortgang und den technischen Gegebenheiten wird das KBA im weiteren Verfahren endgültige Termine für den Ablauf der Rückrufaktion festlegen. Etwaig notwendig werdende Abweichungen vom Plan sind mit dem KBA rechtzeitig abzustimmen. Über den Erfolg der Rückrufaktionen ist dem KBA regelmäßig zu berichten.

66 Im Falle der Nichtbefolgung dieser Anordnungen ist das Kraftfahrt-Bundesamt gem. § 25 Abs. 3 EG-FGV dazu berechtigt, die Typgenehmigung ganz oder teilweise zu widerrufen oder zurückzunehmen.“

67 Zur Begründung des Bescheids führte das KBA u.a. Folgendes aus:

68 „Für das Inverkehrbringen von Kraftfahrzeugen in der Europäischen Union benötigen Hersteller gem. der Art. 1, 2 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.09.2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbständigen technischen Einheiten für die Fahrzeuge (RL 2007/46/EG), in deutsches Recht durch die EG-FGV vom 03.02.2011 umgesetzt wurde, eine EG-Typgenehmigung, für deren Erteilung das Kraftfahrt-Bundesamt gemäß § 2 Abs. 1 EG-FGV zuständig ist.

69 Nach § 4 Abs. 4 EG-FGV ist eine Genehmigungserteilung nur zulässig, wenn neben weiteren Voraussetzungen auch die Erfüllung der spezifischen Bestimmungen des Art. 9 der RL 2007/46/EG, hier die gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a i.V.m. Anhang IV Teil I Nr. 2 a der Richtlinie 2007/46/EG zu beachtende Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge vom 20.6.2007 (VO (EG) Nr. 715/2007), sichergestellt ist.

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70 Dies beinhaltet u.a. die durch die Verordnung der Kommission zur Durchführung und Änderung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformation für Fahrzeuge, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2015/45/ vom 14.01.2015 (VO (EG) Nr. 692/2008) erfolgte Festlegung der Anforderungen für die Auspuffemissionen sowie von Prüfzyklen gemäß Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 715/2007, wonach die besonderen Verfahren, Prüfungen und Anforderungen für die Typgenehmigung nach dem in Art. 15 Abs. 3 VO (EG) Nr. 715/2007 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle festgelegt werden.

71 Gemäß Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 692/2008, wonach der Hersteller zum Erhalt einer EG-Typgenehmigung eines Fahrzeugs hinsichtlich der Emissionen nachzuweisen hat, dass die Fahrzeuge den in den Anhängen III-VIII, X-XII, XIV, XVI und XX dieser Verordnung genannten Prüfverfahren entsprechen, gelten für die Prüfung der durchschnittlichen Abgasemissionen bei Umgebungsbedingungen die allgemeinen Vorschriften aus Art. 5.3.1 der UN/ECE-Regelung Nr. 83 gemäß Nr. 2.1 Anhang III VO (EG) Nr. 692/2008. Dass die technischen Vorschriften für die Prüfung der durchschnittlichen Abgasemissionen denen von Anhang 4 der UN/ECE-Regelung Nr. 83 entsprechen, ergibt sich aus Nr. 3.1 Anhang III VO (EG) Nr. 692/2008. Die maßgeblichen Emissionsgrenzwerte bei Euro-5-Fahrzeugen werden gemäß Nr. 2.5 Anhang III VO (EG) Nr. 692/2008 in Anhang I Tabelle 1 VO (EG) Nr. 715/2007 geregelt.

I. Systemgenehmigungen für Emissionen nach UN/ECE-Regelung

Nr. 83

72 Gemäß Artikel 6 Abs. 1 VO (EG) Nr. 692/2008 erteilt die Genehmigungsbehörde eine EG-Typgenehmigung, wenn die einschlägigen Vorschriften erfüllt sind. Gemäß Artikel 6 Abs. 1 S. 4 lit. a VO (EG) Nr. 692/2008 ist eine dafür zu erfüllende Bedingung, dass das Fahrzeug gemäß der UN/ECE-Regelung Nr. 83 Änderungsserie 06 genehmigt wurde

73 Ist ein Fahrzeug gemäß der UN/ECE-Regelung Nr. 83 Änderungsserie 06 genehmigt, ist laut Nr. 5.1.2.1 dieser Regelung die Verwendung einer Abschalteinrichtung verboten.

I.1 Abschalteinrichtung

74 Eine solche ‚Abschalteinrichtung‘ ist nach Nr. 2.16 dieser Regelung jedes Konstruktionselement, mit dem die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl, das

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Übersetzungsverhältnis, der Krümmerunterdruck oder eine andere Größe erfasst wird, um die Funktion jedes Teils der Abgasreinigungsanlage, das die Wirksamkeit der Abgasreinigungsanlage unter Bedingungen verringert, mit denen beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann, zu aktivieren, zu modulieren, zu verzögern oder zu deaktivieren.

I.1.1 Ermittlung von Parametern

75 Die Regelung stellt auf jedes Konstruktionselement ab, mit dem die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl, das Übersetzungsverhältnis, der Krümmerunterdruck oder eine andere Größe erfasst wird.

[…]

76 Es wird demnach die tatsächlich gefahrene Fahrkurve mit der hinterlegten, festgeschriebenen Fahrkurve des NEFZ abgeglichen. Für einen solchen Abgleich ist die Ermittlung der tatsächlich gefahrenen Fahrkurve notwendig, wofür die Erfassung von Größen unerlässlich ist, da nur das Vorhandensein von Ist-Daten einen Vergleich mit der NEFZ-Fahrkurve ermöglicht. Folglich findet bei dem durch die Volkswagen AG beschriebenen Verfahren eine Erfassung von einer oder mehreren Größen statt.

77 Auf eine exakte Feststellung der konkret erfassten Daten kommt es nicht an, da die Regelung mit der Formulierung ‚oder eine andere Größe‘ neben den aufgeführten Beispielen gerade das Erfassen jeder beliebigen Größe einschließt.

I.1.2 die Funktion jedes Teils der Abgasreinigungsanlage […] zu

aktivieren, zu modulieren, zu verzögern oder zu deaktivieren

78 Von der Regelung erfasst wird jede Aktivierung, Modulierung, Verzögerung oder Deaktivierung der Funktion von Teilen der Abgasreinigungsanlage.

[…]

79 Vorliegend wird, wie bereits erläutert, die AGR-Rate in Abhängigkeit vom gewählten Modus geändert; womit ein Modulieren der Funktion, hier der AGR, gegeben ist.

80 Weiterhin muss die AGR Teil der Abgasreinigungsanlage sein. Gem. Nr. 2.12 UN/ECE-Regelung Nr. 83 sind Abgasreinigungsanlagen die Teile eines Fahrzeugs zur Regelung und/oder Begrenzung der Abgasemissionen (und hier nicht relevanten Verdunstungsemissionen).

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81 Nr. 2.6 der Regelung definiert Abgasemissionen bei Selbstzündungsmotoren als die Emissionen gas- und partikelförmiger Schadstoffe sowie die Partikelzahl. Emission ist die Freisetzung von Stoffen, Erschütterungen, Wärme oder Lärm in die Luft, das Wasser oder den Boden (vgl. u. A. Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung). Als ‚gasförmige Schadstoffe‘ werden in Nr. 2.4 der Regelung unter anderem die Abgasemissionen von Stickoxiden, ausgedrückt als Stickstoffdioxid-(NO2-) Äquivalent, also dem bereits erwähnten NOx, definiert. Partikelförmige Schadstoffe sind gemäß Nr. 2.5 der Regelung als Abgasbestandteile, die bei einer Temperatur von maximal 325 K (528C) aus dem verdünnten Abgas auf den Filtern nach Anhang 4a abgeschieden werden. Partikelzahl ist in Nr. 2.5.1 der Regelung definiert als die Gesamtzahl der Partikel mit einem Durchmesser von mehr als 23nm, die im verdünnten Abgas nach dessen Konditionierung zur Entfernung flüchtiger Bestandteile enthalten sind.

[…]

82 Die AGR ist dann als Teil der Abgasreinigungsanlage zu verstehen, wenn sie geeignet ist, die Abgasemissionen zu regeln.

83 Unter den Begriffen ‚Regelung‘ und ‚Regeln‘ ist das nach bestimmten Regeln oder Gesichtspunkten erfolgende ‚Gestalten, Abwickeln; Ordnend in bestimmte Bahnen lenken; in eine bestimmte Ordnung bringen; nach bestimmten Regeln in einer bestimmten Ordnung vor sich gehen; geordnet ablaufen zu verstehen. Im vorliegenden Fall wird nach einem bestimmten Gesichtspunkt, dem Verlauf der Fahrkurve nach Start des Motors, ein bestimmter AGR-Modus verwendet. Der AGR-Modus wiederum steht wie vorstehend beschrieben in direktem Zusammenhang mit den ausgestoßenen Abgasemissionen. Darunter ist nach dem genannten allgemeinen Sprachgebrauch ein ‚Regeln‘ zu verstehen.

84 Auch wenn eine Rückkehr von Modus 0 in Modus 1 ohne Abschalten des Motors nicht möglich ist, findet bei einem Wechsel von Modus 1 in Modus 0 notwendigerweise mindestens eine Regelung der Abgasemission statt. Die Vorschrift umfasst aber jede, also auch eine einmalige Regelung der Abgasemissionen. Auf die Anzahl der Regelungsvorgänge kommt es also nicht an.

Die AGR ist demnach als Teil der Abgasreinigungsanlage zu verstehen.

Folglich findet eine Modulierung der Funktion von Teilen der Abgasreinigungsanlage statt.

I.1.3 die Wirksamkeit der Abgasreinigungsanlage unter

Bedingungen verringert, mit denen beim normalen Betrieb und

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bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise

gerechnet werden kann

85 Die Modulierung der Funktion von Teilen der Abgasreinigungsanlage muss nach der Vorschrift weiterhin die Wirksamkeit der Abgasreinigungsanlage unter Bedingungen, mit denen beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann, verringern.

[…]

86 Auch wenn der Begriff ‚Wirksamkeit‘ weder durch Gesetzgebungsakte noch Erläuterungen der Europäischen Kommission näher konkretisiert ist, kann im vorliegenden Sachzusammenhang für eine Verringerung der Wirksamkeit der Abgasreinigungsanlage darauf abgestellt werden, dass die Abgasemissionen sich nicht erhöhen dürfen. Wie vorstehend beschrieben führt die Umschaltung in den Modus 0 aber zu einer Erhöhung der NOx-Werte, so dass eine Verringerung der Wirksamkeit der Abgasreinigungsanlage gegeben ist; ein Ausgleichen oder Aufrechnen einer Verringerung der Wirksamkeit für einen Emissionsgrenzwert, wie in dem Gutachten der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer vom 06.10.2015 dargestellt, durch eine Verbesserung der Wirksamkeit bei anderen einzuhaltenden Emissionsgrenzwerten sieht die Regelung nicht vor.

87 Diese Verringerung der Wirksamkeit muss jedoch unter Bedingungen erfolgen, mit denen beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann.

[…]

88 Der Start des Motors als Beginn des Fahrtantritts ist bei praxisnaher Betrachtung eine solche Bedingung, bei der beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann. Im Anschluss an den Motorstart erfolgt regelmäßig beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung ein wie auch immer geartetes Fahrverhalten. Hierzu führt die Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer aus: ‚Allein aufgrund der Erfordernisse des fließenden Verkehrs, der Sicherheit, der Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer, der unterschiedlichen Fahrgewohnheiten etc. ist es nach Maßgabe der praktischen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass in dem tatsächlichen Betrieb auf der Straße der höchst künstliche, aus 5 eng definierten Fahrkurven bestehende synthetische Fahrzyklus des NEFZ nachgefahren wird.‘ Dies verdeutlicht, dass ein Fahrverhalten, dass keine Änderung des AGR-Modus von Modus 1 in Modus 0 durch Überschreiten der Toleranzschwellen zum NEFZ-Fahrzyklus, außerhalb der Prüfung im Emissionszyklus in der Praxis nicht auftreten wird. Daraus folgt, dass bei

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jedem – lebensnah als normalem Betrieb und normaler Nutzung zu verstehendem – Motorstart mit anschließender Fahrt die AGR in Modus 1 mit geringeren NOx-Emissionen gestartet und danach der Modus 0 mit höheren NOx-Emissionen aktiviert wird.

89 Folglich findet die Verringerung der Wirksamkeit der Abgasreinigungsanlage unter Bedingungen statt, mit denen beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann.

Ergebnis zu I.1:

90 Ein Konstruktionselement kann gem. Nr. 2.16 S. 2 UN/ECE-Regelung Nr. 83 nicht als Abschalteinrichtung angesehen werden, wenn nach Nr. 2.16.1 UN/ECE-Regelung Nr. 83 die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, oder nach Nr. 2.16.2 UN/ECE-Regelung Nr. 83 wenn die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist, oder nach Nr. 2.16.3 UN/ECE-Regelung Nr. 83 die Bedingungen im Wesentlichen in den Verfahren für die Prüfungen Typ I oder Typ VI aufgeführt sind. Das Vorliegen eines solchen Ausnahmetatbestands wurde nicht vorgetragen und ist diesseitig nicht zu erkennen.

Es liegt demnach eine unzulässige ‚Abschalteinrichtung‘ nach Nr. 2.16 der UN/ECE-Regelung Nr. 83 Änderungsserie 06 vor.

Ergebnis zu I:

91 Laut Nr. 5.1.2.1 derselben Regelung ist die Verwendung einer Abschalteinrichtung verboten. Folglich entsprechen Fahrzeuge in denen das von der Volkswagen AG beschriebene, vorstehend betrachtete Konstruktionselement verbaut ist nicht den Anforderungen der UN/ECE-Regelung Nr. 83 Änderungsserie 06. Demnach sind diese Fahrzeuge als nicht vorschriftsmäßig anzusehen.

II. Systemgenehmigungen für Emissionen VO (EG) Nr. 715/2007

92 Ist ein Fahrzeug gemäß der VO (EG) Nr. 715/2007 genehmigt, ist laut Artikel 5 Abs. 2 dieser Verordnung die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig.

II.1 Abschalteinrichtung

93 Eine solche ‚Abschalteinrichtung‘ ist nach Artikel 3 Nr. 10 dieser Verordnung ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (EpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige

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Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.

II.1.1 Ermittlung von Parametern

94 Die Regelung stellt auf jedes Konstruktionselement ab, mit dem die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), der eingelegten Getriebegang, der Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter erfasst werden.

[…]

95 Es wird demnach die tatsächlich gefahrene Fahrkurve mit der hinterlegten, festgeschriebenen Fahrkurve des NEFZ abgeglichen. Für einen solchen Abgleich ist die Ermittlung der tatsächlich gefahrenen Fahrkurve notwendig, wofür die Erfassung von Größen unerlässlich ist, da nur das Vorhandensein von Ist-Daten einen Vergleich mit der NEFZ-Fahrkurve ermöglicht. Folglich findet bei dem durch die Volkswagen AG beschriebenen Verfahren eine Erfassung von einer oder mehrere Größen statt.

96 Auf eine exakte Feststellung der konkret erfassten Daten kommt es nach diesseitiger Auffassung nicht an, da die Regelung mit der Formulierung ‚oder sonstige Parameter‘ neben den aufgeführten Beispielen gerade das Erfassen jedes beliebigen Parameters einschließt.

II.1.2 die Funktion eines beliebigen Teils des

Emissionskontrollsystems […] zu aktivieren, zu verändern, zu

verzögern oder zu deaktivieren

97 Von der Norm erfasst wird jede Aktivierung, Veränderung, Verzögerung oder Deaktivierung der Funktion von Teilen des Emissionskontrollsystems.

[…]

98 In Frage kommt hier ein Verändern der Funktion. Vorliegend wird, wie bereits erläutert, die AGR-Rate der AGR in Abhängigkeit vom Modus der AGR geändert; was entsprechend dem in dem vorstehend erläuterten Verständnis ein Verändern der Funktion, hier der AGR, darstellt.

99 Weiterhin muss die AGR Teil des Emissionskontrollsystems sein, mithin also eine ‚Emissionsmindernde Einrichtung‘ sein, welche gem. Art. 3 Nr. 11 der Verordnung die Teile eines Fahrzeugs sind, die die Auspuff- und Verdunstungsemissionen eines Fahrzeugs regeln und/oder begrenzen.

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100 Art. 3 Nr. 6 der Verordnung definiert Abgasemissionen als die Emissionen gasförmiger und partikelförmiger Schadstoffe. Emission ist die Freisetzung von Stoffen, Erschütterungen, Wärme oder Lärm in die Luft, das Wasser oder den Boden (vgl. u. A. Art. 3 Nr. 4 der RL 2010/75/EU). Als ‚gasförmige Schadstoffe‘ werden in Art. 3 Nr. 4 der Verordnung unter anderem die Abgasemissionen von Stickstoffoxiden, ausgedrückt als Stickstoffdioxid (NO2-)-Äquivalent, also dem bereits erwähnten NOx, definiert, partikelförmige Schadstoffe in Art. 3 Nr. 5 der Verordnung als Abgasbestandteile, die bei einer Temperatur von höchstens 325 K (528C) mit den in dem Verfahren zur Ermittlung der durchschnittlichen Auspuffemissionen beschriebenen Filtern aus dem verdünnten Abgas abgeschieden werden.

[…]

101 Die AGR ist dann als emissionsmindernde Einrichtung, und somit als Teil des Emissionskontrollsystems zu verstehen, wenn sie geeignet ist, die Abgasemissionen zu regeln.

102 Hier wird nach einem bestimmten Gesichtspunkt, dem Verlauf der Fahrkurve nach Start des Motors, ein bestimmter AGR-Modus verwendet. Der AGR-Modus wiederum steht, wie vorstehend beschrieben in direktem Zusammenhang mit den ausgestoßenen Abgasemissionen. Das AGR regelt mithin die Auspuffemissionen des Fahrzeugs.

103 Auch wenn eine Rückkehr von Modus 0 in Modus 1 ohne Abschalten des Motors nicht möglich ist, findet bei einem Wechsel von Modus 1 in Modus 0 notwendigerweise mindestens eine Regelung der Abgasemission statt. Die Vorschrift umfasst also jedes, auch ein einmaliges Regeln der Abgasemissionen. Auf die Anzahl der Regelungsvorgänge kommt es also nicht an.

Die AGR ist demnach als emissionsmindernde Einrichtung, mithin als Teil des Emissionskontrollsystems zu verstehen.

104 Auch formal wird die AGR im Beschreibungsbogen Nr. 3.2.12 des Anh. I Anl. 3 zur VO (EG) Nr. 692/2008 unter die Maßnahmen gegen Luftverunreinigung gefasst und wurde von der Volkswagen AG im Antrag entsprechend beschrieben.

Folglich liegt eine Veränderung der Funktion von Teilen des Emissionskontrollsystems vor.

II.1.3 wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter

Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb

vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird

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105 Die Veränderung der Funktion von Teilen des Emissionskontrollsystems muss weiterhin die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, mit denen beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann, verringern.

[…]

106 Auch wenn der Begriff ‚Wirksamkeit‘ weder durch Gesetzgebungsakte noch Erläuterungen der Kommission näher konkretisiert ist, kann im vorliegenden Sachzusammenhang für eine Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems darauf abgestellt werden, dass die Abgasemissionen sich nicht erhöhen. Wie vorstehend beschrieben führt die Umschaltung in den Modus 0 aber zu einer Erhöhung der NOx-Werte, so dass eine Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems gegeben ist; ein Ausgleichen oder Aufrechnen einer Verringerung der Wirksamkeit für einen Emissionsgrenzwert durch eine Verbesserung der Wirksamkeit bei anderen einzuhaltenden Emissionsgrenzwerten sieht die Regelung nicht vor.

107 Diese Verringerung der Wirksamkeit muss jedoch unter Bedingungen erfolgen, mit denen beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann.

[…]

108 Der Start des Motors als Beginn des Fahrtantritts ist bei praxisnaher Betrachtung eine solche Bedingung, bei der beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann. Im Anschluss an den Motorstart erfolgt regelmäßig beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung ein wie auch immer geartetes Fahrverhalten. Die bereits zitierte Ausführung der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer: ‚Allein aufgrund der Erfordernisse des fließenden Verkehrs, der Sicherheit, der Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer, der unterschiedlichen Fahrgewohnheiten etc. ist es nach Maßgabe der praktischen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass in dem tatsächlichen Betrieb auf der Straße der höchst künstliche, aus 5 eng definierten Fahrkurven bestehende synthetische Fahrzyklus des NEFZ nachgefahren wird.‘ verdeutlicht nunmehr, dass ein Fahrverhalten, dass keine Änderung des AGR-Modus von Modus 1 in Modus 0 durch Überschreiten der Toleranzschwellen zum NEFZ-Fahrzyklus, außerhalb der Prüfung im Emissionszyklus in der Praxis nicht auftreten wird. Daraus folgt, dass bei jedem – lebensnah als normalem Betrieb und normaler Nutzung zu verstehendem – Motorstart mit anschließender Fahrt die AGR in Modus 1 mit geringeren NOx-Emissionen gestartet und danach der Modus 0 mit höheren NOx-Emissionen aktiviert wird.

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109 Folglich findet die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen statt, mit denen beim normalen Betrieb und bei der normalen Nutzung des Fahrzeugs vernünftigerweise gerechnet werden kann.

Ergebnis zu II.1:

110 Ein solches Konstruktionselement kann nicht als unzulässige Abschalteinrichtung angesehen werden, wann nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten; b) die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist; c) die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind. Das Vorliegen eines solchen Ausnahmetatbestands wurde nicht vorgetragen und ist diesseitig nicht zu erkennen.

Es liegt eine solche unzulässige ‚Abschalteinrichung‘ nach Artikel 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007 vor.

Ergebnis zu II:

111 Laut Artikel 5 Abs. 2 derselben Regelung ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern (vgl. II.1.3), unzulässig. Folglich entsprechen Fahrzeuge in denen das von der Volkswagen AG beschriebene, vorstehend betrachte Konstruktionselement verbaut ist nicht den Anforderungen zur Genehmigungserteilung nach VO (EG) Nr. 715/2007. Demnach sind diese Fahrzeuge als nicht vorschriftsmäßig anzusehen.

III. Gesamtfahrzeuggenehmigungen nach RL 2007/46/EG

112 Gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a i.V.m. Anhang IV Teil I Nr. 2A der Richtlinie 2007/46/EG darf eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge der Fahrzeugklassen M1, M2, N1 und N2 nur erteilt werden, wenn das Fahrzeug die VO (EG) Nr. 715/2007 erfüllt. Wie mit Ergebnis zu II festgestellt, sind Fahrzeuge, in denen die als Abschalteinrichtung qualifizierte AGR-Steuerung verwendet wird, als nicht vorschriftsmäßig bezüglich der VO (EG) 715/2007 anzusehen. In der Folge sind diese Fahrzeuge ebenfalls als nicht vorschriftsmäßig in Bezug auf erteilte Genehmigungen nach der RL 2007/46/EG zu bewerten und die erteilten EG-Typgenehmigungen als rechtswidrig anzusehen.

IV. Maßnahmen nach § 25 EG-FGV

113 Gemäß § 25 Abs. 2 EG-FGV kann das Kraftfahrt-Bundesamt zur Beseitigung aufgetretener Mängel und zur Gewährleistung der

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Vorschriftsmäßigkeit auch bereits im Verkehr befindlicher Fahrzeuge, selbständiger technischer Einheiten oder Bauteile nachträglich Nebenbestimmungen anordnen.

114 Die mit diesem Bescheid nachträglich angeordneten Nebenbestimmungen dienen der Beseitigung des vorschriftswidrigen Zustands durch Entfernen der Abschalteinrichtung/en und dem Ergreifen von Maßnahmen seitens des Herstellers zur Gewährleistung der Einhaltung für die erteilten Genehmigungen geltenden Emissionsgrenzwerte für auf Grundlage dieser Genehmigungen produzierte sowie in Verkehr gebrachte bzw. bereits befindliche Fahrzeuge.“

115 Am 17. November 2015 erließ das KBA einen weiteren Bescheid gegen die Beklagte, in dem es Nebenbestimmungen für Typgenehmigungen der Abgasnorm Euro 4 anordnete. Die Beklagte hat gegen keinen der Bescheide einen Rechtsbehelf eingelegt, sie sind ihr gegenüber mithin bestandskräftig.

116 Am 10. und 11 Dezember 2015 folgten weitere Bescheide des KBA mit Nebenbestimmungen gegenüber den Konzerntöchtern Audi und Audi Hungaria Motor Kft.

4. Die Rückrufaktion

117 Ende November 2015 stellte die Beklagte dem KBA die konkreten technischen Maßnahmen für die betroffenen EA 189-Motoren mit 1,6 und 2,0 Liter Hubraum vor. Nach einer Presseerklärung der Beklagten vom 25. November 2015 sollen folgende Maßnahmen erfolgen:

„Beim 1,6-Liter EA 189-Motor wird direkt vor dem Luftmassenmesser ein sogenannter Strömungsgleichrichter befestigt. Das ist ein Gitternetz, das den verwirbelten Luftstrom vor dem Luftmassenmesser beruhigt und so die Messgenauigkeit des Luftmassenmessers entscheidend verbessert. Der Luftmassenmesser ermittelt die aktuell durchgesetzte Luftmasse; ein für das Motormanagement sehr wichtiger Parameter für einen optimalen Verbrennungsvorgang. Zudem wird an diesem Motor noch ein Software-Update durchgeführt. Die reine Umsetzung der technischen Maßnahmen wird voraussichtlich weniger als eine Stunde in Anspruch nehmen.

Die 2,0-Liter-Aggregate bekommen ein Software-Update. Die reine Arbeitszeit für diese Maßnahme wird rund eine halbe Stunde betragen.“

118 Gleichzeitig kündigte die Beklagte an, „die finale technische Lösung“ für den 1,2-Liter-Dieselmotor werden dem KBA „Ende des Monats“ präsentiert und umfasse voraussichtlich ein Software-Update.

Beweis: Pressemitteilung der Beklagten vom 25. November 2015,

in Kopie anbei als Anlage K23

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119 Mit Pressemitteilung vom 16. Dezember 2015 bestätigte die Beklagte, dass auch für die 1,2-Liter-Aggregate ein Software-Update vorgesehen sei. Die reine Arbeitszeit würde knapp eine halbe Stunde betragen. In einem ersten Brief würden die betroffenen Fahrzeughalter darüber in Kenntnis gesetzt, dass für ihren PKW eine Rückrufmaßnahme vorgesehen sei. Dabei würden die Kunden auch gebeten, eine weitere schriftliche Information abzuwarten, bevor sie aktiv Kontakt zu einem Volkswagen Partnerbetrieb aufnähmen. In einem zweiten Schreiben werde die Beklagte die betroffenen Kunden frühzeitig darum bitten, einen Termin zur Umsetzung der technischen Lösungen mit einem frei zu wählenden Partnerbetrieb zu vereinbaren. Das KBA habe alle Maßnahmen für die 1,2-, 1,6- und 2,0-Liter-Dieselmotoren vollumfänglich bestätigt. Nach der Umsetzung der Maßnahmen würden alle Fahrzeuge die jeweils gültigen Abgasnormen erfüllen, „mit dem Ziel, dies ohne Beeinträchtigung der Motorleistung, des Verbrauchs und der Fahrleistungen zu erreichen“.

Beweis: Pressemitteilung der Beklagten vom 16. Dezember 2015,

in Kopie anbei als Anlage K24

120 Die Beklagte behauptet, es gebe nach dem Software-Update keine Veränderung der Verbrauchswerte, der Leistungsdaten und Geräuschemissionen bei den betroffenen Modellen. Dennoch verweigert sie ihren Kunden die Abgabe einer dahingehenden Garantie, indem sie lediglich auf ihr „Ziel, dass die Maßnahmen keinen nachhaltigen Einfluss auf Verbrauch und Fahrleistung haben werden“, verweist.

Beweis: Schriftwechsel der financialright GmbH mit der Beklagten,

in Kopie anbei als Anlagenkonvolut K25;

Berichterstattung von Spiegel Online vom 5. August 2016,

in Kopie anbei als Anlage K26

121 Nach Medienberichterstattung wittere die Beklagte hinter dem Begriff „Garantie“ die Gefahr, „dass Kunden etwa ein halbes Jahr nach der Umrüstung mit einem Motorschaden in eine Werkstatt kommen und den Defekt auf die neue Software zurückführen könnten, ohne dass es in Wirklichkeit einen Zusammenhang gibt“. Die Beklagte argumentiere, es sei auch im Interesse der Kunden wichtig, zu vermeiden, dass es bei etwaigen anderen Schäden, die nichts mit dem Abgas-Skandal zu tun haben, zu einer Verunsicherung hinsichtlich möglicher Gewährleistungsregelungen komme.

Beweis: Berichterstattung von Automobilwoche.de vom 12. August 2016,

in Kopie anbei als Anlage K27

122 Das KBA hat die bisherigen Freigabeerklärungen für von der Beklagten sukzessive entwickelte technische Lösungen für einzelne Modelle nicht öffentlich gemacht, mit Ausnahme der

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allerersten Freigabe für das Fahrzeugmodell VW Amarok 2,0-Liter. Und auch dazu heißt es in einer Presseerklärung des KBA vom 27. Januar 2016 nur:

„Das Kraftfahrt-Bundesamt hat heute die endgültige Freigabe für das Fahrzeugmodell Amarok 2,0-Liter erteilt. Damit kann VW den Rückruf und die Umrüstung dieses Modells beginnen. VW wird die Halter dieser Fahrzeuge entsprechend informieren. Die Freigaben für die weiteren betroffenen Modelle befinden sich derzeit beim Kraftfahrt-Bundesamt noch in der Prüfung.“

Beweis: Pressemitteilung des KBA vom 27. Januar 2016,

in Kopie anbei als Anlage K28

123 Bis heute hat das KBA nicht öffentlich bestätigt, dass es nach dem Software-Update nicht zu erhöhtem Kraftstoffverbrauch, reduzierter Leistung und höheren Geräuschemissionen kommt. Dass die von der Beklagten entwickelte Umrüstung den Kraftstoffverbrauch erhöht und die Leistung reduziert, ist nach Meinung von renommierten Sachverständigen aber sehr wahrscheinlich.

Beweis: Gutachten des Sachverständigen David E. Foster vom 14. März 2016,

in Kopie anbei als Anlage K29;

Gutachten des Sachverständigen Dr. Horace Calvert Stinton vom 26. August

2016,

in Kopie anbei als Anlage K30

124 Deswegen und wegen der Beschädigung der VW-Marken durch den Abgasskandal gehen namhafte Ökonomen von einem Wertverlust der betroffenen Fahrzeuge aus.

Beweis: Gutachten von Joseph E. Stiglitz vom 30. August 2016,

in Kopie anbei als Anlage K31;

Gutachten von Oxera Consulting LLP vom 31. August 2016, in Kopie als Anlage K32

125 Die Umrüstung führt voraussichtlich nicht nur zu erhöhtem Kraftstoffverbrauch und reduzierter Leistung, sondern angesichts der höheren Partikelbelastung bei Erhöhung der Abgasrückführungsmenge auch zu einer Beeinträchtigung der Lebensdauer, Zuverlässigkeit und Instandhaltbarkeit von Motor, Dieselrußpartikelfilter, Abgasrückführungsventil und -kühler sowie des Fahrzeugs im Ganzen.

Beweis: Sachverständigengutachten

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126 Auch diesbezüglich gibt die Beklagte keine Garantie ab.

Beweis: Schriftwechsel der financialright GmbH mit der Beklagten (Anlagenkonvolut

K25).

VI. Der weitere Verlauf des Abgasskandals in den USA

127 Die US-Umweltbehörde EPA teilte der Beklagten in einer zweiten „Notice of Violation“ am 2.

November 2015 mit, dass sie nach Ausweitung ihrer Ermittlungen die Abschalteinrichtung auch in

VW-, Audi- und Porsche-Dieselfahrzeugen mit 3-Liter-Motor vorgefunden habe. In bestimmten

Diesel-Modellen der Modelljahrgänge 2014 bis 2016 seien 3-Liter-Dieselmotoren verbaut worden,

die die erlaubten EPA-Grenzwerte bis zu neunmal überträfen. Im Einzelnen handele es sich um

Fahrzeuge der Typen:

• VW Touareg (Modelljahr 2014);

• Porsche Cayenne (Modelljahr 2015)

• sowie die Audi-Modelle (Modelljahr 2016)

• A6 Quattro;

• A7 Quattro;

• A8 und A8L;

• Q5.

Beweis: Notice of Violation der EPA vom 2. November 2015,

in Kopie anbei als Anlage K33

128 Am 9. November 2015 startete VW GoA in den USA ein Goodwill-Programm, bei dem Eigentümer

und Leasingnehmer betroffener Fahrzeuge 1.000 US-Dollar pro 2,0 Liter Dieselfahrzeug in Form

einer Guthabenkarte und einer weiteren VW-Händlerkarte im Wert von je 500 US-Dollar sowie eine

kostenfreie 24-Stunden-Pannenhilfe für drei Jahre erhalten. Später wurde die Aktion auf 3,0 Liter

Dieselfahrzeuge ausgeweitet.

Beweis: VW GoA TDI Goodwill Package Program Rules, abrufbar unter

https://www.vwdieselinfo.com/program_rules/,

in Kopie anbei als Anlage K34

129 Am 21. April 2016 wurde bekannt, dass die Beklagte mit den US-Behörden und dem die privaten

Sammelkläger in den USA vertretenden Plaintiff Steering Committee eine grundsätzliche Einigung

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erzielte, bei der man sich auf folgende Eckpunkte in Bezug auf manipulierte 2-Liter-Dieselfahrzeuge

einigte: Rückkauf, wahlweise Reparatur manipulierter Fahrzeuge; „substanzielle Entschädigung“ für

Dieselbesitzer; einen Umweltfonds.

Beweis: Berichterstattung von Spiegel Online vom 21. April 2016,

in Kopie anbei als Anlage K35

130 Der zuständige US-Richter Breyer am Bezirksgericht für das Nördliche Kalifornien (District Court for

the Northern District of California) in San Francisco genehmigte die Einigung mit einem

Gesamtvolumen von 14,7 US-Dollar Milliarden für Rückkäufe, Entschädigungen und Strafen am 29.

Juli 2016 vorläufig.

Beweis: Beschluss des Bezirksgerichts für das Nördliche Kalifornien vom 29. Juli 2016,

in Kopie anbei als Anlage K36

131 Kurz darauf gestand der langjährige VW-Mitarbeiter James Robert Liang im August 2016 vor dem

Bezirksgericht für das östliche Michigan (Eastern District Court of Michigan) in Detroit, an einer

„Verschwörung“ des VW-Konzerns gegenüber der EPA beteiligt gewesen zu sein. Herr Liang war bis

Mai 2008 Angestellter der Beklagten und arbeitete in der Diesel-Entwicklungsabteilung in Wolfsburg.

Von Mai 2008 bis 2016 war Herr Liang Leiter der Diesel Competence for VW GoA. In dieser Funktion

war Herr Liang für die Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Zertifizierung von VW Diesel-

Fahrzeugen zuständig. Auf S. 5 des von Herrn Liang unterzeichneten Plea Agreement heißt es

wörtlich:

132 „In about 2006 [...] LIANG and his co-conspirators pursued and planned the use of a software function to cheat standard U.S. emissions tests (the „defeat device”). LIANG used the defeat device software while working on the EA 189 and assisted in making the defeat device software work. The co-conspirators needed to do so to obtain a certificate of conformity from the United States Environmental Protection Agency (“EPA”) in order to sell vehicles in the United States. LIANG understood that EPA would not certify vehicles for sale in the United States if EPA knew that the vehicles contained a defeat device.”

Zu Deutsch:

133 „Ungefähr im Jahre 2006 […] haben LIANG und seine Komplizen die Nutzung einer Softwarefunktion zur Umgehung US-amerikanischer Abgastests (die „Abschalteinrichtung“) geplant und durchgeführt. LIANG hat die Abschaltsoftware eingesetzt während er am EA 189 gearbeitet hat und er hat mitgeholfen, die Abschaltsoftware zum Laufen zu bringen. Die Komplizen sahen sich dazu gezwungen, um die

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Übereinstimmungsbescheinigung von der US-Umweltschutzbehörde („EPA“) für den Verkauf der Fahrzeuge in den USA zu erhalten. LIANG war klar, dass die EPA die Betriebserlaubnis für den Verkauf in den USA verweigert hätte, wenn sie von der Abschalteinrichtung in den Fahrzeugen gewusst hätte.“

Beweis: Plea Agreement vom 31. August/ 9. September 2016,

in Kopie anbei als Anlage K37

134 Am 25. Oktober 2016 gab Richter Breyer schließlich seine endgültige Zustimmung zu einem

Vergleich zwischen der Beklagten, den US-Behörden und den Sammelklägern (vertreten durch das

Plaintiff Steering Committee) in Bezug auf 2-Liter-Fahrzeuge. Danach haben die Besitzer der

betroffenen 2-Liter-Dieselfahrzeuge die Wahl zwischen einem Rückkauf ihrer Fahrzeuge durch die

Beklagte oder der Umrüstung zur Erfüllung der US-Vorschriften. Zusätzlich zahlt die Beklagte ihnen

je nach Modelltyp und Baujahr zwischen 5.100 und 10.000 US-Dollar als Wiedergutmachung.

Daneben hat die Beklagte Zahlungen von 2,7 Milliarden US-Dollar in einen Fonds zur

Wiedergutmachung von Umweltschäden sowie 2 Milliarden US-Dollar zur Förderung der Entwicklung

umweltschonender Fahrzeuge zugesagt. Die Beklagte ist nach dem Vergleich verpflichtet, 85 % der

betroffenen Fahrzeuge bis Ende 2018 entweder umzurüsten oder sie von der Straße zu holen.

Beweis: Beschluss des Bezirksgerichts für das Nördliche Kalifornien vom 25. Oktober 2016,

in Kopie als Anlage K38

135 Auch in Bezug auf die 3-Liter-Dieselfahrzeuge wurde inzwischen offenbar eine grundsätzliche

Einigung zwischen der Beklagten und den US-Behörden sowie dem Plaintiff Steering Committee

erzielt, wie am 20. Dezember 2016 berichtet wurde. Danach soll die Beklagte zugestimmt haben,

Rückkäufe für rund 20.000 3-Liter-Fahrzeuge anzubieten. Bei den restlichen ca. 60.000 in den USA

betroffenen 3-Liter-Autos solle die Beklagte zunächst die Chance zu einer Rückrufaktion erhalten.

Sollte die technische Umrüstung scheitern, müssten diese Fahrzeuge von der Beklagten ebenfalls

zurückgekauft werden. Alle Besitzer der betroffenen 3-Liter-Dieselfahrzeuge würden zudem

„substanzielle Entschädigungszahlungen“ erhalten.

Beweis: Berichterstattung von Spiegel Online vom 21. Dezember 2016,

in Kopie anbei als Anlage K39

136 Zusätzlich zu den vor dem Bezirksgericht für das Nördliche Kalifornien anhängigen Verfahren haben

verschiedene US-Bundesstaaten eigene Klagen gegen die Beklagte erhoben. Darunter ist die Klage

des New Yorker Generalstaatsanwalts (Attorney General), die dieser am 19. Juli 2016 namens des

Staates New York und des New Yorker Amtes für Umweltschutz (New York State Department of

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Environmental Conservation) gegen die Beklagte, Audi sowie die Porsche AG und deren jeweilige

US-Tochtergesellschaften beim Obersten Gericht des Staates New York in Albany eingereicht hat.

Die Tatsachenbehauptungen in der Klageschrift entsprechen den bzw. zitieren größtenteils die von

der Beklagten im Rahmen des Verfahrens vor dem Bezirksgericht für das Nördliche Kalifornien

vorgelegten Unterlagen. Nach der Klageschrift wurde Martin Winterkorn, damals noch

Vorstandsvorsitzender der Audi AG und ab 1. Januar 2007 Vorstandsvorsitzender der Beklagten,

bereits im Juli 2006 über die Geschehnisse informiert. Es heißt darin ab S. 21:

“i. The First Defeat Device: Audi’s MY 2004-2008 V6 for the European Market

137 71. The origin of Volkswagen’s defeat devices goes back at least to the emissions-related engineering challenges that the company’s Audi division encountered in 1999, as it embarked on the development of its large 3.0 liter V6 diesel luxury cars for the European market.

138 72. Engineers at Audi AG headquarters in Neckarsulm, Germany had developed a new technology for the engine called “Pilot Injection” that could eliminate the traditional, disagreeable clattering noise of diesel engines at start-up through the injection of additional fuel into the engine on ignition. However, activation of Pilot Injection upon ignition caused the engine to exceed European emissions standards during emissions testing.

139 73. Audi solved this problem by implementing defeat device software that allowed the engine to recognize the European emissions test cycle and deactivate Pilot Injection accordingly.

140 74. Audi developed and deployed this cycle-beating defeat device software on its European-market Audi 3.0 liter V6 diesels from 2004-2008. Because of its noise-reducing properties, Audi dubbed this defeat device the “Acoustic Function.”

ii. The Second Defeat Device: Volkswagen’s Generation 1s

141 75. In the early-mid 2000’s, as it was planning to launch its Generation 1 diesels in the U.S., Volkswagen explored equipping its Generation 1 engines with selective catalytic reduction (“Selective Catalytic Reduction” or “SCR”) technology. SCR technology chemically reduces NOx emissions by spraying liquid urea (sometimes called by its trade name “AdBlue”) in the exhaust stream, thereby creating harmless nitrogen and water. The SCR technology in use at the time, however, was licensed by Volkswagen’s competitor, Mercedes-Benz; in addition, as with any SCR system, it would have required outfitting the Generation 1s (including the small, model year (MY) 2009 Jetta) with one or more tanks capable of storing gallons of the urea-based emissions fluid.

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142 76. In 2006, the engineers and managers responsible for developing the Generation 1’s EA 189 engine decided against using SCR technology in favor of a simpler, inhouse emissions reduction system, known as a Lean-NOx Trap (“Lean Trap”), which did not require urea tanks.

143 77. Rather, the Lean Trap operated by trapping the NOx emissions in a catalytic converter and then periodically running the engine in a fuel-rich, oxygen-lean mode to activate the catalytic converter, so as to enable it to break down its trapped NOx into benign nitrogen and oxygen.

144 78. Early in the development of the Lean Trap system, however, it became apparent to Volkswagen’s engineers that activating the Lean Trap and EGR as frequently as necessary to bring NOx emissions within legal limits would produce too much soot for the Soot Filter. The Soot Filter would in turn clog and break within just 50,000 miles of operation – far sooner than the initially 120,000- and later 150,000-mile – Full Useful Life, U.S. durability standard Volkswagen was required to meet.

145 79. In late 2006, facing these major engineering challenges and a management-imposed production deadline, and with the knowledge and approval of their managers, Volkswagen’s engineers in Wolfsburg adapted Audi’s “Acoustic Function” defeat device to overcome these issues.

146 80. As described above, the defeat devices Volkswagen implemented in the Generation 1s featured software that could detect when the vehicles were undergoing emissions testing. During an emissions test, the defeat device software ran the engine in “testing” mode, which featured frequent Lean Trap regenerations and robust EGR to bring NOx emissions down to compliant levels. In contrast, during normal driving conditions, the defeat device software ran the engine in “driving” mode, which substantially reduced the frequency of Lean Trap regenerations and reduced EGR, resulting in NOx emissions between ten and forty times the legal limit.

[…]

iii. The Third Defeat Device: Audi’s 3.0L SUVs

147 82. At the time Volkswagen engineers in Wolfsburg were developing the Generation 1 diesel engine, their colleagues at Audi’s Neckarsulm headquarters were developing a U.S.-market 3.0 liter diesel engine for the anticipated release in MY 2009 of a new line of luxury diesel SUVs in the U.S. market: the Audi Q7 and Volkswagen Touareg, both equipped with SCR systems.

148 83. Adaptation of its European SCR technology for the U.S. market presented a challenge: to comply with more stringent U.S. NOx limits and an EPA rule that tied urea tank refills to the manufacturer’s service

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intervals, Audi’s 3.0 liter vehicles in the United States would require larger urea tanks than their European counterparts.

149 84. In or around July 2006, the issue of the effect of undersized urea tanks on the ability to comply with emissions standards reached the attention of Martin Winterkorn, then the CEO of Audi AG (and later of the Group parent, Volkswagen AG), as well as “H. Müller,” which another Audi executive testified is a reference to then the head of Project Management for Audi AG and now Mr. Winterkorn’s successor as CEO of Volkswagen AG.

150 85. Ultimately, Volkswagen and Audi decided not to expend the time and money necessary to re-engineer the 3.0Ls to equip them with larger urea storage tanks. Nor did they seek to address the storage tank issue, as they could have, by shortening the length of the service interval set forth in their applications for certification. Some competitors, for example, had service intervals as low as 7,500 or even 5,000 miles; Volkswagen and Audi, however, chose to maintain a 10,000-mile service interval.

151 86. Instead, they decided once again to employ cycle-beating defeat device software.

152 87. In addition to the EGR defeat device implemented in the Generation 1s, the 3.0Ls also featured a urea-dosing defeat device. The urea-dosing defeat device operated to increase urea dosing when the engine software recognized an emissions test cycle and reduce the urea dosing to an artificial limit during real driving conditions to enable the too-small urea tanks to last for 10,000 miles between service intervals.

153 88. Audi approved and installed both the urea-dosing defeat device and the EGR defeat device for production into the 3.0Ls for sale in the U.S. market from 2009-2016, resulting in NOx emissions of roughly nine times the legal limit in everyday driving conditions.

[…]

iv. The Fourth Defeat Device: Volkswagen’s Generation 2s

154 90. In 2009, Volkswagen turned its attention to the planned roll-out in the U.S. of the MY 2012 Generation 2 Selective Catalytic Reduction-equipped Passat, a model heavier than its Generation 1 predecessors and therefore unsuitable for a Lean Trap emissions control system. In designing an SCR-equipped emissions system for the Passat, however, Volkswagen’s engineers now faced the same quandary their Audi colleagues had confronted – insufficient space in the vehicle chassis to incorporate urea tanks large enough to meet the 10,000-mile refill interval to which they certified the Generation 2s.

155 91. Rather than resolve this engineering problem (or seeking to mitigate it by certifying the vehicles to shorter service intervals), Volkswagen opted to

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implement yet another defeat device, one that would control EGR and urea dosing. Like the Generation 1 defeat device software, Volkswagen programmed the new defeat device to determine whether the vehicle was undergoing an emissions test based on acceleration and speed profiles of the emission test cycles and then to keep the engine in emissions-compliant “testing” mode if it was undergoing an emissions test and put it into a highly-polluting “driving” mode if it was not.

156 92. In addition, Volkswagen added another software feature to this defeat device to better ensure the software would recognize when the car was undergoing an emissions test. Volkswagen’s engineers understood that it was only during the stationary bench test, and not in real-world conditions, that the cars would undergo repeated acceleration and braking upon startup without the steering wheel ever being turned. On these Generation 2 cars, therefore, Volkswagen programmed the defeat device to maintain the car in the less-polluting “testing” mode when the prescribed accelerations and decelerations occurred and the steering wheel remained still.

157 93. In “testing” mode, the Generation 2 defeat device software increased EGR and urea dosing to bring the NOx emissions within regulatory limits. Outside of test conditions, however, the defeat device software reduced the urea dosing rate by half to conserve urea and reduced Exhaust Gas Recirculation.

158 94. With the approval of Volkswagen supervisory executives, company engineers went forward with the dosing- and EGR-defeat devices, installing them in roughly 80,000 Volkswagen Passats in the U.S. market, including in New York, spanning Model Years 2012 to 2014. In real-world conditions, the Generation 2s sold in this country exceeded lawful NOx emissions levels by some five to twenty times.”

Zu Deutsch:

i. Die erste Abschalteinrichtung: Audis Bj. 2004 – 2008 V6 für den Europäischen Markt

159 71. Der Ursprung von Volkswagens Abschalteinrichtung lässt sich mindestens auf die emissionsrelavanten ingenieurtechnischen Herausforderungen zurückführen, denen die Marke Audi im Hause VW 1999 ausgesetzt war, als sie die Entwicklung ihres 3.0L V6 Luxusfahrzeuges für den europäischen Markt in Angriff genommen hat.

160 72. Ingenieure in Audis Stammsitz in Neckarsulm in Deutschland hatten eine neue Technologie, die Piloteinspritzung, für den Motor entwickelt, welche durch das Einspritzen zusätzlichen Kraftstoffes beim Zünden das traditionelle, lästige Nagelgeräusch von Dieselmotoren nach dem Starten verhindert. Allerdings hatte die Anwendung der Piloteinspritzung beim

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Zünden zur Folge, dass der Motor die europäischen Emissionsgrenzwerte während der Abgastests überschritt.

161 73. Audi löste das Problem indem es eine Abschaltsoftware zur Anwendung brachte, welche es dem Motor erlaubt, den europäischen Abgastest zu erkennen und die Piloteinspritzung dementsprechend zu deaktivieren.

162 74. Audi entwickelte und nutzte diese abgastestumgehende Abschalteinrichtung für seine europäischen Audi 3.0L V6 Dieselmotoren von 2004 – 2008. Wegen ihrer geräuschreduzierenden Eigenschaften hat Audi diese Abschalteinrichtung “Akustikfunktion” genannt.

ii. Die zweite Abschalteinrichtung: Volkswagens 1. Generation

163 75. Anfang bis Mitte 2000, als VW die Einführung von Dieselmotoren der 1. Generation in den USA plante, hat VW die Ausrüstung dieser Dieselmotoren mit selektiver katalytischer Reduktion (“Selektive Katalytische Reduktion”, auch SCR) Technologie untersucht. SCR reduziert NOx Emissionen durch das Einspritzen von Urea (manchmal auch mit seinem Handelsnamen AdBlue bezeichnet) in den Abgasstrom, wobei auf chemischem Weg harmloser Stickstoff und Wasser erzeugt werden. Die zu diesem Zeitpunkt genutzte SCR-Technologie war allerdings von Mercedes-Benz, ein Konkurrent Volkswagens, lizensiert. Außerdem, wie mit jedem SCR-System, hätte dies bedeutet, die Fahrzeuge der 1. Generation (inclusive der kleinen (Modelljahr) 2009 Jetta) mit einem oder mehr Tanks auszurüsten, die in der Lage sind, Gallonen der Urea-basierten Lösung zu speichern.

164 76. 2006 haben sich die für die Entwicklung des EA 189 Motors der 1. Generation verantwortlichen Ingenieure und Manager gegen die SCR-Technologie entschieden und zwar zugunsten eines einfacheren, hausinternen Emissionsreduziersystems, welches auch als NOx-Speicherkatalysator (“Lean Trap”) bekannt ist und welches keine Urea-Tanks erfordert.

165 77. Der Speicherkatalysator fängt die NOx-Emissionen in einem katalytischen Konverter auf, welcher durch einen periodischen kraftstoffreichen, sauerstoffarmen Betriebsmodus des Motors aktiviert wird, so dass die gespeicherten NOx in Stickstoff und Sauerstoff umgewandelt werden.

166 78. Frühzeitig in der Entwicklung des Speicherkatalysators haben die Volkswagen-Ingenieure aber erkannt, dass, wenn der Katalysator und das AGR-System so oft aktiviert werden wie erforderlich ist, um die Grenzwerte für die NOx-Emissionen einzuhalten, zu viel Ruß für den Rußfilter produziert wird. Der Rußfilter würde folglich verstopfen und innerhalb von 50000 Meilen Nutzungsdauer ausfallen – viel eher als die ursprünglich

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120000 und später 150000 Meilen – der US-amerikanische Haltbarkeitsstandard, den Volkswagen erfüllen muss.

167 79. Gegen Ende 2006, mit diesen bedeutenden ingenieurtechnischen Herausforderungen und Lieferterminvorgaben des Managements konfrontiert und mit dem Wissen und der Genehmigung durch ihre Manager, haben die Volkswagen-Ingenieure in Wolfsburg Audis “Akustikfunktion”, die Abschalteinrichtung, eingesetzt, um die bestehenden Probleme zu überwinden.

168 80. Wie oben beschrieben, weist die Abschalteinrichtung die Volkswagen in der 1. Generation verwendet hat, Software auf, die in der Lage ist zu erkennen, ob die Fahrzeuge einen Emissionstest durchlaufen. Im Emissionstest lässt die Software den Motor im “Test”-Modus laufen, welche eine häufige Regeneration des Speicherkatalysators und robusten AGR-Betrieb bewirkt, so dass die NOx-Emissionen auf ein zulässiges Niveau reduziert werden. Im Gegensatz dazu lässt die Software den Motor unter normalen Fahrbedingungen im “Fahrbetriebs”-Modus laufen, welcher die Häufigkeit der Speicherkatalysator-Regeneration und die AGR-Menge reduziert, wodurch die NOx-Emissionen auf das 10- bis 40-fache des gesetzlichen Grenzwertes ansteigen.

[…]

ii. Die dritte Abschalteinrichtung: Audis 3.0L SUVs

169 82. Zu der Zeit als Volkswagen-Ingenieure in Wolfsburg die Dieselmotoren der 1. Generation entwickelt haben, haben deren Kollegen bei Audi in deren Zentrale in Neckarsulm einen 3.0L Dieselmotor für den US-amerikanischen Markt für einen erwarteten Einsatz im Modelljahr 2009 für eine neue Reihe von Luxusdiesel-SUVs für den US-amerikanischen Markt entwickelt: den Audi Q7 und den VW Touareg, beide ausgestattet mit SCR-System.

170 83. Die Anpassung der europäischen SCR-Technologie für den US-amerikanischen Markt stellte sich als Herausforderung dar: die Einhaltung der strengeren US-amerikanischen NOx-Grenzwerte und der EPA-Vorgabe, der gemäß Urea-Tankbefüllungen mit den Serviceintervallen zusammenfallen sollen. Audis 3.0L Fahrzeuge müssten in den USA mit größeren Urea-Tanks ausgerüstet sein als ihre europäischen Pendants.

171 84. Im oder gegen Juli 2006 gelangte das Problem der Auswirkung zu kleiner Urea-Tanks auf die Fähigkeit die Emissionsgrenzwerte einzuhalten zur Kenntnis von Martin Winterkorn, damaliger CEO der Audi AG (und später CEO der Muttergesellschaft, die Volkswagen AG), genauso wie von “H. Müller”, welcher einer Aussage einer Audi Führungskraft zufolge als ehemaliger Leiter des Projektmanagements der Audi AG and inzwischen

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als Herrn Winterkorns Nachfolger als CEO der Volkswagen AG eine Referenz ist.

172 85. Letztendlich entschlossen sich Volkswagen und Audi, die Zeit und Mittel für den Umbau der 3.0L Fahrzeuge nicht aufzuwenden, um sie mit größeren Urea-Tanks auszustatten. Auch, und obwohl sie es gekonnt hätten, haben sie nicht die Möglichkeit der Behebung des Problems zu kleiner Urea-Tanks durch verkürzte Serviceintervalle in der Zulassungsbeantragung in Betracht gezogen. Einige ihrer Wettbewerber zum Beispiel haben Serviceintervalle von 7500 oder sogar nur 5000 Meilen. Volkswagen und Audi haben sich dagegen dafür entschieden, das Serviceintervall bei 10000 Meilen zu belassen.

173 86. Sie entschieden sich wiederum für eine testzyklusumgehende Abschalteinrichtungs-Software.

174 87. Zusätzlich zur AGR-Abschalteinrichtung der 1. Generation haben die 3.0L Motoren auch eine Urea-Dosier-Abschalteinrichtung. Die Urea-Dosier-Abschalteinrichtung erhöht die Urea-Dosierung wenn die Motorsoftware einen Testzyklus erkennt und verringert die Urea-Dosierung auf einen künstlichen Grenzwert während realer Fahrbedingungen, um die zu kleinen Urea-Tanks für die 10000 Meilen zwischen den Serviceintervallen ausreichen zu lassen.

175 88. Audi genehmigte und installierte sowohl die Urea-Dosier-Abschalteinrichtung als auch die AGR-Abschalteinrichtung in der Produktion der 3.0L Fahrzeuge zum Verkauf für den US-amerikanischen Markt von 2009 – 2016, was in NOx-Emissionen resultiert, die unter täglichen Fahrzuständen ungefähr das Neunfache des gesetzlichen Grenzwertes ausmachen.

[…]

iv. Die vierte Abschalteinrichtung: Volkswagens 2. Generation

176 90. 2009 konzentrierte sich Volkswagen auf die geplante Markteinführung des Passat, Modelljahr 2012, ausgerüstet mit Selektiver Katalytischer Reduktion der 2. Generation, schwerer als die vorangegangenen Modelle der 1. Generation und damit ungeeignet für ein Speicherkatalysator-Emissionskontrollsystem. In der Auslegung des SCR-Systems für den Passat sahen sich die Volkswagen-Ingenieure jedoch mit dem gleichen Dilemma wie deren Kollegen bei Audi konfrontiert, nämlich unzureichender Platz im Fahrzeugchassis für Urea-Tanks, die groß genug wären, um ein Nachfüllintervall von 10000 Meilen gewährleisten, für welches die 2. Generation zertifiziert wurde.

177 91. Statt das technische Problem zu lösen (oder es durch die Zertifizierung der Fahrzeuge für kürzere Serviceintervalle zu unterdrücken), entschied sich Volkswagen, eine weitere Abschalteinrichtung einzusetzen, welche

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AGR und die Urea-Dosierung kontrolliert. Wie in der Abschalteinrichtung der 1. Generation hat Volkswagen die neue Abschalteinrichtung programmiert herauszufinden, ob, basierend auf den Beschleunigungs- und Geschwindigkeitsprofilen der Testzyklen, das Fahrzeug einem Emissionstest unterliegt und dementsprechend den Motor im emissionskonformen “Test”-Modus zu belassen oder, falls nicht, den Motor im hochverschmutzenden “Fahr”-Modus zu betreiben.

178 92. Zusätzlich hat Volkswagen ein weiteres Software-Merkmal der Abschalteinrichtung hinzugefügt um besser sicherzustellen, dass die Software erkennen würde, wenn das Fahrzeug einem Emissionstest unterliegt. Den Volkswagen-Ingenieuren war klar, dass die Fahrzeuge nur in stationären Tests und nicht unter realen Bedingungen regelmäßig wiederkehrende Beschleunigungs- und Bremsmanöver nach dem Start sowie keine Lenkradbewegungen absolvieren. Demzufolge hat Volkswagen an Fahrzeugen der 2. Generation die Abschalteinrichtung so programmiert, dass das Fahrzeug im weniger verschmutzenden “Test”-Modus verblieb, solange die vorgeschriebenen Beschleunigungen und Verzögerungen auftraten und das Lenkrad nicht bewegt wurde.

179 93. Im “Test”-Mode der 2. Generation der Abschalteinrichtung erhöht die Software die AGR-Menge und Urea-Dosierung, um die NOx-Emissionen auf die gesetzlichen Werte zu bringen. Außerhalb der Testbedingungen reduziert die Software der Abschalteinrichtung die Urea-Dosiermenge um die Hälfte, um Urea einzusparen, und sie reduziert die Abgasrückführmenge.

180 94. Mit Genehmigung durch Volkswagen-Aufsichtsratsmitglieder haben Unternehmensingenieure die Dosier- und AGR-Abschalteinrichtungen in ungefähr 80000 Volkswagen Passats auf dem US-amerikanischen Markt, inclusive New York, installiert, die Modelljahre 2012 bis 2014 umfassend. Unter realen Fahrbedingungen haben die Fahrzeuge der 2. Generation die in diesem Land verkauft wurden, die gesetzlich zulässigen NOx-Emissionsniveaus um das Fünf- bis Zwanzigfache überschritten.“

Beweis: Klageschrift des New Yorker Generalstaatsanwalts vom 19. Juli 2016,

in Kopie als Anlage K40

VII. Die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland durch die Europäische Kommission aufgrund Vollzugsdefizits

181 Am 8. Dezember 2016 gab die Europäische Kommission („EU-Kommission“) die Einleitung von

Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, Griechenland, Litauen, Luxemburg, Spanien,

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Tschechien und das Vereinigte Königreich bekannt. In der Pressemitteilung der EU-Kommission

heißt es dazu:

182 „Gemäß Artikel 46 der Richtlinie 2007/46/EG und insbesondere Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, müssen die Mitgliedstaaten über wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionssysteme verfügen, um Fahrzeughersteller von Gesetzesverstößen abzuhalten. Wird gegen ein Gesetz verstoßen, z. B. durch die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, müssen diese Sanktionen verhängt werden. Die Kommission versendet heute förmliche Aufforderungsschreiben an die Tschechische Republik, Litauen und Griechenland, weil sie keine solchen Synktionssysteme in ihren nationalen Rechtsvorschriften eingeführt haben.

183 Die Kommission leitet außerdem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, Luxemburg, Spanien und das Vereinigte Königreich ein (jene Mitgliedstaaten, die Typgenehmigungen für die Volkswagen AG in der EU ausgestellt haben), weil sie ihre nationalen Bestimmungen über Sanktionen nicht angewendet haben, obwohl Volkswagen verbotene Abschaltprogramme verwendete.“

Beweis: Pressemitteilung der Kommission vom 8. Dezember 2016,

in Kopie anbei als Anlage K41

184 Die EU-Kommission geht also davon aus, dass Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG und Art. 13 der

Verordnung (EG) 715/2007, der von den Mitgliedstaaten explizit die Festlegung von wirksamen,

verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen für die Verwendung von Abschalteinrichtungen

fordert, durch die Bundesrepublik Deutschland umgesetzt wurde, diese Sanktionen von Deutschland

aber nicht angewendet wurden, obwohl die Bundesregierung das hätte tun müssen. Mangels

spezifisch für die Verwendung von Abschalteinrichtungen geltender Bußgeldvorschriften, kann die

EU-Kommission damit nur § 37 EG-FGV meinen, wonach ordnungswidrig handelt, wer gegen § 27

Abs. 1 S. 1 EG-FGV verstößt. Die EU-Kommission geht folglich davon aus, dass eine

Übereinstimmungsbescheinigung ungültig ist, wenn der Hersteller eine verbotene

Abschalteinrichtung verwendet und dies gegenüber der Typgenehmigungsbehörde und dem

Fahrzeugkäufer verschweigt. Diese Ansicht hat auch die Bundesregierung geäußert. Beides ergibt

sich aus einem Schreiben der EU-Kommission vom 16. Dezember 2016. Die Leiterin des Referats

Automobil- und Mobilitätsindustrien der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unterehmertum

und KMU fasst darin die Gründe für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die

Bundesrepublik Deutschland wie folgt zusammen:

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185 „Am 1. Oktober 2015 wurde ein Vermerk an die Mitglieder des Technischen Ausschusses – Kraftfahrzeuge gerichtet und um Informationen über die einzelstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen gemäß Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 gebeten. Am 14. Oktober 2015 forderte Elżbieta Bieńkowska die Mitgliedstaaten in einem an die für Wettbewerb, Verkehr und Umwelt zuständigen Minister gerichteten Schreiben dringend auf, die von den Dienststellen der Kommission bereits angeforderten Informationen nun vorzulegen. Die deutschen Behörden antworteten am 15. Oktober 2015 mit einigen Informationen über ihre nationalen Maßnahmen zur Umsetzung der EU-Vorschriften über Sanktionen für Verstöße gegen die Typgenehmigungsvorschriften.

186 Des Weiteren ersuchte die Kommission in einem EU-Pilot 8380/16/GROW-Schreiben vom 29.2.2016 um zusätzliche Informationen über die gemäß Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 erlassenen nationalen Vorschriften; die deutschen Behörden antworteten am 9. Mai 2016.

187 Die deutschen Behörden teilten in ihrer Antwort mit, dass § 7, § 25, § 27, § 37 der EG-Fahrzeuggenehimgungsverordnung (EG-FGV) Maßnahmen bei möglichen Verstößen gegen die Typgenehmigungsvorschriften enthielten. Insbesondere wiesen die deutschen Behörden darauf hin, dass diese Paragraphen besondere Verwaltungsmaßnahmen vorsähen, beispielsweise den teilweisen Entzug der Typgenehmigung bis hin zu ihrem Erlöschen. Darüber hinaus bestünden die allgemeinen Möglichkeiten, nach dem Verwaltungsrecht vorzugehen. Ferner verweisen die deutschen Behörden in ihrer Antwort auf die Erläuterung zur EG-FGV, wonach bestimmte Verstöße im Rahmen des Genehmigungsverfahrens, wie z. B. die Vorlage gefälschter Prüfergebnisse oder technischer Spezifikationen oder unvollständiger Erklärungen, in der Regel vorsätzlich begangen würden und daher unter die besonderen Bestimmungen des StGB (Betrug, Urkundenfälschung) fielen.

188 Die Mitgliedstaaten müssen gemäß Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht nur Sanktionen für Verstöße von Herstellern gegen die Vorschriften dieser Verordnung festlegen, sondern auch die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen treffen. Aus dieser Vorschrift geht außerdem eindeutig hervor, dass die Verwendung von Abschalteinrichtungen zu den sanktionsbewehrten Verstößen gehört.

189 In Artikel 46 der Richtlinie 2007/46/EG werden ähnliche Bestimmungen hinsichtlich der Verstöße gegen den Typgenehmigungsrahmen festgelegt. Den deutschen Behörden zufolge enthalten die Bestimmungen zur Umsetzung von Artikel 46 der Richtlinie 2007/46/EG in Kombination mit dem allgemeinen Verwaltungs- und Strafrecht auf nationaler Ebene Sanktionen gegen die verschiedenen in Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufgeführten Verstöße.

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190 Nach ständiger Rechtsprechung bleibt den Mitgliedstaaten zwar die Wahl der Sanktionen überlassen, sie müssen jedoch darauf achten, dass Verstöße gegen das EU-Recht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie Verstöße vergleichbarer Art und Schwere gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss.

191 Zwar haben die deutschen Behörden Manipulationen bei Fahrzeugen der Volkswagen-Gruppe festgestellt, die einen Verstoß gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 darstellen, es ist allerdings nicht ersichtlich, dass diese Behörden erwogen haben, die nationalen Vorschriften über Sanktionen auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Infolgedessen wurden keine Sanktionen nach Art. 13 der Verordnung gegen Hersteller der Volkswagen-Gruppe verhängt. Darüber hinaus erklärte der Bundesverkehrsminister am 6. Juli 2016 öffentlich, dass die Bundesregierung keine Geldbußen wegen des Einbaus von Abschalteinrichtungen in Fahrzeuge gegen Volkswagen verhängen wird.“

Beweis: Schreiben der EU-Kommission vom 16. Dezember 2016,

in Kopie anbei als Anlage K42

VIII. Vorgerichtliche Korrespondenz zwischen den Parteien

192 Im Februar 2016 wurde der Kläger von der Beklagten darüber informiert, dass der in seinem

Fahrzeug eingebaute Dieselmotor „von einer Software betroffen ist, durch welche die Stickoxidwerte

(NOx) im Vergleich zwischen Prüfstandlauf (NEFZ) und realem Fahrbetrieb verschlechtert werden“.

In dem Schreiben heißt es weiter, dass die „Reparaturmaßnahmen in den Werkstätten“ ab

Kalenderwoche 09/16 starten würden und die Beklagte den Kläger in einem weiteren Anschreiben

auffordern werde, einen Termin für die Instandsetzung zu vereinbaren.

Beweis: Schreiben der Beklagten aus Februar 2016,

in Kopie anbei als Anlage K43

193 Ein solches Schreiben hat der Kläger bis heute nicht erhalten. Er hat die Beklagte mit

Anwaltsschreiben vom 15. Dezember 2016 unter Fristsetzung bis 30. Dezember 2016 aufgefordert,

den Kaufpreis in Höhe von 41.000 € Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs,

das derzeit einen Kilometerstand von ca. [...] km hat, zu erstatten sowie das Fahrzeug am Wohnsitz

des Klägers abzuholen.

Beweis: Schreiben des Klägers vom 30. Dezember 2016,

49

in Kopie anbei als Anlage K44

Die Beklagte darauf nicht geantwortet, so dass Klage geboten ist.

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B. Zur Rechtlichen Würdigung

194 Dem Kläger stehen gegenüber der Beklagten sowohl vertragliche als auch deliktische

Schadenersatzansprüche zu, die sich insbesondere aufgrund folgender Anspruchsgrundlagen

ergeben:

• §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 i.V.m § 311 Abs. 3 BGB;

• den Grundsätzen der Prospekthaftung;

• § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 EG-FGV;

• § 831 BGB;

• § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. selbständigem Garantievertrag.

Die Ansprüche des Klägers folgen im Wesentlichen aus dem Umstand, dass die Beklagte

systematisch gegen verschiedene Regelungen des EG-Typgenehmigungsrechts verstieß. Die

Beklagte baute in die betroffenen Fahrzeuge – entgegen den gesetzlichen Vorschriften –unzulässige

Abschalteinrichtungen ein. In dieser Form hätten die Fahrzeuge weder zur Verwendung im

Straßenverkehr verkauft noch in Vekehr gebracht werden dürfen.

Zum besseren Verständnis der komplexen Zusammenhänge des EG-Typgnehmigungsrechts stellen

wir unseren Ausführungen zunächst einige abstrakte Bemerkungen voran (dazu sub I.). Danach

werden wir zu den Ansprüchen des Klägers im Einzelnen Stellung nehmen (dazu sub II.-V.).

I. Vorbemerkungen

1. Grundbegriffe des Typgenehmigungsrechts

195 Drei Grundbegriffe des Typengenehmigungs- bzw. Zulassungsrechts sind für die hier geltend gemachten Ansprüche von besonderer Bedeutung; und zwar:

• die Betriebserlaubnis bzw. EG-Typgenehmigung;

• die Übereinstimmungsbescheinigung;

• die Zulassung

196 Diese Begriffe werden wir im Folgenden kurz etwas näher beleuchten.

a) Betriebserlaubnis/EG-Typgenehmigung

197 Eine Betriebserlaubnis ist die Grundvoraussetzung, um ein KFZ auf öffentlichen Straßen benutzen können zu dürfen. Bis in die 1970er Jahre wurde die Betriebserlaubnis in jedem EG-Mitgliedsstaat gesondert erteilt; in Deutschland auf der Grundlage der Straßenverkehrs-

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Zulassungs-Ordnung („StZVO“). Diese unterscheidet unter anderem die sogenannte Allgemeine Betriebserlaubnis für Fahrzeugtypen (vgl. § 20 StVZO) und die Betriebserlaubnis für Einzelfahrzeuge (§ 21 StVZO).

Die Regelungen der StVZO wurden mittlerweile durch EU-Recht nahezu vollständig verdrängt und kommen nur noch in den seltenen Fällen zur Anwendung, in denen die Zulassung nicht dem europarechtlichen Regime unterfällt. Das heutige, EU-weit geltende Typgenehmigungsrecht wird insbesondere durch die Richtlinie 2007/46/EG vorgegeben, die durch die EG-FGV in deutsches Recht umgesetzt wurde. Durch die Richtlinie wird ein EU-einheitliches Typgenehmigungsverfahren etabliert. Anstatt der Allgemeinen Betriebserlaubnis nach der StVZO ist nunmehr stets eine EU-einheitliche EG-Fahrzeugtypgenehmigung erforderlich.

Den Text der Richtlinie 2007/46/EG fügen wir hier als Anlage K45 und den Text der EG-FGV als Anlage K46 bei.

aa) Voraussetzungen für die Erteilung einer EG-Typgenehmigung

198 Die Voraussetzungen für die Erteilung einer EG-Typgehmigung sind in § 4 Abs. 4 EG-FGV geregelt, der wie folgt lautet:

„(4) Die EG-Typgenehmigung darf nur erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für den zu genehmigenden Fahrzeugtyp oder die zu genehmigenden Systeme, Bauteile oder selbstständigen technischen Einheiten nach Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie 2007/46/EG vorliegen und nach Artikel 8 Absatz 2 der Richtlinie 2007/46/EG die Erfüllung der spezifischen Bestimmungen der Artikel 9 und 10 sichergestellt ist [...].“

199 Die maßgebliche Vorschrift der Richtlinie 2007/46/EG ist Artikel 9 Abs. 1, der wie folgt lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten erteilen eine EG-Genehmigung für a) einen Typ eines Fahrzeugs, der mit den Angaben in der Beschreibungsmappe übereinstimmt und den technischen Anforderungen der in Anhang IV aufgeführten einschlägigen Rechtsakte entspricht;“

bb) Genehmigungsverfahren

200 Der Hersteller beantragt die Typgenehmigung bei der zuständigen Genehmigungsbehörde des jeweiligen Mitgliedsstaats. In Deutschland ist dies das KBA – vgl. § 2 EG-FGV.

201 Im Hinblick auf das Verfahren verweist § 4 Abs. 1 EG-FGV auf die Artikel 6 und 7 der Richtlinie 2007/46/EG. Erforderlich ist danach zunächst ein Antrag des Fahrzeugherstellers, dem eine

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sogenannte Beschreibungsmappe beizufügen ist. Die Beschreibungsmappe besteht aus verschiedenden Dokumenten, unter anderem aus:

• dem sogenannten Beschreibungsbogen, in denen die technischen Merkmale (z.B. Maße, Motorleistung; Maßnahmen gegen Luftverunreinigungen, etc.) des zu genehmigenden Fahrzeugtyps im Einzelnen anzugeben sind;

• sowie dem sogenannten Typgenehmigungsbogen. Hierbei handelt es sich um ein Formular, das die Typgenehmigungsbehörde dazu verwendet, um über den Antrag zu entscheiden. Das Muster des Typgenehmigungsbogens ist in Anhang VI der Richtlinie 2007/46/EG – Anlage K45, S. 123 ff. – abgedruckt.

b) Übereinstimmungsbescheinigung

202 Sofern eine EG-Typgenehmigung erteilt ist, darf der Hersteller Fahrzeuge des genehmigten Typs mit einer sogenannten Übereinstimmungsbescheinigung versehen (vgl. § 6 Abs. 1 EG-FGV bzw. Artikel 18 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG). In der Übereinstimmungsbescheinigung, im Englischen Certificate of Conformity bzw. CoC genannt, erklärt der Hersteller gegenüber dem Fahrzeugkäufer, dass das jeweilige Einzelfahrzeug:

• sowohl mit der EG-Typgenehmigung

• als auch mit sämtlichen geltenden Rechtsakten

203 in jeder Hinsicht übereinstimmt. In Artikel 3 Ziffer 36 der Richtlinie 2007/46/EG wird der Begriff der Übereinstimmungsbescheinigung wie folgt definiert:

„das in Anhang IX wiedergegebene, vom Hersteller ausgestellte Dokument, mit dem bescheinigt wird, dass ein Fahrzeug aus der Baureihe eines nach dieser Richtlinie genehmigten Typs zum Zeitpunkt seiner Herstellung allen Rechtsakten entspricht“

204 Ohne gültige Übereinstimmungsbescheinigung darf das Fahrzeug zur Verwendung im Straßenverkehr nicht in Verkehr gebracht oder verkauft werden, was aus § 27 Abs. 1 EG-FGV folgt. Diese Vorschrift lautet wörtlich:

„(1) Neue Fahrzeuge, selbstständige technische Einheiten oder Bauteile, für die eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG, [...] vorgeschrieben ist, dürfen im Inland zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sind.“

205 Durch die Bestimmung wurden die Vorgaben aus Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG umgesetzt, der wie folgt lautet:

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„(1) Unbeschadet der Artikel 29 und 30 gestatten die Mitgliedstaaten die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme von Fahrzeugen nur dann, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung nach Artikel 18 versehen sind.“

c) Zulassung

206 Um ein Fahrzeug in Deutschland in Betrieb zu setzen, bedarf es weiterhin einer Zulassung zum Verkehr auf öffentlichen Straßen. Diese wird durch die nach Landesrecht jeweils zuständigen Zulassungsbehörden erteilt. Die Voraussetzungen für die Zulassung sind in der Verordnung über die Zulassung von Fahrzeugen zum Straßenverkehr (Fahrzeug-Zulassungsverordnung, „FZV“) geregelt. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 FGV wird die Zulassung auf Antrag erteilt, wenn das Fahrzeug einem genehmigten Typ entspricht. Dies ist bei erstmaliger Zulassung durch Vorlage der Übereinstimmungsbescheinigung nachzuweisen (vgl. § 6 Abs. 3 FZV).

207 Seit Inkrafttreten der FZV am 1. März 2007 ist die Zulassung ein von der Betriebserlaubnis abgekoppelter Verwaltungsakt. Zuvor bestand die Zulassung eines Fahrzeugs aus der Erteilung der Betriebserlaubnis und der Zuteilung des amtlichen Kennzeichens

(vgl. Rebler, Einzelbetriebserlaubnis, Allgemeine Betriebserlaubnis, Typgenehmigung, SVR 2010, 361, anbei als Anlage K47).

208 Zulassung und Betriebserlaubnis/EG-Typgenehmigung sind somit verschiedene Verwaltungsakte. Dies hat zur Folge, dass die Zulassung weiterhin wirksam bleibt, auch wenn die EG-Typgenehmigung erlischt. In diesen Fällen ist die Zulassung zwar rechtswidrig. Sie bleibt jedoch wirksam, solange die jeweilige Zulassungsbehörde die Zulassung nicht zurücknimmt

(vgl. OLG Jena, Urteil vom 21. Januar 2009 – 1 Ss 46/08 – NStZ-RR 2009, 216).

2. „Unzulässige Abschalteinrichtungen“ gemäß Verordnung (EG) Nr. 715/2007

209 Der gegen die Beklagte erhobene Vorwurf gründet sich im Kern darauf, dass sie die vom Abgas-Skandal betroffenen Fahrzeuge mit Abschalteinrichtungen ausgestattet hat, die gemäß Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unzulässig sind. Diese Vorschrift lautet wörtlich:

„(2) Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig.“

Den Text der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 fügen wir als Anlage K48 bei.

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a) Feststellung des KBA – Tatbestandswirkung

210 Mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 hat das KBA ausdrücklich festgestellt, dass die von der Beklagten verwendete Software als Abschalteinrichtung im Sinne des Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 anzusehen ist (vgl. oben: Rn. 60 ff).

211 Dieser Bescheid des KBA wurde von VW nicht angegriffen, ebenso wenig wie der Bescheid des KBA vom 17. November 2015 (vgl. oben: Rn. 115). Sie sind daher gegenüber der Beklagten bestandskräftig und entfalten Tatbestandswirkung. Die Feststellungen des KBA sind daher in dem vorliegenden Schadensersatzprozess bindend

(vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2006 – IX ZR 89/05 – NJW-RR 2007, 398, 399; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 – IX ZB 29/04 – NJW-RR 2006, 913, 914).

In diesem Zusammenhang verweisen wir auf das „Rechtsgutachten zu Fragen der Gültigkeit der durch die Volkswagen AG ausgestellten Übereinstimmungsbescheinigungen und der der Volkswagen AG erteilten EG-Typgenehmigung für die vom VW-Dieselskandal betroffenen Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeugtypen“ von Prof. Dr. Remo Klinger vom 14. Dezember 2016, S. 26 ff. Dieses Gutachten fügen wir als Anlage K49 bei.

b) Rechtsfolgen des Einbaus der unzulässigen Abschalteinrichtungen

212 Der Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtungen hatte weitreichende Rechtsfolgen. Insbesondere drei Gesichtspunkte sind für die hier geltend gemachten Schadenersatzansprüche von Bedeutung; und zwar:

• die „Nichtübereinstimmung“ der betroffenen Fahrzeuge mit den genehmigten Fahrzeugtypen – dazu sub. aa);

• das Erlöschen der EG-Typgenehmigung kraft Gesetzes – dazu sub. bb); sowie

• die Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung – dazu sub. cc).

aa) Nichtübereinstimmung mit dem genehmigten Fahrzeugtyp

213 Die vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge stimmen nicht mit dem jeweils genehmigten Fahrzeugtyp überein. Sie weichen von der jeweiligen EG-Typgenehmigung ab. Dies ergibt sich aus Folgendem:

• In Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2007/46/EG wird definiert, wann eine „Nichtübereinstimmung“ des konkreten Einzelfahrzeugs mit dem genehmigten Typ vorliegt; nämlich dann, wenn das jeweilige Fahrzeug von den Angaben im Typgenehmigungsbogen abweicht:

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„(2) Für die Zwecke des Absatzes 1 gelten Abweichungen von den Angaben im EG-Typgenehmigungsbogen oder in der Beschreibungsmappe als Nichtübereinstimmung mit dem genehmigten Typ.“

[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

• Der Typgenehmigungsbogen enthält in Abschnitt II unter anderem die ausdrückliche Angabe, dass der Fahrzeugtyp allen einschlägigen in Anhang IV der Richtlinie 2007/46/EG genannten Rechtsakten genügt:

„Der Fahrzeugtyp erfüllt/erfüllt nicht (1) die technischen Anforderungen aller einschlägigen in Anhang IV/Anhang XI (1) (2) der Richtlinie 2007/46/EG vorgeschriebenen Rechtsakte.“

Dazu folgender Auszug aus dem Richtlinientext (Anlage K 45 S. 124):

[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

• Damit sind auch die Anforderungen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu erfüllen. Denn gemäß Anhang IV Nr. 2a der Richtlinie 2007/46/EG müssen leichte Nutzfahrzeuge der Klassen N1 und N2 sowie PKW der Klassen M1 und M2 hinsichtlich der „Emissionen“ den Anforderungen dieser Verordnung genügen; vgl. hierzu folgenden Auszug aus dem Richtlinientext (Anlage K45, S. 103):

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[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

• Die vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge genügen den Anforderungen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 jedoch nicht, da sie eine nach Art. 5 Abs. 2 dieser Verordnung unzulässige Abschalteinrichtung enthalten (vgl. oben: Rn. 209-211).

• Die betroffenen Fahrzeuge genügen daher nicht den technischen Anforderungen aller einschlägigen in Anhang IV der Richtlinie 2007/46/EG vorgeschriebenen Rechtsakte. Sie weichen also von der entsprechenden Angabe im Typgenehmigungsbogen ab. Mithin liegt eine Nichtübereinstimmung im Sinne des Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2007/46/EG vor. Die Fahrzeuge weichen von der erteilten EG-Typgenehmigung ab.

• Dieser Auffassung ist auch das KBA. In seinem Bescheid vom 15. Oktober 2015 führt das KBA aus:

„In der Folge sind die Fahrzeuge ebenfalls als nicht vorschriftsmäßig in Bezug auf erteilte Genehmigungen nach der RL 2007/46/EG zu bewerten [...].“

bb) Erlöschen der EG-Typgenehmigung kraft Gesetzes

214 Darüber hinaus hatte der Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung unmittelbar zur Folge, dass die EG-Typgenehmigung insgesamt kraft Gesetzes erloschen ist. Gemäß § 19 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVZO erlischt die Betriebserlaubnis automatisch, wenn „Änderungen“ vorgenommen werden, durch die das Abgas- und Geräuschverhalten verschlechtert wird. Wörtlich lautet § 19 Abs. 2 StVZO:

„Die Betriebserlaubnis [...] erlischt, wenn Änderungen vorgenommen werden, durch die

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1. die in der Betriebserlaubnis genehmigte Fahrzeugart geändert wird,

2. eine Gefährdung von Verkehrsteilnehmern zu erwarten ist oder,

3.das Abgas- oder Geräuschverhalten verschlechtert wird.“

[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

Diese Regelung gilt gemäß § 19 Abs. 7 StVZO für die EG-Typgenehmigung entsprechend.

215 Liegen die besonderen Voraussetzungen des § 19 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 bis 3 StVZO vor, erlischt also die EG-Typgenehmigung kraft Gesetzes. Auf diese Rechtsfolge (Erlöschen der Allgemeinen Betriebserlaubnis im Falle einer emissionsrelevanten Beeinflussung im Wege der Funktion Funktion BGFAWU 10.x.) hatte Bosch im Schreiben vom 2. Juni 2008 ausdrücklich hingewiesen (s. oben: Rn. 29 f.). Dieser Hinweis wurde jedoch von der Beklagten ignoriert.

216 Das KBA hat insoweit keinen Ermessensspielraum – anders z.B. im Fall des § 25 EG-FGV (Nebenbestimmungen zur Genehmigung; Widerruf der Genehmigung). Die harte Rechtsfolge des § 19 Abs. 7 StVZO dient dem Zweck, besonders gravierende Rechtsverstöße der Fahrzeughersteller, nämlich die Änderung der Fahrzeugart, die Gefährdung von Verkehrsteilnehmern oder die Verschlechterung des Abgasverhaltens, durch das automatische Erlöschen der EG-Typgenehmigung zu sanktionieren. § 19 Abs. 7 StVZO setzt insoweit die Vorgaben des Artikels 13 der Verordnung (EG) 715/2007 um, der von den Mitgliedsstaaten verlangt, für den Fall von Verstößen gegen die dort genannten Vorschriften „wirksame und abschreckende“ Sanktionen festzulegen.

217 Die Voraussetzungen der §§ 19 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, Abs. 7 StVZO liegen vor:

(1) Änderungen

218 Die Beklagte hat „Änderungen“ im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 2 StVZO vorgenommen. Wie bereits erläutert, wichen sämtliche Fahrzeuge, in denen eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut wurde, vom genehmigten Fahrzeugtyp ab (vgl. oben: Rn. 213 ff.). Die Beklagte stellte die betroffenen Fahrzeuge mithin anders her – nämlich: mit unzulässiger Abschalteinrichtung – als in der Typgenehmigung vorgesehen – dort: ohne unzulässige Abschalteinrichtung. Die tatsächlich hergestellten Fahrzeuge wurden also im Vergleich zur erteilten EG-Typgenehmigung verändert.

219 Hierbei handelt es sich um eine „Änderung“ im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 2 StVZO. Eine solche liegt nicht nur dann vor, wenn ein Fahrzeughalter sein Fahrzeug nach Erteilung der Zulassung verändert. Dies ist zwar der wichtigste Anwendungsfall dieser Vorschrift, aber nicht ihr einziger. Soweit § 19 Abs. 2 S. 2 StVZO über § 19 Abs. 7 StVZO für die EG-Typgenehmigung entsprechend anzuwenden ist, werden auch solche Veränderungen erfasst, die ein

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Fahrzeughersteller – nach Erlass der EG-Typgenehmigung, aber vor Zulassung des Fahrzeugs – vornimmt.

220 Dies ergibt sich zum einen aus der Wertung des § 19 Abs. 6 StVZO. Daraus folgt, dass auch der Fahrzeughersteller eine „Änderung“ im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 2 StVZO vornehmen kann, wenn er selbst Teile verändert. Diese Vorschrift lautet wie folgt:

„(6) Werden an Fahrzeugen von Fahrzeugherstellern, die Inhaber einer Betriebserlaubnis für Typen sind, im Sinne des Absatzes 2 Teile verändert, so bleibt die Betriebserlaubnis wirksam, solange die Fahrzeuge ausschließlich zur Erprobung verwendet werden;“

221 Zum anderen liegt eine „Änderung“ im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 2 StVZO nach dem Willen des Verordnungsgebers auch dann vor, wenn das Fahrzeug vor seiner Zulassung verändert wird. In der Begründung zur Sechzehnten Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, durch die § 19 Abs. 2 StVZO neu gefasst wurde, heißt es:

„Die Vorschriften des § 19 Abs. 2 (neu) StVZO sollen auch für Änderungen gelten, die vor Zulassung (Zuteilung des Kennzeichens) oder während einer vorübergehenden Stillegung des Fahrzeugs vorgenommen worden sind sowie für Rückrüstungen.“

(vgl. BR-Drucksache 629/93, S. 20, auszugsweise anbei als Anlage K50)

222 Ob eine „Änderung“ vorliegt, kann in diesen Fällen nur durch einen Vergleich des tatsächlichen Einzelfahrzeugs mit dem genehmigten Fahrzeugtyp (d.h. eines fiktiven Idealfahrzeugs) ermittelt werden. Ein anderer Vergleichsmaßstab ist nicht ersichtlich. Eine Änderung im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 2 StVZO ist somit gegeben, wenn der Hersteller ein Einzelfahrzeug in Abweichung zur EG-Typgenehmigung herstellt. Dies ist bei den vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeugen der Fall.

223 Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die Ausführungen im Gutachten von Professor Dr. Remo Klinger (Anlage K49), S. 42:

„Änderungen zwischen dem typgenehmigten Fahrzeugtyp und den tatsächlich hergestellten Fahrzeugen bestehen bereits dann, wenn die tatsächlich hergestellten Fahrzeuge nicht demjenigen Fahrzeug entsprechen, das sich aus den Typgenehmigungsunterlagen ergibt. Denn die Typgenehmigung bezieht sich auf einen abstrakten Fahrzeugtyp, der mit allen gesetzlichen Vorschriften übereinstimmt. Bei diesem abstrakten und mit den Rechtsakten übereinstimmenden Fahrzeugtyp liegt keine unzulässige Abschalteinrichtung vor, da die Volkswagen AG nicht erklärt hat, dass sie eine derartige Abschalteinrichtung im Typgenehmigungsverfahren verwendet. Nach Erteilung der Typgenehmigung hat VW aber bei der Herstellung der einzelnen

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Fahrzeuge unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut, die gegenüber dem genehmigten abstrakten Fahrzeugtyp ein verschlechtertes Abgasverhalten haben. Dies hat das Erlöschen der EGTypgenehmigungen zur Folge.“

(2) Verschlechterung des Abgasverhaltens

224 Die von der Beklagten vorgenommenen Änderungen führten auch zu einer Verschlechterung des Abgasverhaltens. Es ist unstreitig, dass die Umschalt-Software das Abgasverhalten verschlechtert. Nach den eigenen Angaben der Beklagten enthalten die vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge eine Software,

„durch welche die Stickoxidwerte (NOx) im Vergleich zwischen Prüfstandlauf (NEFZ) und realem Fahrbetrieb verschlechtert werden.“

(siehe Schreiben der Beklagten vom Februar 2016, Anlage K43)

(3) Kein Wiederaufleben der EG-Typgenehmigung durch Ausbau der Abschalteinrichtung

225 Die EG-Typgenehmigung lebt auch nicht wieder auf, wenn die verbotene Abschalteinrichtung im Rahmen der Rückrufaktion der Beklagten (vgl. oben: Rn. 117 ff.) entfernt würde. Dies ergibt sich aus der Wertung des § 19 Abs. 2 Satz 3 StVZO, wonach im Falle des Erlöschens der Betriebserlaubnis eine neue Betriebserlaubnis gemäß § 21 StVZO für das jeweilige Einzelfahrzeug zu beantragen ist. Diese Vorschrift lautet:

„Für die Erteilung einer neuen Betriebserlaubnis gilt § 21 entsprechend.“

§ 19 Abs. 2 Satz 3 StVZO gilt über § 19 Abs. 7 StVZO im Falle des Erlöschens der EG-Typgenehmigung entsprechend. Das bloß faktische Rückgängigmachen der Änderungen reicht somit nicht aus, um das Fahrzeug in einen vorschriftsmäßigen Zustand zu versetzen.

(vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 24. März2006 – 1 U 181/05 – NZV 2007, 44 für den Fall des Erlöschens der Betriebserlaubnis durch „Chip-Tuning“).

226 Aus diesem Grund sind auch die vom KBA angeordneten Maßnahmen (vgl. oben Rn. 60ff.) nicht geeignet, die vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge in einen vorschriftsmäßigen Zustand zu versetzen. Die Bescheide des KBA sehen lediglich Nebenbestimmungen zu den EG-Typgenehmigungen vor. Sie verpflichten die Beklagte (sinngemäß) zum Ausbau der unzulässigen Abschalteinrichtungen. Diese Nebenbestimmungen gehen jedoch ins Leere, da die EG-Typgenehmigungen im Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide bereits erloschen waren. Durch die Erfüllung der Nebenbestimmungen leben die erloschenen Typgenehmigungen nicht wieder auf.

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227 Dies führt indessen allenfalls zur Rechtswidrigkeit der Bescheide, nicht jedoch zu deren Nichtigkeit gemäß § 44 Abs. 1 VwVfG. Solange die Bescheide nicht vom KBA zurückgenommen oder im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgehoben werden, bleiben die Bescheide hinsichtlich der Feststellung, dass es sich bei der von der Beklagten verwendeten Software um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, gegenüber der Beklagten bestandskräftig und binden insoweit andere Behörden und die Zivilgerichte (vgl. oben Rn. 211).

(4) Feststellungskompetenz der Zivilgerichte

228 Das Erlöschen der EG-Typgenehmigung gemäß § 19 Abs. 2 StVZO kann durch die Zivilgerichte eigenständig festgestellt werden. Dies hat u.a. das Landgericht München II in seinem Urteil vom 15. November 2016 (12 O 1482/16, anbei als Anlage K51) getan. Im dortigen Fall hatte das Gericht über Schadenersatzansprüche eines Käufers, der ein vom VW-Abgasskandal betroffenes Fahrzeug erworben hatte, gegenüber der Beklagten zu entscheiden. Das LG München II führt insbesondere Folgendes aus:

„Zu berücksichtigen ist auch, dass die Betriebserlaubnis für den PKW kraft Gesetzes gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StVZO erloschen ist. Dass die Behörden an diesen Umstand momentan für Hunderttausende Kraftfahrzeugführer keine Folgen knüpfen, ist für sich genommen für § 19 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 StVZO unerheblich, da die Rechtsfolge kraft Gesetzes eintritt -unabhängig von behördlichen Maßnahmen.“

229 Die Tatbestandswirkung der Bescheide des KBA steht dem nicht entgegen. Denn die Bescheide enthalten keine Aussage zu der Frage, ob die EG-Typgenehmigungen gemäß § 19 Abs. 7 i.V.m. § 19 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVZO erloschen sind oder nicht. Die Bescheide können insoweit auch keine Tatbestandswirkung entfalten. Denn die verfügenden Teile der Bescheide treffen lediglich eine Regelung zu Nebenbestimmungen: d.h. die Pflicht zur Entfernung der unzulässigen Abschalteinrichtungen im Rahmen der Rückrufaktion (s. oben: Rn. 61-63 und 64-66).

(5) Rechtsfolgen des Erlöschens der EG-Typgenehmigung

230 Das Erlöschen der EG-Typgenehmigung hat wiederum zur Folge, dass die vom Abgas-Skandal betroffenen Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen nicht in Betrieb genommen werden dürfen.

231 Zwar ist die für das Fahrzeug erteilte Zulassung weiterhin wirksam, solange die zuständigen Landesbehörden die Zulassung nicht zurücknehmen. Das Erlöschen der EG-Typgenehmigung führt insoweit nicht zum automatischen Erlöschen der Zulassung (vgl. oben Rn. 207). Das Betriebsverbot folgt jedoch aus § 19 Abs. 5 StVZO, der gemäß § 19 Abs. 7

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StVZO für den Fall der erloschenen EG-Typgnehmigung entsprechend gilt. § 19 Abs. 5 StVZO lautet:

„Ist die Betriebserlaubnis nach Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 2 erloschen, so darf das Fahrzeug nicht auf öffentlichen Straßen in Betrieb genommen werden oder dessen Inbetriebnahme durch den Halter angeordnet oder zugelassen werden.“

232 Die Inbetriebnahme eines Fahrzeugs trotz erloschener EG-Typgenehmigung erfüllt darüber hinaus den Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 69 Abs. 2 Nr. 1a StVZO, der wie folgt lautet:

„(2) Ordnungswidrig im Sinne des § 24 des Straßenverkehrsgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig [...] 1a. entgegen § 19 Absatz 5 Satz 1 ein Fahrzeug in Betrieb nimmt oder als Halter dessen Inbetriebnahme anordnet oder zulässt“

233 Durch den Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 69 Abs. 2 Nr. 1a StVZO sollen nach dem Willen des Verordnungsgebers „bedeutende Verkehrsverstöße“ sanktioniert werden. Dies ergibt sich aus den Materialien zu dieser Vorschrift. Im Zustimmungsbeschluss des Bundesrates zur Siebenundvierzigsten Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, mit welcher sowohl der Tatbestand des § 69 Abs. 1 Nr. 1a StVZO eingeführt, als auch die entsprechenden Regelungen der Bußgeldkatalog-Verordnung geschaffen wurden, wird u.a. Folgendes ausgeführt:

„Die neuen Tatbestände enthalten die Bußgeldregelsätze für das unzulässige Inbetriebnehmen von Fahrzeugen, deren Betriebserlaubnis erloschen ist. Dabei wird berücksichtigt, dass ein Erlöschen der Betriebserlaubnis im Gefüge der StVZO als rigide Rechtsfolge ausgestaltet ist, die dann eintritt, wenn aktiv Änderungen am Fahrzeug vorgenommen worden sind, die erhebliche negative Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit und Umweltverträglichkeit haben können. Aus diesen Gründen sind die Handlungen als bedeutende Verkehrsverstöße zu bewerten. Die Taten sind vergleichbar mit den Tatbeständen, die die Inbetriebnahme verkehrsunsicherer Fahrzeuge betreffen, die in der Vergangenheit in den fraglichen Fällen auch angewandt worden sind.“

(BR-Drucksache 843/11, S. 11, anbei als Anlage K52)

cc) Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung

234 Da die betroffenen Fahrzeuge aufgrund der verwendeten Abschalteinrichtung zum Zeitpunkt ihrer Herstellung nicht den technischen Anforderungen aller einschlägigen in Anhang IV der Richtlinie 2007/46/EG vorgeschriebenen Rechtsakte entsprachen (vgl. oben Rn. 209 ff.), sind

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die dafür von der Beklagten und den anderen VW-Konzerngesellschaften ausgestellten Übereinstimmungsbescheinigungen nicht nur unrichtig, sondern auch ungültig im Sinne von Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG und damit auch im Sinne von § 27 Abs. 1 EG-FGV, der Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG umsetzt. Dies ergibt sich aus Folgendem:

(1) Begrifflichkeiten

235 Der unionsrechtliche Ungültigkeitsbegriff ist nicht gleichbedeutend mit dem Begriff der Unwirksamkeit im deutschen Verwaltungsrecht (siehe § 43 Abs. 3 VwVfG in Bezug auf nichtige Verwaltungsakte). Nach deutscher Terminologie nichtige Verwaltungsakte würden im EU-Recht als „inexistent“ bezeichnet. Inexistent sind nach der Rechtsprechung des EuGH nämlich solche Rechtsakte,

„die offenkundig mit einem so schweren Fehler behaftet sind, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung ihn nicht tolerieren kann“.

(EuGH, Urteil vom 15. Juni 1994 – C-137/92 P – Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555, Rn. 50; vgl. auch Urteil vom 8. Juli 1999 – C-245/92 P – Chemie Linz/Kommission, Slg. 1999, I-4643, Rn. 94).

236 Keinesfalls kann man aus der Terminologie in Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG und § 27 Abs. 1 EG-FGV also schließen, dass die Übereinstimmungsbescheinigung immer dann gültig ist, wenn sie nicht nichtig im Sinne des deutschen Verwaltungsrechtsbegriffs ist. Ohnehin führen die verwaltungsrechtlichen Begrifflichkeiten bei der Auslegung hier nicht weiter, denn es handelt sich bei der Übereinstimmungsbescheinigung nach Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG gerade nicht um einen Rechtsakt der öffentlichen Gewalt, sondern um

„eine Erklärung des Fahrzeugherstellers […], in der er dem Fahrzeugkäufer versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmt“.

237 So der Wortlaut der geltenden Fassung von Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG (siehe Änderung durch Verordnung (EG) Nr. 385/2009 der Kommission vom 7. Mai 2009 zur Ersetzung des Anhangs IX der Richtlinie 2007/46/EG). Keineswegs wird die Übereinstimmungsbescheinigung also „durch Verwaltungsakt“ erteilt, wie das Landgericht Braunschweig in einem Urteil vom 27. September 2016 (7 O 585/16, Juris, Rn. 36). angenommen hat, erst Recht nicht vom KBA. Mit einem Verwaltungsakt hat die Übereinstimmungsbescheinigung nichts zu tun und auch nichts gemein. Es handelt sich um die Eigenerklärung eines privatwirtschaftlichen Unternehmens, die weder Gegenstand von behördlichen noch von gerichtlichen Aufhebungsentscheidungen sein kann. Eine solche

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behördliche Entscheidung kann für die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung also auch nicht maßgeblich sein.

(2) Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung aufgrund Nichterfüllens der an sie gestellten gesetzlichen Anforderungen

238 Entscheidend für die Gültigkeit einer Übereinstimmungsbescheinigung kann nur sein, ob sie den an sie gestellten gesetzlichen Anforderungen genügt. Das ist bei den für die vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge ausgestellten Übereinstimmungsbescheinigungen nicht der Fall. Denn diese Fahrzeuge enthielten zum Zeitpunkt der Ausstellung der Übereinstimmungsbescheinigungen eine nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtung und entsprachen daher nicht den technischen Anforderungen aller einschlägigen in Anhang IV der Richtlinie 2007/46/EG vorgeschriebenen Rechtsakte. Die Übereinstimmungsbescheinigungen sind somit nicht gültig im Sinne von § 27 Abs. 1 EG-FGV. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf das Gutachten von Professor Dr. Remo Klinger (Anlage K49), der sich mit der Frage der Gültigkeit der durch die Beklagte ausgestellten Übereinstimmungsbescheinigungen für die vom VW-Dieselskandal betroffenen Kraftfahrzeuge eingehend auseinandergesetzt hat und zu folgendem Ergebnis gekommen ist:

„Die durch die Volkswagen AG für die vom Abgasskandal betroffenen Kraftfahrzeuge ausgestellten Übereinstimmungsbescheinigungen sind ungültig. Sie entsprechen nicht dem genehmigten Typ, da die Fahrzeuge nicht allen Rechtsakten entsprechen, die für die Erteilung der Typgenehmigung galten. Da die Volkswagen AG bei der Typgenehmigung erklärt hat, dass der genehmigte Typ allen Rechtsakten entspricht, hat die sich nachträglich ergebende Nichtübereinstimmung mit den Rechtsakten zur Folge, dass im Rechtssinne keine Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ vorliegt. Ergänzend ergibt sich daraus, dass das Fehlen entsprechender Angaben zur Verwendung einer Abschalteinrichtung in den Typgenehmigungsunterlagen, insbesondere bei der Frage der Verwendung elektronischer Bauteile und den Maßnahmen gegen Luftverschmutzung, dazu führt, dass die Typgenehmigungsunterlagen von keiner Abschalteinrichtung ausgehen. Stellt sich nachträglich das Gegenteil dessen heraus, was durch den Kraftfahrzeughersteller dokumentiert wurde, entsprechen die in Verkehr gebrachten Fahrzeuge nicht dem genehmigten Typ. Dies hat die Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigungen zur Folge.

Die Übereinstimmungsbescheinigungen werden auch nicht dadurch nachträglich gültig, dass möglicherweise infolge der Rückrufanordnung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 15. Oktober 2015 durch sogenannte Software- und/oder Hardware-Updates in tatsächlicher Hinsicht rechtskonforme Zustände eingetreten sind. Die

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Übereinstimmungsbescheinigung bescheinigt, dass die Fahrzeuge bei ihrer Inverkehrnahme als Neuwagen dem genehmigten Typ entsprechen. Nachträgliche technische Veränderungen haben keinen Einfluss auf die Rechtsgültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung.“

(3) Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung nach Ansicht von Bundesregierung und EU-Kommission

239 Von der Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigungen gehen ausweislich der Anlagen K 41 und K 42 auch die Bundesregierung und die EU-Kommission aus, die auf die Sanktionsmöglichkeit der Verwendung von Abschalteinrichtungen durch die Beklagte nach deutschem Recht, insbesondere § 37 EG-FGV, verweisen. Diese Ordnungswidrigkeitsvorschrift dient der Umsetzung von Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG. In der Begründung zur Verordnung zur Neuordnung des Rechts der Erteilung von EG-Genehmigungen für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge heißt es zu § 37 EG-FGV:

„In dieser Vorschrift werden die Tatbestände festgelegt, die als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße geahndet werden können. Damit wird Artikel 46 der Richtlinie 2007/46/EG umgesetzt, der die Mitgliedstaaten auffordert, wirksame Sanktionen bei Verstößen gegen die Anforderungen dieser Richtlinie festzulegen.“

(BR-Drucksache 190/09, S. 57 f.)

240 Nach Artikel 46 der Richtlinie 2007/46/EG, der durch § 37 EG-FGV in deutsches Recht umgesetzt wurde, sind auch Verstöße gegen die in Anhang IV Teil I der Richtlinie aufgeführten Rechtsakte und damit auch Verstöße gegen das in Artikel 5 der Verordnung (EG) 715/2007 normierte Verbot der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen, von den Mitgliedstaaten mit Sanktionen zu belegen, die wirksam, verhältnismäßig und abschrecken sein müssen:

„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen diese Richtlinie, insbesondere gegen die in Artikel 31 vorgesehenen oder sich daraus ergebenden Verbote und die in Anhang IV Teil I aufgeführten Rechtsakte anzuwenden sind und ergreifen alle für ihre Durchführung erforderlichen Maßnahmen. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission diese Vorschriften bis zum 29. April 2009 sowie etwaige Änderungen so bald wie möglich mit.“

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241 Aus Artikel 13 der Verordnung (EG) 715/2007 ergibt sich, dass die Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen durch den Hersteller von den Mitgliedstaaten durch entsprechende Sanktionen zu ahnden ist:

„(1) Die Mitgliedstaaten legen für Verstöße von Herstellern gegen die Vorschriften dieser Verordnung Sanktionen fest und treffen die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission diese Vorschriften bis zum 2. Januar 2009 mit und melden ihr unverzüglich spätere Änderungen.

(2) Zu den Arten von Verstößen, die einer Sanktion unterliegen, gehören folgende:

[…]

(d) Verwendung von Abschalteinrichtungen

[…]“

242 Zwar wird die Verwendung von Abschalteinrichtung als solche nicht ausdrücklich als Ordnungswidrigkeitstatbestand in § 37 EG-FGV genannt. Die Bundesregierung und ihre folgend die EU-Kommission gehen jedoch davon aus, dass ein Fahrzeughersteller ordnungswidrig im Sinne dieser Vorschrift handelt, wenn er ein Fahrzeug, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, in Verkehr bringt, feilbietet oder veräußert. Dementsprechend heißt es in dem Schreiben der EU-Kommission vom 16. Dezember 2016 (vgl. oben Rdn. 187 ff.):

„Den deutschen Behörden zufolge enthalten die Bestimmungen zur Umsetzung von Artikel 46 der Richtlinie 2007/46/EG in Kombination mit dem allgemeinen Verwaltungs- und Strafrecht auf nationaler Ebene Sanktionen gegen die verschiedenen in Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufgeführten Verstöße.

Nach ständiger Rechtsprechung bleibt den Mitgliedstaaten zwar die Wahl der Sanktionen überlassen, sie müssen jedoch darauf achten, dass Verstöße gegen das EU-Recht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie Verstöße vergleichbarer Art und Schwere gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss.

Zwar haben die deutschen Behörden Manipulationen bei Fahrzeugen der Volkswagen-Gruppe festgestellt, die einen Verstoß gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 darstellen, es ist allerdings nicht ersichtlich, dass diese

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Behörden erwogen haben, die nationalen Vorschriften über Sanktionen auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Infolgedessen wurden keine Sanktionen nach Art. 13 der Verordnung gegen Hersteller der Volkswagen-Gruppe verhängt.“

243 Nicht die fehlende Umsetzung von Artikel 13 der Verordnung (EG) 715/2007 in deutsches Recht, sondern das von der EU-Kommission festgestellte Vollzugsdefizit hat also zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland geführt.

(4) Keine entgegenstehende Bindungswirkung des Berichts der

Untersuchungskommission Volkswagen

244 Der Ungültigkeit der von der Beklagten ausgestellten Übereinstimmungsbescheinigungen steht auch der Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen (Anlage K 6) nicht entgegen. Dort heißt es zwar auf Seite 13:

„In weiterer Konsequenz des Bescheides ist betroffenen Neufahrzeugen, die noch nicht erstmals zugelassen worden sind, im Einklang mit der EG-Typgenehmigungsrichtlinie 2007/46/EG die Zulassung zum Straßenverkehr zu verweigern. Das BMVI hat die für die Fahrzeugzulassung zuständigen obersten Behörden der Länder schriftlich hierüber informiert. (…) Dagegen besteht für Fahrzeuge, die bereits zugelassen gewesen sind – sei es in Deutschland oder im EU-Ausland – kein Zulassungshindernis, insbesondere im Fall eines Weiterverkaufes. Für solche Fahrzeuge wird auch keine Rechtsgrundlage für ein Verkaufsverbot gesehen.“

245 Bei dem Bericht handelt es sich jedoch weder um einen Verwaltungsakt noch um eine Allgemeinverfügung. Die in dem Bericht enthaltenen Ausführungen können deshalb gegenüber den nach Landesrecht zuständigen Behörden und gegenüber den Zivilgerichten keine Tatbestandswirkung entfalten. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen im Gutachten von Professor Dr. Remo Klinger (Anlage K50) S. 46 f.:

„Da es sich bei dem Bericht der Untersuchungskommission weder um eine gerichtliche Entscheidung noch um einen Rechtsakt in der Form eines Verwaltungsaktes (§ 35 VwVfG) handelt, ist die Frage der Bindungswirkung der oben zitierten Ausführung eindeutig dahingehend zu beantworten, dass es sich dabei lediglich um eine unverbindliche Rechtsansicht handelt, die keine weiteren rechtlichen Konsequenzen hat.

Daraus folgt, dass insbesondere die Zulassungsbehörden nicht an die im Untersuchungsbericht geäußerte (unzutreffende) Rechtsansicht gebunden sind. Dies gilt auch dann, wenn das BMVI die für die Fahrzeugzulassung

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zuständigen Behörden der Länder schriftlich über diese Rechtsauffassung informiert hat, da auch derartige Schreiben des BMVI keine Verwaltungsaktsqualität besitzen.

Das BMVI ist insofern auch nicht weisungsbefugt gegenüber den Kraftfahrzeugzulassungsbehörden. Denn nach der föderalen Aufgabenverteilung ordnet das Grundgesetz an, dass die Bundesgesetze grundsätzlich von den Ländern „als eigene Angelegenheit“ ausgeführt werden (Art. 83 GG). Ausnahmen wie die Bundesauftragsverwaltung oder die bundeseigene Verwaltung müssen ausdrücklich im Grundgesetz angeordnet oder zugelassen werden. In den Fällen der Bundesauftrags-oder der Bundeseigenverwaltung kann die Bundesregierung allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. Ferner unterstehen die Landesbehörden bei der Bundesauftragsverwaltung den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden. Die Bundesaufsicht erstreckt sich auf die Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Ausführung. In dem hier relevanten Rechtsrahmen, dem Vertrieb und dem Verkehr mit Kraftfahrzeugen, regelt nur Art. 90 Abs. 2 GG die Frage der Verwaltung der Bundesfernstraßen als eine Materie der Bundesauftragsverwaltung. Die Kraftfahrzeugzulassung ist Sache der landeseigenen Verwaltung.

Die Länderbehörden haben die aus der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen zu ziehenden Konsequenzen daher eigenständig zu treffen. Bindungen gegenüber etwaigen Rechtsäußerungen des BMVI unterliegen sie nicht.“

246 Die unzutreffenden Rechtsansichten des BMVI, die in dem Bericht der Untersuchungskommission wiedergegeben werden, mögen zwar dazu beigetragen haben, dass die nach Landesrecht zuständigen Behörden bislang noch keine zulassungsrechtlichen Konsequenzen aus der Ungültigkeit der von der Beklagten ausgestellten Übereinstimmungsbescheinigungen gezogen und noch keine Bußgeldverfahren gegen die Beklagte nach §§ 37, 27 EG-FGV eingeleitet haben. Gerade dieses Vollzugsdefizit hat jedoch zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland durch die EU-Kommission geführt (s. oben Rdn. 191).

247 Der Beklagten war indessen bekannt, dass die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowohl die Verhängung von Bußgeldern als auch die Stilllegung der damit ausgerüsteten Fahrzeuge zur Folge haben kann. Bosch als Zulieferer der betreffenden Software hat insoweit von der Beklagten einen ausdrücklich Haftungsausschluss verlangt (s. oben Rdn. 31):

„Der Volkswagen AG ist bekannt, welche Verwendungen und Bedatungen der Funktion zu einer emissionsrelevanten Beeinflussung führen können, so dass ggf. die Allgemeine Betriebserlaubnis erlischt. Mit der

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Beauftragung für die Verwendung der Funktion BGFAWU 10.x. übernimmt die Volkswagen AG die volle und alleinige Verantwortung für diese Funktionalität.

BOSCH schließt gegenüber der Volkswagen AG und, soweit in dieser Vereinbarung ausschließbar, auch gegenüber Dritten jegliche Haftung aus jedem Rechtsgrund und gemäß jeder anwendbaren Rechtsordnung aus, die auf eine durch die Funktion verursachte gesetzeswidrige emissionsrelevante Beeinflussung gestützt werden kann und die nicht auf einer vorsätzlichen Pflichtverletzung von BOSCH beruht. Dieser Haftungsausschluss umfasst insbesondere die Haftung für Schäden in Zusammenhang mit Bußgeldern, Stilllegungsanordnungen und anderen Handlungen von Behörden sowie in Zusammenhang mit Rückrufaktionen.“

248 Dass die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung die Verhängung von Bußgeldern, die Stilllegung der betroffenen Fahrzeuge und weitere behördliche Maßnahmen nach sich ziehen kann, hat die Beklagte in Kenntnis des von Bosch verlangten Haftungsausschlusses billigend in Kauf genommen.

II. Hauptantrag zu 1

249 Der Kläger kann von der Beklagten im Wege des Schadensersatzes einen Betrag in Höhe von 41.000

€ Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs verlangen.

1. Verschulden bei Vertragsschluss

250 Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten ein Schadensersatzanspruch nach den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsschluss zu (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 i.V.m. § 311 Abs. 3 BGB). Durch das Ausstellen der Übereinstimmungsbescheinigung kam zwischen dem Kläger und der Beklagten ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB (Schutz- und Rücksichtnahmepflichten) zustande. Diese Pflichten verletzte die Beklagte, indem sie eine unrichtige Übereinstimmungsbescheinigung ausstellte. Sie ist somit gemäß § 280 Abs. 1 BGB zum Schadenersatz verpflichtet.

a) Schuldverhältnis – Grundsätze der Sachwalterhaftung

251 Gemäß § 311 Abs. 3 BGB kann ein Schuldverhältnis mit Schutz- und Rücksichtnahmepflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) auch gegenüber Dritten entstehen, die nicht Vertragspartei werden sollen. Ein solches Schuldverhältnis entsteht gemäß § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB insbesondere dann, wenn der Dritte in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch den Vertragsschluss erheblich beeinflusst.

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252 Die Regelung des § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB geht zurück auf die von der Rechtsprechung entwickelte Sachwalterhaftung, die auch nach Inkrafttreten des § 311 Abs. 3 BGB weiterhin Geltung beansprucht

(vgl. BT-Drucksache 14/6040, S. 163; MünchKomm/BGB-Emmerich, 7. Auflage 2016, § 311, Rn. 178).

253 Sachwalter im Sinne dieser Rechtsprechung ist eine Person, die

„ohne Vertragspartner oder dessen Vertreter zu sein, auf der Seite eines Vertragspartners an dem Zustandekommen des Vertrages beteiligt ist und dabei über das bei der Anbahnung von Geschäftsbeziehungen immer vorauszusetzende normale Verhandlungsvertrauen hinaus in besonderem Maße Vertrauen für sich persönlich in Anspruch nimmt und auf diese Weise dem anderen Vertragspartner eine zusätzliche, gerade von ihm persönlich ausgehende Gewähr für Bestand und Erfüllung des in Aussicht genommenen Rechtsgeschäfts bietet“

(BGH, Urteil vom 29. Januar 1997 – VIII ZR 356/95 – NJW 1997, 1233 – Hervorhebung durch die Unterzeichner; ebenso Urteil vom 17. Juni 1991 – II ZR 171/90 – NJW-RR 1991, 1241).

254 Ein Sachwalter tritt mithin als „Garant der Vertragsdurchführung“ auf und nimmt dadurch besonderes Vertrauen für sich in Anspruch

(vgl. MünchKomm/BGB-Emmerich, § 311, Rn. 178).

255 Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt:

aa) Beteiligung am Vertragsschluss

256 Die Beklagte war am Zustandekommen des Kaufvertrags über das Fahrzeug beteiligt. Zwar trat sie gegenüber dem Kläger nicht persönlich in Erscheinung. Sie stellte jedoch die Übereinstimmungsbescheinigung aus und schuf damit eine notwendige Voraussetzung für das (vermeintlich) wirksame Zustandekommen des Kaufvertrages. Vermeintlich deshalb, weil die Übereinstimmungsbescheinigung ungültig ist (vgl. hierzu oben Rn. 234ff.) und ohne gültige Übereinstimmungsbescheinigung ein Fahrzeug zur Verwendung im Straßenverkehr nicht veräußert werden darf (vgl. § 27 Abs. 1 EG-FGV). Kaufverträge, die entgegen dieser Vorschrift abgeschlossen werden, sind gemäß § 134 BGB nichtig.

bb) Inanspruchnahme besonderen Vertrauens

257 Indem die Beklagte eine Übereinstimmungsbescheinigung für das Fahrzeug ausstellte, trat sie als „Garant der Vertragsdurchführung“ auf. Durch die Übereinstimmungsbescheinigung sicherte die Beklagte dem Kläger als Fahrzeugkäufer zu, dass das Fahrzeug im Zeitpunkt der

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Herstellung mit der Typgenehmigung sowie mit sämtlichen in der EU geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmte. Denn gemäß Anhang IX, Ziffer 0 der Richtlinie 2007/46/EG stellt die

„Übereinstimmungsbescheinigung [...] eine Erklärung des Fahrzeugherstellers dar, in der er dem Fahrzeugkäufer versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmte.“

258 Die Übereinstimmungsbescheinigung ist insoweit als Garantieerklärung des Fahrzeugherstellers gegenüber den (potentiellen) Fahrzeugkäufern aufzufassen. Dies wird noch deutlicher, wenn man die romanischsprachigen Fassungen der Richtlinie 2007/46/EG betrachtet. In diesen Fassungen werden explizit die Verben „garantir“, „garantire“, „garantizar“ verwendet; so z.B. in der französischen Fassung, die wie folgt lautet:

„Le certificat de conformité constitue une déclaration délivrée par le constructeur du véhicule à l’acheteur en vue de garantir à celui-ci que le véhicule qu’il a acquis est conforme à la législation communautaire en vigueur au moment de sa production.“

Indem die Beklagte eine solche Garantieerklärung abgab, nahm sie mithin in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch.

259 Die Beklagte besitzt als Fahrzeugherstellerin auch eine besondere Sachkunde, um die in der Übereinstimmungsbescheinigung enthaltenen Angaben zu bestätigen. Denn die Beklagte ist gesetzlich dazu verpflichtet, jedes Fahrzeug sorgfältig daraufhin zu überprüfen, ob es tatsächlich mit der Typgenehmigung und den sonstigen einschlägigen Rechtsvorschriften übereinstimmt. Gemäß § 4 Abs. 4 EG-FGV hat jeder Fahrzeughersteller ein „wirksames System zur Überwachung der Übereinstimmung der Produktion“ zu etablieren, das den folgenden – in Anhang X der Richtlinie 2007/46/EG normierten – Anforderungen genügen muss:

„2. Vorkehrungen für die Übereinstimmung der Produkte

2.1. Jedes Fahrzeug, System, Bauteil oder jede selbstständige technische Einheit, das (die) nach dieser Richtlinie oder einer Einzelrichtlinie oder Einzelverordnung genehmigt wurde, muss so hergestellt sein, dass es (sie) mit dem genehmigten Typ übereinstimmt und die Vorschriften dieser Richtlinie oder der in Anhang IV aufgeführten geltenden Rechtsvorschriften erfüllt.

[...]

Der Inhaber der Genehmigung muss vor allem:

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2.3.1. sicherstellen, dass Verfahren für eine wirksame Kontrolle der Übereinstimmung der Produkte (Fahrzeuge, Systeme, Bauteile oder selbstständige technische Einheiten) mit dem genehmigten Typ zur Verfügung stehen und angewendet werden;

[...]

2.3.3. sicherstellen oder überprüfen, dass die Prüfergebnisse aufgezeichnet werden und die Aufzeichnungen und dazugehörigen Unterlagen über einen mit der Genehmigungsbehörde zu vereinbarenden Zeitraum verfügbar bleiben. Dieser Zeitraum darf 10 Jahre nicht überschreiten;

2.3.4. die Ergebnisse jeder Art von Prüfung oder Kontrolle auswerten, um die Beständigkeit der Produktmerkmale unter Berücksichtigung der in der Serienproduktion üblichen Streuung nachweisen und gewährleisten zu können;

2.3.5. sicherstellen, dass für jeden Produkttyp zumindest die in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Kontrollen durchgeführt werden sowie die Prüfungen, die in den in Anhang IV aufgeführten geltenden Rechtsvorschriften vorgesehen sind;

2.3.6. sicherstellen, dass alle Stichproben oder Prüfteilmuster, die bei einer bestimmten Prüfung oder Kontrolle den Anschein einer Nichtübereinstimmung geliefert haben, Anlass für eine weitere Musterentnahme und Prüfung oder Kontrolle sind. Dabei sind alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Übereinstimmung der entsprechenden Produktion wiederherzustellen;

2.3.7. Bei einer Fahrzeug-Typgenehmigung müssen die Kontrollen gemäß Nummer 2.3.5 mindestens die Überprüfung des korrekten Bauzustands in Bezug auf die Genehmigung und die für Konformitätsbescheinigungen erforderlichen Angaben in Anhang IX umfassen.“

(Anlage K45, S. 192; Hervorhebungen durch die Unterzeichner)

260 Durch das Ausstellen der Übereinstimmungsbescheinigung erklärt der Fahrzeughersteller somit implizit, dass das jeweilige Einzelfahrzeug die Prüfungen und Kontrollen ordnungsgemäß durchlaufen hat. Der Fahrzeughersteller erteilt die Übereinstimmungsbescheinigung also auf einer umfassend geprüften Tatsachengrundlage. Es ist daher auch ein besonderes Vertrauen in die Übereinstimmungsbescheinigung gerechtfertigt.

cc) Einfluss auf das Zustandekommen des Kaufvertrages

261 Das Vorliegen einer Übereinstimmungsbescheinigung hatte besonderen Einfluss auf das Zustandekommen des Kaufvertrages. Der Kläger hätte das Fahrzeug nicht gekauft, wenn die

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Beklagte die Übereinstimmungsbescheinigung nicht ausgestellt hätte. Denn ansonsten hätte der Kläger gar keine Möglichkeit gehabt, das Auto zum Verkehr zuzulassen, da die Übereinstimmungsbescheinigung bei der Erstzulassung vorzulegen ist (vgl. § 6 Abs. 3 FZV). Durch das Ausstellen der Übereinstimmungsbescheinigung nahm die Beklagte also erheblichen Einfluss auf das Zustandekommen des Kaufvertrages.

dd) Zwischenergebnis

262 Zwischen dem Kläger und der Beklagten ist somit ein quasi-vertragliches Schuldverhältnis gemäß §§ 311 Abs. 3, 241 Abs. 2 BGB zustande gekommen.

b) Pflichtverletzung

263 Die Beklagte hat eine Pflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB aus diesem Schuldverhältnis verletzt, da sie eine falsche Übereinstimmungsbescheinigung ausstellte und damit falsche Informationen über den Zustand des Fahrzeugs mitteilte:

• In der Übereinstimmungsbescheinigung erklärte die Beklagte gegenüber dem Kläger als Käufer, dass das Fahrzeug mit sämtlichen in der EU geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmt (vgl. Art. 1 Nr. 36 bzw. Anhang IX Ziffer 0 der Richtlinie 2007/46/EG – s. oben Rn. 202 f.).

• Die in der Übereinstimmungsbescheinigung mitgeteilte Information war indessen falsch. Das Fahrzeug stimmte nicht mit allen in der EU geltenden Rechtsvorschriften überein. Entgegen Artikel 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 725/2007 war das Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet (vgl. oben Rn. 209 f.).

264 Wird eine falsche Information erteilt, stellt dies nach allgemeiner Auffassung stets eine Pflichtverletzung dar

(vgl. BGH, Urteil vom 20. September 1996 – V ZR 173/95 – NJW-RR 1997, 144; MünchKommBGB-Bachmann, § 241 Rn. 115).

c) Vertretenmüssen

265 Die Beklagte hat die Pflichtverletzung auch zu vertreten. Das Vertretenmüssen wird gemäß § 280 Abs. 1 BGB vermutet. Es obliegt insoweit der Beklagten, das Gegenteil zu beweisen

(vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2009 – XI ZR 586/07 – NJW 2009, 2298, Tz. 17; Beschluss vom 19. Juli 2011 − XI ZR 191/10 – NJW 2011, 3229).

d) Kausaler Schaden

266 Hätte die Beklagte keine (falsche) Übereinstimmungsbescheinigung ausgestellt, hätte der Kläger das Fahrzeug nicht gekauft.

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• Es ist davon auszugehen, dass weder die [...], noch der Kläger den Kaufvertrag über das Fahrzeug geschlossen hätte, wenn dem Fahrzeug keine Übereinstimmungsbescheinigung beigefügt gewesen wäre. Denn ohne Übereinstimmungsbescheinigung hätte das Fahrzeug nicht zur Verwendung im Straßenverkehr veräußert werden dürfen (§ 27 Abs. 1 EG-FGV).

• Im Übrigen greift die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens ein:

„Wer eine vertragliche Aufklärungs- oder Beratungspflicht verletzt, den trifft die Beweislast dafür, daß der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, weil sich der Geschädigte über jeden Rat oder Hinweis hinweggesetzt hätte.“

(BGH, Urteil vom 5. Juli 1973 – VII ZR 12/73 – NJW 1968, 491)

Es obliegt also der Beklagten zu beweisen, dass der Kläger den Kaufvertrag über das Fahrzeug selbst dann geschlossen hätte, wenn die Beklagte keine (falsche) Übereinstimmungsbescheinigung ausgestellt hätte.

267 Abgesehen von der Tatsache, dass das streitgegenständliche Fahrzeug den Kaufpreis von 41.000 € nicht wert war (der Wert eines Fahrzeugs ohne EG-Typgenehmigung ist mit 0 € anzusetzen), liegt der Schaden des Klägers bereits darin, dass er einen Vertrag schloss, den er ohne das haftungsauslösende Verhalten der Beklagten nicht eingegangen wäre. Dieser Eingriff in die Dispositionsfreiheit des Klägers stellt an sich bereits einen Schaden dar. Der Kläger kann mithin im Wege der Naturalrestitution verlangen, so gestellt zu werden, als hätte er den Kaufvertrag über das Fahrzeug nicht geschlossen

(vgl. BGH, Urteil vom 31.Mai 2010 – II ZR 30/09 – NJW 2010, 2506).

e) Rechtsfolge

268 Gemäß § 249 Abs. 1 BGB kann der Kläger die Rückabwicklung des Vertrages verlangen. Diese ist wie folgt durchzuführen:

aa) Erstattung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs

269 Durch den Abschluss des Kaufvertrages ging der Kläger eine belastende Verbindlichkeit gegenüber der [...] ein und zahlte auf dieser Grundlage einen Kaufpreis in Höhe von 41.000 €. Um dies rückgängig zu machen, muss die Beklagte nun im Wege des Schadensersatzes einen Betrag in entsprechender Höhe – d.h. 41.000 € – an den Kläger zahlen.

270 Hätte der Kläger den Kaufvertrag über das Fahrzeug nicht abgeschlossen, hätte er allerdings auch das Fahrzeug nicht erhalten. Im Rahmen des Schadensersatzes ist daher auch die Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs an den Kläger rückgängig zu machen. Der Kläger

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muss das Fahrzeug Zug um Zug gegen Zahlung des Schadensersatzbetrages an die Beklagte herausgeben. Die Rückgabe und Übereignung hat der Kläger bereits angeboten (vgl. oben Rn. 193).

bb) Kein Nutzungsersatz

271 Der Kläger hat das Fahrzeug zwar seit Abschluss des Kaufvertrages genutzt. Hierdurch hat er indessen keine Gebrauchsvorteile erlangt, die er im Wege der Vorteilsausgleichung an die Beklagte herausgeben müsste.

(1) Effektivitätsgrundsatz

272 Dies ergibt sich zum einen aus dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz, der besagt, dass das innerstaatliche Recht die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren darf

(EuGH, Urteil vom 14. September 2016 – C-184/15 – BeckRS 2016, 82220).

273 Dieser Grundsatz wird in der Richtlinie 2007/46/EG (Artikel 46) bzw. in der Verordnung (EG) 715/2007 (Artikel 13) spezialgesetzlich normiert. Danach haben die Mitgliedsstaaten für den Fall von Verstößen gegen europäisches Typgenehmigungsrecht Sanktionen festzulegen, die „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen. In Artikel 46 der Richtlinie 20078/46/EG heißt es:

„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen diese Richtlinie, insbesondere gegen die [...] in Anhang IV Teil I aufgeführten Rechtsakte, anzuwenden sind, und ergreifen alle für ihre Durchführung erforderlichen Maßnahmen. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

274 Das deutsche Typgenehmigungrecht sieht derartige Sanktionen auch vor (s. §§ 7, 25, 27, 37 EG-FGV; §§ 19 Abs. 2, Abs. 7 StVZO); so jedenfalls die Bundesregierung in ihrem Schreiben an die EU-Kommission vom 9. Mai 2016 (s. oben Rn.186 f.) und die Ansicht der EU-Kommission. Der Effektivitätsgrundsatz gebietet es jedoch darüber hinaus, diese öffentlich-rechtlichen Sanktionen durch die individuelle Rechtsdurchsetzung vor den Zivilgerichten zu ergänzen. Diesen Grundsatz hat der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache Muñoz/Frumar (Urteil vom 17. September 2002 – C-253/00 – LMRR 2002, 63, Rn. 63) ausdrücklich ausgesprochen:

„[Es] folgt aus dem Gemeinschaftsrecht, dass derjenige, der infolge der Verletzung einer Verordnungsbestimmung einen Schaden erleidet, soweit er in einem Interesse verletzt ist, dessen Schutz das Gemeinschaftsrecht bezweckt, die Möglichkeit haben muss, die Durchsetzung dieser

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Bestimmung im Zivilrechtsweg zu erzwingen. Nur so ist die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts umfassend gewährleistet. Die zivilgerichtliche Durchsetzung stellt eine notwendige und nützliche Ergänzung der Durchsetzung durch den Mitgliedstaat dar.“

[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

275 Gegen diese Grundsätze würde verstoßen, wenn man hier eine Pflicht zum Nutzungsersatz bejahte. Denn ein Nutzungsersatz würde den Schadensersatzanspruch des Klägers im Wesentlichen „aufzehren“. Dies hätte zur Folge, dass die Verstöße der Beklagten gegen das EG-Typgenehmigungsrecht zivilrechtlich nahezu folgenlos blieben. Die geschädigten Käufer würden faktisch daran gehindert, ihre auf europäischem Recht beruhenden Schadensersatzansprüche geltend zu machen, was offensichtlich dem Effektivitätsgrundsatz widerspräche.

276 Der EuGH hat sich in der Vergangenheit auch ausdrücklich zur Wechselwirkung zwischen Effektivitätsgrundsatz und Nutzungsersatz geäußert und in diesem Zusammenhang eine – nach deutschem Zivilrecht gegebene – Verpflichtung zum Nutzungsersatz unter Berufung auf den Effektivitätsgrundsatz verneint. So erklärte der EuGH die in §§ 439 Abs. 4, 346 Abs. 1 BGB normierte Pflicht des Käufers zur Herausgabe gezogenener Nutzungen für unvereinbar mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 1999/44/EG. Der tragende Gesichtspunkt war für den EuGH, dass diese Regelung das mit der Richtlinie verfolgte Ziel eines wirksamen Verbraucherschutzes unterwandere. Durch den Nutzungsersatz drohe dem Käufer eine finanzielle Belastung, die ihn davon abhalten könnte, seine europarechtlich garantierten Gewährleistungsansprüche geltend zu machen

(vgl. EuGH, Urteil vom 17. April 2008 – C-404/06 – NJW 2008, 1433, Rn. 34 ff.).

(2) Keine Anrechnung unzumutbarer Nutzungen

277 Zum anderen würde ein Nutzungsersatz auch dem Zweck des Schadensersatzes widersprechen. Die Vorteilsausgleichung steht unter dem Vorbehalt der Billigkeit. Eine Vorteilsausgleichung findet nicht statt, wenn sie den Schädiger unbillig entlasten würde. Mit den Worten des BGH:

„Das schadenmindernde oder schadenbeseitigende Ereignis kann vielmehr als zureichender Grund für die Befreiung des Schädigers von der Ersatzpflicht nur anerkannt werden, wenn seine Berücksichtigung bei Würdigung aller Umstände den Schädiger nicht unbillig entlasten würde.“

(BGH, Urteil vom 15. November 1967 – VIII ZR 150/65 – NJW 1968, 491; so auch Urteil vom 17. November 2005 – III ZR 350/04 – NJW 2006, 499; Urteil vom 12. März 2007 – II ZR 315/05 – NJW 2007, 3130).

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278 Aus diesem Wertungsgesichtpunkt folgt, dass objektiv unzumutbare Nutzungen im Rahmen der Vorteilsausgleichung grundsätzlich nicht berücksichtigt werden dürfen

(vgl. BGH, Urteil vom 31. März 2006 – V ZR 51/05 – NJW 2006, 1582, 1583; BGHZ 167, 108-118; HK-BGB/Dörner, 9. Auflage 2016, § 100 BGB Rn. 1; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Auflage 2003, S. 505).

279 Um objektiv unzumutbare Nutzungen handelt es sich hier aber. Denn die Benutzung des Fahrzeugs war objektiv rechtswidrig. Die Typgenehmigung war bereits im Zeitpunkt der Übergabe des Fahrzeugs an den Kläger erloschen (s. oben: Rn. 214 ff.). Der Kläger hätte das Fahrzeug somit gar nicht in Betrieb nehmen und im Straßenverkehr benutzen dürfen (§§ 19 Abs. 5, 19 Abs. 7 StVZO).

280 Indem der Kläger das Fahrzeug nutzte, obwohl die Typgenehmigung erloschen war, erfüllte er den Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 69 Abs. 2 Nr. 1a StVZO (siehe oben Rn. 232). Die Inbetriebnahme eines Fahrzeugs ohne gültige Typgenehmigung stellt nach dem Willen des Verordnungsgebers einen gravierenden Rechtsverstoß dar, der mit der Inbetriebnahme verkehrsunsicherer Fahrzeuge vergleichbar ist (vgl. das Zitat aus der BR-Drucksache 843/11 unter Rn. 233).

281 Die Beklagte würde ohne Zweifel unbillig entlastet, wenn der Kläger für solche illegale Nutzungen Ersatz leisten müsste.

(3) Vollständige Rückabwicklung des Kaufvertrages

282 Eine Nutzungsentschädigung kommt hier auch deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger im Rahmen der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) die vollständige Rückabwicklung seiner Verbindlichkeiten aus dem Kaufvertrag verlangen kann. Dies schließt die Anrechnung etwaiger Vorteile im Wege der Vorteilsausgleichung grundsätzlich aus. So auch das LG Hamburg:

„Es erscheint bereits zweifelhaft, in wie weit aus normativen Gesichtspunkten eine Vorteilsausgleichung im Falle der Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit überhaupt Raum sein kann; denn der Verletzte hat in diesen Fällen einen Anspruch auf vollständige Rückabwicklung dieser ungewollten Verbindlichkeit, was einer Anrechnung etwaiger Vorteile im Wege stehen dürfte.“

(LG Hamburg, Urteil vom 20. September 2012 – 327 O 628/04 – BeckRS 2013, 02261)

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f) Ergebnis

283 Der Kläger kann somit unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluss von der Beklagten die Zahlung eines Betrages in Höhe von 41.000 € Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs verlangen.

2. Prospekthaftung

284 Dem Kläger steht darüber hinaus ein Schadensersatzanspruch nach den Grundsätzen der Prospekthaftung zu.

a) Anwendbarkeit der Grundsätze der Prospekthaftung

285 Die sog. Prospekthaftung im engeren Sinne (nachfolgend nur „Prospekthaftung“) greift in Ergänzung zu der aus § 311 Abs. 3 BGB folgenden Sachwalterhaftung (auch „Prospekthaftung im weiteren Sinne“ genannt) ein. Anknüpfungspunkt der Prospekthaftung ist jedoch nicht ein besonderes persönliches Vertrauen, sondern das typisierte Vertrauen des Anlegers auf die Richtigkeit und Vollständigkeit von Prospektangaben

(vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 1993 – II ZR 194/92 – NJW 1993, 2865; Urteil vom 7. Juli 2003 – II ZR 18/01 – NJW-RR 2003, 1351).

286 Der Anwendungsbereich der Prospekthaftung ist nicht auf Wertpapiere beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf andere Anlageformen, wie z.B. Immobilieninvestitionen im Rahmen eines Bauherren- oder Bauträgermodells

(vgl. BGH, Urteil vom 31. Mai 1990 - VII ZR 340/88 – NJW 1990, 2461; Urteil vom 7. September 2000 – VII ZR 443/99 – NJW 2001, 436).

287 Die Grundsätze der Prospekthaftung können auf den Fall der Ausstellung einer falschen Übereinstimmungsbescheinigung übertragen werden. Denn die Übereinstimmungsbescheinigung ist einem Prospekt vergleichbar. Der BGH definiert den Prospekt als marktbezogene schriftliche Erklärung, die für die Beurteilung der angebotenen Anlage erhebliche Angaben enthält oder doch den Anschein eines solchen Inhalts erweckt

(vgl. BGH, Urteil vom 17. November 2011 − III ZR 103/10 – NJW 2012, 758).

288 Dies trifft auch auf die Übereinstimmungsbescheinigung zu. Sie enthält Angaben zu den maßgeblichen technischen Merkmalen des Fahrzeugs; insbesondere enthält sie die Aussage, dass das Fahrzeug sämtlichen einschlägigen Rechtsvorschriften entspricht (s. oben Rn. 202 ff.).

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289 Der Übereinstimmungsbescheinigung wird auch typischerweise Vertrauen in Hinblick auf Richtigkeit und Vollständigkeit entgegengebracht. Dies folgt aus der Tatsache, dass der Fahrzeughersteller dazu verpflichtet ist, die Übereinstimmung des Fahrzeugs mit der Typgenehmigung sowie mit sämtlichen geltenden Rechtsvorschriften eingehend zu prüfen (vgl. oben Rn. 260) Die Übereinstimmungsbescheinigung bildet eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung des Käufers zum Fahrzeugerwerb. Denn nur die Richtigkeit der Bescheinigung bietet dem Erwerber die Gewähr dafür, dass er das Fahrzeug in Betrieb nehmen kann.

b) Schadensersatzpflicht

290 Erweist sich ein Prospekt im Nachhinein als unrichtig, haftet der Aussteller gemäß §§ 280, 249 BGB auf Rückgängigmachung des im Vertrauen auf die Richtigkeit der Prospektangaben geschlossenen Vertrages. Der Prospektaussteller ist zur Rückzahlung des aufgewandten Betrages Zug um Zug gegen Übertragung der Anlage verpflichtet

(vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 1993 – II ZR 194/92 – NJW 1993, 2865).

291 Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH zu vermuten, dass ein Prospektfehler für die Anlageentscheidung ursächlich geworden ist

(vgl. nur BGH, Urteil vom 29. Mai 2000 – II ZR 280/98 – NJW 2000, 3346).

292 Überträgt man diese Grundsätze auf den Fall des Ausstellens einer unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung gilt folgendes: Der Hersteller haftet gegenüber dem Fahrzeugkäufer auf Rückgängigmachung des Kaufvertrages. Die Beklagte hat dem Kläger daher den Kaufpreis in Höhe von 41.000 € Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs zu erstatten. Ein Nutzungsersatz ist aus den genannten Gründen (vgl. Rn. 271 ff.) nicht in Abzug zu bringen.

3. Deliktische Haftung – § 823 Abs. 2 BGB

293 Zur Rückzahlung des Kaufpreises in Höhe von 41.000 € Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs ist die Beklagte auch gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV verpflichtet.

a) Verletzung eines Schutzgesetzes

294 Die Beklagte hat § 6 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 EG-FGV verletzt.

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aa) Verstoß gegen § 6 Abs. 1 EG-FGV

295 § 6 Abs. 1 EG-FGV bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Fahrzeuge mit einer Übereinstimmungsbescheinigung versehen werden dürfen. Die Vorschrift lautet wörtlich:

„(1) Für jedes dem genehmigten Typ entsprechende Fahrzeug hat der Inhaber der EG-Typgenehmigung eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Artikel 18 in Verbindung mit Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG auszustellen und dem Fahrzeug beizufügen. […]“

296 Daraus folgt, dass für ein nicht dem genehmigten Typ entsprechendes Fahrzeug auch keine Übereinstimmungsbescheinigung nach Art. 18 in Verbindung mit Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG ausgestellt und dem Fahrzeug beigefügt werden darf. Gemäß § 6 Abs. 1 EG-FGV darf eine Übereinstimmungsbescheinigung also nur ausgestellt werden:

• durch den Inhaber einer EG-Typengenehmigung

• und nur für Fahrzeuge, die dem genehmigten Typ entsprechen.

297 Dagegen hat die Beklagte verstoßen. Keine dieser Voraussetzungen war zum Zeitpunkt der Ausstellung der Übereinstimmungsbescheinigung für das streitgegenständliche Fahrzeug erfüllt. Denn zum einen war die Beklagte bei Ausstellung des CoC infolge des Erlöschens kraft Gesetzes nach § 19 Abs. 2 i.V.m. Abs. 7 StVZO nicht (mehr) Inhaberin der EG-Typgenehmigung e1*2001/116*0349*12 (vgl. oben Rn. 214ff.). Zum anderen entsprach das Fahrzeug des Klägers auch nicht dem durch Genehmigung e1*2001/116*0349*12 genehmigten Typ ohne Abschalteinrichtung, da es eine nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtung enthielt (und nach wie vor enthält) und damit von den Angaben im Typgenehmigungsbogen abwich (vgl. oben Rn. 213).

bb) Verstoß gegen § 27 Abs. 1 EG-FGV

298 Außerdem hat die Beklagte gegen § 27 Abs. 1 EG-FGV verstoßen. Danach dürfen Fahrzeuge in Deutschland zur Verwendung im Straßenverkehr nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie über eine gültige Übereinstimmungsbescheinigung verfügen.

299 Da das Fahrzeug des Klägers aufgrund der enthaltenen Abschalteinrichtung zum Zeitpunkt seiner Herstellung nicht den technischen Anforderungen aller einschlägigen in Anhang IV der Richtlinie 2007/46/EG vorgeschriebenen Rechtsakte entsprach (vgl. oben Rn. 213) und damit die von der Beklagten ausgestelte Übereinstimmungsbescheinigung nicht den an sie gestellten gesetzlichen Anforderungen genügte, war diese ungültig (s. oben: Rn. 234 ff.). Die Beklagte hätte das Fahrzeug des Klägers daher gemäß § 27 Abs. 1 EG-FGV zur Verwendung im Straßenverkehr nicht in Verkehr bringen dürfen. Indem sie dies dennoch tat, hat die Beklagte gegen § 27 Abs. 1 EG-FGV verstoßen. Davon gehen ausweislich der Anlagen K41 und K42 auch die Bundesregierung und die EU-Kommission aus, die auf die

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Sanktionsmöglichkeit nach § 37 EG-FGV verweisen (vgl. Rn. 181 ff.). Denn ohne Verstoß gegen § 27 Abs. 1 EG-FGV kommt auch keine Ahndung nach § 37 EG-FGV in Betracht.

cc) Europarechtskonforme Auslegung von § 823 Abs. 2 BGB

300 Es bedarf hier keiner Feststellung der Schutzgesetzeigenschaft von §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV. Da der EuGH privatrechtliche Schadensersatzansprüche bei Zuwiderhandlungen gegen Europarecht im Interesse einer effektiven Durchsetzung des EU-Rechts für notwendig hält

(vgl. EuGH, Urteil vom 20. September 2001 – C-453/99 – Courage/Crehan, Slg. 2001, I-6297, Rn. 25 ff.; Urteil vom 17. September 2002 – C-253/00 – Muñoz/Frumar, Slg. 2002, I-7289, Rn. 28 ff., siehe Zitat oben unter Rn. 274),

301 ist § 823 Abs. 2 BGB, wenn es, wie hier, um einen Verstoß gegen nationales Transformationsrecht, mit dem die Vorgaben einer EU-Richtlinie umgesetzt werden, geht, europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass die Haftung nicht davon abhängt, dass die verletzte Norm dem Schutz der Ersatz begehrenden Partei zu dienen bestimmt ist

(vgl. MünchKommBGB/Wagner, 6. Auflage 2013, § 823 Rn. 391; Wagner, Pävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht – Anmaßung oder legitime Aufgabe?, AcP 206 (2006), 352, 414, 416 f.).

302 Stattdessen muss es aufgrund der oben zitierten EuGH-Rechtsprechung für den Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB bei einem Verstoß gegen eine EU-Recht umsetzende Norm genügen, dass der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch die Durchsetzungskraft des unionsrechtlichen Ge- oder Verbots steigert. Das ist hier unzweifelhaft der Fall.

dd) Schutzgesetzeigenschaft

303 Es besteht allerdings kein Zweifel, dass § 6 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB sind. Darunter fällt jede Rechtsnorm, die auch dazu dient, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts oder Interesses zu schützen

(Palandt/Sprau, BGB, 75. Auflage 2016, § 823 Rn. 58).

(1) Schutzzweck aufgrund EU-Rechts

304 Sowohl § 6 Abs. 1 als auch § 27 Abs. 1 EG-FGV verweisen ausdrücklich auf „eine Übereinstimmungsbescheinigung nach […] Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG“. Der Begriff „Übereinstimmungsbescheinigung“ ist in Art. 3 Ziff. 36 der Richtlinie 2007/46/EG definiert. Danach bezeichnet dieser

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„das in Anhang IX wiedergegebene, vom Hersteller ausgestellte Dokument, mit dem bescheinigt wird, dass ein Fahrzeug aus der Baureihe eines nach dieser Richtlinie genehmigten Typs zum Zeitpunkt seiner Herstellung allen Rechtsakten entspricht“.

305 Nach Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG stellt die Übereinstimmungsbescheinigung

„eine Erklärung des Fahrzeugherstellers dar, in der er dem Fahrzeugkäufer versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmte“.

[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

306 Unmissverständlich soll die Übereinstimmungsbescheinigung den einzelnen Fahrzeugkäufer also vor dem Erwerb eines Fahrzeugs, das zum Zeitpunkt seiner Herstellung nicht mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmte, schützen.

307 Dieser individualschützende Charakter der Übereinstimmungsbescheinigung kommt auch in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2007/46/EG zum Ausdruck. So heißt es im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie:

„Die Übereinstimmungsbescheinigung, deren Muster in Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG enthalten ist, stellt eine dem Käufer des Fahrzeugs ausgehändigte offizielle Erklärung dar, dass ein bestimmtes Fahrzeug gemäß den Anforderungen der Gemeinschaftsvorschriften für die Typgenehmigung gebaut worden ist.“

[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

308 Im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/46/EG wird der Adressatenkreis der Übereinstimmungsbescheinigung bestimmt, indem es heißt, sie müsse für die „beteiligten Verbraucher und Wirtschaftsteilnehmer“ verständlich sein:

„Es ist sicherzustellen, dass die Angaben auf der Übereinstimmungsbescheinigung für die beteiligten Verbraucher und Wirtschaftsteilnehmer verständlich sind.“

[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

309 Kommt somit der Übereinstimmungsbescheinigung individualschützender Charakter zugunsten von Fahrzeugerwerbern zu, muss dies auch für die hierauf aufbauenden § 6 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 EG-FGV gelten. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen im „Rechtsgutachten zur zivilrechtlichen Haftung der Hersteller der vom

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Abgasskandal bettroffenen Fahrzeuge gegenüber deren Erwerbern“ von Prof. Dr. Jan-Dirk Harke, in dem es heißt:

Da Anhang IX der der Richtlinie 2007/46/EG in der Gestalt, die er durch die Verordnung 385/2009/EG erlangt hat, ausdrücklich in die Verweisung in § 27 Abs. 1 EG-FGV einbezogen ist, muss dieser Anhang insgesamt, also einschließlich der Funktionsbeschreibung der Bescheinigung, bei der Anwendung des Umsetzungsgesetzes beachtet werden. Und die in den Erwägungsgründen der Verordnung zum Ausdruck gebrachten Zielsetzungen sind ebenfalls im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation zu berücksichtigen. Kommt der Übereinstimmungsbescheinigung danach eine individualschützende Funktion zugunsten von Verbrauchern und anderen Fahrzeugerwerbern zu, kann nichts anderes für das hierauf aufbauende Verbot des Handels ohne gültige Übereinstimmungsbescheinigung gelten; denn dieses betrifft ja gerade die Vorgänge, durch die Fahrzeugerwerber als Adressaten der Bescheinigung mit dieser in Kontakt kommen sollen. Folglich ist § 27 Abs. 1 EG-FGV, durch den das Verbot des Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie in das innerstaatliche Recht übertragen wird, ebenfalls als Schutzvorschrift für Fahrzeugerwerber zu deuten, an die sich dann zwangsläufig auch eine Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB anschließt.

Das Gutachten (Anlage K 53) reichen wir nach.

(2) Schutzzweck aufgrund des Regelungsinhalts von § 27 Abs. 1 EG-FGV

310 Bei § 27 Abs. 1 EG-FGV kommt noch der Regelungsinhalt der Vorschrift selbst hinzu: Denn nur bei Vorliegen einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung darf ein Fahrzeug zur Verwendung im Straßenverkehr veräußert werden. Die Bestimmung knüpft also an den zivilrechtlichen Vorgang der Veräußerung an. Der Erwerber des Fahrzeugs ist hier daher nicht nur über die europarechtliche Zweckbestimmung der Übereinstimmungsbescheinigung, sondern bereits über das Veräußerungsverbot in den Schutzbereich der Bestimmung einbezogen.

b) Rechtswidrigkeit

311 Die Rechtswidrigkeit ist durch die Schutzgesetzverletzung indiziert.

c) Verschulden

312 Die Beklagte hat § 6 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 EG-FGV vorsätzlich verletzt. Ihr war bekannt, dass die vom Abgas-Skandal betroffenen Fahrzeuge eine unzulässige Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) 715/2007 enthielten und somit von der erteilten EG-Typgenehmigung abwichen. Ebenso waren der Beklagten sämtliche Tatsachen bekannt, die

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zum Erlöschen der EG-Typgenehmigung kraft Gesetzes führten. Die Beklagte wusste mithin, dass sie für das streitgegenständliche Fahrzeug keine Übereinstimmungsbescheinigung hätte ausstellen dürfen. Ihr war insofern auch bewusst, dass die Übereinstimmungsbescheinigung ungültig war, sie das Fahrzeug des Klägers also gar nicht zur Verwendung im Straßenverkehr in Verkehr bringen durfte.

313 Wir fassen die in Teil A. zitierten Erkenntnisse hier nochmals in chronologischer Reihenfolge bis zum Jahr 2010, in dem die Beklagte das CoC für das streitgegenständliche Fahrzeug ausstellte, zusammen:

• Audi-Ingenieure entwickelten in Neckarsulm zwischen 1999 und 2004 eine Abschalteinrichtung, welche es dem Motor erlaubte, den europäischen Abgastest zu erkennen und die Piloteinspritzung zusätzlichen Kraftstoffes beim Zünden, die zur Folge hatte, dass der Motor die europäischen Emissionsgrenzwerte überschritt, zu deaktivieren. Sie nannten diese Abschaltsoftware, die sie in den 3-Liter-Dieselmotoren der Audi-V6-Modelle von 2004 bis 2008 zur Anwendung brachten, „Akustikfunktion“.

• Im Rahmen der Entwicklung eines 3-Liter-Motors für den US-amerikanischen Markt, der im Audi Q7 und im VW Touareg eingesetzt werden sollte, standen die Audi-Ingenieure in Neckarsulm im Jahre 2006 vor dem Problem, dass die in den europäischen Pendants verbauten Urea-Tanks zu klein waren, um die Vorgabe der EPA, Urea-Tankbefüllungen müssten mit den Service-Intervallen zusammenzufallen, und gleichzeitig die strengeren US-amerikanischen NOx-Grenzwerte einhalten zu können. Die Problematik gelangte im oder gegen Juli 2006 auch zur Kenntnis von den späteren Vorstandsvorsitzenden der Beklagten Martin Winterkorn und Matthias Müller, damals noch bei Audi. Im Jahr 2007 schrieb ein Audi-Ingenieur dann unverblümt an einen größeren Kreis von Audi-Managern, dass man es „ganz ohne Bescheißen“ nicht schaffen werde, die strengen Abgaswerte in den USA einzuhalten. Man entschied sich letztendlich bei Audi und der Beklagten, die für die Ausstattung der 3-Liter-Fahrzeuge mit größeren Urea-Tanks erforderliche Zeit und die dafür notwendigen Mittel nicht aufzuwenden und stattdessen eine testzyklusumgehende Abschalteinrichtungs-Software zu verwenden.

• Gegen Ende 2006 setzten die für die Entwicklung des EA 189 Motors der 1. Generation verantwortlichen Ingenieure der Beklagten in der VW-Zentrale in Wolfsburg, darunter James Robert Liang, mit dem Wissen und der Genehmigung ihrer Manager Audis „Akustikfunktion“ zur Umgehung US-amerikanischer Abgastests ein, um die Rußproduktion zu senken und so für den Rußfilter den US-amerikanischen Haltbarkeitsstandard erfüllen zu können und schließlich die Übereinstimmungsbescheinigung der EPA für den Verkauf der Fahrzeuge in den USA zu erhalten. Der Entschluss für den Betrug fiel auf einer Sitzung am 20. November 2006. Beteiligt waren Mitarbeiter auf Arbeitsebenen unterhalb des Vorstands der Beklagten in

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den Abteilungen Antriebs-Elektronik (EAE), Dieselmotorenentwicklung (EAD) und Aggregate-Testcenter (EAS), u.a. der damalige Chef des Bereichs Antriebs-Elektronik und der damalige Leiter der Motorenentwicklung, Rudolf Krebs, der den Einbau der Abschalteinrichtung explizit billigte.

• Der Zulieferer Bosch wies die Beklagte mit Schreiben vom 2. Juni 2008, gerichtet an Herrn Thorsten Schmidt in der Abteilung Antriebselektronik (EAE/11) und in Kopie an die Herren Dr. Kornmesser (EAEF/1), Sperling (EAOE/3) und Windrich (EAOE/3), darauf hin, dass die Abschaltsoftware als „defeat device“ genutzt werden könne, was nach der EU- und US-Gesetzgebung verboten sei. Dennoch wurde der Betrug über die Jahre hinweg systematisch fortentwickelt. Als der Dieselmotor EA 189 im Jahr 2008 kurz vor der Serienproduktion stand und die Ingenieure der Beklagten keine Lösung gefunden hatten, mit der einerseits die Abgasvorgaben und andererseits die Kosten eingehalten werden konnten, bauten die Mitarbeiter der Motorenentwicklung in Wolfsburg mit Billigung des damaligen Entwicklungschefs der Beklagten Ulrich Hackenberg die Manipulationssoftware serienmäßig ein. Der Motor wurde für die Serienproduktion freigegeben und im Motorenwerk Salzgitter gebaut, und zwar nicht nur für die US-Fahrzeuge, sondern für Fahrzeuge weltweit.

• 2009 sahen sich die Ingenieure der Beklagten bei der Entwicklung des Passat, Modelljahr 2012, ebenfalls mit der Problematik unzureichenden Platzes im Fahrzeugchassis für Urea-Tanks, die groß genug gewesen wären, um das zertifizierte Nachfüllintervall von 10.000 Meilen zu gewährleisten, konfrontiert. Statt das technische Problem zu lösen (oder es durch die Zertifizierung der Fahrzeuge für kürzere Serviceintervalle zu unterdrücken), entschied man sich, eine weitere Abschalteinrichtung einzusetzen, welche die Abgasrückführungsmenge und die Urea-Dosierung unter Testbedingungen erhöht, um die NOx-Emissionen auf die gesetzlichen Werte zu bringen. Zusätzlich wurde ein weiteres Software-Merkmal hinzugefügt, um noch besser zu gewährleisten, dass die Software anhand der Beschleunigungs- und Bremsmanöver sowie fehlender Lenkradbewegungen erkennen würde, wenn das Fahrzeug einem Emissionstest unterliegt.

aa) Dr. Frank von Buch als Haftungsvertreter der Beklagten analog § 31 BGB

314 Aus alledem ergibt sich, dass die Entwicklung und der Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung ein offenes Geheimnis innerhalb der Beklagten waren. Auch der Unterzeichner der streitgegenständlichen Übereinstimmungsbescheinigung, Dr. Frank von Buch, wusste von dem Vorhandensein der Manipulationssoftware im Fahrzeug des Klägers. Dennoch hat er durch Ausstellung und Unterzeichnung des CoC in seiner Funktion als „Leiter Typprüfung“ für die Beklagte erklärt, dass das Fahrzeug mit dem genehmigten Typ übereinstimme, damit das Fahrzeug zur Verwendung im Straßenverkehr von der Beklagten in

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Verkehr gebracht würde. Er hat mithin vorsätzlich gegen §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV verstoßen.

315 Herr Dr. von Buch ist als Leiter Typprüfung mit der Funktion, Übereinstimmungsbescheinigungen für die Fahrzeuge der Beklagten auszustellen, sogenannter Haftungsvertreter der Beklagten analog 31 BGB anzusehen. „Da es der juristischen Person nicht freisteht, selbst darüber zu entscheiden, für wen sie ohne Entlastungsmöglichkeit haften will“, wird diese Bestimmung nach ständiger Rechtsprechung des BGH nicht nur auf die Organvertreter, sondern auf alle sogenannten Repräsentanten einer juristischen Person, „denen durch die allgemeine Betriebsregelung und Handhabung bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbständigen, eigenverantworttlichen Erfüllung zugewiesen sind, so dass sie die juristische Person im Rechtsverkehr repräsentieren“, erstreckt

(vgl. nur BGH, Urteil vom 5. März 1998 – III ZR 183/96 – NJW 1998, 1856, 1858).

bb) Wissenszurechnung analog § 166 Abs. 1 BGB

316 Die Beklagte hat den Verstoß gegen §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV vorsätzlich begangen, selbst wenn Herr Dr. von Buch keine Kenntnis von dem Vorhandensein der Manipulationssoftware gehabt hätte. Denn ihr ist das Wissen der Herren Winterkorn, Müller, Liang, Krebs, Schmidt, Dr. Kornmesser, Sperling, Windrich, Hackenberg sowie aller an der Entwicklung und dem Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung beteiligten Ingenieuren als Wissensvertreter analog § 166 BGB zuzurechnen.

(1) Grundsätze der Wissenszurechnung und Wissenszusammenrechnung

317 Dies ergibt sich aus den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Wissenzurechnung und Wissenszusammenrechnung

(vgl. hierzu BGH, Urteil vom 15. April 1997 – XI ZR 105/96 – NJW 1997, 1917; Urteil vom 16. Januar 1996 – XI ZR 151/95 – NJW 1996, 1206).

318 Diese Grundsätze beruhen im Wesentlichen auf zwei Überlegungen:

• Zum einen dem Gleichbehandlungsgedanken, der besagt, dass eine arbeitsteilig handelnde juristische Person haftungsrechtlich nicht besser gestellt sein darf als eine natürliche Person. Die juristische Person darf sich ihrer Haftung nicht durch eine Zersplitterung des verfügbaren Wissens entziehen.

• Zum anderen dem Verkehrsschutzgedanken: Dieser besagt, dass die Nutzung einmal erlangten Wissens nicht im Belieben der juristischen Person steht. Zum Schutz des Rechtsverkehrs ist es erforderlich, dass Informationen innerhalb der juristischen Person

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entsprechend dokumentiert und weitergeleitet werden (Pflicht zur Organisation eines Informationsaustausches).

319 Der BGH führt in diesem Zusammenhang Folgendes aus:

„Maßgeblich zu berücksichtigten ist dabei, daß die Wissenszurechnung dem Schutz des Rechtsverkehrs dienen soll. Dieser verlangt, daß derjenige, der es mit einer Organisation, wie etwa einer Bank, zu tun hat, grundsätzlich nicht schlechter, aber auch nicht besser gestellt werden darf als derjenige, der einer natürlichen Person gegenübersteht. Die Nutzung einmal erlangten Wissens steht deshalb nicht im Belieben der Bank. Informationen, deren Relevanz für spätere Geschäftsvorgänge für den konkret wissenden Angestellten erkennbar ist, müssen vielmehr dokumentiert und über einen gewissen Zeitraum verfügbar gehalten werden. Außerdem muß sichergestellt werden, daß die Informationsmöglichkeit auch genutzt wird.“

(BGH, Urteil vom 15. April 1997 – XI ZR 105/96 – NJW 1997, 1917)

(2) Voraussetzung der Wissenszurechnung

320 Voraussetzung für eine Wissenszurechnung ist, dass ein Anlass zur Speicherung und Weitergabe der jeweiligen Information bestand

(vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 1996 – V ZR 239/94 – NJW 1996, 1339).

321 Die Voraussetzungen sind hier erfüllt: Die Entscheidung, Fahrzeuge mit unzulässigen Abschalteinrichtungen auszustatten, hatte – sowohl für die Beklagte selbst als auch für die jeweiligen Fahrzeugkäufer – erhebliche rechtliche und wirtschaftliche Folgen. Diese Folgen waren bereits im Jahre 2006, als die Entscheidung für die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen wurde, – jedenfalls in groben Zügen – vorhersehbar. Angesichts dessen bestand für alle Mitarbeiter der Beklagten, die von der Entwicklung und dem Einbau der Abschalteinrichtung wussten, ein begründeter Anlass, diese Informationen zu dokumentieren und innerhalb der Organisation der Beklagten weiterzugeben.

322 Die den Abgasskandal betreffenden Informationen wurden von Mitarbeitern der Beklagten auch tatsächlich aktenmäßig festgehalten und innerhalb der Organisation weitergegeben:

• Bosch hatte mit Schreiben vom 2. Juni 2008 darauf hingewiesen, dass die Abschaltsoftware als „defeat device“ genutzt werden könne. Dieses Schreiben gelangte zu den Akten der Beklagten.

• Der Entwicklungsschef der Beklagten, Ulrich Hackenberg, wurde über den Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung informiert.

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• Bereits im Jahre 2006 wurde den späteren Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, Martin Winterkorn und Matthias Müller, zur Kenntnis gegeben, dass angesichts der Dimensionierung der Urea-Tanks und der einzuhaltenden Service-Intervalle die US-amerikanischen Grenzwerte nicht erfüllt werden könnten.

Angesichts dessen finden die Grundsätze der Wissenszurechnung analog § 166 BGB auf den vorliegenden Fall Anwendung.

(3) Wissensvertreter

323 Finden die Grundsätze der Wissenszurechnung Anwendung, wird der juristischen Person nicht nur das Wissen ihrer Organe oder Haftungsvertreter, sondern auch das Wissen sogenannter Wissensvertreter zugerechnet. Darunter versteht man Personen, die nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen sind, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls weiterzugeben; rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht ist insoweit nicht erforderlich

(vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 1992 – V ZR 262/90 – BGHZ 117, 104).

324 Alle der unter Rn. 316 genannten Personen erfüllen diese Voraussetzungen unzweifelhaft, so dass ihr Wissen der Beklagten analog § 166 Abs. 1 BGB zugerechnet wird.

d) Kausaler Schaden

325 Der Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV ist ebenfalls auf das negative Interesse gerichtet. Die Beklagte hat den Zustand herzustellen, der bestünde, wenn der Kläger den Kaufvertrag über das Fahrzeug nicht abgeschlossen hätte.

326 Die Beklagte hat mithin einen Betrag in Höhe von 41.000 € Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs an den Kläger zu zahlen. Nutzungsersatz steht der Beklagten insoweit nicht zu. Wir verweisen auf die Ausführungen oben unter Rn. 266-282.

4. Haftung für Verrichtungsgehilfen - § 831 BGB

327 Will man Herrn Dr. von Buch nicht als Haftungsvertreter der Beklagten analog § 31 BGB ansehen, steht dem Kläger darüber hinaus auch ein Schadensersatzanspruch gemäß § 831 BGB zu.

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a) Unerlaubte Handlung eines Verrichtungsgehilfen

328 Voraussetzung einer Haftung nach § 831 BGB ist die unerlaubte Handlung eines Verrichtungsgehilfen. Dabei reicht es aus, dass der Verrichtungsgehilfe den objektiven Tatbestand der unerlaubten Handlung erfüllt. Ein Verschulden des Verrichtungsgehilfen ist grundsätzlich nicht erforderlich

(vgl. BGH, Urteil vom 12. Juli 1996 – V ZR 280/94 – NJW, 1996, 3205).

aa) Objektiver Tatbestand einer unerlaubten Handlung

329 Hier erfüllte Herr Dr. Frank von Buch, damals Leiter Typprüfung bei der Beklagten, den objektiven Tatbestand einer unerlaubten Handlung. Er stellte am 7. Juli 2010 die Übereinstimmungsbescheinigung für das streitgegenständliche Fahrzeug aus, obwohl dieses nicht der erteilten EG-Typgenehmigung entsprach, damit das Fahrzeug zur Verwendung im Straßenverkehr von der Beklagten in Verkehr gebracht würde. Er erfüllte dadurch den objektiven Tatbestand des § 823 Abs. 2 i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV (vgl. oben Rn. 295 ff.).

bb) Dr. Frank von Buch als Verrichtungsgehilfe

330 Sieht man Herrn Dr. von Buch nicht als Haftungsvertreter der Beklagten analog § 31 BGB an, ist er als Verrichtungsgehilfe der Beklagten im Sinne des § 831 BGB einzustufen. Darunter versteht man eine Person,

• der eine Tätigkeit von einem anderen übertragen worden ist,

• unter dessen Einfluss sie allgemein oder im konkreten Fall handelt

• und zu dem sie in einer gewissen Ahbängigkeit steht.

Der BGH führt hierzu in einem Urteil aus dem Jahre 2012 Folgendes aus:

„Maßgebend für die Einordnung als Verrichtungsgehilfe sind die faktischen Verhältnisse. Verrichtungsgehilfe i. S. von § 831 BGB ist nur, wer von den Weisungen seines Geschäftsherrn abhängig ist. Ihm muss von einem anderen, in dessen Einflussbereich er allgemein oder im konkreten Fall ist und zu dem er in einer gewissen Abhängigkeit steht, eine Tätigkeit übertragen worden sein. Das dabei vorausgesetzte Weisungsrecht braucht nicht ins Einzelne zu gehen. Entscheidend ist, dass die Tätigkeit in einer organisatorisch abhängigen Stellung vorgenommen wird. Es genügt, dass der Geschäftsherr die Tätigkeit des Handelnden jederzeit beschränken oder entziehen oder nach Zeit und Umfang bestimmen kann.“

(vgl. BGH, Urteil vom 6. November 2012 – VI ZR 174/11 – NJW 2013, 1002)

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331 Die Beklagte hatte Herrn Dr. von Buch den Tätigkeitsbereich des Ausstellens von Übereinstimmungsbescheinigungen übertragen. Als Angestellter der Beklagten war er hierbei von deren Weisungen abhängig.

b) In Ausführung der Verrichtung verursachter Schaden

332 Durch das Ausstellen der ungültigen Übereinstimmungsbescheinigung verursachte Herr Dr. von Buch einen Schaden. Dieser liegt für den Kläger bereits darin, dass er einen ungewollten Vertrag abschloss. Der Eingriff in die Dispositionsfreiheit stellt für sich genommen einen Schaden dar (s. oben Rn. 267f.).

333 Diesen Schaden verursachte Herr Dr. von Buch „in Ausführung der Verrichtung“, da das Ausstellen von Übereinstimmungsbescheinigungen zu seinem Pflichtenkreis (als Leiter Typprüfung) gehörte.

334 Die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung des Verrichtungsgehilfen und dem Eintritt des Schadens wird gemäß § 831 BGB vermutet.

c) Verschulden

335 Das Verschulden der Beklagten (Auswahl- bzw. Überwachungsverschulden) wird gemäß § 831 Abs. 1 BGB ebenfalls vermutet.

d) Rechtsfolge

336 Für den durch die unerlaubte Handlung entstandenen Schaden hat die Beklagte Ersatz zu leisten. Der Kläger kann insoweit die Rückabwicklung des (nachteiligen) Kaufvertrages über das Fahrzeug verlangen. Die Beklagte hat den Kaufpreis in Höhe von 41.000 € Zug um Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung des Fahrzeugs zu erstatten (s. oben Rn. 268 ff.).

5. Zinsanspruch

337 Der Kläger kann gemäß §§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 1 BGB auch Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31. Dezember 2016 geltend machen. Die Beklagte befindet sich spätestens seit Ablauf der im Aufforderungsschreiben vom 15. Dezember 2016 (Anlage K44, vgl. oben Rn. 193) gesetzten Frist in Verzug.

III. Hauptantrag zu 2)

338 Der Feststellungsantrag zu 2 ist zulässig und begründet. Das Feststellungsinteresse des Klägers

folgt aus § 756 Abs. 1 ZPO. Die Beklagte befindet sich mit der Rücknahme des

streitgegenständlichen Fahrzeugs in Annahmeverzug. Der Kläger hat die Rückgabe des Fahrzeugs

wörtlich angeboten (Anlage K44, s. oben: Rn. 193). Dies war gemäß § 295 BGB für die Begründung

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des Annahmeverzugs ausreichend, da die Beklagte zur Abholung des Fahrzeugs verpflichtet ist. Dies

ergibt sich aus der gesetzlichen Zweifelsregelung des § 269 Abs. 1 BGB, wonach eine Leistung im

Zweifel am Wohnsitz des Schuldners (hier: des Klägers) zu erfüllen ist.

IV. Hauptantrag zu 3)

339 Die Beklagte schuldet dem Kläger außerdem vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von

2.613,24 €.

1. Erstattungsfähigkeit der vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren

340 Der Kostenerstattungsanspruch besteht als Teil der unter Rn. 240. (Rn. 250-336) erörterten Schadensersatzansprüche nach § 249 Abs. 1 BGB

(vgl. BGH, Urteil vom 23. Oktober 2003 – IX ZR 249/02 – NJW 2004, 444, 446; Palandt/Grüneberg, § 249 Rn. 56).

341 Denn danach muss die Beklagte den Zustand herstellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Hätte die Beklagte die ungültige Übereinstimmungsbescheinigung nicht ausgestellt und das Fahrzeug des Klägers nicht in den Verkehr gebracht, hätte der Kläger auch keine Schadensersatzansprüche durch einen Rechtsanwalt geltend machen und durchsetzen müssen. Die Beauftragung eines Rechtsanwalts war bei der gegebenen komplizierten Sach- und Rechtslage – und nicht zuletzt angesichts der öffentlichen Weigerung der Beklagten, die betroffenen europäischen Kunden zu entschädigen – zur Wahrnehmung der Rechte des Klägers erforderlich und zweckmäßig. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren sind also erstattungsfähig

(vgl. BGH, Urteil vom 30. April 1986 – VIII ZR 112/85 – MDR 1987, 49; Urteil vom 23. Oktober 2003 – IX ZR 249/02 – NJW 2004, 444, 446; Urteil vom 16. Juli 2015 – IX ZR 197/14 – WM 2015, 1622).

2. Anspruchshöhe

342 Zu ersetzen sind von der Beklagten die gesetzlichen Gebühren und Auslagen nach dem RVG

(BGH, Urteil vom 16. Juli 2015 – IX ZR 197/14 – WM 2015, 1622).

343 Aufgrund des Umfangs, der Komplexität und der rechtlichen Ungeklärtheit wesentlicher Einzelpunkte ist hier eine 2,0-Geschäftsgebühr nach Nr. 2003 VV RVG nebst Auslagenpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG und Umsatzsteuer gemäß Nr. 7008 VV RVG gerechtfertigt

(LG München II, Urteil vom 15. November 2016 – 12 O 1482/16 – Anlage K51).

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344 Unter Zugrundelegung des Streitwerts in Höhe von 41.000 € ergibt sich daher ein Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 2.613,24 €.

V. Hilfsanträge

345 Hilfsweise steht dem Kläger ein Anspruch auf Zahlung von 17.000 € sowie Ersatz aller künftigen

Schäden, die ihm aufgrund der Ausstellung der falschen Übereinstimmungsbescheinigung für den

PKW VW Eos 2.0 TDI mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer WVWZZZ1FZBV002282 entstehen,

zu. Dieser Schadensersatzanspruch folgt aus § 280 Abs. 1 BGB. Zwischen dem Kläger und der

Beklagte kam ein selbständiger Garantievertrag zustande. Diesen hat die Beklagte verletzt, indem

sie eine falsche/ungültige Übereinstimmungsbescheinigung ausstellte.

1. Selbständiger Garantievertrag

346 Durch Entgegennahme der Übereinstimmungsbescheinigung wurde ein selbständiger Garantievertrag im Sinne des § 311 Abs 1 BGB zwischen der Klägerin und dem Beklagten begründet.

347 Die Übereinstimmungsbescheinigung stellt eine Erklärung des Herstellers gegenüber allen potentiellen Käufern dar, in wecher er versichert, dass das jeweilige Fahrzeug im Zeitpunkt der Herstellung mit sämtlichen geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmte. Der Fahrzeughersteller möchte also mit dieser Erklärung, die an einen unbestimmten Personenkreis gerichtet ist, rechtsverbindlich erklären, dass er gegenüber dem jeweiligen Käufer für die Vorschriftsmäßigkeit des Fahrzeuges einsteht. In Anhang IX, Ziffer 0 heißt es hierzu ausdrücklich:

„Die Übereinstimmungsbescheinigung stellt eine Erklärung des Fahrzeugherstellers dar, in der er dem Fahrzeugkäufer versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmte.“

[Hervorhebung durch die Unterzeichner]

Durch das Ausstellen der Übereinstimmungsbescheinigung nimmt der Hersteller also nicht nur „in besonderem Maße Vertrauen in Anspruch“ (vgl. die Ausführungen zum Anspruch aus Verschulden bei Vertragsschluss, oben Rn. 257 ff.). Die Erklärung des Herstellers ist darüber hinaus auch auf Abschluss eines selbständigen Garantievertrages gerichtet. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man sich die Formulierung der vorgenannten Ziffer 0 in den romanischsprachigen Fassungen der Richtlinie vergegenwärtigt. Dort werden explizit die Verben „garantir“, „garantire“, „garantizar“ verwendet (vgl. das Zitat unter Rn. 258).

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348 Der Kläger nahm die Garantieerklärung der Beklagten konkludent durch Entgegennahme des Fahrzeugs samt Übereinstimmungsbescheinigung an. Eine ausdrückliche Annahmeerklärung gegenüber der Beklagten war nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten und daher entbehrlich (§ 151 BGB).

2. Verletzung der Garantie

349 Die Beklagte hat die Garantie verletzt. Das Fahrzeug enthält eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sine des Artikels 5 Abs. 2 der Verordnung 715/2007/EG. Dies hat das KBA mit Bescheid vom Oktober 2015 festgestellt (s. oben: Rn. 210 f.). Das Fahrzeug genügte damit im Zeitpunkt seiner Herstellung nicht sämtlichen in der EU geltenden Rechtsvorschriften.

3. Verschulden

350 Gemäß § 280 Abs. 1 BGB wird das Verschulden vermutet. Es obliegt insoweit der Beklagten, den Gegenbeweis anzutreten (vgl. oben: Rn. 265).

4. Schaden

351 Der Kläger ist gemäß § 249 Abs. 1 BGB so zu stellen, wie er stünde, wenn die Garantie richtig wäre. Der Kläger kann insoweit das Erfüllungsinteresse verlangen. Zu vergleichen ist dabei der jetztige Vermögenszustand mit dem Zustand, der bestünde, wenn der Kläger ein vorschriftsmäßiges Fahrzeug erworben hätte:

• Vermögenszustand ohne Pflichtverletzung

352 Wäre die von der Beklagten abgegebene Garantie zutreffend, hätte der Kläger ein KFZ ohne unzulässige Abschalteinrichtung erworben. Das Fahrzeug wäre in diesem Fall noch 17.000 € wert (vgl. oben: Rn. 7).

• Aktueller Vermögenszustand – fehlende Betriebserlaubnis/EG-Typgenehmigung

353 Tatsächlich hat das Fahrzeug derzeit jedoch einen Wert von 0 €. Denn die EG-Typgenehmigung für das Fahrzeug ist gemäß § 19 Abs. 2, Abs. 7 StVZO kraft Gesetzes erloschen. Das Fahrzeug darf auf öffentlichen Straßen nicht benutzt werden (vgl. oben: Rn. 214 ff.).

354 Die Differenz in Höhe von 17.000 € ist der Schaden des Klägers, den die Beklagte ersetzen muss.

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Einfache und beglaubigte Abschrift anbei.

Christopher Rother Lene Kohl Fabian Beulke

Rechtsanwalt Rechtsanwältin Rechtsanwalt