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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2010 Evaluation Pilotprojekt zur Einführung der Integrationsvereinbarungen in den fünf Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Solothurn und Zürich: Schlussbericht Edited by: Tov, E ; Pineiro, E ; Eser Davolio, M ; Schnorr, V ; Itin, A ; Kübler, Daniel Abstract: Nach dem neuen Ausländergesetz (AuG) kann die Erteilung der Verlängerung einer Aufen- thaltsbewilligung in der Schweiz mit der Bedingung verknüpft werden, einen Sprach- oder Integrationskurs zu besuchen. Sie wird in einer Integrationsvereinbarung (IntV) zwischen den betrofenen ausländischen Personen und der zuständigen kantonalen Behörde festgehalten. Als Hauptzielgruppe der IntV gelten laut dem Bundesamt für Migration (BFM) Personen aus Drittstaaten im Familiennachzug sowie schon länger in der Schweiz lebende Personen, die Integrationsdefzite aufweisen (Schulden, Sozialhilfebezug, Strafäl- ligkeit). Eine dritte Gruppe sind die Personen, die eine Betreuungs- oder Lehrtätigkeit in den Bereichen Religion oder heimatliche Sprache/Kultur ausüben. Das BFM empfehlt nicht, mit allen Migrantinnen und Migranten IntV abzuschliessen, da das zu einem unverhältnismässig hohen Aufwand führen würde, und es hält eine IntV auch nicht in jedem Fall für angebracht, sondern fndet eine sorgfältige Einzelfall- prüfung nötig. Angesichts der skizzierten Ausgangslage haben das BFM und die fünf Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Solothurn und Zürich ein Pilotprojekt beschlossen, um die Einführung der IntV in ihren jeweiligen Kantonen zu begleiten und erste Erfahrungen damit auszutauschen. Die Kantone haben dabei bewusst ein breites Spektrum an Zielgruppen defniert und unterschiedliche Ver- fahren entwickelt, um über ein möglichst grosses Anwendungsfeld hinweg Erfahrungen sammeln und Ergebnisse evaluieren zu können. Neben der eigenen, kantonsintern durchgeführten Datenerfassung und Datenauswertung hat die interkantonale Projektgruppe unter Leitung von Angela Bryner dem Institut Sozialplanung und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW, den Auftrag erteilt, die konkrete Umsetzung der IntV in den fünf Kantonen und die dadurch erzeugten Wirkungen zu evaluieren. Zudem sollten Empfehlungen zu Fragen der Eignung und Übertragbarkeit der IntV Teil der Evaluation- sstudie bilden. Die Projektdauer der Studie betrug ein Jahr, von April 2009 bis Ende März 2010. Die diversen Fragen wurden in einem multimethodischen (quantitativ und qualitativ) und multiperspektivis- chen Forschungsdesign untersucht. Neben der statistischen Analyse von 240 IntV wurden die strate- gisch und operativ Verantwortlichen in den verschiedenen Kantonen befragt: es fanden Interviews mit zuweisenden Stellen und Kooperationspartnern sowie mit direkt Betrofenen statt. Schliesslich wurden im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung Aspekte der Interaktion und Kommunikation untersucht. Die in der Studie festgestellte Variation hinsichtlich Zielgruppen, Zielen und Massnahmen sowie Ausgestal- tung des Verfahrens und der IntV-Gesprächssettings ist sehr gross. Die vielfältigen aus dem empirischen Material gewonnenen Merkmale und Facetten lassen sich jedoch zu drei idealtypischen Settings bündeln, die je spezifsche Wirkungen entfalten. Typ 1 bezeichnen wir als „Fordern-Setting“. Es kommt vor allem bei sozial mehrfach Belasteten, die schon länger in der Schweiz leben, zur Anwendung. Es ist durch einen administrativ ausgerichteten Verfahrensvollzug gekennzeichnet, der sich stark an den bestehenden De- fziten orientiert und eine Aufagenerfüllung (Massnahmen) ohne professionelle Begleitung vorsieht. Die Kommunikation ist von einer direktiven und eher einschüchternden Haltung bestimmt. Die IntV wird als „letzte Chance“ angeboten. Das Vorgehen setzt die Betrofenen unter grossen Druck und erzeugt bei ihnen z.T. Hilfosigkeit und Frustration angesichts der beschränkten Möglichkeiten, die Defzite im vorgegebe- nen Zeitraum zu beheben. Typ 2 wird „Fördern-Setting“ genannt und zielt primär auf die Zielgruppe der Neuzuzüger/innen im Familiennachzug ab. Es ist durch eine Art professionelle Sozialberatung charakter- isiert, die den Betrofenen helfen und sie begleiten will. Dabei sollen Kompetenzen erweitert und Chancen

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Zurich Open Repository andArchiveUniversity of ZurichMain LibraryStrickhofstrasse 39CH-8057 Zurichwww.zora.uzh.ch

Year: 2010

Evaluation Pilotprojekt zur Einführung der Integrationsvereinbarungen inden fünf Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Solothurn und

Zürich: Schlussbericht

Edited by: Tov, E ; Pineiro, E ; Eser Davolio, M ; Schnorr, V ; Itin, A ; Kübler, Daniel

Abstract: Nach dem neuen Ausländergesetz (AuG) kann die Erteilung der Verlängerung einer Aufen-thaltsbewilligung in der Schweiz mit der Bedingung verknüpft werden, einen Sprach- oder Integrationskurszu besuchen. Sie wird in einer Integrationsvereinbarung (IntV) zwischen den betroffenen ausländischenPersonen und der zuständigen kantonalen Behörde festgehalten. Als Hauptzielgruppe der IntV gelten lautdem Bundesamt für Migration (BFM) Personen aus Drittstaaten im Familiennachzug sowie schon längerin der Schweiz lebende Personen, die Integrationsdefizite aufweisen (Schulden, Sozialhilfebezug, Straffäl-ligkeit). Eine dritte Gruppe sind die Personen, die eine Betreuungs- oder Lehrtätigkeit in den BereichenReligion oder heimatliche Sprache/Kultur ausüben. Das BFM empfiehlt nicht, mit allen Migrantinnenund Migranten IntV abzuschliessen, da das zu einem unverhältnismässig hohen Aufwand führen würde,und es hält eine IntV auch nicht in jedem Fall für angebracht, sondern findet eine sorgfältige Einzelfall-prüfung nötig. Angesichts der skizzierten Ausgangslage haben das BFM und die fünf Kantone Aargau,Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Solothurn und Zürich ein Pilotprojekt beschlossen, um die Einführungder IntV in ihren jeweiligen Kantonen zu begleiten und erste Erfahrungen damit auszutauschen. DieKantone haben dabei bewusst ein breites Spektrum an Zielgruppen definiert und unterschiedliche Ver-fahren entwickelt, um über ein möglichst grosses Anwendungsfeld hinweg Erfahrungen sammeln undErgebnisse evaluieren zu können. Neben der eigenen, kantonsintern durchgeführten Datenerfassung undDatenauswertung hat die interkantonale Projektgruppe unter Leitung von Angela Bryner dem InstitutSozialplanung und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW, den Auftrag erteilt, diekonkrete Umsetzung der IntV in den fünf Kantonen und die dadurch erzeugten Wirkungen zu evaluieren.Zudem sollten Empfehlungen zu Fragen der Eignung und Übertragbarkeit der IntV Teil der Evaluation-sstudie bilden. Die Projektdauer der Studie betrug ein Jahr, von April 2009 bis Ende März 2010. Diediversen Fragen wurden in einem multimethodischen (quantitativ und qualitativ) und multiperspektivis-chen Forschungsdesign untersucht. Neben der statistischen Analyse von 240 IntV wurden die strate-gisch und operativ Verantwortlichen in den verschiedenen Kantonen befragt: es fanden Interviews mitzuweisenden Stellen und Kooperationspartnern sowie mit direkt Betroffenen statt. Schliesslich wurden imRahmen einer teilnehmenden Beobachtung Aspekte der Interaktion und Kommunikation untersucht. Diein der Studie festgestellte Variation hinsichtlich Zielgruppen, Zielen und Massnahmen sowie Ausgestal-tung des Verfahrens und der IntV-Gesprächssettings ist sehr gross. Die vielfältigen aus dem empirischenMaterial gewonnenen Merkmale und Facetten lassen sich jedoch zu drei idealtypischen Settings bündeln,die je spezifische Wirkungen entfalten. Typ 1 bezeichnen wir als „Fordern-Setting“. Es kommt vor allembei sozial mehrfach Belasteten, die schon länger in der Schweiz leben, zur Anwendung. Es ist durch einenadministrativ ausgerichteten Verfahrensvollzug gekennzeichnet, der sich stark an den bestehenden De-fiziten orientiert und eine Auflagenerfüllung (Massnahmen) ohne professionelle Begleitung vorsieht. DieKommunikation ist von einer direktiven und eher einschüchternden Haltung bestimmt. Die IntV wird als„letzte Chance“ angeboten. Das Vorgehen setzt die Betroffenen unter grossen Druck und erzeugt bei ihnenz.T. Hilflosigkeit und Frustration angesichts der beschränkten Möglichkeiten, die Defizite im vorgegebe-nen Zeitraum zu beheben. Typ 2 wird „Fördern-Setting“ genannt und zielt primär auf die Zielgruppe derNeuzuzüger/innen im Familiennachzug ab. Es ist durch eine Art professionelle Sozialberatung charakter-isiert, die den Betroffenen helfen und sie begleiten will. Dabei sollen Kompetenzen erweitert und Chancen

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genutzt werden. Dieser direktiv-ermutigende Ansatz bezieht die Betroffenen in die Zielformulierung mitein, und es wird ein wohlwollendes Klima hergestellt, das ein produktives Arbeitsbündnis erlaubt. Dabei3 wird eine „ermöglichende Politik des Unterstützens“ realisiert, die die intrinsische Motivation der Be-troffenen zur Erfüllung der vereinbarten Ziele stärken soll. Typ 3 heisst „Fördern-und-Fordern-Setting“und ist ebenfalls primär bei Neuzuzügern/innen im Familiennachzug zu beobachten. Es handelt sich umeine Hilfe durch sanften, gutgemeinten Druck, wobei sachliche Information und Orientierung im Vorder-grund stehen, aber wenig professionelle Beratung oder Begleitung geboten wird. Der Gesprächsstil istzugleich von wohlwollenden und drohenden Momenten geprägt, was von den Betroffenen mitunter alsverwirrend erlebt wird. Beabsichtigt wird sowohl die Erzeugung von extrinsischer Motivation, als auchdie Stärkung intrinsischer Motivationsanteile. Die am Ende dieses Berichts formulierten Empfehlungenzielen zum einen auf verbindlichere Vorgaben auf allen Ebenen der politischen Exekutive (Bund und Kan-ton) und zum anderen auf ein grösseres Mass an Standardisierung von Verfahrensschritten und -regeln.Es wird die Anwendung eines zielgruppenbezogenen Verfahrenssettings vorgeschlagen, das zwischen In-tegrationsempfehlungen und verpflichtenden IntV klar unterscheidet. Integrationsempfehlungen sollenmit (neuzuziehenden oder bereits lange anwesenden) Personen abgeschlossen werden, die Integrations-defizite aufweisen, aus völkerrechtlichen Gründen jedoch nicht zu einer IntV verpflichtet werden können.Bei Personen mit Integrationsdefiziten, die zu einer IntV verpflichtet werden können (Angehörige vonDrittstaaten), insbesondere wenn es sich dabei um mehrfach belastete Betroffene handelt und wennprimär gesetzlich verankerte Integrationsziele verfolgt werden sollen, empfehlen wir die Implementierungeines professionellen beratend-begleitenden Settings. Bei Personen, die zu einer IntV verpflichtet wer-den könnten, aber keine Integrationsdefizite aufweisen, empfehlen wir, von einer IntV abzusehen. Füralle neuzuziehenden Personen wird unabhängig von ihrem völkerrechtlichen Status eine Erstinformation(Informations- und Orientierungsgespräch) empfohlen. Dieses persönliche Gespräch kann für eine ersteEinschätzung genutzt werden, um Betroffene mit erkennbaren Integrationsdefiziten oder -risiken identi-fizieren zu können. Schliesslich sollte die Rechtsform der beiden Instrumente (Integrationsempfehlungund IntV) geklärt werden.

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of ZurichZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-42195Edited Scientific Work

Originally published at:Evaluation Pilotprojekt zur Einführung der Integrationsvereinbarungen in den fünf Kantonen Aargau,Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Solothurn und Zürich: Schlussbericht. Edited by: Tov, E; Pineiro, E;Eser Davolio, M; Schnorr, V; Itin, A; Kübler, Daniel (2010). Basel: Hochschule für Soziale Arbeit.

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Evaluation Pilotprojekt zur Einführung der

Integrationsvereinbarung in den fünf

Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Basel-

Stadt, Solothurn und Zürich

Schlussbericht

Prof. Dr. Eva Tov, lic. phil. Esteban Piñeiro, Dr. Miryam Eser Davolio, lic. phil. Valentin Schnorr

(Institut Sozialplanung & Stadtentwicklung HSA FHNW)

In Zusammenarbeit mit:

Lic. phil. Ariane Itin und Prof. Dr. Daniel Kübler

(Institut für Politikwissenschaft Zürich & Zentrum für Demokratie Aarau)

Basel, 29. März 2010

HSA FHNW, Thiersteinerallee 57, CH-4053 Basel

Telefon (+41 61) 337 27 08 Telefax (+41 61) 337 27 20 Email: [email protected]

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Abstract

Nach dem neuen Ausländergesetz (AuG) kann die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthalts-

bewilligung in der Schweiz mit der Bedingung verknüpft werden, einen Sprach- oder Integrations-

kurs zu besuchen. Sie wird in einer Integrationsvereinbarung (IntV) zwischen den betroffenen aus-

ländischen Personen und der zuständigen kantonalen Behörde festgehalten. Als Hauptzielgruppe

der IntV gelten laut dem Bundesamt für Migration (BFM) Personen aus Drittstaaten im Familien-

nachzug sowie schon länger in der Schweiz lebende Personen, die Integrationsdefizite aufweisen

(Schulden, Sozialhilfebezug, Straffälligkeit). Eine dritte Gruppe sind die Personen, die eine Betreu-

ungs- oder Lehrtätigkeit in den Bereichen Religion oder heimatliche Sprache/Kultur ausüben. Das

BFM empfiehlt nicht, mit allen Migrantinnen und Migranten IntV abzuschliessen, da das zu einem

unverhältnismässig hohen Aufwand führen würde, und es hält eine IntV auch nicht in jedem Fall für

angebracht, sondern findet eine sorgfältige Einzelfallprüfung nötig.

Angesichts der skizzierten Ausgangslage haben das BFM und die fünf Kantone Aargau, Basel-

Landschaft, Basel-Stadt, Solothurn und Zürich ein Pilotprojekt beschlossen, um die Einführung der

IntV in ihren jeweiligen Kantonen zu begleiten und erste Erfahrungen damit auszutauschen. Die

Kantone haben dabei bewusst ein breites Spektrum an Zielgruppen definiert und unterschiedliche

Verfahren entwickelt, um über ein möglichst grosses Anwendungsfeld hinweg Erfahrungen sam-

meln und Ergebnisse evaluieren zu können. Neben der eigenen, kantonsintern durchgeführten Da-

tenerfassung und Datenauswertung hat die interkantonale Projektgruppe unter Leitung von Angela

Bryner dem Institut Sozialplanung und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW,

den Auftrag erteilt, die konkrete Umsetzung der IntV in den fünf Kantonen und die dadurch erzeug-

ten Wirkungen zu evaluieren. Zudem sollten Empfehlungen zu Fragen der Eignung und Übertrag-

barkeit der IntV Teil der Evaluationsstudie bilden. Die Projektdauer der Studie betrug ein Jahr, von

April 2009 bis Ende März 2010. Die diversen Fragen wurden in einem multimethodischen (quantita-

tiv und qualitativ) und multiperspektivischen Forschungsdesign untersucht. Neben der statistischen

Analyse von 240 IntV wurden die strategisch und operativ Verantwortlichen in den verschiedenen

Kantonen befragt: es fanden Interviews mit zuweisenden Stellen und Kooperationspartnern sowie

mit direkt Betroffenen statt. Schliesslich wurden im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung

Aspekte der Interaktion und Kommunikation untersucht.

Die in der Studie festgestellte Variation hinsichtlich Zielgruppen, Zielen und Massnahmen sowie

Ausgestaltung des Verfahrens und der IntV-Gesprächssettings ist sehr gross. Die vielfältigen aus

dem empirischen Material gewonnenen Merkmale und Facetten lassen sich jedoch zu drei idealty-

pischen Settings bündeln, die je spezifische Wirkungen entfalten.

Typ 1 bezeichnen wir als „Fordern-Setting“. Es kommt vor allem bei sozial mehrfach Belasteten, die

schon länger in der Schweiz leben, zur Anwendung. Es ist durch einen administrativ ausgerichteten

Verfahrensvollzug gekennzeichnet, der sich stark an den bestehenden Defiziten orientiert und eine

Auflagenerfüllung (Massnahmen) ohne professionelle Begleitung vorsieht. Die Kommunikation ist

von einer direktiven und eher einschüchternden Haltung bestimmt. Die IntV wird als „letzte Chan-

ce“ angeboten. Das Vorgehen setzt die Betroffenen unter grossen Druck und erzeugt bei ihnen z.T.

Hilflosigkeit und Frustration angesichts der beschränkten Möglichkeiten, die Defizite im vorgegebe-

nen Zeitraum zu beheben.

Typ 2 wird „Fördern-Setting“ genannt und zielt primär auf die Zielgruppe der Neuzuzüger/innen im

Familiennachzug ab. Es ist durch eine Art professionelle Sozialberatung charakterisiert, die den Be-

troffenen helfen und sie begleiten will. Dabei sollen Kompetenzen erweitert und Chancen genutzt

werden. Dieser direktiv-ermutigende Ansatz bezieht die Betroffenen in die Zielformulierung mit ein,

und es wird ein wohlwollendes Klima hergestellt, das ein produktives Arbeitsbündnis erlaubt. Dabei

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wird eine „ermöglichende Politik des Unterstützens“ realisiert, die die intrinsische Motivation der

Betroffenen zur Erfüllung der vereinbarten Ziele stärken soll.

Typ 3 heisst „Fördern-und-Fordern-Setting“ und ist ebenfalls primär bei Neuzuzügern/innen im Fa-

miliennachzug zu beobachten. Es handelt sich um eine Hilfe durch sanften, gutgemeinten Druck,

wobei sachliche Information und Orientierung im Vordergrund stehen, aber wenig professionelle

Beratung oder Begleitung geboten wird. Der Gesprächsstil ist zugleich von wohlwollenden und dro-

henden Momenten geprägt, was von den Betroffenen mitunter als verwirrend erlebt wird. Beab-

sichtigt wird sowohl die Erzeugung von extrinsischer Motivation, als auch die Stärkung intrinsischer

Motivationsanteile.

Die am Ende dieses Berichts formulierten Empfehlungen zielen zum einen auf verbindlichere Vor-

gaben auf allen Ebenen der politischen Exekutive (Bund und Kanton) und zum anderen auf ein grös-

seres Mass an Standardisierung von Verfahrensschritten und -regeln. Es wird die Anwendung eines

zielgruppenbezogenen Verfahrenssettings vorgeschlagen, das zwischen Integrationsempfehlungen

und verpflichtenden IntV klar unterscheidet. Integrationsempfehlungen sollen mit (neuzuziehenden

oder bereits lange anwesenden) Personen abgeschlossen werden, die Integrationsdefizite aufwei-

sen, aus völkerrechtlichen Gründen jedoch nicht zu einer IntV verpflichtet werden können. Bei Per-

sonen mit Integrationsdefiziten, die zu einer IntV verpflichtet werden können (Angehörige von

Drittstaaten), insbesondere wenn es sich dabei um mehrfach belastete Betroffene handelt und

wenn primär gesetzlich verankerte Integrationsziele verfolgt werden sollen, empfehlen wir die Imp-

lementierung eines professionellen beratend-begleitenden Settings. Bei Personen, die zu einer IntV

verpflichtet werden könnten, aber keine Integrationsdefizite aufweisen, empfehlen wir, von einer

IntV abzusehen. Für alle neuzuziehenden Personen wird unabhängig von ihrem völkerrechtlichen

Status eine Erstinformation (Informations- und Orientierungsgespräch) empfohlen. Dieses persönli-

che Gespräch kann für eine erste Einschätzung genutzt werden, um Betroffene mit erkennbaren

Integrationsdefiziten oder -risiken identifizieren zu können.

Schliesslich sollte die Rechtsform der beiden Instrumente (Integrationsempfehlung und IntV) ge-

klärt werden.

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Inhalt

Abstract..................................................................................................................................................2

Inhalt ......................................................................................................................................................4

Glossar....................................................................................................................................................7

Abkürzungsverzeichnis ..........................................................................................................................8

1 Einleitung .......................................................................................................................................9

1.1 Ziele der Studie ......................................................................................................................9

1.2 Gliederung des Berichts .......................................................................................................10

2 Theoretischer Rahmen.................................................................................................................11

2.1 Integrationspolitischer Kontext der Integrationsvereinbarungen ......................................11

2.2 Internationale Entwicklungen und Stand der Forschung ....................................................13

2.3 Resonanzen zum Instrument der Integrationsvereinbarung in der Schweiz ......................13

3 Evaluationsfragen und Methode .................................................................................................15

3.1 Übersicht über das methodische Vorgehen ........................................................................15

4 Policy Bund...................................................................................................................................18

4.1 Einleitung: Integrationsvereinbarungen im Vollzugsföderalismus......................................18

4.2 Integrationsvereinbarungen im neuen Bundesgesetz über die Ausländerinnen ...................

und Ausländer......................................................................................................................19

4.2.1 Ziele der Integrationsvereinbarungen ..........................................................................20

4.2.2 Zielgruppen ...................................................................................................................20

4.2.3 Folgen der Einhaltung oder Nichteinhaltung................................................................21

5 Policy und Umsetzung im Kanton Aargau....................................................................................22

5.1 Integrationspolitik................................................................................................................22

5.2 Integrationsverständnis .......................................................................................................22

5.3 Integrationsvereinbarungen ................................................................................................23

5.3.1 Zielsetzungen und Zweck..............................................................................................23

5.3.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien ........................................................................24

5.3.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente) .......................................25

5.3.4 Behördenarrangement und Setting..............................................................................25

5.3.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung,

Controlling, Sanktionen) ...............................................................................................26

5.3.6 Gesprächsführung.........................................................................................................28

5.3.7 Wirkung.........................................................................................................................28

5.3.8 Aufwand und Nutzen ....................................................................................................29

5.3.9 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen .........29

6 Policy und Umsetzung im Kanton Basel-Landschaft....................................................................31

6.1 Integrationspolitik................................................................................................................31

6.2 Integrationsverständnis .......................................................................................................31

6.3 Integrationsvereinbarungen ................................................................................................32

6.3.1 Zielsetzungen und Zweck..............................................................................................32

6.3.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien ........................................................................32

6.3.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente) .......................................34

6.3.4 Behördenarrangement und Setting..............................................................................35

6.3.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung,

Controlling, Sanktionen) ...............................................................................................36

6.3.6 Gesprächsführung.........................................................................................................37

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5

6.3.7 Wirkung.........................................................................................................................38

6.3.8 Aufwand und Nutzen ....................................................................................................39

6.3.9 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen .........40

7 Policy und Umsetzung im Kanton Basel-Stadt.............................................................................41

7.1 Integrationspolitik................................................................................................................41

7.2 Integrationsvereinbarungen ................................................................................................42

7.2.1 Zielsetzungen und Zweck..............................................................................................43

7.2.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien ........................................................................44

7.2.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente) .......................................46

7.2.4 Behördenarrangement und Setting..............................................................................48

7.2.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung,

Controlling, Sanktionen) ...............................................................................................49

7.2.6 Gesprächsführung.........................................................................................................50

7.2.7 Wirkung.........................................................................................................................52

7.2.8 Aufwand und Nutzen ....................................................................................................53

7.2.9 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen .........53

8 Policy und Umsetzung im Kanton Solothurn ...............................................................................55

8.1 Integrationspolitik................................................................................................................55

8.2 Integrationsverständnis .......................................................................................................55

8.3 Integrationsvereinbarungen ................................................................................................55

8.3.1 Zielsetzungen und Zweck..............................................................................................56

8.3.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien ........................................................................56

8.3.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente) .......................................58

8.3.4 Behördenarrangement und Setting..............................................................................59

8.3.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung,

Controlling, Sanktionen) ...............................................................................................60

8.3.6 Gesprächsführung.........................................................................................................61

8.3.7 Wirkung.........................................................................................................................62

8.3.8 Aufwand und Nutzen ....................................................................................................64

8.3.9 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen .........64

9 Policy und Umsetzung im Kanton Zürich .....................................................................................65

9.1 Integrationspolitik................................................................................................................65

9.2 Integrationsverständnis .......................................................................................................65

9.3 Integrationsvereinbarungen ................................................................................................66

9.3.1 Zielsetzungen und Zweck..............................................................................................66

9.3.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien ........................................................................66

9.3.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente) .......................................67

9.3.4 Behördenarrangement und Setting..............................................................................69

9.3.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung,

Controlling, Sanktionen) ...............................................................................................70

9.3.6 Gesprächsführung.........................................................................................................72

9.3.7 Aufwand und Nutzen ....................................................................................................73

9.3.8 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen .........74

10 Übersicht zur Umsetzung der Integrationsvereinbarung nach Kanton.......................................75

11 Prozessrelevante und wirkungsanalytische Dimensionen...........................................................78

11.1 Verfahrensdimensionen.......................................................................................................78

11.2 Wirkungsanalyse ..................................................................................................................82

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11.2.1 Einschätzungen der Wirkung durch die institutionellen Akteure ................................83

11.2.2 Wirkungseinschätzung der Betroffenen.......................................................................86

11.3 Effizienzanalyse....................................................................................................................88

11.4 Eignung und Übertragbarkeit des Instruments IntV............................................................91

11.4.1 Systematisierung der rekonstruierten Wirkungsvariablen ..........................................91

11.4.2 Diskussion der Wirkungszusammenhänge und Spannungsfelder................................92

11.5 Integrationsvereinbarung als Verwaltungsinstrument........................................................95

11.5.1 Angemessenheit der Integrationsvereinbarung und problematische Implikationen aus

Sicht der Kooperationspartner/innen...........................................................................95

11.5.2 Juristische Implikationen ..............................................................................................97

12 Empfehlungen............................................................................................................................102

13 Literatur .....................................................................................................................................110

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Glossar

Amtsperson: die mit der Durchführung von Integrationsvereinbarungen betraute

Person

Behördenvertretung: die für die Policy des Kantons verantwortliche Person

Betroffene: alle Personen (Frauen und Männer), mit denen eine Integrationsver-

einbarung abgeschlossen wurde

Kooperationspartner: Sprachschulen, Beratungsstellen

Zuweisende Stellen: Migrationsämter, Integrationsbeauftragte, Einwohnerkontrollen, Sozi-

ale Dienste

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Abkürzungsverzeichnis

Abteilung für Ausländerfragen: AfA

Amt für Migration: AFM

Amt für öffentliche Sicherheit: AföS

Amt für soziale Sicherheit: ASO

Ausländerdienst BL: ADL

Ausländergesetz AuG

Bundesamt für Migration: BFM

Integrationsvereinbarung: IntV

Regionales Arbeitsvermittlungs-

zentrum: RAV

Verordnung über die Integration

von Ausländern und Ausländerinnen: VIntA

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1 Einleitung

Am 1. Januar 2008 trat das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) in Kraft.

Mit dessen Hilfe soll die Integration der Betroffenen schneller und besser vonstatten gehen. Die

Integration zielt auf „das Zusammenleben der einheimischen und ausländischen Wohnbevölkerung

auf der Grundlage der Werte der Bundesverfassung und gegenseitiger Achtung und Toleranz“ (Art.

4 Abs. 2 AuG). Den längerfristig und rechtmässig anwesenden Ausländerinnen und Ausländern soll

damit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht

ermöglicht werden (Art. 4 Abs. 2 AuG). Das Gesetz hat wesentliche Neuerungen im Bereich der In-

tegration mit sich gebracht. So kann die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthalts- oder Kurz-

aufenthaltsbewilligung mit der Bedingung verknüpft werden, dass Sprach- und/oder Integrations-

kurse besucht werden. Ausserdem wird der Grad der Integration bei der Erteilung einer Niederlas-

sungsbewilligung sowie bei Weg- und Ausweisungen und Einreiseverboten berücksichtigt. Die Ver-

pflichtung zum Kursbesuch kann durch die Kantone in einer Integrationsvereinbarung (IntV) zwi-

schen ausländischen Personen und der kantonalen Behörde festgehalten werden (Art. 54 AuG). Die

Anwendung dieses Instruments ist den Kantonen freigestellt. Einige Kantone haben bisher darauf

verzichtet, solche Integrationsvereinbarungen zu implementieren. Obschon der Bund den Kantonen

Empfehlungen zur Verfügung stellt, welche die Bestimmungen des Gesetzes und der dazugehören-

den Verordnung konkretisieren, besteht bei der Umsetzung ein grosser Spielraum für die Kantone,

und tatsächlich ist die Praxis in den Kantonen, welche sich für den Abschluss von Integrationsver-

einbarungen entschieden haben, unterschiedlich.

Das Institut Sozialplanung und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule

Nordwestschweiz, hat ab Anfang April 2009 im Auftrag der verantwortlichen Pilotgruppe unter Lei-

tung von Angela Bryner die „Evaluation Pilotprojekt zur Einführung der Integrationsvereinbarung in

den fünf Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn, Aargau und Zürich“ durchgeführt. Mit

dem vorliegenden Schlussbericht werden die Ergebnisse dieser Untersuchung zur Umsetzung und

Wirkung des Instruments der Integrationsvereinbarung (IntV) in den fünf Kantonen vorgestellt.

1.1 Ziele der Studie

Die vorliegende Studie erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Institut für Politikwissenschaft der Uni-

versität Zürich und befasst sich mit der Umsetzung der Integrationsvereinbarung (IntV) in den Kan-

tonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn, Zürich und Aargau. Vier der fünf Kantone haben im

Jahre 2008 im Rahmen eines Pilotprojekts damit begonnen, gestützt auf Art. 54 Abs. 1 AuG Integra-

tionsvereinbarungen zwischen ausländischen Personen und der kantonalen Behörde abzuschliessen

Der Kanton Aargau schliesst seit November 2009 IntV ab.

Das Ziel der Untersuchung ist es, einen systematischen Überblick über die Umsetzung des Instru-

ments der IntV in diesen fünf Kantonen zu schaffen. Im Vordergrund steht dabei die Darstellung

von allfälligen Unterschieden und Gemeinsamkeiten, wobei die Empfehlungen des Bundesamtes für

Migration (BFM 2007b) als Bezugsrahmen dienen. Konkret soll die Untersuchung über die Ziele und

Konzepte der verschiedenen Pilotprojekte in den fünf Kantonen Aufschluss geben, vor allem hin-

sichtlich Zielgruppen, Zuständigkeiten, Massnahmen und finanziellen Ressourcen. Des Weiteren

werden die Auswirkungen und Implikationen des Instruments der IntV aus der Sicht der Behörden,

der Betroffenen und der Kooperationspartner (Sprachschulen, Beratungsstellen) dokumentiert.

Neben den genannten beabsichtigten Wirkungen soll ferner untersucht werden, welche nicht in-

tendierten Auswirkungen die Einführung des neuen Instruments auf die Situation der Behörden

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hatte. Weiter wird, soweit die Daten es zulassen, das Verhältnis von Kosten und Nutzen, d.h. Auf-

wand und Effizienz, dargestellt.

Die gewonnenen Daten und Erkenntnisse in Bezug auf die bisher genannten Ziele werden für die

beteiligten Kantone getrennt dargestellt. Darauf folgt eine Gesamtdarstellung mit einem Vergleich

und einer Bewertung der unterschiedlichen kantonalen Vorgehensweisen und Zielgruppenbestim-

mungen.

Das Ziel, Empfehlungen zu geben, wird anhand einer Analyse der gesamten Daten für alle Pilotpro-

jekte in den fünf Kantonen verfolgt.

Aufgrund der erhobenen Daten können Empfehlungen gegeben werden für:

a) die Eignung des Instruments IntV hinsichtlich Zielgruppen und Massnahmen,

b) die Übertragbarkeit und die Verwendung des Instruments in einem breiteren Kontext.

Von den Auftraggebern wurde eine qualitative und quantitative Analyse der Pilotprojekte zur Be-

antwortung der genannten Fragen gewünscht. Es handelt sich um eine summative Evaluation. Im

Oktober 2009 wurde der Zwischenbericht der Evaluationsstudie mit der Policy-Analyse und der

quantitativen Datenauswertung präsentiert. Mit dem vorliegenden Schlussbericht wird der zweite

und letzte Meilenstein realisiert.

1.2 Gliederung des Berichts

Das umfangreiche erhobene Material wurde aufbereitet und analysiert. Der vorliegende Bericht

enthält die wichtigsten Ergebnisse und Empfehlungen. Die Ausgangslage der IntV wird in Kapitel 2

in Form eines kurzen theoretischen Vorspanns beschrieben. Es folgt im Kapitel 3 die Beschreibung

des methodischen Vorgehens für die Erhebung und Analyse des Datenmaterials der einzelnen Eva-

luationsschritte. Kapitel 4 thematisiert zusammenfassend die Policy des Bundes, gefolgt von der

Umsetzung der Policy in den einzelnen Kantonen (Kapitel 5 bis 9). Die Umsetzungspraxis wird aus

mehreren Perspektiven dargestellt: Neben der Sicht der Behördenvertretungen kommen hier auch

Betroffene und Kooperationspartner/innen zu Wort. Kapitel 11 stellt den eigentlichen analytischen

Teil des Schlussberichts dar. Hier werden über die Kantone hinweg prozessrelevante und wirkungs-

analytische Dimensionen beschrieben. Nach der Erläuterung der unterschiedlichen Verfahrensdi-

mensionen (von Screening, Assessment bis hin zu Zielgruppen), der Diskussion der Wirkung des In-

struments der IntV bezüglich Integration, der Effizienzanalyse und der Darstellung der Eignung und

Übertragbarkeit der IntV folgen Einschätzungen zur Angemessenheit der IntV und Ausführungen zu

problematischen Auswirkungen für die Kooperationspartner/innen sowie eine Diskussion juristi-

scher Implikationen der IntV als Verwaltungsinstrument. Kapitel 12 enthält schliesslich die Empfeh-

lungen zur Umsetzung, die das Resultat aus der Analyse und den Verdichtungen über alle Themen,

Perspektiven und Methoden hinweg bilden.

Durch die gewählte Form der Darstellung, bei der zunächst die Umsetzungspraxis in den Kantonen

vignettenhaft skizziert wird, soll gewährleistet sein, dass zum einen die Aussagen im analytischen

Berichtsteil (Kapitel 11) nachvollzogen werden können und zum andern das ganze breite Spektrum

der unterschiedlichen Anwendungspraxen über die fünf Pilotkantone ersichtlich wird.

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2 Theoretischer Rahmen

In der aktuellen Diskussion um die sowohl politisch als auch gesellschaftlich breit und kritisch de-

battierten Instrumente der Integration fehlte es bislang an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu de-

ren Umsetzung und Wirkung. Mit den Ergebnissen der vorliegenden Evaluation des Pilotprojektes

zur Einführung der IntV in fünf Schweizer Kantonen wurde die Grundlage für einen empirisch fun-

dierten Diskurs geschaffen.

2.1 Integrationspolitischer Kontext der Integrationsvereinbarungen

Mit dem Inkrafttreten des neuen Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) am

1.1.2008 wurde das Element der Integration von Ausländerinnen und Ausländern verstärkt und

rechtlich verankert.1

Im Unterschied zu früheren Forderungen nach Assimilation wird mit dem Begriff der Integration

„eine kulturell einheitliche und zugleich pluralistische Gesellschaft“ assoziiert (Wieviorka 2004, 10)

und folglich ein Mittelweg zwischen Partikularismus / Heterogenität einerseits und Universalismus /

Homogenität andererseits propagiert (vgl. Kälin, 2004, 143ff). Das „Individuum soll sich kulturell der

Mehrheit angleichen“ (D’Amato/Gerber 2005, 15) und an den gesellschaftlichen Systemen teilha-

ben (D’Amato 2007, 14). Dieser Wandel hin zu einer Integrations- und Potentialpolitik markiert eine

neue Ära der Öffnung gegenüber niedergelassenen Zuwanderern. Sie ist jedoch in erster Linie auf

Bürgerinnen und Bürger westeuropäischer Staaten ausgerichtet (a.a.O.). Mit der migrationspoliti-

schen Implementierung des dualen Zulassungssystems (Personen aus dem EU/EFTA-Raum gegen-

über Drittstaaten; Freizügigkeitsabkommen) wurde diese politische Entwicklungslinie auch bestä-

tigt.

Der Integrationsdiskurs erwies sich in den 1990er Jahren als äusserst dynamisch und war auch stark

von den Entwicklungen der kantonalen Integrationsbestrebungen (Integrationsgesetze, neue Poli-

cies) und von den Debatten zum neuen AuG (Volksabstimmung vom 24. September 2006) geprägt.

Innerhalb dieses politischen, fachlichen und rechtlichen Kontexts wurde das Instrument der Integ-

rationsvereinbarung zwischen Kanton und Zugewanderten (IntV) kontrovers diskutiert. Schon früh

konzentrierte sich die Kritik an den neuen integrationspolitischen Entwicklungen auf diese Zentral-

massnahme (Kessler 2006, 64). Zugleich aber brachte kaum ein anderes integrationspolitisches In-

strument den Impetus der neuen Integrationspolitik deutlicher und pragmatischer zum Ausdruck,

nämlich die Forderung an die ausländische Bevölkerung zur Übernahme von Verantwortung, zu „In-

tegrationswillen“ und Engagement. Die IntV stellt gemäss Artikel 54 des AuG und Artikel 5 der VIntA

eine Konkretisierung der bezüglich der Aufenthaltsbewilligung vorgesehenen Bedingungen dar, mit

dem Ziel, neue Zuziehende „einer raschen und nachhaltigen Integration“ zuzuführen (BFM 2007b).

Zugleich aber findet sich im integrationspolitischen Diskurs wiederholt die Feststellung, dass der

Integrationsbegriff zu wenig präzise definiert wird. Auch wenn in den neuen gesetzlichen Bestim-

mungen der Begriff enger gefasst wurde, etwa als Herstellung von Chancengleichheit und Partizipa-

tion, so obliegt die Konkretisierung und damit auch die Operationalisierung letztlich doch der aus-

führenden Behörde.

1 Bereits seit den siebziger Jahren verfolgt die Schweiz in der Migrationspolitik einen Drei-Säulen-Ansatz. Neben der

Regulierung des demographischen Gleichgewichts und des Arbeitsmarkts galt auch der Integrationspolitik ein be-

sonderes Interesse (Prodolliet 2006).

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Ein Blick auf die entsprechenden Gesetzesartikel (Art. 4 AuG, Art. 2 und 4 VIntA) zeigt, dass mitun-

ter auch der Beitrag der Ausländerinnen und Ausländer zur Integration nun aktiv eingefordert wird

(dazu auch EKM 2008). Mit der Formel „Fördern und Fordern“ wurde das Prinzip des Gebens und

Nehmens und eine adäquate Mixtur von Rechten und Pflichten zu einer wichtigen politischen Leit-

idee innerhalb der Migrations- und Integrationspolitik. Nachdem der Staat die Integration der Aus-

länderinnen und Ausländer vernachlässigt hatte und eine „nachholende Integrationspolitik“ einset-

zen musste (Bade 2005), ist ein Trend hin zu verpflichtenden Integrationsmassnahmen zu beobach-

ten (Chahrokh 2006).

Zielgruppen der IntV

Das BFM (BFM 2007b) empfiehlt,2 die Zielgruppen der IntV auf „Personen aus Drittstaaten im Fami-

liennachzug“, „Migrantinnen und Migranten, die bereits in der Schweiz ansässig sind und bei denen

aufgrund ihres Verhaltens das Risiko einer Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung besteht“

und „Personen, die eine Betreuungs- oder Lehrtätigkeit ausüben“ zu beschränken. Das Instrument

sollte also nicht flächendeckend eingeführt werden und wird deshalb auch häufig als „letztes Mit-

tel“ verstanden, um eine einvernehmliche Lösung zwischen Zugewanderten und Behörden anzu-

streben (Basler Zeitung 1.4.2008). Auch in den Empfehlungen zur Anwendung von IntV vom Bun-

desamt für Migration (BFM 2007b) wird von einer flächendeckenden Anwendung abgeraten, „da

eine solche zu einem unverhältnismässigen administrativen Aufwand führen würde“. Zudem kön-

nen Zuziehende, die im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens in die Schweiz einreisen, den Bedin-

gungen nach Art. 54 AuG nicht unterworfen werden. Sie können lediglich auf die Sprach- und Integ-

rationsangebote aufmerksam gemacht werden (a.a.O.). Aufgrund rechtlicher Hemmnisse erreichen

die heutigen Instrumente also nur einen zunehmend kleiner werdenden Teil der ausländischen Be-

völkerung (vgl. Achermann/Künzli 2009, 15).

Von der IntV sind also in erster Linie Migrantinnen und Migranten mit „erheblichen Integrationsde-

fiziten“ betroffen, die nun in die Pflicht genommen werden sollen. Dagegen ist kritisch angemerkt

worden, dass es zwar aus staatlicher Sicht legitim sei, Personen in schwierigen Situationen mit In-

strumenten wie Integrationsverpflichtungen zu adressieren, die Verknüpfung von „Risiken“ mit na-

tionaler Zugehörigkeit jedoch die Gefahr in sich berge, dass Personen aus Drittstaaten pauschal als

Risiken für die schweizerische Gesellschaft wahrgenommen werden (vgl. Prodolliet 2009, 56ff). Ge-

nerell wird bemängelt, dass die Ungleichbehandlung von EU-Bürger/innen und Drittstaatenangehö-

rigen unbefriedigend bleibe (vgl. Büren von/Wyttenbach 2009) und dass viele soziale Probleme au-

tomatisch auf Integrationsdefizite der Migrationsbevölkerung zurückgeführt würden, obwohl bei

sozialen Problemlagen weniger die Herkunft als vielmehr der sozioökonomische Status eine Rolle

spiele (vgl. Prodolliet 2006). In dieser Hinsicht haben Bund und Kantone schon früh Massnahmepa-

kete entwickelt und Monitoringsysteme eingerichtet, die die Umsetzung von Massnahmen doku-

mentieren und die „Messung“ der Integration erlauben3.

2 Die Empfehlungen des BFM wurden in Arbeitsgruppen erarbeitet.

3 Vgl. hierzu BFM 2006; BFM 2007a, BFM 2008 oder auf Ebene der Kantone exemplarisch die Kennzahlenberichte

2003 und 2006.

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2.2 Internationale Entwicklungen und Stand der Forschung

Als erstes westeuropäisches Land führten die Niederlande 1998 verpflichtende Einführungspro-

gramme für Zugewanderte ein, 1999 folgte Dänemark. Seit 2003 arbeiten Österreich und Frankreich

mit Integrationsvereinbarungen, Deutschland führte 2005 verpflichtende Integrationskurse ein. In

der Schweiz wurde das Instrument der IntV auf Verordnungsstufe im Februar 2006 eingeführt (Pro-

dolliet 2009, 50; Charokh 2006). Bei fast allen Programmen liegt der Schwerpunkt auf dem Erlernen

der Landessprache (Achermann/Künzli 2009, 6).

Die konkrete Umsetzung der politischen Ziele in den kantonalen und kommunalen Verwaltungs-

strukturen wurde bisher kaum untersucht, und auch nicht die Wirksamkeit von verpflichtenden In-

tegrationsmassnahmen. Die wenigen vorliegenden Auswertungen kommen zu dem Schluss, dass

Integrationskurse dann erfolgreich sind, wenn sie den Betroffenen konkrete Perspektiven eröffnen,

wie etwa den Zugang zum Arbeitsmarkt. Ähnliche Evaluationen stehen für die Schweiz noch aus

oder werden soeben implementiert. Die Evaluation des Sprachkursangebots in den Niederlanden

zeigte, dass nur etwa die Hälfte der Teilnehmenden den gesamten Kurs absolvierten und dass das

Sprachniveau insgesamt niedriger blieb als politisch erwünscht (Charokh 2006). Auch eine andere

Untersuchung zur Integrationspolitik mehrerer Länder (NL, DE, S, GB) stellte fest, dass die IntV sich

in der Praxis als kaum wirksam erwiesen habe (vgl. Houmard/Schoch 2007, 84f); ausserdem wurden

Sanktionsmöglichkeiten nur selten genutzt, die Pflichten beider Seiten waren nicht klar genug defi-

niert, der Spielraum der Gemeinden war relativ gross (so dass sie unterschiedlich aktiv wurden) und

die Zielsetzungen für gewisse Personen waren unrealistisch (Zugewanderte mit niedrigem Bil-

dungsniveau; Flüchtlinge mit gesundheitlichen Problemen). Als wesentliche Faktoren für eine effek-

tive Integrationsförderung wurden in dieser Studie genannt: eine gute Koordination der horizonta-

len und vertikalen Akteure und Angebote im Feld der Integrationspolitik, eine professionelle Beglei-

tung, Beratung und Vermittlung der Zugewanderten, der Einbezug von Arbeitgebenden und von

Bildungsinstitutionen auf nationaler und lokaler Ebene sowie die Evaluation von Integrationsmass-

nahmen.

2.3 Resonanzen zum Instrument der Integrationsvereinbarung in der Schweiz

Die bisherigen Einschätzungen zur IntV sind ambivalent. Prodolliet 2009 51 hebt das vermehrte In-

teresse des Staates an der Integrationsförderung der Zugewanderten als positiv hervor, kritisiert

aber die Reduktion des Integrationsprozesses auf einen einmaligen Akt, die Vereinbarung als Ver-

trag mit ungleichen Partnern, die Überbetonung von landessprachlichen Kenntnissen als Indikator

für Integration, den hohen bürokratischen Aufwand sowie die Gefahr der Rechtsungleichheit und

Willkür. Auch andere kritisieren, dass Integration zwar als unabdingbare Voraussetzung einer Bewil-

ligung rechtlich verankert wurde, aber Integration weiterhin nicht präzise (rechtlich) definiert ist

und damit zu einer Ermessensfrage wird; die Vielzahl von rechtlichen „Kann-Formulierungen“ öffne

einer rechtsungleichen Praxis der kantonalen Bewilligungsbehörden Tür und Tor (Büren

von/Wyttenbach 2009). Ein Bericht kommt zu dem Schluss, dass „es illusorisch [erscheint], alle In-

tegrationsprobleme über die ausländerrechtliche Zulassungspolitik und die Bewilligungspraxis re-

geln zu wollen. Angesichts der vielfachen Umgehungsmöglichkeiten besteht so die Gefahr, dass die

Politik im symbolischen Bereich bleibt“ (Achermann/Künzli 2009, 15). Demgegenüber schätzt Kess-

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14

ler4 die Erfahrungen in Deutschland mit 3000 solchen Verträgen positiv ein: „Es gibt überhaupt kei-

ne Motivationsprobleme. Sämtliche Personen haben Bildung als Befreiung erlebt, nicht als Schika-

ne“

Simone Prodolliet, Geschäftsführerin der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM),

plädiert mit Blick auf die vorgebrachten Argumente für IntV unter bestimmten Bedingungen (Pro-

dolliet 2009, 54ff). IntV sollten zur Schaffung eines günstigen integrationspolitischen Klimas beitra-

gen und eine Willkommenskultur stärken. Sie sollten in ein umfassendes Integrationskonzept ein-

gebettet sein, das insbesondere den Abbau von Integrationshemmnissen fördert. Primär sollten

IntV als unterstützendes Instrument fungieren und weniger als Sanktionsmassnahme eingesetzt

werden. Ferner sind IntV nur dann sinnvoll, wenn genügend gute Angebote vorhanden sind.

4 Ehemaliger Integrationsdelegierter von Basel-Stadt

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3 Evaluationsfragen und Methode

Die Beantwortung der Evaluationsfragen im Rahmen des Projektes erfolgte modular. Das heisst,

dass die Komplexität des Evaluationsgegenstandes in fünf grosse Bereiche aufgeteilt wurde. Die

nachfolgende Grafik veranschaulicht diese Bereiche und führt die jeweils verwendete Methode und

Stichproben auf.

3.1 Übersicht über das methodische Vorgehen

Es handelt sich bei dem gewählten Vorgehen um einen multiperspektivischen und multimethodi-

schen Ansatz, mit dem das komplexe Feld der IntV erfasst und beurteilt werden sollte. Die ver-

schiedenen beteiligten Systeme und Akteure wurden einbezogen und mit Hilfe sich ergänzender

quantitativer und qualitativer Verfahren analysiert.

- Policy-Analyse (Interviews mit Projektverantwortlichen in den Kantonen, Analyse von Gesetzes-

texten, Strategien, Leitbildern)

- Quantitative Analyse der abgeschlossenen IntV

- Interviews mit durchführenden Amtspersonen

- Interviews mit Betroffenen

- Teilnehmende Beobachtungen

- Interviews mit zuweisenden Stellen

Modul1

Ergebnis: Die Unterschiede zwischen den Kanto-

nen sind herausgear-beitet.

Methode: - Aktenanalyse (IntV)

- Interviews (Ämter)

Modul 2

Ergebnis: Die Wirkungen der IntV sind mehrperspektivisch erfasst.

Methode: - Interviews (Ämter)

- Interviews (Betroffene) - Aktenanalyse (IntV)

Modul 3

Ergebnis: Das Verhältnis von Auf-wand und Ertrag ist

dargestellt.

Methode: - Aktenanalyse (IntV)

- Interviews (Ämter)

Modul 4

Ergebnis: Eine Beurteilung der IntV bzgl. Zielgruppen und Mass-

nahmen liegt vor.

Methode: - Interviews (Ämter)

- Fragebögen (Ämter)

Modul 5

Ergebnis: ausgehend von der umfassenden Beantwortung der Fragen sind Schlussfolgerungen und Empfehlungen formuliert

Methode: Synthetisierung der Erkenntnisse aus den Modulen 1-4

Policy- Design

Erkenntnisse

Wirkungs-analyse

Effizienz- analyse

Eignung & Übertrag-

barkeit

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- Interviews mit Kooperationspartnern (Beratungsstellen und Sprachschulen)

- Dokumentenanalyse der Einladungsbriefe und Formulare der IntV

Zur Festlegung der Untersuchungsgruppe gingen wir von der Gesamtheit aller Kantone aus, die ein

Pilotprojekt durchführten. Der Kanton Aargau begann mit der konkreten Umsetzung der IntV jedoch

erst Ende 2009, so dass wir diesen fünften Pilotkanton nur am Rande unserer Evaluationsstudie be-

rücksichtigen konnten. Zum Zeitpunkt unserer Evaluation konnten die Kantone Basel-Landschaft ,

Basel-Stadt, Solothurn und Zürich bereits abgeschlossene IntV vorweisen. Die folgende Tabelle gibt

einen Überblick über die jeweilige Stichprobe, die Forschungsfragen, die verwendeten Instrumente

sowie die Auswertungsstrategie.

Tabelle 1: Stichprobe, Methode und Auswertung

N Stichprobe Instrumente Evaluationsfragen Auswertung

5 Amtsstellenleitende Interviews Wie sieht die kantonale

Policy aus? (u.a. Ziel-

gruppen, Ziele, Mass-

nahmen, Wirkungen,

Aufwand usw.)

Inhaltsanalyse

240 IntV Dokumentenanalyse Wie ist das Profil der

Betroffenen?

Welche Gründe für IntV

liegen vor?

Welche Massnahmen

werden vereinbart?

Statistische Auswer-

tung (SPSS)

9 Durchführende

Amtsperson

Interviews Wie sieht das Verfahren

aus?

Inhaltsanalyse;

Atlas-ti

14 Zuweisende Stellen Interviews Welche Erfahrungen

werden mit den IntV

gemacht und wie ist die

Einschätzung?

Inhaltsanalyse

13 Kooperationspartner Interviews Welche Erfahrungen

werden mit den IntV

gemacht und wie ist die

Einschätzung?

Inhaltsanalyse

43 Betroffene Interviews Wie wurde das Verfah-

ren wahrgenommen?

Inhaltsanalyse;

Atlas-ti

16 Beteiligte am Ab-

schluss IntV

Teilnehmende

Beobachtung

Wie sieht die Interakti-

on aus?

Einstufungen entlang

Verhaltensdimensionen

Diverse Dokumente

(Einladungsschreiben,

Formular IntV, Leit-

bilder, Gesetzestexte

Dokumentenanalyse Welche Aussagen zu

Integrationsverständnis,

Zielen und Mitteln las-

sen sich finden?

Inhaltsanalyse

In einem weiteren Analyseschritt war eine standardisierte Online-Befragung geplant. Sie wurde je-

doch im Verlaufe der Studie zurückgestellt, da die bereits erhobenen Daten genügend Material für

die Beantwortung der Fragen lieferten. Hingegen wurden die kantonalen Einladungsbriefe zum

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IntV-Gespräch und weitere Formulare ausserplanmässig einer vergleichenden Dokumentenanalyse

unterzogen.

Die Auswertung der Interviews mit den Kooperationspartner/innen und zuweisenden Stellen erfolg-

te themenspezifisch und kantonsübergreifend. Demgegenüber wurden die Interviews mit den

durchführenden Amtspersonen und den Betroffenen sowie die teilnehmenden Beobachtungen und

Einladungsbriefe kantonsspezifisch ausgewertet.

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4 Policy Bund

4.1 Einleitung: Integrationsvereinbarungen im Vollzugsföderalismus

Das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) vom 16. Dezember 2005 wurde in

der Volksabstimmung vom 24. September 2006 deutlich mit 68 Prozent Ja-Stimmen vom Stimmvolk

angenommen. Es löste das Bundesgesetz zu Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG)

vom 26. März 1931 ab und trat am 1. Januar 2008 in Kraft.

Laut Bundesamt für Migration (BFM 2007a) bringt das neue Gesetz neben der Regelung der Zulas-

sung auf Gesetzesstufe (Unterscheidung zwischen Personen aus dem EU/EFTA-Raum und Personen

aus Drittstaaten, das sogenannte duale Zulassungssystem) und einer verbesserten Missbrauchsbe-

kämpfung wesentliche Änderungen im Bereich der Integration. Dabei betreffen die Neuerungen

einerseits die Verknüpfung zwischen dem Bewilligungsentscheid und der Integration und anderer-

seits die Förderung der Integration durch den Bund generell. Zur Erreichung der Integration - die

Herstellung von Chancengleichheit und Partizipation - wird die aktive Beteiligung aller am Integrati-

onsprozess beteiligten Akteure vorausgesetzt. Zu diesen Akteuren zählen Bund, Kantone, Gemein-

den, Verbände und Vereine sowie Ausländerinnen und Ausländer und die schweizerische Bevölke-

rung. Die persönliche Integrationsbereitschaft der Ausländerinnen und Ausländer ist dabei ein wich-

tiger Bestandteil. Von zentraler Bedeutung ist Art. 54 AuG, welcher die Berücksichtigung des Integ-

rationsgrads im Bewilligungsverfahren konkretisiert.

Neu kann die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthalts- oder Kurzaufenthaltsbewilligung mit

der Bedingung verknüpft werden, dass ein Sprach- oder Integrationskurs besucht wird. Das gilt auch

im Rahmen des Familiennachzugs.5 Ausserdem wird „der Grad der Integration bei der Erteilung ei-

ner Niederlassungsbewilligung (Art. 34 Abs. 4) und bei der Ausübung des Ermessens durch die Be-

hörden, insbesondere bei Weg- und Ausweisungen sowie Einreiseverboten, berücksichtigt (Art.

96)“.6 Die Verpflichtung zum Kursbesuch kann in einer IntV zwischen ausländischen Personen und

der kantonalen Behörde festgehalten werden. Diese Vereinbarung wird in der Verordnung über die

Integration von Ausländerinnen und Ausländern (VIntA) näher beschrieben: „Die Integrationsver-

einbarung hält nach Prüfung des Einzelfalles die Ziele, die vereinbarten Massnahmen sowie die

möglichen Folgen im Falle einer Nichterfüllung fest.“7

Obwohl die Integration heute auf Bundesebene in einem Gesetz verankert ist, bleibt sie nach wie

vor eine Aufgabe der Kantone. Das zeigt sich darin, dass der Art. 54 AuG als Kann-Bestimmung ins

Gesetz aufgenommen wurde. Den Kantonen ist dementsprechend freigestellt, ob dieser Artikel

Anwendung findet und IntV abgeschlossen werden. Einige Kantone haben bisher auf die Anwen-

dung dieses Instrument verzichtet.

Der Bund stellt den Kantonen Empfehlungen zur Verfügung, welche die Bestimmungen des Geset-

zes und der Verordnung konkretisieren. Daneben sind ein Musterbeispiel einer Integrationsverein-

barung und ein dazugehöriger Leitfaden verfügbar. Beide sollen eine Möglichkeit aufzeigen, wie die

Integrationsvereinbarungen ausgestaltet und angewendet werden können. Dennoch besteht bei

der Umsetzung der Integrationsvereinbarungen ein grosser Ermessensspielraum, der möglicherwei-

se zu „einer heterogenen, von Kanton zu Kanton uneinheitlichen Integrationspraxis“ (Büren

5 Art. 54 Abs. 1 AuG.

6 Art. 54 Abs. 2 AuG.

7 Art 5 IntA.

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von/Wyttenbach 2009) führt. Zwischen den Kantonen, die sich zum Abschluss von Integrationsver-

einbarungen entschlossen haben, sind insofern Unterschiede zu erwarten.

Dass die Umsetzung eines Bundesgesetzes im interkantonalen Vergleich Unterschiede aufweisen

kann, ist im schweizerischen Föderalismus nicht ungewöhnlich (vgl. Kissling-Näf/Wälti 2002). Eine

wichtige Rolle spielt dabei die Formulierung der Bundesgesetzgebung selbst. Sind darin Ziele,

Massnahmen und Vorgehensweisen präzise und eindeutig festgehalten, so sind Vollzugsdisparitä-

ten zwischen den Kantonen weniger wahrscheinlich. Unpräzise Formulierungen und Kann-

Bestimmungen sind oftmals Ausdruck eines schwachen Konsenses im Gesetzgebungsprozess (vgl.

Linder 1987).

4.2 Integrationsvereinbarungen im neuen Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer

Der Gesetzesentwurf über das neue Ausländergesetz war im Nationalrat von Anfang an höchst um-

stritten, da drei der vier grossen Parteien den vom Bundesrat und von der Kommission vorgelegten

Vorschlag ablehnten. So passierte der Gesetzesvorschlag den Nationalrat nach der ersten (rund 30

Stunden dauernden) Beratungsrunde mit 64 zu 48 Stimmen bei 55 Enthaltungen. Die anschliessen-

de Debatte im Ständerat war weniger konfliktiv, wie das Abstimmungsresultat von 31 zu 8 Stimmen

bei 2 Enthaltungen zeigt. In einer weiteren Debatte des Nationalrats verschärfte dieser - entgegen

den Vorschlägen des Bundesrates - das Gesetz weiter. Zum Beispiel entschied sich der Rat mit 89 zu

75 Stimmen dafür, dass Ausländerinnen und Ausländern, die seit mindestens zehn Jahren in der

Schweiz wohnen, nicht mehr automatisch eine Niederlassungsbewilligung erteilt wird. Das rot-

grüne Lager sowie der Bundesrat waren gegen diese Regelung, da sie ihrer Ansicht nach Willkür

begünstigt (Curia Vista, Nr. 02.024).

Die Neuerung, dass die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung an den Besuch von Integrationskur-

sen geknüpft werden kann, war anscheinend grundsätzlich wenig umstritten. In der Detailberatung

ging es zunächst prinzipiell um das Thema Integration (Amtliches Bulletin 2004). Die SVP war der

Ansicht, dass die Aufgabe des Bundes und somit der Zweck der Gesetzesvorlage in der Regelung der

Zulassung und des Aufenthalts der ausländischen Bevölkerung liege. Die Integration hingegen sei

primär Sache der Ausländerinnen und Ausländer selbst oder allenfalls eine Aufgabe der Gemeinden,

wo sie den unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechend geregelt werden soll. Aus diesem Grund

verlangte die SVP die Streichung des gesamten Kapitels Integration und somit auch der IntV. Das sei

Bestandteil einer Integrationsbürokratie, die den Staat zuviel koste.

Die Ratslinke begrüsste hingegen den Inhalt des Kapitels Integration. Sie war der Meinung, dass

damit die Integration endlich den Stellenwert bekäme, die sie verdiene. Als problematisch wurde

beurteilt, dass der Grad der Integration bei der Erteilung der Niederlassungsbewilligung und bei der

Ausübung des Ermessens durch die Behörden berücksichtigt werden soll; es sei nicht klar, wie man

den Grad der Integration messen soll. Der grösste Streitpunkt betraf die Bereitstellung von finan-

ziellen Beiträgen durch den Bund. Ein linker Minderheitsantrag forderte verbindliche Bundesgelder,

während ein rechter Minderheitsantrag nach wie vor für die generelle Nichtunterstützung durch

den Bund plädierte. Ein Votum aus dem linken Lager brachte die Problematik auf den Punkt: „Sie

haben also die Wahl zwischen der Verbindlichkeit, der Nichtunterstützung und der Kann-

Formulierung“ (Amtliches Bulletin 2004). Die CVP sowie die FDP unterstützten die vom Bundesrat

vorgeschlagenen Kann-Formulierungen im Gesetz, damit man den Kantonen freistellen könne, was

sie im Bereich der Integrationsförderung machen wollen und wie sie dabei vorzugehen gedenken.

Laut CVP ist es wichtig, dass die Behörde fallbezogen und situativ entscheiden kann. Die Mehrheit

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der Ratsmitglieder teilte diese Meinung, da es sich bei den IntV wie auch bei den finanziellen Bei-

trägen des Bundes im Gesetz um Kann-Formulierungen handelt.

4.2.1 Ziele der Integrationsvereinbarungen

Die IntV stützt sich auf Art. 54 Abs. 1 des Ausländergesetzes. Sie bezweckt eine verbesserte Förde-

rung der Integration der ausländischen Bevölkerung, d.h. eine chancengleiche Teilhabe der Auslän-

derinnen und Ausländer am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben der Gesellschaft.8

Laut Verordnung liegt der Beitrag der Migranten/innen zur Integration

a. in der Respektierung der rechtsstaatlichen Ordnung und der Werte der Bundesver-

fassung;

b. im Erlernen der am Wohnort gesprochenen Landessprache;

c. in der Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen in der Schweiz;

d. im Willen zur Teilnahme am Wirtschaftsleben und zum Erwerb von Bildung9

Generell wird zwischen dem Bereich Sprache und dem Bereich Lebensbedingungen unterschieden.

So kann zum Beispiel in einer IntV ein bestimmtes Sprachprofil10 als Ziel festgelegt werden, das in-

nerhalb einer vorgegebenen Frist erreicht werden soll. Eine wichtige Voraussetzung dafür, die Fort-

schritte feststellen zu können, sind Kenntnisse über den aktuellen Sprachstand, der idealerweise

vor der Setzung des Ziels ermittelt wird. Durch eine Prüfung oder ein Attest des Kursanbieters kann

nach Ablauf der anberaumten Frist festgestellt werden, ob das gesetzte Ziel erreicht wurde. Im Be-

reich Lebensbedingungen sollen laut BFM (2007c) Kurse dazu beitragen, „alltägliche Besorgungen

und Behördengänge erledigen zu können, die Schweiz mit ihren Eigenheiten und Gepflogenheiten

kennen zu lernen sowie mit den Normen, Rechten und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger, der

Gleichstellung von Mann und Frau, mit dem Gesundheitssystem etc. vertraut zu werden“. Ein mög-

liches Angebot in diesem Bereich sind Integrationskurse.

Generell soll den betroffenen Personen durch die IntV gezeigt werden, welche Anforderungen an

sie gestellt werden, wenn es um die Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung geht. Es soll aber

auch erwähnt werden, dass bei erfolgreicher Integration die Niederlassungsbewilligung frühzeitig

erteilt werden kann. Deshalb empfiehlt das Bundesamt für Migration, die IntV in erster Linie als

Motivationsinstrument zur Integration zu gebrauchen. Ausserdem dient sie zur Information über

die zur Verfügung stehenden Angebote (BFM 2007b).

4.2.2 Zielgruppen

Das neue Ausländergesetz regelt die Zulassung und den Aufenthalt von erwerbstätigen und nicht

erwerbstätigen Ausländerinnen und Ausländern aus Drittstaaten. Nicht davon betroffen sind Bürge-

rinnen und Bürger aus EU/EFTA-Staaten und Flüchtlinge. Migrantinnen und Migranten, die einen

8 Art. 4 Abs. 2 AuG.

9 Art. 4 VIntA.

10 Der Ausdruck Sprachprofil wird vom BFM im Zusammenhang mit der Erarbeitung eines „Rahmenkonzepts Sprach-

förderung“ anstelle des früheren Sprachniveau verwendet. Das Sprachprofil beschreibt die erreichten sprachlichen

Leistungen. Dabei werden verschiedene Kompetenzbereiche, wie Sprechen, Hörverstehen, Lesen und Schreiben un-

terschieden.

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völkerrechtlichen11 oder sonstigen rechtlichen12 Anspruch auf Aufenthalt in der Schweiz haben, un-

terliegen damit nicht der Bedingung nach Art. 54 AuG, womit ihr Aufenthaltsrecht nicht an eine (In-

tegrations-)Bedingung geknüpft werden kann.

Laut BFM (2007b) stellen Personen aus Drittstaaten (also nicht EU/EFTA-Staaten) im Familiennach-

zug die wichtigste Zielgruppe dar. Hier sei es besonders sinnvoll, IntV anzuwenden, da erstens diese

Gruppe anteilsmässig mehr als die Hälfte aller Neuzuzüge aus Drittstaaten ausmache und zweitens

festgestellt worden sei, dass bei einem Teil der nachgezogenen Jugendlichen und Eheleute „erhöh-

te Risiken eines schwierigen Integrationsverlaufs“ bestünden. Durch einen raschen und chancen-

gleichen Zugang zu den Regelstrukturen soll dem entgegengewirkt und der Integrationsprozess be-

schleunigt werden.

IntV können jedoch nicht nur mit Neuzuziehenden abgeschlossen werden, sondern auch mit schon

länger in der Schweiz ansässigen Migrantinnen und Migranten, die durch ihr Verhalten negativ auf-

fallen und dadurch die Nichtverlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung riskieren. Ihnen soll durch

eine Vereinbarung gezeigt werden, welche Anforderungen an sie gestellt werden, damit ihre Auf-

enthaltsbewilligung verlängert werden kann.

Eine dritte Gruppe sind Personen, die eine Betreuungs- oder Lehrtätigkeit in den Bereichen Religion

oder heimatliche Sprache/Kultur ausüben. Hier sind die Vorgaben am konkretesten: Ihnen wird eine

Aufenthalts- oder Kurzaufenthaltsbewilligung erteilt, wenn sie über das Sprachprofil B1 der Amts-

sprache am Arbeitsort sowie über Kenntnisse über die schweizerischen Lebensbedingungen, das

Rechtssystem und die Normen und Werte verfügen. Die Kenntnisse über die Lebensbedingungen

usw. müssen zwingend vorliegen, während die Sprachkenntnisse in einer IntV festgelegt werden

können und somit innerhalb des ersten Aufenthaltsjahres zu erwerben sind.

4.2.3 Folgen der Einhaltung oder Nichteinhaltung

Werden die in der IntV festgelegten Ziele erreicht, wird also beispielsweise der vorgesehene

Sprachkurs erfolgreich besucht, kann - wenn die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen13 erfüllt

sind - die Niederlassungsbewilligung vorzeitig erteilt werden oder die Aufenthaltsbewilligung ver-

längert werden. Hingegen kann die Nichterfüllung den Ermessensentscheid über die Verlängerung

der Aufenthaltsbewilligung dahingehend beeinflussen, dass die Verlängerung nicht erfolgt. In dem

Ermessensentscheid wird aber neben den formellen Voraussetzungen vor allem auch die finanzielle

Unabhängigkeit sowie die Respektierung der Rechtsordnung beachtet. Die Rechtsfolgen der Nicht-

erfüllung können auch abgestuft werden, indem zum Beispiel die IntV für ein weiteres Jahr abge-

schlossen wird und erst nach erneuter Nichterfüllung auf eine mangelnde Integrationsbereitschaft

geschlossen wird. Die Definition der Kriterien für eine Verlängerung der IntV nach einer Nichterfül-

lung ist den Kantonen überlassen (BFM 2007c).

11

Personen im Geltungsbereich des Freizügigkeitsabkommens mit den EU/EFTA-Staaten, des GATS-Abkommens oder

der Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen. 12

Art. 42 AuG und Art. 60 AsylG. 13

Das sind Art. 34 Abs. 4 AuG und Art. 62 VZAE.

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5 Policy und Umsetzung im Kanton Aargau

Mit einer Bevölkerung von rund 596'000 Einwohnern (Ende 2008) ist der Aargau der viertgrösste

Kanton der Schweiz. Mit 21.6 Prozent liegt der kantonale Ausländeranteil nahe am gesamtschwei-

zerischen Wert. Den höchsten Anteil weist der Bezirk Baden mit 26.7 Prozent auf, den niedrigsten

der Bezirk Muri mit 13 Prozent. Mit einem Anteil von 19.4 Prozent bilden die Staatsbürger aus Ser-

bien und Montenegro den höchsten Migranten/innenanteil aus Drittstaaten (Statistisches Amt Kan-

ton Aargau 2009).

5.1 Integrationspolitik

Im Jahre 1999 wurde vom Regierungsrat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter der Leitung des

Migrationsamts damit beauftragt, ein Integrationskonzept mit Leitideen, Handlungsbedarf und

Massnahmenbereichen zu entwerfen. In Anlehnung an dieses Integrationskonzept unterbreitete

der Regierungsrat dem Grossen Rat am 7. April 2004 eine Vorlage (Botschaft 04.110) mit sieben

Leitsätzen und einem Entwurf für eine Teilrevision des Einführungsgesetzes zum Ausländerrecht

(EGAR). Fünf der ursprünglich sieben Leitsätze wurden vom Grossen Rat in seinen Beratungen im

September 2005 verabschiedet. Gemäss dem Konzept wurde damit „den Behörden sowie den In-

tegrationsträgerinnen und -trägern in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ein Instrumentari-

um in die Hand gegeben, das bei konkreten Integrationsleistungen die allgemeine Richtung weisen

soll“ (DVI Kanton Aargau 2008).

Nachdem Anfang 2008 eine Vernehmlassung zur Totalrevision des Einführungsgesetzes zum Aus-

länderrecht (EGAR) durchgeführt wurde, trat es am 1. Mai 2009 in Kraft.14

5.2 Integrationsverständnis

Generell stützt sich die Integrationspolitik des Kantons Aargau auf den Grundsatz des Förderns und

Forderns. Einerseits will man fördern, indem die Rahmenbedingungen derart gesetzt werden, dass

die ausländische Bevölkerung die Chance hat, gleich aufgenommen zu werden und sich gleich be-

wegen zu können wie die einheimische Bevölkerung. Andererseits will der Kanton nicht nur geben

und finanzieren, sondern auch etwas einfordern. Die mit der Durchführung der IntV beauftragte

Person hob nochmals diesen Grundsatz hervor und betonte, dass es dabei nicht um Assimilation,

sondern um die Bewahrung der eigenen Identität gehe, aber auch darum, dass eine Anpassung der

Werte an die hiesigen Werte erfolge. Wenn dies zusammenspiele, dann könne man von einer ge-

lungenen Integration sprechen.

Die Interviews mit den Betroffenen zeigen, dass sie Integration als wichtig einschätzen, insbesonde-

re das Erlernen der Landessprache, um eine qualifizierende Ausbildung machen zu können und spä-

ter Arbeit zu finden, aber auch um die Gesetze zu verstehen. Für sie ist klar, dass man die Sprache

lernt, wenn man in ein anderes Land geht.

14

Die hier behandelten die Integration betreffenden Artikel traten im Rahmen der Teilrevision des EGAR bereits am 1.

November 2008 in Kraft.

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5.3 Integrationsvereinbarungen

Der Kanton Aargau begann erst im Dezember 2009 mit der Durchführung von IntV, so dass die Pi-

lotphase der Umsetzung der IntV im Kanton Aargau noch bis Dezember 2010 andauert. Während

der Pilotphase wird evaluiert, ob allenfalls zusätzliche Zielgruppen für den Abschluss von IntV in

Frage kommen. In die vorliegende Fallstudie fliessen lediglich die in den Interviews gemachten Äus-

serungen ein. Es liegen weder quantitative Ergebnisse noch systematisch erhobene Daten von Be-

troffenen vor. Die verfügbaren Daten aus einer teilnehmenden Beobachtung sollen dennoch einen

gewissen, wenn auch nur punktuellen Einblick in die Vorgehensweisen im Kanton Aargau gewähren.

5.3.1 Zielsetzungen und Zweck

Das gesetzliche Fundament der IntV bildet im Kanton Aargau der § 30 des Einführungsgesetzes zum

Ausländerrecht (EGAR). Darin wird explizit betont, dass die Ausländerinnen und Ausländer verpflich-

tet seien, „sich die für die Arbeit und Bildung sowie für Kontakte mit Gesellschaft und Behörden

notwendigen Deutschkenntnisse anzueignen und sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und

Lebensbedingungen in der Schweiz vertraut zu machen“. Im zweiten Absatz wird festgehalten, dass

„die Erteilung und Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des übergeordneten

Rechts mit der Bedingung15 verknüpft werden kann, dass ein Sprach- und/oder Integrationskurs

erfolgreich absolviert wird.“ Das gelte auch im Rahmen des Familiennachzugs.16 Ähnlich wie in den

Gesetzgebungen der beiden Basel wird die Verpflichtung und Mitverantwortung der ausländischen

Bevölkerung für ihre eigene Integration ausdrücklich hervorgehoben.

Während die Bestimmungen über die Integration im EGAR eher knapp ausfallen, behandelt das

Konzept zur „Integration der ausländischen Bevölkerung“, welches im Oktober 2008 vom Regie-

rungsrat verabschiedet wurde, detailliert alle Aspekte der Integration, so auch die Integrationsver-

einbarungen. Als Ziel ihrer Anwendung wird die Unterstützung der Ausländerinnen und Ausländer

bei ihrer Integration genannt. Die IntV sollen der ausländischen Bevölkerung helfen, die Anforde-

rungen zu erfüllen, die an sie von den Behörden bei der Verlängerung oder Erteilung der Aufent-

haltsbewilligung oder der vorzeitigen Erteilung der Niederlassungsbewilligung gestellt werden (DVI

Kanton Aargau 2008).

Die mit der Durchführung der IntV betraute Amtsperson meinte im Interview, dass die IntV nur als

Hilfsmittel auf dem Weg zur Integration anzusehen seien. Sie seien weder integrationsfördernd

noch integrationshemmend. Sie dienten dazu, die Migranten/innen ganz konkret darüber zu orien-

tieren, was von ihnen erwartet wird. Andererseits aber ermöglichten sie auch, Hilfe zu gewähren, in

die richtige Richtung zu gehen. Das Entscheidende sei dann, was aus der Orientierung einerseits

und der Unterstützung andererseits gemacht werde. Die IntV würden als Auflage definiert. Diese

Aussage steht im Widerspruch zum Gesetzestext, in dem von „Bedingung“ und nicht von „Auflage“

die Rede ist (EGAR § 30, 2. Abs.).Bei einer Auflage muss kein rechtliches Gehör gewährt werden;

vielmehr bestätigen die Betroffenen mit ihrer Unterschrift, dass sie sich der Folgen bei Erfüllung

oder Nichterfüllung bewusst sind. Da es sich bei der Auflage um eine Vereinbarung mit Verfügungs-

15

Während im Kanton Aargau, Basel-Landschaft und Solothurn, entsprechend des Art. 54, Abs. 1, AuG von „Bedin-

gung“ die Rede ist, wird im Kanton Basel Stadt von „Auflage“ gesprochen (§ 5 Ratschlag BS betreffend Gesetz über

die Integration der Migrationsbevölkerung). Laut Aussagen von Achermann, scheint es juristisch keine klare Unter-

scheidung zwischen Auflage und Bedingung zu geben. 16

Art. 30 EGAR.

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charakter handelt, ist es aus Sicht dieser Amtsperson zwingend notwendig, dass die IntV professio-

nell und unabhängig übersetzt wird, um zu gewährleisten, dass alle Details verstanden wurden.

Die interviewte Amtsperson hob hervor, dass die IntV im Rahmen der „Kann-Bestimmung“ des

Bundes angewendet wird. Im Falle einer drohenden Wegweisung werde berücksichtigt, inwieweit

die IntV erfüllt wurde, aber das werde sicher nicht als alleiniges Kriterium für einen Entscheid ver-

wendet.

Andererseits wird die Bedeutung der IntV aber auch politisch gesehen Man könne dadurch zeigen,

dass etwas getan wird, dass ein Weg aufgezeichnet wird, der schlüssig und begründet dargelegt

werden kann. In diesem Sinn könne das Instrument der IntV für die Kommunikation zwischen Politi-

kern und dem Volk hilfreich sein.

Inhaltlich liegt der Fokus der IntV derzeit klar auf der Verbesserung der Sprachkompetenz. Ziel ist

es, dass die ausländische Bevölkerung durch die verbesserten sprachlichen Fertigkeiten in der hiesi-

gen Gesellschaft einfacher Anschluss finden soll.17

5.3.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien

Das Konzept zur Umsetzung der IntV sah vor, dass in einer ersten Pilotphase nur IntV mit Personen

aus Drittstaaten abgeschlossen werden, die im Rahmen des Familiennachzugs neu in die Schweiz

kommen. Eine Ausnahme davon bilden die religiösen Betreuungspersonen und Lehrkräfte für hei-

matlichen Sprach- und Kulturunterricht, deren Teilnahme per Gesetz vorgeschrieben ist. Diese müs-

sen verbindlich das Sprachprofil B1 erreichen. Alle anderen möglichen Zielgruppen werden in dieser

ersten Phase nicht berücksichtigt.18 Die zu einem späteren Zeitpunkt interviewte durchführende

Amtsperson präzisierte, dass der Fokus zunächst auf Drittstaatsangehörigen lag, die wiederum

Drittstaatsangehörige nachziehen. Zunächst sollte das nur B-Bewilligungen betreffen. Das habe a-

ber zu wenig hergegeben, so dass mittlerweile eine Ausweitung der Anwendung auf Ausländerin-

nen und Ausländer mit einer C-Bewilligung erfolgt ist, die ihren Ehemann, ihre Ehefrau oder Jugend-

liche ab dem 16. Altersjahr nachziehen. Da sich dann die Einbindung in Schule oder Ausbildung

schwierig gestalte, seien Vereinbarungen hier sinnvoll.

Eine weitere Gruppe stellen Personen dar, deren Bewilligungsstatus von F zu B umgewandelt wurde

und bei denen trotz langen Aufenthalts vom Migrationsamt Defizite festgestellt wurden, die eine

Teilhabe am regulären Integrationsprozess erschweren, sei es, weil sie noch ungenügend Deutsch

können oder IV beziehen.

Derzeit diskutiert man über eine weitere, vierte Zielgruppe. Dabei handelt es sich um diejenigen

Personen, die schon länger in der Schweiz leben und Integrationsdefizite aufweisen. Hier müsse, so

die Amtsperson, der richtige Modus aber erst noch gefunden werden. Die Arbeit mit dieser Ziel-

gruppe entspreche vermutlich einem Bedürfnis der Gemeinden, doch sei hier Vorsicht geboten, da

nicht alle Probleme, die es gebe, auf den Migrations- respektive Integrationsprozess zurückzuführen

seien. Dabei bestehe die Gefahr, dass alle möglichen unangenehmen Personen dem Migrationsamt

zugeschoben würden. Um sich vor Vorwürfen der Willkür zu schützen, müssten klare Auswahlkrite-

rien formuliert werden.

17

Interview AG. 18

Interview AG.

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Derzeit liege deshalb der Schwerpunkt einerseits bei den nachgezogenen Jugendlichen, die eine

Risikogruppe darstellten, und andererseits bei den Ehefrauen, da man nicht unbedingt die Unter-

stützung des Ehemannes bei ihrer Integration in die Gesellschaft voraussetzen könne.

In der Pilotphase soll ein allfälliges Integrationsdefizit am Sprachstand festgemacht werden, denn

falls eine Person, die im Familienachzug in die Schweiz einreist, bereits die deutsche Sprache be-

herrscht, wird keine Vereinbarung abgeschlossen. Weitere Kriterien, die über den Sprachstand hi-

nausgehen, sind erst in Erarbeitung.

5.3.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente)

Wie oben erwähnt, liegt der Fokus bei den IntV gegenwärtig klar auf den Sprachkursen. Aber auch

Integrationskurse, in denen zwar in erster Linie Deutsch gelernt wird, die jedoch auch aus einem

integrativen Anteil bestehen, sollen zukünftig vereinbart werden. Abklärungen mit möglichen Kurs-

anbietern sind momentan im Gange. Generell bestehe laut Konzept in Bezug auf die Angebote an

Deutsch- und Integrationskursen „dringlicher Koordinationsbedarf“. Einerseits sei eine umfassende

Bestandsaufnahme nötig, andererseits seien Angebotslücken zu schliessen und Doppelspurigkeiten

zu vermeiden (Kanton Aargau 2008).

Wenn Längeranwesende eingeschlossen würden, wäre – so eine interviewte Amtsperson – zu über-

legen, ob noch weitere Angebote an Massnahmen hinzugenommen werden sollten. Der Vorteil bei

diesen Kursen sei, dass man den Fortschritt relativ gut messen könne. Bei anderen Dingen sei das

schwieriger. Ausserdem sei es problematisch, Probleme aller Art – Sucht, Schulden, Gewalt usw. –

als Integrationsdefizit anzusehen. Sie könnten, müssten aber nicht in einem Zusammenhang mit der

Migration stehen. In diesem Sinn würden solche Massnahmen angeordnet, die in direkter Verbin-

dung mit der Migration/Integration stehen.19

Während also im Bereich des Kursangebots noch viele Fragen offen sind, ist im Einführungsgesetz

zum Ausländerrecht EGAR (§ 30, Abs. 3) festgelegt, wer für die Kurskosten aufkommen soll: Sie sind

von den Teilnehmenden entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu tragen, da ein

Grossteil der angebotenen Sprach- und Integrationskurse bereits vom Bund und vom Kanton sub-

ventioniert wird. Laut Konzept seien die Kurskosten von vornherein angemessen reduziert (DVI

Kanton Aargau 2008). Falls jemand allerdings wirtschaftlich trotzdem nicht imstande sein sollte, die

finanziellen Mittel aufzubringen oder Sozialhilfe bezieht, würde der Kanton nach Abklärung der Si-

tuation die anfallenden Kosten übernehmen.

Eine Datenbank, wie sie einige der bereits behandelten Pilotkantone haben, scheint im Kanton Aar-

gau zu fehlen. Grundsätzlich sind derzeit nur wenige Informationen über die möglichen Kursanbie-

ter vorhanden.

5.3.4 Behördenarrangement und Setting

Die Federführung für die IntV hat die Fachstelle Integration inne. Sie ist im Migrationsamt angesie-

delt, welches dem Departement Volkswirtschaft und Inneres angehört. Obwohl es die Fachstelle

Integration in der heutigen Form erst seit Mai 2009 gibt, ist der Bereich Integration schon vor länge-

rer Zeit im Migrationsamt angesiedelt worden. Daher ist man dort bereits an die Zusammenarbeit

mit der Abteilung, die die Entscheide über Bewilligungen fällt, gewöhnt. Die Fachstelle Integration

19

Interview 2 AG.

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arbeitet jedoch trotz der strukturellen und räumlichen Nähe relativ unabhängig und sieht sich selbst

in einer eher beratenden Funktion. Laut Fachstelle ist die Zusammenarbeit beim Datenaustausch

mit den anderen Abteilungen im Migrationsamt einfach und offen.20

5.3.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung, Controlling, Sanktionen)

Schematisch lassen sich die Schritte in Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung,

Controlling und Sanktionen unterteilen.

Anhand der unter Punkt 5.3.2 genannten Kriterien prüft die Stelle, die sich um den Familiennachzug

kümmert, den jeweiligen Antrag. Wenn der Familiennachzug bewilligt ist, erhält die Fachstelle

Nachricht, dass die Person/en innerhalb eines gewissen Zeitraumes einreisen werden, so dass die

Kontaktaufnahme vorbereitet und ein Informationsgespräch angeboten werden kann.

Bei denjenigen Migranten/innen, deren Aufenthaltsstatus von F zu B umgewandelt wurde und bei

denen Massnahmen angezeigt sind, kommen die Daten ebenfalls vom Migrationsamt. Diese wer-

den geprüft, und in der Regel erfolgt ein Informationsgespräch mit nachfolgender IntV.21

Die Informationen über die Gruppe der schon länger Anwesenden können von der Stelle kommen,

die sich mit Fernhalte- und Ausweisungsmassnahmen befasst. Wenn beispielsweise jemand straffäl-

lig geworden ist und einen Verweis erhalten sollte, kann die Fachstelle anbieten, anstelle des Ver-

weises oder begleitend dazu eine IntV vorzuschlagen.

Der erste Schritt besteht in einem persönlichen Informationsgespräch Es dient zum einen dazu, zu

ermitteln, wo die Migranten/innen hinsichtlich der Integration stehen und was sie anstreben. Zum

andern wird vom Amt aus mitgeteilt, welche Integrationsleistungen man erwartet. Möglicherweise

zeigen sich dabei Diskrepanzen, die es zu bearbeiten gilt. So wird auch darüber gesprochen, was

sich beide Seiten unter Integration vorstellen. Dieses Gespräch findet ohne professionelle Überset-

zer/innen statt und dient auch der Abklärung der Möglichkeiten und Ressourcen der Betroffenen.

Diese Informationsgespräche werden schon seit Jahren von der Rückkehrberatungsstelle des Migra-

tionsamts mit Personen durchgeführt, die im Familiennachzug in die Schweiz kommen. Die verant-

wortlichen Mitarbeiter dieser Beratungsstelle verfügen deshalb über viel fachliche Erfahrung – auch

was den adäquaten Umgang mit diesen Menschen angeht. Die durchführende Amtsperson wertete

das als grossen Vorteil und merkte an, dass viele Betroffene bereits die Voraussetzungen und Kom-

petenzen zur Integration mitbringen, so dass sich eine IntV erübrigt. Falls eine Person der Einladung

nicht Folge leistet, wird sie mit dem Hinweis auf die Wichtigkeit des Gesprächs erneut eingeladen.

Wenn dann immer noch keine Reaktion erfolge, würde man wohl eine Aktennotiz im Dossier hinter-

legen, was aber noch nie der Fall gewesen sei.

Dort, wo aufgrund der „diagnostischen Abklärung“ das Gefühl entsteht, es könnte mit entspre-

chender Unterstützung ein positiver Integrationsprozess in Gang kommen, wird anschliessend ein

Termin für ein IntV-Gespräch festgelegt. Dem Vier-Augen-Prinzip folgend wird nach dem Informati-

onsgespräch ein Protokolleintrag mit einer Empfehlung vorgenommen. Wenn eine zweite Stelle –

momentan ist das der Amtsleiter – die Empfehlung befürwortet, wird die Einladung zum IntV-

Gespräch verschickt. Dabei können die Betroffenen nicht zur Unterschrift gezwungen werden. Zwi-

schenzeitlich eruiert und prüft das Amt passende Möglichkeiten, die den Vorstellungen und Zielen

20

Interview AG. 21

Interview 2 AG.

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der Betroffenen entgegenkommen und für sie dienlich wären. Diese Materialien und Vorbereitun-

gen bestimmen weitgehend das zweite Gespräch, das dann in der Regel mit dem Abschluss einer

IntV endet. Bei diesem Gespräch kommt einer guten, unabhängigen Übersetzung grosses Gewicht

zu. Die im Rahmen der IntV definierten Massnahmen werden anschliessend in der hierfür eingerich-

teten Datenbank erfasst. Die Datenbank gibt jeweils Rückmeldung, bis wann eine Vereinbarung

läuft. Wenn keine Bestätigung über den erfolgreichen Abschluss der Massnahme erfolgt, schaltet

sich wiederum das Amt ein. Es ist aber eine Bring-Schuld der „Klienten“. Derzeit liegt alle Verant-

wortung, auch die der Kontrolle, noch bei der durchführenden Amtsperson. Wenn beispielsweise

keine Bestätigung erfolgt, wird sie mit einer vom Amt gesetzten Frist eingefordert oder allenfalls

eine Begründung oder Erklärung verlangt. Wenn die Person auch dann nicht reagiert, wird die IntV

als nicht eingehalten angesehen und das Dossier an den Amtsleiter überwiesen, der dann über das

weitere Vorgehen entscheiden muss. Vermutlich, so die interviewte Person, würde das einen Ver-

weis nach sich ziehen. Eine Reaktion, in welcher Form auch immer, wäre dringend geboten, da man

sonst die Glaubwürdigkeit gefährde. Das sei aber dann nicht mehr die Angelegenheit der Fachstelle

für Integration.

Auf die Frage nach dem benötigten Aufwand antwortete die interviewte Person, er liege bei ca. 4-5

Stunden, sofern es nicht zu einer IntV komme. Man verschaffe sich einen Überblick, mache sich No-

tizen, verschicke die Einladungen, führe das Gespräch und mache eine Aktennotiz. Im Falle einer

IntV ist die Zeit zwischen den beiden Gesprächen die intensivste, da hier die ganzen Abklärungen

und Recherchen bezüglich geeigneter Lösungen durchgeführt werden. Auch die Spracheinstufung

erfolgt in der Zeit zwischen Informationsgespräch und Gespräch zur IntV. Sie dient als Anhaltspunkt

dafür, von welchem Niveau auszugehen ist und was realistische Ziele sein könnten. Die Aufforde-

rung zur (kostenlosen) elektronisch durchgeführten Einstufung erhalten die Betroffenen zusammen

mit der Einladung zum IntV-Gespräch. Die Ergebnisse des Tests werden in Kopie dem Amt zuge-

stellt, so dass diese beim Gespräch vorliegen.

Weitergreifende Controlling-Massnahmen für das gesamte Pilotprojekt oder weitere evaluative

Elemente sind erst in Erarbeitung.

Wenn die vereinbarten Ziele nicht erfüllt werden, kann das laut Konzept unter Berücksichtigung des

Verhältnismässigkeitsprinzips dazu beitragen, dass die Aufenthaltsbewilligung nicht verlängert wird.

Obwohl Sanktionsmassnahmen bei der IntV nicht im Vordergrund stünden, seien bei ihrer Nichter-

füllung Rechtsfolgen vorgesehen. Falls die IntV also nach einem Jahr nicht erfüllt wurde, könne es

zwar unter Umständen im Sinne einer „letzten Chance im Rahmen eines Motivationsgespräches“ zu

einer einjährigen Verlängerung der IntV kommen. Es werde jedoch in der Bewilligung vermerkt,

dass es sich bei der Erfüllung der Vereinbarung um eine Bedingung handle. Wenn nach Ablauf die-

ses weiteren Jahres die Vereinbarung erneut nicht eingehalten wurde, könne das von den Behörden

als Integrationsverweigerung beurteilt werden und somit einer Verlängerung der Aufenthaltsbewil-

ligung entgegenstehen. Als weitere Konsequenz der Nichterfüllung könne bei Sozialhilfeabhängig-

keit die Gemeinde über eine Kürzung der finanziellen Mittel entscheiden (DVI Kanton Aargau 2008).

Diese Möglichkeit ist allerdings erst in Erarbeitung und wird in der ersten Pilotphase noch nicht an-

gewendet.

Ebenfalls steht noch nicht fest, nach welchen Kriterien die Vereinbarung verlängert wird oder als

nicht erfüllt gilt. Laut Fachstelle wird man die Kriterien aber so festlegen, dass trotz Abklärung der

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Einzelfälle Rechtsgleichheit gewahrt wird.22

5.3.6 Gesprächsführung

Insgesamt konnte festgestellt werden, dass das Gesprächssetting sorgfältig geplant und vorbereitet

wird, damit der Integrationsförderung der Betroffenen möglichst gut entsprochen werden kann. Es

wird jeweils ein qualifizierter Übersetzer oder eine Übersetzerin beigezogen, auch wenn Familien-

angehörige übersetzen könnten, da einer professionellen Übersetzung angesichts der komplexen

und anspruchsvollen Inhalte der IntV grosse Bedeutung zugemessen wird.

Die teilnehmende Beobachtung (bei nur einem IntV-Gespräch) zeigte, dass die durchführende

Amtsperson im Kanton Aargau vor allem klärend und informierend vorgeht sowie versucht, mit den

Betroffenen auf die Zukunft ausgerichtete realitätsnahe Integrationsziele festzuhalten. Ihr Ge-

sprächsstil wies auch in der Dimension „beziehungsaufbauend, motivierend“ hohe Werte auf. Die

Häufigkeiten bezüglich „Beziehung, Humor, Lob“, „nachfragend“ und „unterstützend, empfehlend“

lagen im Durchschnittsbereich, während nur selten ein „auffordernd, appellierend“ oder „normativ,

moralisierend“ wirkender Akzent gesetzt wurde. Druckerzeugende Momente konnten nicht festge-

stellt werden, wobei anzumerken ist, dass in diesem einen beobachteten Gespräch der jugendliche

Betroffene und seine Eltern offen und entgegenkommend waren. Sie erklärten und dokumentierten

ihre Situation, waren das ganze Gespräch über positiv eingestellt, blieben aber auch wachsam und

fragten nach Unterstützung zur Finanzierung des vereinbarten Sprachkurses. Nur selten verhielten

sie sich „rechtfertigend“ oder „passiv“.

5.3.7 Wirkung

(Antizipierte) Wirkung auf die Betroffenen

Die interviewte Person meinte, dass die Betroffenen den Abschluss einer IntV als freiwilligen Akt

ansehen, wobei sie anmerkt, dass sie natürlich noch keine langen Zeiträume überblicken könne. Sie

sei sogar schon von Personen selbst angefragt worden, ob sie dieses oder jenes in einer IntV fest-

halten könnten.

Das Vorsprechen auf dem Amt für Migration würde anders empfunden als die Gespräche in der

Fachstelle Integration und Beratung. Beim allerersten Abschluss sei das IntV-Gespräch sehr positiv

aufgenommen worden, im Sinne einer Unterstützung und Orientierung, da die Menschen etwas in

der „Luft gehangen seien“. Immer wieder wurde stark betont, wie wichtig es ist, die Migran-

ten/innen konkret darüber zu orientieren, was von ihnen erwartet wird. Sie wüssten genau, was

das nächste Ziel ist. Was sie selbst dann von den IntV erwarten können, könnten die Betroffenen

jeweils ableiten. So frage die Amtsperson am Ende des Gesprächs immer, was die Betroffenen jetzt

denken, welche Vorteile es ihnen bringe. Als sehr motivierend erlebe die Amtsperson die Tatsache,

dass die IntV im Hinblick auf die Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen oder Niederlassungs-

bewilligungen positiv zu Buche schlagen kann.

Mögliche Negativfolgen bei den Betroffenen seien weniger leicht fassbar als die positiven Folgen.

Aus diesem Grund sei ihr die Rückversicherung am Ende des Gesprächs, mit der Frage, ob sie ver-

standen hätten und was sie erreichen könnten, sehr wichtig: damit die Motivation wirklich „gelingt“

und der Sinn erkannt wird. Die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung nach fünf Jahren, wenn

22

Interview AG.

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alles andere auch stimmt, wird als positiver Anreiz eingesetzt. Mögliche negative Folgen seien ver-

mutlich eher bei den länger Anwesenden zu orten. Dort könnten dann Personen dabei sein, die

schon eine Haftstrafe verbüsst hätten, bereits verwarnt worden seien usw., so dass das Scheitern

der IntV dann möglicherweise der letzte Grund für die Verhängung ausländerrechtlicher Massnah-

men sei.

Wirkung nach innen in Bezug auf die eigene Arbeit, die eigene Stelle

Die durchführende Amtsperson meinte, dass die IntV sehr viele Erwartungen wecke, darunter auch

falsche Vorstellungen und Begehrlichkeiten. Die interne Lösung, dass mit den betroffenen Fachstel-

len „ausgedeutscht“ wird, was ganz konkret gemacht wird, wird als gut erachtet. Es gebe eine Ak-

zeptanz für das gewählte Vorgehen und es finde ein Austausch statt, eine Auseinandersetzung. Das

sei schon auf der Ebene der Konzeptentwicklung so angelegt gewesen. Als nächstes stehe eine Aus-

einandersetzung mit „den Massnahmen“ an und danach würde man sich einmal überlegen, wie die

Gemeinden eingebunden werden sollen.

Was die Wirkung im engeren Sinne anbelangt, wird die IntV als Entscheidungshilfe empfunden, um

abzuwägen, ob beispielsweise eine Massnahme eingeleitet werden soll.

5.3.8 Aufwand und Nutzen

Grundsätzlich sind vier Personen in der Fachstelle unter anderem für Integrationsfragen zuständig.

Finanziert werden die IntV über das Migrationsamt, jedoch sind derzeit noch keine genauen Anga-

ben diesbezüglich möglich.23

Insgesamt nimmt man auf dem Amt an, dass ca. 150 Stellenprozente benötigt werden, wenn alles

ins Laufen gekommen ist. Man geht dabei von etwa 80 Informationsgesprächen und 50 IntV jährlich

aus. Auf die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Ertrag antwortete die durchführende

Amtsperson, dass das zum einen schwierig zu beantworten sei, da alles noch sehr neu sei, und dass

man das zum anderen in einem Aushandlungsprozess diskutieren und festlegen müsse.

Die Perspektive sei die, dass zumindest noch eine oder zwei weitere Personen für die IntV geschult

werden sollen, damit sich ein „roter Faden“ ergebe, der von allen ausführenden Amtspersonen ver-

folgt wird. Sie selbst habe sich vorgenommen, nach ca. einem halben Jahr einmal zu schauen, wie

das Verfahren dann angelaufen sei und welche Schwachstellen allenfalls sichtbar würden. Mögli-

cherweise wären dann Modifikationen in den Abläufen oder im Zusammenhang mit der Datenbank

in Richtung auf grössere Professionalität nötig.

5.3.9 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen

Insgesamt lässt sich festhalten, wie unter 5.3.4 angedeutet, dass die Zusammenarbeit mit den an-

deren Abteilungen des Migrationsamts als gut empfunden wird. Alle relevanten Bezugsgruppen

wurden in den Entwicklungs- und Umsetzungsprozess der IntV eingebunden. Der nächste geplante

Schritt ist nun der Einbezug der Gemeinden des Kantons Aargau.

Gegenwärtig sind neben dem Migrationsamt noch keine weiteren kantonalen Amtsstellen oder ex-

terne Partnerstellen involviert. Von der Fachstelle Integration wird das nicht als Problem angese-

23

Interview AG.

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hen, da man für die Pilotphase bewusst „noch nicht zu viele Leute in das Boot holen will“ und die

Testphase lieber intern im Migrationsamt durchführen möchte.24

Während die Gemeinden (noch) nicht in das Projekt miteinbezogen werden, schätzt man hingegen

die Zusammenarbeit mit den anderen Kantonen – insbesondere mit denjenigen der Nordwest-

schweiz – als sehr gut ein. Man ist froh um den Informations- und Erfahrungsaustausch, der durch

die enge Zusammenarbeit zustande kommt.25

24

Interview AG. 25

Interview AG.

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6 Policy und Umsetzung im Kanton Basel-Landschaft

Der Kanton Basel-Landschaft zählte Ende 2008 rund 273'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Der

Ausländeranteil liegt bei rund 19 Prozent (52'180 Personen), wobei der Bezirk Liestal mit 25 Prozent

deutlich über und der Bezirk Sissach mit 13.5 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt liegen. Unter

den Personen aus Drittstaaten belegen diejenigen aus Serbien und Montenegro den ersten Platz;

mit einem Anteil von 10.7 Prozent liegen sie an dritter Stelle aller Migranten/innen.

6.1 Integrationspolitik

Schon 1984 hat der Kanton Basel-Landschaft in seiner Kantonsverfassung den Auftrag zur Integrati-

on der ausländischen Bevölkerung verankert. Aber trotz dieses Verfassungsauftrags begann der

Kanton erst 1997, sich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen und die Stabsstelle Integration bei

der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion zu schaffen. Zudem wurden Gelder aus dem Lotteriefonds

für Integrationsförderungs-Projekte bewilligt. Bei der Integrationsförderung arbeitet die kantonale

Fachstelle Integration, welche seit 2007 der Sicherheitsdirektion angegliedert ist, sehr eng mit dem

Kanton Basel-Stadt zusammen. Diese Kooperation wird seit 2004 systematisiert und koordiniert,

das heisst, alle Projekte werden gemeinsam geprüft und durch ein gemeinsames Controlling ge-

steuert (Landrat Kanton Basel- Landschaft 2005).

Am 1. Januar 2008 trat das schlanke, acht Paragraphen umfassende „Gesetz über die Einführung

der Integrationsbestimmungen des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (Integ-

rationsgesetz)“ vom 19. April 2007 in Kraft, ergänzt durch die „Verordnung zum Integrationsgesetz

(Integrationsverordnung)“ vom 18. Dezember 2007.

6.2 Integrationsverständnis

Gemäss Art. 1 der Integrationsverordnung wird eine Person im Kanton Basel-Landschaft dann als

integriert angesehen, wenn sie:

a. die schweizerische Rechtsordnung, insbesondere deren Grundwerte, respektiert;

b. die deutsche Sprache in einem Ausmass beherrscht, dass sie in der Lage ist, selbständig in

den Angelegenheiten des täglichen Lebens zu handeln;

c. sich mit den hiesigen gesellschaftlichen Verhältnissen und Lebensbedingungen auseinander

setzt;

d. befähigt ist, am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben der Gesellschaft teilzuneh-

men.

Auf der operativen Ebene, so die durchführende Amtsperson, handle es sich um ein „Fördern und

Fordern“. Man fordere eine gewisse Integrationsbereitschaft von den Migranten/innen, was einen

zeitlichen und finanziellen Aufwand bedeute. Die Fachstelle finanziert im Durchschnitt pro Jahr ü-

ber 70 Integrationsprojekte in den Interventionsbereichen „Sprachförderung“, „Soziale Integration“

und „Integration durch Information und Kommunikation“ mit. Mit diesen meist sehr niederschwel-

lig konzipierten Projekten sollen hauptsächlich die bildungsfernen und sozioökonomisch schwäche-

ren Migrantinnen und Migranten gefördert werden. Im Fokus stehen auch Frauen mit Erziehungs-

verantwortung. Im Sinne eines Empowerments sollen sie in die Lage versetzt werden, ihren Kindern

die für eine möglichst chancengleiche Entwicklung in der Gesellschaft erforderliche Unterstützung

zu bieten. Gefordert wird, dass die Migrantinnen und Migranten die zur Verfügung stehenden För-

derangebote aktiv und eigenverantwortlich nutzen und damit die Grundlage für ihre Teilnahme am

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wirtschaftlichen und sozialen Leben schaffen. Das geschehe auch unter dem Gesichtspunkt „Inves-

tieren statt Reparieren“. Die Migranten/innen müssten ihren Anteil leisten und die Schweizer/innen

sich bewusst machen, dass die Schweiz ein Einwanderungsland ist. Es sei aber nicht so, dass Basel

oder die Schweiz ein grosses Ausländerproblem habe.

Der Deutschkurs allein sei noch keine Integration, aber ein wichtiger Schritt. Dass beispielsweise

eine türkische Ehefrau sich alleine auf dem Bahnhof zurechtfinden oder sich bei einem Kurs anmel-

den könne, sei als wichtiger Bestandteil der Integration zu betrachten. Diese Haltung wird auch von

den befragten 14 Betroffenen geteilt. So hat ein Grossteil von ihnen das Bedürfnis, sich zu integrie-

ren, und erachtet insbesondere das Erlernen der deutschen Sprache als wichtig. Sprachkenntnisse

sind für die Arbeitssuche zentral, helfen Probleme zu lösen und sich zu verständigen. Für eine

Mehrheit der interviewten Betroffenen zielt die Integration auf das Zusammenleben ab, und das

setze Respekt vor Regeln und anderen Kulturen voraus. Sie halten es für wichtig, sich anzupassen

und die hiesige Sprache und die Kultur besser kennen zu lernen. Integration ist aber für viele auch

ein abstrakter Begriff, den sie nicht genau verstehen.

6.3 Integrationsvereinbarungen

Zum Zeitpunkt der Datenerfassung lagen 15 abgeschlossene IntV vor, die alle erfüllt worden sind.

Diese Stichprobe vermittelt einen Einblick in den bisherigen Umgang mit dem Instrument und gibt

Hinweise auf die mit der IntV verfolgten Strategie.

6.3.1 Zielsetzungen und Zweck

Entsprechend der Policy sollen die IntV insbesondere dann zum Einsatz kommen, wenn grosse In-

tegrationsdefizite zu möglichen Wegweisungsgründen führen können. Dadurch haben die IntV ei-

nen präventiven Charakter. In diesen Fällen gelten sie als Integrations- und Motivationshilfen „zum

Schutz des Ausländers selbst“. Dieser Prozess wird auf der operativen Ebene als eine Art „Gratwan-

derung“ bezeichnet. Einerseits führe der Druck, den die IntV auf die Migranten/innen macht, dazu,

dass sie tun, was von ihnen verlangt wird. Andererseits wolle man aber auch, dass sie Freude daran

haben, eine Sprache zu lernen. Bei der Umsetzung von IntV soll also auch die intrinsische Motivati-

on berücksichtigt werden. Die durchführende Amtsperson betrachtet sich als diejenige Instanz, die

darauf besteht, dass Deutsch gelernt wird, auch wenn das von den Betroffenen eine gewisse Über-

windung erfordere. Andererseits wollten viele vermutlich von sich aus einen Kurs besuchen und

würden nun durch die IntV lediglich dazu verpflichtet. Das würde vielleicht die Ernsthaftigkeit noch

ein wenig erhöhen. Um den Unterschied zwischen einer konventionellen Ermahnung oder Mah-

nung und einer IntV zu verdeutlichen, verwendete die interviewte Person das Bild vom halbvollen

und halbleeren Glas: Die IntV symbolisiere das halbvolle Glas, denn das Gegenüber (Migrant) erhal-

te eine reale Chance, und deshalb könne man davon ausgehen, dass er sich verändern und z.B. sei-

ne Ausgaben in den Griff bekommen könne. Bei der mit einem halbleeren Glas verglichenen Mah-

nung würde dagegen den Betroffenen vermittelt, dass das Vertrauen erschöpft sei und die Weg-

weisung geprüft werde.

6.3.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien

Die Zielgruppen für die IntV sind in der kantonalen Integrationsverordnung unter § 6 Abs. 2 aufge-

führt und werden in einem Merkblatt des Amts für Migration weiter konkretisiert (Amt für Migrati-

on BL 2008).

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Grundsätzlich werden im Kanton Basel-Landschaft nur mit solchen Personen IntV abgeschlossen,

die keinen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben und deren Aufenthaltsstatus somit an

Bedingungen geknüpft werden kann, etwa die Aufarbeitung von Integrationsdefiziten. Die fokus-

sierten Zielgruppen entsprechen weitgehend den Bundesvorgaben. Demnach werden hauptsächlich

Neuzuziehende aus Drittstaaten im Familiennachzug einbezogen, die in der Schweiz in einem ge-

meinsamen Haushalt mit dem Ehegatten/der Ehegattin leben, der/die ebenfalls aus einem Dritt-

staat kommt und bereits über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt. Als Zielgruppe der IntV gelten

ebenso Kinder zwischen 15 und 19 Jahren im Familiennachzug, die somit nicht mehr in die reguläre

Schule eingegliedert werden können. Laut Integrationsverordnung können IntV mit zuziehenden

Personen abgeschlossen werden, die „aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht in der Lage

sind, selbständig in den Angelegenheiten des täglichen Lebens zu handeln“ (§ 6 Abs. 2 a). Der Integ-

rationsgrad der bereits anwesenden Familienangehörigen wird dabei nicht berücksichtigt, sondern

jede Person wird einzeln beurteilt. Beispielsweise werden mit Kindern ab 15 Jahren im Familien-

nachzug IntV abgeschlossen, auch wenn deren Eltern bereits gut integriert sind.

Neben den Personen im Familiennachzug bilden die bereits anwesenden Personen aus Drittstaaten,

„bei denen erhebliche Defizite der Integration […] vorliegen“, eine weitere Zielgruppe (Integrati-

onsverordnung § 6 Abs. 2 b). Hierzu gehören Personen, die seit längerer Zeit sozialhilfeabhängig

sind und Sprachdefizite aufweisen oder die häusliche Gewalt ausüben. Mit diesen Personen

schliesst das AFM IntV ab, wenn die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung geprüft werden muss.

Die zuweisenden Stellen erachten auch anerkannte Flüchtlinge als potentiell sinnvolle Zielgruppe,

denn da sehe man die grössten Integrationsdefizite. Die Gründe hierfür werden darin gesehen, dass

man meist zu lange mit Integrationsmassnahmen zugewartet habe, so dass solche Integrationsdefi-

zite, etwa im Falle einer Arbeitsaufnahme, proaktiv angegangen werden müssten26.

Bei den 15 abgeschlossenen IntV stehen Betroffene aus Sri Lanka mit ca. 47 Prozent (7 Personen) an

erster Stelle, gefolgt von Asien und Makedonien (je 2 Personen) sowie weiteren 4 Einzelnennungen.

Demgegenüber stellen Personen aus Serbien und Montenegro die grösste Gruppe von Drittstaaten-

angehörigen im Kanton Basel-Landschaft dar (Statistisches Amt Kanton Basel-Landschaft 2008b).

Die Geschlechtsverteilung der von der IntV Betroffenen ist im Kanton Basel-Landschaft im Gegen-

satz zu den anderen Kantonen fast ausgeglichen. 4 Personen befinden sich in der Altersgruppe der

16- bis 20-Jährigen 3 in derjenigen der 26- bis 30-Jährigen. Die restlichen Fälle verteilen sich auf die

Altersspanne von 31 bis 59 Jahren. Zur Schulbildung lassen sich leider keine Angaben machen, da

keine Daten vorliegen. Ein Drittel der 15 Personen reiste in den Jahren 2008/2009 ein, während die

übrigen bereits länger in der Schweiz leben Anfang der Neunziger oder zu Beginn 2000. Hierin dürf-

ten sich die unterschiedlichen Zielgruppen widerspiegeln. 60 Prozent gehen einer Erwerbstätigkeit

nach, und 40 Prozent sind mit Erziehungsarbeit beschäftigt, wobei sicherlich manche Personen so-

wohl erwerbstätig sind als auch Erziehungsarbeit leisten. Was den Aufenthaltsstatus anbelangt, be-

sitzen 14 Personen eine B-Bewilligung und eine Person eine L-Bewilligung.

Die Stichprobe der 14 interviewten Betroffenen weist ähnliche Eigenschaften auf wie die Stichprobe

zur IntV. Abweichungen sind insbesondere beim Merkmal Geschlecht zu verzeichnen: knapp 2/3

der Befragten waren Frauen.

26

Interview BL, SD.

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6.3.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente)

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Integrationsmassnahmen nur eine von mehreren ausländer-

rechtlichen Massnahmen sind, die dem Migrationsamt zur Verfügung stehen. Bereits vor der IntV

konnte das Migrationsamt eine Wegweisung erwägen und verfügen. Laut kantonaler Integrations-

verordnung (§ 6 Abs. 3 a) können die in der IntV festzuhaltenden Einzelheiten umfassen:

- den Erwerb von Kenntnissen der deutschen Sprache: Alphabetisierung, zu erlangendes Refe-

renzniveau A1, A2 oder B1 […];

- den Erwerb von Kenntnissen über das schweizerische Rechtssystem, über die hiesigen gesell-

schaftlichen Verhältnisse und Lebensbedingungen sowie über die grundlegenden Normen und

Regeln, deren Befolgung eine unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes Zusammenleben

ist […].

Aufgrund dieser Vorgaben werden bis zum jetzigen Zeitpunkt hauptsächlich Deutsch- und Integrati-

onskurse angeordnet; für eine Umwandlung des Status von F zu B wird das Sprachprofil A1 voraus-

gesetzt. Die Interviews mit den Betroffenen bestätigen, dass am häufigsten der Besuch eines

Deutschkurses vereinbart/verordnet wurde. Um was es bei dieser Massnahme geht, wird von den

Betroffenen tendenziell verstanden. Ohne Deutsch zu sprechen, hätte man keine Chance, einen Job

zu finden, erklärte eine Person. Eine andere Befragte sagte, zuerst habe sie die IntV gar nicht ver-

standen, dann sei ihr aber klar geworden, dass sie einen Kurs absolvieren müsse. Um die Massnah-

men richtig und konkret zu verstehen, wäre jedoch gemäss der Betroffenen eine Übersetzung not-

wendig gewesen. Wiederholt werden laut den Betroffenen auch weitere Massnahmen angespro-

chen; so werde erwartet, dass sie eine Arbeit suchen oder Interesse an der Integration zeigen. Seit

Herbst 2009 werden zudem Lernprogramme gegen häusliche Gewalt verordnet. Eine gute Abspra-

che mit der zuständigen Interventionsstelle ist hierbei wichtig; so muss die Gewalt ausübende Per-

son zum Beispiel über genügend Deutschkenntnisse verfügen, damit sie den Kursinhalt auch ver-

steht.

Bei verschuldeten Personen zog man zuerst in Erwägung, IntV abzuschliessen. Aufgrund fehlender

Kursangebote und geeigneter Fälle wird diese Personengruppe vom AFM schriftlich ermahnt und

gleichzeitig aufgefordert, ihre finanzielle Situation durch eine Schuldenberatungsstelle zu prüfen

und – wenn möglich – zu verbessern. Bei Personen, die nahe am Existenzminimum leben, stelle sich

grundsätzlich die Frage, was eine IntV ausrichten könne. Von älteren Personen könne man nicht

erwarten, dass sie beispielsweise innerhalb von 12 Monaten das Alphabet lernen und das Sprach-

profil A1 erreichen, aber man könne fordern, dass sie den Kurs besuchen; dann müsse man weiter

schauen.

Bei den interviewten Betroffenen wird deutlich, dass eine langjährige Erwerbstätigkeit in der

Schweiz zu Unverständnis gegenüber IntV-Massnahmen führt. Eine Befragte erzählte, sie habe im-

mer am selben Ort gearbeitet und dort immer ihre Muttersprache gesprochen; nun müsse sie

Deutsch lernen. Die im Rahmen der IntV erwähnte Ausweisung wird in einem derartigen Fall als

Bedrohung wahrgenommen. Tendenziell aber werden die IntV-Massnahmen von den meisten Be-

troffenen als gewinnbringend und sinnvoll eingeschätzt, auch wenn sie oft als Druck oder Zwang

erlebt werden. Die interviewten Anbieter/innen von Sprachkursen meinten dazu, dass die Teilneh-

menden mit IntV zum Teil unrealistische Vorstellungen darüber hätten, welches Sprachprofil sie

erreichen könnten. Solche Erwartungen hätten mitunter aufgrund der langsamen Lernfortschritte

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zu grossen Enttäuschungen geführt. Daraus folgerten die Kursleitenden, dass der Druck auf die Be-

troffenen zu gross ist und dass auch kleine Lernfortschritte anerkannt werden müssen.27

Die quantitative Analyse zeigt, dass bei 13 Migranten/innen als Grund für die IntV „ungenügende

Deutschkenntnisse“ genannt wurde, bei drei von ihnen kam dazu noch „Sozialhilfebezug“ und bei

einer Person „Schulden“. Durchgängig wurde aber jeweils nur eine Massnahme, und zwar ein

Deutschkurs, verordnet.

Der wichtigste Kursanbieter ist der Ausländerdienst Basel-Landschaft ALD (siehe Kapitel 6.3.4). Er

bietet im „Kompetenzzentrum für Integrationsfragen“ verschiedene Dienstleistungen an, insbeson-

dere Einstufungstests, eine Vielzahl von Sprach- und Integrationskursen, Beratungen sowie die

Vermittlung von interkulturellen Übersetzer/innen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Amt für

Migration und dem ALD scheint sehr gut zu funktionieren. Es können jedoch auch private Kurse o-

der solche von anderen Schulen in der Region Basel (ECAP, K5, GGG, Migros Klubschule) besucht

werden. Die Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt verfügen über eine umfassende und klar

strukturierte gemeinsame Datenbank mit regionalen Integrationsangeboten. Hier findet man auch

Auskunft über weitere Projekte im Bereich Migration, Integration und Rassismus sowie über Fach-

tagungen und Weiterbildungsmöglichkeiten.28

„Die Nutzerinnen und Nutzer der staatlich geförderten Sprach- und Integrationskurse beteiligen

sich“, so § 4 Integrationsgesetz, „unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse ange-

messen an den Kurskosten“. Die Zumutbarkeit der Kosten wird allerdings in der Praxis nicht über-

prüft. Lediglich bei Sozialhilfeabhängigkeit werden die Kosten von der Sozialhilfe bereitwillig über-

nommen. Knapp die Hälfte der Betroffenen monieren, dass sie den Kurs selber bezahlen müssten

und dass er teuer sei. Wichtig ist ihnen auch die Beratung durch die Sprachschulen, damit die

„Klienten“ nicht unnötige Auslagen für teure Sprachtests zu tragen haben. Falls Kurse belegt wer-

den, die über dem realistisch erwerbbaren Sprachprofil liegen, müssen ja die Betroffenen „für ihr

eigenes Versagen bezahlen“.29

6.3.4 Behördenarrangement und Setting

Im Kanton Basel-Landschaft hat das Amt für Migration (AFM) die Federführung bei der Durchfüh-

rung von IntV. Das AFM ist in der Sicherheitsdirektion angesiedelt. Ein Vorteil, der aus dieser institu-

tionellen Nähe resultiert, ist der Zugang zu Informationen, denn das AFM verfügt selbst über die

Dossiers, in denen das Verhalten der ausländischen Bevölkerung aus Drittstaaten in der Schweiz

dokumentiert wird. Bei neu einreisenden Personen wird hier das Dossier erstmals erstellt. und mit

Personen, die keinen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben, wird automatisch eine IntV

abgeschlossen.

Wie bereits erwähnt, werden an den Ausländerdienst Basel-Landschaft (ALD) bewusst alle Aufga-

ben abgegeben (Outsourcing), die mit der konkreten Erreichung der Ziele zusammenhängen, wäh-

rend das Amt für Migration sich für alle ausländerrechtlichen Belange zuständig sieht.

Die Dossiers der neu zuziehenden Personen liegen dem AFM automatisch vor, hingegen werden die

Personen mit Integrationsdefiziten von den Sozialdiensten der Gemeinden und der Polizei dem Amt

für Migration gemeldet. Es lädt die betreffenden Personen zu einem Gespräch ein, das spezifisch

auf die jeweilige Zielgruppe ausgerichtet ist. So wird beispielsweise auf die mangelnden Sprach-

27

Interview BL, ALD. 28

www.integration-bsbl.ch 29

Interview BL, ALD.

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kenntnisse trotz eines langen Aufenthalts in der Schweiz verwiesen. Auch bei neu zugezogenen

Migranten/innen äussert das AFM in der Einladung die Vermutung, dass die Deutschkenntnisse der

betroffenen Person unzureichend seien. Bei beiden Zielgruppen wird erwähnt, dass es um den Ab-

schluss einer IntV gehen wird und dass die Personen auf dem Amt vorsprechen sollen.

Anlass und Einladung werden von den Betroffenen sehr unterschiedlich, häufig ungenau oder nur

teilweise oder gar nicht verstanden. Der Anlass für die IntV wird von den Betroffenen auf „pragma-

tische Probleme und Anforderungen heruntergebrochen“. So wird der Anlass für eine IntV z.B. auf

die anstehende Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung oder auf eine Information über Deutsch-

kurse zurückgeführt. Ziele wie die, Deutsch zu lernen oder Arbeit zu finden, werden insgesamt als

erstrebenswert erachtet. Jedoch verstand nur eine Minderheit der Befragten die IntV als behördli-

che Hilfestellung, während eine Mehrheit von 2/3 der Betroffenen sie als diffusen Druck, als Bestra-

fung und als Drohung erlebte.

Im Einladungsschreiben wird ferner darum gebeten, sich von einer „deutsch sprechenden Person“

begleiten zu lassen. Bei den Neuzugezogenen wird die ungefähre Gesprächsdauer auf 30-45 Minu-

ten geschätzt; bei den schon länger Anwesenden liegen hierzu keine Angaben vor. Im Rahmen eines

persönlichen Gesprächs werden die Inhalte der IntV erklärt. Ferner werden, soweit möglich, die

individuellen Integrationsdefizite abgeklärt sowie Kursangebote erläutert. Die IntV enthält die fest-

gelegten Ziele und wird in der Regel noch vor Ort unterschrieben.

Die Interviews mit den Betroffenen zeigen deutlich, dass die Gespräche zur IntV eine Vielfalt von

Kommunikationsproblemen in sich bergen – auch dann, wenn gedolmetscht wird. Zwar bringen die

meisten Betroffenen Angehörige oder Freunde als Übersetzer mit, doch sprechen diese Personen

teilweise auch nur gebrochen Deutsch und geben viele Inhalte nicht oder nur ungenau wieder.

Selbst dann, wenn sie sich gut auf Deutsch verständigen können, werden Inhalte nicht immer richtig

verstanden. Die Betroffenen werden entsprechend schlecht oder unvollständig informiert – z.B.

über das Risiko einer Ausweisung. Insgesamt erlebt die Mehrheit der Betroffenen das Gespräch als

inhaltlich zu undurchsichtig und zu wenig verständlich.

6.3.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung, Controlling, Sanktionen)

Es gibt einen einfachen und klaren Prozessablauf, insbesondere was die Erfassung der Fälle betrifft.

Dieser Ablauf ist jedoch nur intern vorhanden und nicht wie in anderen Kantonen Bestandteil eines

ausführlichen Konzeptes. Generell ist „alles hier im Haus und deshalb relativ einfach“. Daher scheint

auch die Auswahl der Zielgruppe relativ unproblematisch zu erfolgen. Diese Tatsache wird auch im

Interview mit der durchführenden Amtsperson sehr positiv hervorgehoben.

Im Rahmen der Verlängerung der B-Bewilligung füllen die Gemeinden, die Sozialdienste und die

Polizeistellen die Führungsberichte aus und schicken sie dem AFM; das AFM kontrolliert zudem in-

tern, ob die entsprechende Person über Betreibungen und/oder Verlustscheine verfügt. Erst nach

Erhalt sämtlicher Unterlagen wird geprüft, ob Integrationsdefizite bestehen. Jedes neu einreisende

Familienmitglied wird einzeln beurteilt. Als Muster-IntV, die gleichzeitig als Leitfaden für das IntV-

Gespräch gilt, wurde die Vorlage des Bundes weitgehend übernommen.

Die Angemessenheit der konkreten Massnahme wird von den Betroffenen unterschiedlich beurteilt.

Dabei richtet sich die Kritik weniger gegen die spezifischen Inhalte, sondern vielmehr gegen den

Pflichtcharakter der Massnahme. Dadurch wird offenbar bei den Betroffenen ein hoher Druck ver-

ursach oder Unverständnis ausgelöst, selbst wenn sie eine hohe Motivation mitbringen, Deutsch zu

lernen. Grundsätzlich werden jedoch die Unterstützung bei der Arbeitssuche und die Informationen

über das Leben in der Schweiz geschätzt.

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Das Controlling funktioniert so, dass auf dem Aktendeckel der Vermerk über die IntV gemacht wird

und dass bei der nächsten Bewilligungsverlängerung die Bestätigung über den Kursbesuch vorliegen

muss. Ob es dabei einen detaillierten Bericht des Kursanbieters gibt, kommt laut AFM auf die Lehr-

person an. Die Nichteinhaltung einer IntV wäre alleine sicher kein Grund für eine Wegweisung, die

nach AuG verhältnismässig sein muss; daher sind auch andere Faktoren zu berücksichtigen. Bei der

Nichteinhaltung einer Massnahme würde sicher nachgefragt (z.B. bei der Sprachschule), welche

Gründe dafür vorliegen. Möglicherweise gebe es dann eine zweite IntV. Diese Situation sei bisher

jedoch noch nie eingetreten.

Zur allfälligen Verbesserung des Controllings des gesamten Projekts der IntV wird man nach Aus-

wertung der Evaluationsergebnisse die Abläufe, Strukturen und Inhalte gegebenenfalls anpassen

und verbessern.

Das AFM unterstützt die ausländischen Personen bei der Wahl geeigneter Sprachkurse durch Flyer.

Sofern die Sprache durch Privatunterricht gelernt wird, muss das erlernte Sprachprofil - falls es in

der IntV vereinbart wurde – durch einen offiziellen Test nachgewiesen werden. Für die Betroffenen

ist dagegen unklar, ob zur Anerkennung der Leistungen durch das Amt das Kurszertifikat reicht oder

ob Kenntnisse der deutschen Sprache konkret nachgewiesen werden müssen. Die Konsequenzen

bei einer Nichteinhaltung der Frist sowie bei einer verspäteten Massnahmenerfüllung sind nicht

klar. So meinte eine Betroffene, dass die Massnahme zwar verpflichtend sei, die Konsequenzen a-

ber unklar blieben. Ferner wird kritisiert, dass keine Verhandlungsmöglichkeiten zwischen Betroffe-

nen und Amt bestünden. Das wird als unfair empfunden. Vor allem von Betroffenen, die erwerbstä-

tig sind und/oder familiäre Verantwortung wahrnehmen müssen, wird die Erfüllung der Massnah-

me als eine hohe Belastung erlebt, der bei der IntV nicht genügend Rechnung getragen werde.

Die Sprachschulen betonen die Wichtigkeit der Beratung, da einige Betroffene den Inhalt der IntV

nicht genügend verstanden hätten. Auch der Informationsaustausch zwischen Sprachschule und

dem AFM ist für sie grundlegend, damit zum Beispiel entschuldbare Gründe für das Fernbleiben

vom Kurs (etwa psychische Probleme) bei der Beurteilung der Erfüllung der IntV mitberücksichtigt

werden können. Die Sprachschulen nehmen den Druck, der auf den Teilnehmenden mit IntV lastet,

als erheblich wahr.

Die zuweisenden Stellen halten aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen mit Leistungskürzungen und

ähnlichen Druckmitteln positive Anreize für wirkungsvoller als Sanktionen.30 Grundsätzlich gehe es

um die stufenweise Verbesserung der Lebensführung und der Integration der Betroffenen, was

durch Verbindlichkeit, enge Begleitung und realistische Ziele in kleinen Schritten umgesetzt werden

müsse.

6.3.6 Gesprächsführung

Der persönliche Kontakt im Gespräch wird als grosser Vorteil der IntV gesehen; man gewinne so

Einblick und könne sich tatsächlich ein Bild machen. Der Amtsperson ist eine gute Verständigung

mit ihrem Gegenüber ein wichtiges Anliegen. So wird die IntV Satz für Satz gemeinsam gelesen und

(in der Regel von Familienangehörigen oder Bekannten) übersetzt. Dabei wird betont, dass das Er-

lernen der deutschen Sprache wichtig sei; am Schluss wird darauf hingewiesen, dass bei einer

Nichterfüllung der IntV die Wegweisung geprüft werden könne. Die Amtsperson versteht ihre Stra-

tegie der Gesprächsführung zunächst als fördernde, wohlwollende Hilfestellung. Es gehe darum,

„das grosse Wort“ Integration zu verstehen, und dazu müsse es in kleine Brocken heruntergebro-

30

Interview BL, SD.

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38

chen werden. Den Betroffenen wird erläutert und signalisiert, dass das Amt nur für „ihr Gutes“ da

sei. In einem zweiten Schritt wird allerdings klar gemacht, dass es auch einen Anspruch des Kantons

auf Integration gibt. Für den Fall, dass die vereinbarten Ziele abgelehnt würden, müsse deutlich

gemacht werden, dass der Kanton über Druck- und Sanktionsmittel verfügt und beispielsweise eine

Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung ablehnen kann. Bei Personen, die verurteilt wurden oder

häusliche Gewalt ausüben, ist man streng, aber auch dann wird die gesamte Situation der Betroffe-

nen berücksichtigt, z.B. ob sie Kinder haben.

Bei einer Mehrheit der Betroffenen überwiegt die Befürchtung, dass Sanktionen gegen sie verhängt

werden könnten. In solchen Fällen wird das Gespräch tendenziell als Zwang oder Unterdrückung

erlebt, auch wenn es teilweise als Hilfestellung wahrgenommen wird und Informationen seitens der

Behörde/Amtsperson geschätzt werden. Wie verbindlich die Massnahme/IntV ist, wird den Betrof-

fenen oft nicht klar. Überwiegend verstehen sie die Massnahmen als verpflichtend. Das scheint

teilweise Druck zu verursachen, der jedoch diffus bleibt, da sie die Konsequenzen nur schwer ab-

schätzen können. Manche gehen aber davon aus, dass die Massnahme freiwillig ist. Ein Grossteil

der Betroffenen meint, im Gespräch sei das Risiko einer Ausweisung oder einer Nichtverlängerung

der Aufenthaltsbewilligung nicht oder nicht klar genug benannt worden. Unklar bleibt insbesonde-

re, inwiefern für sie ein konkretes persönliches Risiko besteht, falls sie die Massnahmen nicht oder

nur teilweise erfüllen.

Dadurch, dass die durchführende Amtsperson ihr Gegenüber einerseits zu einem Deutschkurs mo-

tiviert und andererseits mit einer Wegweisung droht, falls der Kurs nicht besucht wird, wird in die-

sem Gesprächssetting die Hilfestellung an Druckausübung gekoppelt. Hier löst das Prinzip des „För-

derns und Forderns“ offensichtlich einen Konflikt aus, dessen Spannung es in der Gesprächssituati-

on auszuhalten gilt. Möglicherweise resultiert dieser spürbare Konflikt zum Teil auch aus Zweifeln

der Amtsperson selbst an der Adäquatheit der vorgeschriebenen Massnahme. Beispielsweise kann

der Besuch eines Kurses für Analphabeten oder für Personen, die nur wenige Jahre die Schule be-

sucht haben oder das Lernen nicht gewohnt sind, eine grosse Herausforderung sein.

Die teilnehmende Beobachtung ergab folgende Charakterisierung der Gesprächsführung: In erster

Linie klärte und informierte die durchführende Amtsperson, in zweiter Linie fragte sie nach und fi-

xierte und in dritter Linie forderte sie die Betroffenen zu Integrationsbemühungen auf und empfahl

ihnen Angebote und Massnahmen. Motivierende Momente sowie anerkennende oder beziehungs-

aufbauende Elemente konnten im Verhältnis zu den anderen Kantonen nur selten festgestellt wer-

den, während druckerzeugende, überprüfende und anklagend konfrontative Interventionen häufi-

ger waren. Auf der anderen Seite reagierten die Betroffenen überwiegend kompetent, erklärten

ihre Situation, rechtfertigten sich auch und lieferten Tatsachen. Teils verhielten sie sich „entgegen-

kommend“, teils „wachsam“ bis hin zu „defensiv ausweichend“ und „konfrontativ verweigernd“.

Das die ganze Bandbreite von Verhaltensweisen beobachtet werden konnte, mag an der breiten

Definition der Zielgruppen im Kanton Basel-Landschaft liegen (Neuzuzüger/innen aus Drittstaaten

ebenso wie schon länger anwesende Personen mit Integrationsdefiziten).

6.3.7 Wirkung

(Antizipierte) Wirkung auf die Betroffenen

Mehrheitlich erlebt die Amtsperson die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner als sehr

freundlich, kooperativ und verständnisvoll. Im Gespräch wird betont, wie wichtig Integration ist.

Dabei werden Massnahmen erklärt und aufgezeigt, wie Ziele erreicht werden können.

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Die Massnahmen werden bei dieser Gruppe tendenziell als „hilfreicher Druck“ erlebt, denn das Er-

lernen der hiesigen Sprache scheint den Betroffenen wichtig und sinnvoll zu sein. Deutschkurse hel-

fen, sich im Alltag besser verständigen zu können. Die Sprache zu erlernen wird mehrheitlich als

Gewinn erachtet. In diesem Sinne wird die IntV – oder vielmehr die Forderung, die deutsche Spra-

che zu lernen – von den Betroffenen als integrationsfördernd eingeschätzt. Wiederholt wird der

Gewinn aber auch in Frage gestellt, die IntV bringe nur wenig, die Deutschkenntnisse nähmen nur

langsam zu, am Arbeitsplatz werde nicht/kaum Deutsch gesprochen und es sei deshalb nicht not-

wendig. Auch der Kontakt zu Schweizern habe sich nicht verbessert.

Die Amtsperson berichtete, es sei auch schon vorgekommen, dass das vermeintlich zustimmende

Nicken der Gesprächspartner während des Gesprächs nur aus Anstand und Respekt erfolgt sei, wie

sich nachträglich zufällig herausgestellt habe. Man könne in solchen Fällen von einer Art vorge-

täuschter Kooperationsbereitschaft sprechen, so dass die Akzeptanz für die Vereinbarung in Frage

gestellt sei. Dieses Verhalten der Betroffenen lässt sich als defensiver Umgang mit Druck deuten.

Letztlich scheinen die Migranten/innen die IntV als einseitige Verpflichtung zu empfinden – was

auch aus den Betroffeneninterviews deutlich wird. Die IntV erscheint hier nicht als Resultat einer

gleichberechtigten und einvernehmlichen Diskussion. So geht die durchführende Amtsperson auch

davon aus, dass die Betroffenen verstehen, dass es im Extremfall zu einer Wegweisung kommen

kann. Allerdings gehe aus dem Gespräch hervor, dass das in der Realität kaum zu befürchten ist. Es

handle sich um eine Androhung, die motivieren soll.

Obwohl der Kanton Basel-Landschaft mittels einfachen, aber klaren Verfahrensabläufen eine Stra-

tegie des „gleichzeitigen Förderns und Forderns“ verfolgt, kann die festgestellte Diffusität und Am-

bivalenz sowohl für die Betroffenen als auch für die Amtspersonen herausfordernd oder sogar be-

lastend wirken.

Wirkung nach innen in Bezug auf die eigene Arbeit, die eigene Stelle

Als Erfolg sieht es die durchführende Amtsperson an, wenn sich die innere Einstellung der Betroffe-

nen dahingehend ändert, dass sie den persönlichen Gewinn erkennen, der im Erlernen der Landes-

sprache liegt. In diesem Sinn sei die Vereinbarung gescheitert, wenn die Massnahme nicht eingehal-

ten wird.

Wirkung nach aussen

Die durchführende Amtsperson meinte, dass die Erwartungen an die IntV zu hoch seien. Die IntV

stelle ein Instrument unter vielen dar. Die Medien proklamierten zum Teil die IntV als Allheilmittel

für alle möglichen Probleme, was aber gefährlich sei. Ein inflationärer Gebrauch könnte zukünftig

die Wirkung der IntV herabsetzen, da dadurch die Verbindlichkeit und Ernsthaftigkeit der IntV ab-

geschwächt würde.

6.3.8 Aufwand und Nutzen

Im Rahmen einer Vollzeitstelle beschäftigt sich eine Person an einem Tag pro Woche (20 Stellen-

prozente) mit den IntV. Es steht allerdings zur Diskussion, die Stellenprozente zu erhöhen, um so

die Ausarbeitung eines erweiterten Konzeptes zu ermöglichen, welches die Einführung von Erstin-

formationen (flächendeckende Begrüssungsgespräche) für alle Neuzuziehenden im Kanton Basel-

Landschaft vorsieht. Finanziert werden die IntV indirekt aus öffentlichen Mitteln, über das AFM.

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40

6.3.9 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen

In den Gemeinden spielt der jeweilige Sozialdienst eine wichtige Rolle, denn hier können die betrof-

fenen Personen bezüglich Deutschkenntnissen und Motivation persönlich eingeschätzt werden. Da

diese Einschätzung auf kantonaler Ebene oftmals nicht möglich ist, sind die Sozialdienste der Ge-

meinden wichtige Ansprechpartner für das AFM.

Generell hat sich laut dem AFM mit den unterschiedlichen Partnern (ALD, Gemeinden, Polizei und

Sozialdienste) eine gute Zusammenarbeit eingespielt, die mittlerweile selbstverständlich geworden

ist. Auch der Informationsfluss untereinander funktioniert gut. Relativ neu ist die Zusammenarbeit

mit der Interventionsstelle für häusliche Gewalt. Mit dem Kanton Basel-Stadt besteht seit vielen

Jahren und in den verschiedensten Bereichen eine sehr enge Zusammenarbeit. Diese interkantona-

le enge Kooperation ist sogar im Integrationsgesetz verankert. Im Gegensatz zur Wahrnehmung der durchführenden Amtsperson beklagen die zuweisenden Stel-

len, dass es wenig Austausch und Rücksprachen mit dem AFM gebe und dass unklar sei, von wem

die Initiative ausgehen soll. Zudem bestünden Überschneidungen bei den Integrationsmassnahmen

der Gemeinden und dem AFM, so dass klare Absprachen notwendig seien. Die Schwierigkeiten

beim Informationsaustausch hängen zum Teil auch mit dem Datenschutz zusammen (z.B. bei sen-

siblen Daten der Sozialdienste). Gewünscht wird ein Case Management für fürsorgeabhängige Be-

troffene.31

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41

7 Policy und Umsetzung im Kanton Basel-Stadt

Der Kanton Basel-Stadt zählte Ende 2008 rund 189'000 Einwohnerinnen und Einwohner.32 Der Aus-

länderanteil beträgt 31.9 Prozent und ist somit im nationalen Vergleich nach Genf der zweithöchs-

te. Innerhalb des Kantons variiert dieser Wert stark: Während er in der Gemeinde Riehen 18.6 Pro-

zent beträgt, liegt er im Rosental-Quartier der Stadt Basel bei knapp 54 Prozent. Die türkischen

Staatsangehörigen stellen mit einem Anteil von 11.6 Prozent die grösste Migranten/innengruppe

aus Drittstaaten (Statistisches Amt Basel-Stadt).33

7.1 Integrationspolitik

Der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt hat das Thema Integration bereits in den 90er Jahren als

wichtige kantonale Aufgabe definiert und deshalb in das Regierungsprogramm 1997-2001 aufge-

nommen, um so dem Bedarf an Integrationsmassnahmen und einer koordinierten Politik gerecht zu

werden. Basierend auf dem „Leitbild und Handlungskonzept des Regierungsrates zur Integrations-

politik des Kantons Basel-Stadt“, welches im Jahr 1999 erschien, kam es zu einer Abkehr vom Defizi-

tär- hin zum Potenzialansatz. Am 1. Januar 2008 trat das kantonale Integrationsgesetz in Basel-Stadt

in Kraft.

Das Leitbild, an dem sich die kantonale Integrationspolitik seither ausrichtet, enthält die folgenden

drei Leitideen (Regierungsrat Basel-Stadt 1999):

1. Das Fundament, auf dem die zukünftige Integrationspolitik aufbaut, wird von dem vorhan-

denen Potential, also den Errungenschaften, Erfahrungen, Fähigkeiten und Kompetenzen

der Beteiligten gebildet.

2. Integration wird als gesamtgesellschaftliches und gesamtstädtisches Anliegen verstanden,

d.h. die Gesamtheit aller Gesellschaftsmitglieder – seien sie Einheimische oder Zugezogene

– rückt ins Blickfeld der Beobachtungen und Bemühungen.

3. Die erwünschte Tiefe und Verbindlichkeit erlangt eine Integrationspolitik, wenn ein bewuss-

ter und sorgsamer Umgang mit Differenz garantiert ist. Weder dürfen soziale oder struktu-

rell bedingte Probleme oberflächlich kulturalisiert und ethnisiert noch dürfen geschlechter-

spezifische Aspekte ignoriert oder neutralisiert werden.

Die durchführende Amtsperson hebt hervor, dass es mit dem Gesetz jetzt einen Rahmen gebe, der

festlegt, was unter Integration zu verstehen ist und wer welche Aufgaben hat. Hier würden die öf-

fentlichen Interessen nun erstmals definiert, so dass die genannten Kriterien, die Einhaltung der

Rechtsordnung, Lernen der Landessprache, wirtschaftliche Integration und Teilnahme an Bildung

gegenüber den privaten Interessen abgewogen werden können. Diese Kriterien werden bei der Be-

urteilung der Angemessenheit einer Massnahme berücksichtigt. Liegen z.B. Verlust- und Betrei-

bungsscheine vor, so wird ein wirtschaftliches Integrationsdefizit identifiziert, und wenn jemand

32

Die trinationale Agglomeration von Basel-Stadt hingegen zählt rund 730'000 Personen. 33

Die Personengruppe aus dem ehemaligen Jugoslawien macht einen Anteil von über 15 Prozent aus und ist im Ge-

samtvergleich aller ausländischen Bevölkerungsgruppen die zweitgrösste. Dieser Prozentsatz teilt sich jedoch in acht

verschiedene Staatsangehörigkeiten auf: Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Maze-

donien, und Kosovo.

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behauptet, er könne nicht lernen, dann sei einfach der Wille nicht da, sich zu integrieren; die Ange-

bote seien so niederschwellig, dass man eine Ablehnung so interpretieren müsse. Man sei zwar frü-

her schon ähnlich verfahren, aber die Lage sei jetzt klar definiert. Eine durchführende Amtsperson

skizzierte Integration als komplexes Geschehen und meinte, dass sehr viel dazu gehöre, ob sich je-

mand integriert und respektiert fühle. Dazu gehöre beispielsweise, engagiert zu sein, zu wissen, wo

es was gibt usw.; es bedeute, sich an die gültigen Normen zu halten, also bei der Schulpflicht auch

Schwimmen, Turnen, Lager, das Schulprogramm mitzumachen oder die Gleichberechtigung von

Mann und Frau zu berücksichtigen.

Dass mit einem sehr breiten, komplexen, vielleicht auch uneinheitlichen und daher inhaltlich wohl

wenig konturierten Begriff der Integration operiert wird, zeigt sich bei den Betroffenen eher als

Problem: Den Betroffenen fällt es schwer, den Begriff der Integration und die damit einhergehende

Zielsetzung zu formulieren. Das zeigt sich u. a. auch darin, dass die Betroffenen die Zielsetzung der

IntV nur sehr unklar benennen können. Zum einen dürfte dies mit sprachlichen Verständigungs-

schwierigkeiten im Interviewgespräch zusammenhängen (ungenügende Deutschkenntnisse). Zum

anderen aber zeigt sich in den Aussagen der Betroffenen, dass der Begriff der Integration in öffent-

lich-politischen und behördlichen Äusserungen auf abstrakte und inhaltlich nur ungenügend präzi-

sierte Weise verwendet wird. Integration bedeutet unter anderem, zu arbeiten oder nicht kriminell

zu sein. Unter Integration wird auch verstanden, nicht von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Integra-

tion bedeute ferner, dass man eine Sprache lerne. Ausländer sollten unbedingt einen Deutschkurs

besuchen. Es sei gut, wenn man zum Arzt gehe oder zur Polizei und man keinen Übersetzer brau-

che. Für die Integration sei die Sprache sehr wichtig. Auch müsse man wissen, wie das Land „funkti-

oniert“. Weiter fällt auf, dass das Integrationsverständnis von den interviewten Betroffenen in ers-

ter Linie durch Integrationsdefizite und die damit verbundenen Probleme definiert wird.

7.2 Integrationsvereinbarungen

Die gesetzliche Grundlage für die IntV bildet im Kanton Basel-Stadt das „Gesetz über die Integration

der Migrationsbevölkerung (Integrationsgesetz)“ vom 18. April 2007. Es in der dazugehörigen Integ-

rationsverordnung vom 18. Dezember 2007 konkretisiert. § 5 Abs. 2 des Integrationsgesetzes ist für

die IntV relevant: „Die Erteilung und die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung kann zur Errei-

chung der Integrationsziele mit der Auflage verbunden werden, dass ein Sprach- oder Integrations-

kurs mit ernsthaftem Engagement absolviert wird. Dies gilt auch für Bewilligungsverfahren im Rah-

men des Familiennachzuges. Die Einzelheiten zum Kursbesuch werden in einer Integrationsverein-

barung festgehalten.“34 Zu beachten ist, dass im Gegensatz zum AuG nicht der Terminus Bedingung

benutzt wird, sondern von einer Auflage gesprochen wird.

Die Integrationsverordnung führt in § 7 näher aus, mit welchen Migranten/innen IntV abgeschlos-

sen werden können und welche Massnahmen in der IntV festgehalten werden können. Eine durch-

führende Amtsperson machte deutlich, dass IntV als eine letzte Chance gelten, im Einvernehmen

eine Lösung zu finden.

Bei den Betroffenen wird diese duale Strategie eines „einvernehmlichen Drucks“ ambivalent aufge-

fasst. Zum Teil sehen sie Integrationsmassnahmen als Hilfe für Ausländer und als gute Idee, zum Teil

34

§5 Abs 2 Integrationsgesetz.

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43

aber auch negativ als Erhöhung des Drucks, was gemäss den Betroffenen zu einer (weiteren) Zuspit-

zung der persönlichen Situation beitrage.

In den Fällen, in denen eine IntV abgeschlossen wird, werden die festgestellten Integrationsdefizite

von der kantonalen Behörde als so schwerwiegend betrachtet, dass die Verlängerung der Aufent-

haltsbewilligung oder die Änderung des Aufenthaltstatus an die Einhaltung der formulierten Ziele

(Massnahmen) gekoppelt wird. Dabei ist die IntV keine Verfügung, sondern eine Auflage zur Ertei-

lung der Bewilligung – die wiederum im juristischen Sinne eine Verfügung darstellt. Dabei wird be-

tont, dass die Nichterfüllung einer Massnahme für sich alleine nie ein Grund zur Wegweisung wäre.

Es müsse noch ein Widerrufungsgrund wie Schulden, Sozialhilfe oder Straffälligkeit dazu kommen.

Bevor eine Wegweisung verfügt werden könne, müsse ohnedies zunächst eine Verwarnung ausge-

sprochen werden; danach könne ein rechtliches Gehör erfolgen und dann die Wegweisung. An an-

derer Stelle im Gespräch erwähnte die Amtsperson, dass es sich bei der IntV juristisch um eine

„verbindliche Vereinbarung“ handle.

7.2.1 Zielsetzungen und Zweck

Auf konzeptioneller Ebene sind konkrete Ausführungen zur Durchführung des Pilotprojekts zu fin-

den. Als Ziel wird in der Projektbeschreibung zum „Pilotprojekt zur Einführung der Integrationsver-

einbarung in Basel-Stadt“ (Integration Basel 2008a) vom Februar 2008 genannt, dass mit den indivi-

duell angepassten Fördermassnahmen eine rasche Integration ermöglicht und bestehende Schwie-

rigkeiten mit unterstützenden Massnahmen aufgefangen und behoben werden sollen. Das heisst,

dass die Erreichung der in IntV festgelegten Ziele eine gezielte individuelle Verbesserung der Chan-

cengleichheit zur Folge haben soll. Diese Zielsetzungen werden von den Betroffenen aber meist

nicht so verstanden; was mit den Massnahmen beabsichtigt wird, bleibt unklar. Eine Betroffene

meinte, dass es darum gehe, Druck auszuüben. Sie sei jedoch krank und habe keinen Partner, der

sie finanziell unterstützen könne. Folglich habe sie etliche Probleme. Den Betroffenen scheint ins-

gesamt nicht klar zu sein, weshalb sie zur IntV eingeladen/aufgeboten wurden. Sie vergleichen sich

zum Teil mit Freunden und Bekannten, die in einer ähnlichen Situation sind, jedoch keine IntV ab-

schliessen mussten oder über einen besseren Aufenthaltsstatus (Bewilligung) verfügen. Sie schei-

nen die behördliche Festlegung des Aufenthaltsstatus nicht nachvollziehen zu können. In dieser

Hinsicht gibt es offenbar Missverständnisse oder Informationsdefizite, die frustrieren und einer Mo-

tivierung der Betroffenen eher abträglich sind.

Eine andere durchführende Amtsperson meinte, es gehe um die reelle Umsetzung des Prinzips

„Fördern und Fordern“ und um die Klärung der Frage, was das Instrument IntV diesbezüglich leiste.

Die IntV soll aber nur dann zum Zuge kommen, wenn die internen Sanktionsmöglichkeiten der Sozi-

alhilfe, der Arbeitslosenkasse oder der Schulen nicht mehr „fruchten würden“. Jedoch wird von be-

hördlicher Seite immer wieder hervorgehoben, dass es sich bei der IntV um kein Masseninstrument

handle, sondern um eines, das im ausgewählten Einzelfall sinnvoll sei. Und dort sei es effizient. wo-

bei die Effizienz jedoch nicht weiter erläutert und begründet wird. Das Pilotprojekt der IntV soll

„sorgfältig, individuell und zielgerichtet“ in den kantonalen Regelstrukturen angewendet werden

(Integration Basel 2008a) und die bisherigen Angebote und Instrumente der Integrationsförderung

ergänzen. Konkret bedeutet das, dass die bis anhin angewendeten ausländerrechtlichen Auflagen,

mit denen Migrantinnen und Migranten mit erheblichen Integrationsdefiziten zu Kursbesuchen o-

der anderen Massnahmen verpflichtet werden konnten, durch die IntV spezifiziert werden und so

deren Fördercharakter stärker betont werden soll (Integration Basel 2008b). Die IntV gilt also als

Integrations- und Motivationshilfe für Personen, die es bis anhin nicht geschafft haben, sich zu in-

tegrieren – was, wie erwähnt, von den Betroffenen so nicht wahrgenommen wird. Sie sollen durch

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klares Aufzeigen der Konsequenzen und „mit ein wenig sanftem Druck“ dazu gebracht werden,

schneller zu handeln.35 Das fristgerechte Erreichen oder Nichterreichen der in der IntV vermerkten

Ziele kann beim Entscheid über die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung oder die Erteilung der

Niederlassungsbewilligung berücksichtigt werden. Die betroffenen Personen müssen demnach bei

Nichterfüllung der vereinbarten Ziele mit rechtlichen Konsequenzen rechnen, die vom Migration-

samt überprüft und allenfalls angeordnet werden (Integration Basel 2008a).

7.2.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien

Im Kanton Basel-Stadt werden IntV grundsätzlich nur mit bereits länger anwesenden volljährigen

Personen aus Drittstaaten abgeschlossen, die aufgrund von Integrationsdefiziten „auf irgendeine

Art negativ auffallen“.36 Neu zugezogene Personen werden nicht einbezogen, da man in Basel-Stadt

der Ansicht ist, dass nicht jeder von vornherein Hilfe bei seiner Integration braucht. Neuzuziehende,

die aus einem nicht-deutschsprachigen Land kommen, werden mit einem persönlichen Brief dazu

eingeladen, Sprachkurse zu besuchen. So will man die neu zugezogenen Personen von Anfang an

ansprechen, sie motivieren und ihnen dadurch die Chance geben, sich aus eigenem Antrieb zu in-

tegrieren. Laut der Fachstelle Integration Basel würde man so „riesige Erfolge“ erzielen.37 Woran

das gemessen wird und worin diese Erfolge bestehen, wird allerdings nicht deutlich.

Gemäss Fachstelle könnte man sich auch vorstellen, mit Angehörigen aus EU-/EFTA-Staaten IntV

abzuschliessen. Zu Beginn der Pilotphase habe man das testweise auch angedacht. Seit die Verein-

barungen nur noch vom Migrationsamt durchgeführt werden, wurde davon allerdings definitiv ab-

gesehen.38 Mit den religiösen Betreuungspersonen werden ebenfalls Vereinbarungen abgeschlos-

sen.

Es stellt sich die Frage, aufgrund welcher Kriterien IntV abgeschlossen werden und was „auf irgend-

eine Art negativ auffallen“ bedeutet. Laut § 7 Abs. 1 Integrationsverordnung kann das Sicherheits-

departement mit einem Migranten oder einer Migrantin eine IntV abschliessen, falls er/sie

a) nicht in der Lage ist, für sich oder ihre bzw. seine Angehörige selbständig in den Angelegen-

heiten des täglichen Lebens zu handeln,

b) Integrationsdefizite aufweist oder

c) spezifischer Fördermassnahmen bedarf.

Konkret gelten als Integrationsdefizite mangelhafte Sprachkenntnisse oder Analphabetismus, sozia-

le Isolation, das Nichtrespektieren der schweizerischen Rechtsordnung sowie der Grundwerte, der

gesetzlichen Pflichten (Gesetzesübertretungen, Gewalttätigkeit, Schulden), keine Erwerbstätigkeit,

Sozialhilfebezug, Nichtwahrnehmen der Erziehungspflicht zum Nachteil des Kindeswohles (Vernach-

lässigung der Obhut, mangelnde Gesundheitsvorsorge, Nichterscheinen von Eltern an Elternaben-

den trotz Aufforderung) sowie das Nichtwahrnehmen des Schutzes und der Förderung von Jugend-

lichen. Gemäss Projektbeschreibung sollen die IntV vor allem dann angewendet werden, wenn eine

Person in mehreren Bereichen erhebliche Integrationsdefizite aufweist (Integration Basel 2008a).

35

Interview BS. 36

Interview BS. 37

Interview BS. 38

Interview BS.

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45

Dabei wird laut der interviewten Amtsperson kein systematisches Screening derjenigen durchge-

führt, die bisher durch die Netze gefallen sind, sondern es werden eher unsystematisch diejenigen

herausgegriffen, die „an die Oberfläche gespült“ wurden. In diesen Einzelfällen sei das Instrument

IntV effizient, und es sei auch klar für solche Fälle ausgelegt. Dabei handle es sich aber nicht um

Kriminelle, die die Schweiz verlassen müssen. Die meisten, die unter die definierten Kriterien fallen,

kämen vom Balkan und aus der Türkei. Eine andere durchführende Amtsperson bemerkte, dass die

Zielgruppe vor allem Personen vor der Pensionierung und solche mit gesundheitlichen Problemen

umfasst, und dass man dann gemeinsam mit der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenhilfe prüft, ob

noch sinnvolle Schritte möglich wären.

Eine interviewte Person aus der Sozialhilfe Basel-Stadt meinte dazu, dass es keine Absprachen be-

züglich der Betroffenen gebe, da sie aufgrund des Datenschutzes gar nicht möglich seien. In der Re-

gel würden aber Deutschkurse finanziert, wenn das im Rahmen der Sozialhilfe vertretbar sei.39

In die statistische Auswertung wurden für Basel Stadt 41 IntV einbezogen.40. Sie machen einen An-

teil von 17 Prozent an allen kantonsübergreifend erhobenen Fällen aus. Die Hauptgruppen der Be-

troffenen bilden türkische Staatsangehörige mit 37.5 Prozent, gefolgt von Asiatinnen und Asiaten

mit 17.5 Prozent und Personen aus Serbien/Montenegro mit 12.5 Prozent. Auch in der offiziellen

Statistik des statistischen Amts sind türkische Staatsangehörige als stärkste Gruppe aus Drittstaaten

vertreten. Dabei sind etwas über 60 Prozent der gesamten Basler Stichprobe weiblichen Ge-

schlechts. Entsprechend der definierten Zielgruppe sind 25 Prozent in der Altersgruppe der 46- bis

58-Jährigen und je ein weiteres Viertel in der Gruppe der 41- bis 45-Jährigen sowie der 36- bis 40-

Jährigen. Die Betroffenen sind im Durchschnitt also deutlich älter als die der anderen Kantone. Da-

bei liegt auch der Anteil der Geschiedenen in Basel mit 17.5 Prozent im Vergleich zu den anderen

Kantonen mit Abstand am höchsten. Auch das dürfte ein Merkmal der Zielgruppe sein. Das Bil-

dungsniveau ist eher niedrig: mit über 25 Prozent bringen die Betroffenen nur bis zu vier Jahre

Schulbildung und 41 Prozent bis zu sieben Jahre Schulbildung mit. Auch die Verteilung des Einreise-

zeitpunkts in die Schweiz spiegelt die Charakteristika dieser Stichprobe wieder: die meisten Betrof-

fenen reisten Anfang bis Mitte der 90er Jahre ein. Beim Aufenthaltsstatus überwiegen B-

Bewilligungen mit 80 Prozent; 14 Prozent (5 Personen) haben eine C-Bewilligung und je eine Person

eine F und eine L-Bewilligung. Zu den Einreisegründen liegen Daten von 36 Personen vor; 21 von

ihnen sind im Familiennachzug eingereist, 3 ursprünglich aus Asylgründen und 2 Personen als religi-

öse Betreuungspersonen. Nur etwa 50 Prozent der Stichprobe sind erwerbstätig und etwas über 70

Prozent geben an, Erziehungsarbeit zu leisten. Das ist im Vergleich zu den anderen Kantonen der

höchste Wert. Als Gründe für Massnahmen werden in Basel-Stadt entsprechend der Ausrichtung

auf Betroffene mit mehrfachen sozialen Belastungen bei knapp 70 Prozent mehrere Gründe für ei-

ne Massnahme genannt. Bei knapp 60 Prozent waren mangelnde Deutschkenntnisse einer der

Gründe, bei 17 Prozent Analphabetismus, bei 70 Prozent (ausserdem) Sozialhilfebezug. Ca. 35 Pro-

zent der Betroffenen weisen Schulden auf. Andere Gründe, wie Straffälligkeit oder fehlende Kennt-

nisse der Institutionen, sind eher selten.

Die Stichprobe der 9 interviewten Betroffenen entspricht weitestgehend den erhobenen statisti-

schen Daten zur IntV Kanton Basel-Stadt.

39

Interview BS, Sozialhilfe. 40

Insgesamt hatte Basel im Erhebungszeitraum 71 IntV abgeschlossen. Davon wurden aber nur 41 in die Analyse ein-

bezogen, da nur zu ihnen ausreichende Informationen zur Verfügung standen.

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46

Von den Beratungsstellen wird kritisch angemerkt, dass es bedenklich sei, Personen von Schulen für

eine IntV melden zu lassen, da ein solches „Denunzieren“ von rassistischen Motiven geleitet sein

könne.41

7.2.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente)

Laut Integrationsverordnung § 7 Abs. 2 können die in der IntV festzuhaltenden Ziele umfassen:

a) den Erwerb von Kenntnissen der deutschen Sprache: Alphabetisierung, Niveau A1, A2 oder

B1 gemäss Europäischem Referenzrahmen; nachzuweisen durch Vorlegen einer Bestätigung

eines mit ernsthaftem Engagement absolvierten Kurses und/oder eines Zertifikats über die

Absolvierung eines anerkannten Sprachkurses mit bestandener Prüfung innert festgelegter

Frist und/oder

b) den Erwerb von Kenntnissen über die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Lebens-

bedingungen, über die Bedingungen und Möglichkeiten zur beruflichen Integration, über

Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, über die rechtsstaatliche Ordnung und über

den politischen Aufbau der Schweiz; nachzuweisen durch Vorlegen einer Bestätigung eines

mit ernsthaftem Engagement absolvierten Kurses und/oder eines Zertifikats über die Absol-

vierung eines anerkannten Integrationskurses mit bestandener Prüfung innert festgelegter

Frist.

Eine durchführende Amtsperson meinte, wenn bei einer Person konkret ein Defizit sichtbar würde,

stelle man Überlegungen an, welche Massnahmen geeignet wären, es zu beheben. Die am häufigs-

ten verordnete Massnahme seien Deutschkurse, da davon die Vermittlungsfähigkeit auf dem Ar-

beitsmarkt abhänge. Zudem würde damit auch die soziale Integration gefördert. Daneben wurden

noch Integrationskurse und Rückkehrberatung erwähnt. Letztere wird von den Betroffenen, bei de-

nen diese Massnahme angesetzt wurde, negativ beurteilt: Sie erleben Rückkehrberatung als Sankti-

on und Drohung, als „Abschiebungsversuch“, der viel Angst und Druck hervorruft. Die Anzahl der

verordneten Massnahmen ist – auch im Vergleich zu den anderen Pilotkantonen – eher gering. Nur

knapp die Hälfte der Fälle erhielt mehrere Massnahmen, wobei die Typen von Massnahmen in Ba-

sel-Stadt am vielfältigsten sind. Deutschkurse allein werden mit ca. 30 Prozent der Betroffenen ver-

einbart, während knapp 20 Prozent eine Kombination von Sprach- und Integrationskursen auferlegt

wurde. Ebenso viele müssen einen Deutschkurs in Kombination mit Beratung besuchen und weitere

knapp 30 Prozent müssen Beratung in Kombination mit anderen Massnahmen in Anspruch neh-

men. Öfters handle es sich um Kombinationen von „Deutschkurs und Schuldenberatung“ oder

„Deutschkurs und Arbeitsintegrationsmassnahme“. Die Verpflichtung zur Stellensuche wird zuwei-

len in die IntV aufgenommen, obwohl dafür eigentlich die gesetzliche Grundlage fehlt. Spezifische

Massnahmen im Zusammenhang mit gewalttätigen Partnern will die kantonale Behörde ausbauen,

solche Fälle seien bisher jedoch noch nicht aufgetreten.

Die Betroffenen bestätigen im Interview, dass im Rahmen der IntV mehrheitlich der Besuch eines

Deutschkurses vereinbart wurde. Häufig werden (zusätzlich) auch weitere Vereinbarungsziele wie

„keine Neuverschuldung“, „Schulden abzahlen“, „bestimmte Beratungsstellen aufsuchen“, „Ar-

beitsbemühungen“ oder „Bewerbungen schreiben und vorweisen“, „sich von der Sozialhilfe lösen“,

„Betreibungen erledigen“ usw. vereinbart. Aus den Betroffeneninterviews wird deutlich, dass die

41

Interview BS, Beratungsstelle.

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Massnahmen und ihr Anlass mehrheitlich verstanden werden. So finden sich Äusserungen wie die,

es sei normal dass man bei Problemen vor die Behörden müsse, oder man werde mit der IntV dazu

gebracht, Probleme anzugehen. Die Betroffenen empfinden aber auch, dass die anberaumten

Massnahmen einen Druck produzieren; sie werden für anspruchvoll gehalten und als zusätzliche

Belastung erlebt.

Die interviewten Personen von Beratungsstellen und Anbieter von Sprachkursen erklärten, dass

Teilnehmende mit IntV etwas mehr Betreuung in den Kursen brauchten. Insbesondere bei Teilneh-

menden mit Mehrfachbelastungen seien auch sozialarbeiterische Fähigkeiten von Vorteil. Zum Teil

warteten Betroffene nach Abschluss der IntV lange mit der Kursanmeldung, manchmal auch zu lan-

ge. Sie wollten dann gerne die Kursleitung „beauftragen“, diese Frage mit dem Migrationsamt aus-

zuhandeln, was diese aber in der Regel ablehne. Ebenso erachten diese Befragten es als wenig sinn-

voll, ältere, psychisch kranke oder teilweise arbeitsunfähige Menschen zum Deutschlernen zu ver-

pflichten42. Als Problem wurden die zum Teil unrealistischen Erwartungen des Migrationsamtes be-

züglich des zu erreichenden Sprachniveaus betrachtet Sie seien bei Schichtarbeit, Analphabetismus

oder Lernschwierigkeiten nicht oder kaum zu erfüllen. Oftmals seien die Kursteilnehmer sehr moti-

viert, aber ihr Lernzuwachs nur sehr gering. Die Sprachschulen fordern deshalb, dass die Festlegung

des zu erreichenden Sprachprofils in ihren Zuständigkeitsbereich fallen soll, da dafür fachliche

Kompetenz notwendig ist – zumal die Nichterfüllung der IntV mit Sanktionen verbunden sei, die sie

mitzuverantworten hätten. Dafür sei aber ein engerer Informationsaustausch zwischen Migration-

samt und Sprachschulen oder Beratungsstellen nötig. Ferner wurden von den Beratungsstellen aus-

führliche Berichte gewünscht, damit die Bemühungen der Betroffenen, z.B. auch bezüglich Schul-

denverminderung, sichtbar gemacht werden können.43

Kursangebot

Da im Kanton Basel-Stadt die Liste der zu bearbeitenden Integrationsdefizite umfangreich ist und

sie die unterschiedlichsten Aspekte des Lebens betreffen, spiegelt sich das auch im Kursangebot

wieder. Neben einer grossen Anzahl von Sprach-, Integrations- und Alphabetisierungskursen gibt es

auch Angebote im Bereich der Schuldenberatung, Berufsberatung, Berufsbildungskurse, Beratung

für Eltern und Jugendliche, Erziehungshilfen oder psychosoziale Begleitung (Integration Basel

2008a). Die bekanntesten und grössten Kursanbieter sind GGG, ECAP und K5, es gibt jedoch im Kan-

ton zahlreiche weitere Anbieter.

Mit dem Kanton Basel-Landschaft zusammen unterhält Basel-Stadt eine Internet-Datenbank, über

die man an die verschiedensten Kursanbieter in den unterschiedlichen Bereichen weitergeleitet

wird (www.integration-bsbl.ch). Auch auf der Homepage von Integration Basel (www.welcome-to-

basel.bs.ch) sind zahlreiche Links und Listen zu finden, auf denen viele der Kursangebote aufgelistet

sind.

Kurskosten

§ 6 Abs. 2 Integrationsgesetz sieht vor, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer von staatlich geförder-

ten Sprach- und Integrationskursen unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse an-

gemessen an den Kurskosten beteiligen. Falls jemand sozialhilfeabhängig ist, übernimmt die Sozial-

42

Interview BS, Sprachschulen und Beratungsstellen. 43

Interview BS, Sprachschulen.

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hilfe die anfallenden Kosten, bei Arbeitslosen kommt die Arbeitslosenkasse dafür auf. Die Kosten

werden laut Integration Basel im Verhältnis zum Lohn festgelegt, und ihre Zumutbarkeit wird von

den Sprachschulen geprüft.44 Ein standardisiertes Verfahren liegt jedoch nicht vor. Die Finanzierung

der Deutschkurse wird von den Betroffenen nicht sehr häufig als Problem genannt, weil viele Sozi-

alhilfe erhalten. Müssen sie die Kurse jedoch selbst bezahlt werden, so verursachen die Kosten we-

gen knapper Budgets und bestehender finanzieller (familiärer) Verpflichtungen eine grosse Belas-

tung.

7.2.4 Behördenarrangement und Setting

Die Federführung des Pilotprojekts zur Einführung der IntV liegt bei der Fachstelle Integration Basel,

die im Präsidialdepartement angesiedelt ist. Sie arbeitet eng mit dem Migrationsamt zusammen,

das zur Sicherheitsdirektion gehört, um diese Kooperation „im Sinne der Gesamtsache zu optimie-

ren“.45 Die Aufgaben und Kompetenzen des Migrationsamts umfassen laut Projektbeschreibung die

Beurteilung des ganzheitlichen Integrationsgrades, das Gespräch mit den Betroffenen, die Einho-

lung einer Empfehlung einer externen Beratungsstelle, den Abschluss der IntV, die administrative

Umsetzung der IntV, die Massnahmen bei der Nichteinhaltung der IntV gemäss den rechtlichen

Grundlagen sowie die Verantwortung für die Zufriedenheit der Adressaten/innen (Integration Basel

2008a).

Die vom Migrationsamt aufgrund der Kriterien ausgewählten Personen erhalten ein Schreiben, das

im Betreff mit „Vorladung“ (IntV nach Art. 54 Abs.1 AuG) tituliert ist. Das Schreiben ist übersichtlich

gegliedert und führt die Punkte Grund, Ort, Datum, Zeit und Bemerkungen auf. Es wird rasch klar,

dass es um die „Vereinbarung von Integrationszielen“ geht und der Grund für die Vorladung in In-

tegrationsdefiziten liegt. Bei den Bemerkungen wird angegeben, dass das Gespräch durch das „Jus-

tiz- und Sicherheitsdepartement BS“ durchgeführt wird. Ferner werden die Betroffenen aufgefor-

dert, für einen Übersetzer zu sorgen, falls sie selbst sich auf Deutsch nicht ausreichend verständigen

können. In der letzten Zeile findet sich noch der Vermerk, dass „ausländerrechtliche Massnahmen“

vorbehalten bleiben, falls der Vorladung nicht Folge geleistet wird.

Bei den Betroffenen scheint die Vorladung zur IntV jedoch grosse Unklarheiten hervorzurufen. Ih-

nen ist häufig nicht deutlich, um was es geht oder was sie sich zuschulden haben kommen lassen.

Daher befürchten sie, dass ihr Aufenthaltsstatus gefährdet ist, und sind stark verunsichert – insbe-

sondere wenn sie bereits schwierige oder nicht nachvollziehbare Behördenkontakte im Rahmen

von Bewilligungsverlängerung hatten. Im Vorfeld oder auch noch zu Beginn des IntV-Gesprächs hat-

ten diese Betroffenen Angst und fühlten sich unter Druck gesetzt – wegen der Polizei, wie sie mein-

ten. Besonders beängstigend war für manche die unerträgliche Vorstellung, in ihr Heimatland zu-

rückkehren zu müssen. In den Interviews fanden es einige Betroffene grundsätzlich gut, Deutsch zu

lernen, und betonten, dass sie nicht gegen die IntV seien. Die Frist von wenigen Monaten sei jedoch

viel zu kurz und mache sie nervös.

Dass die IntV einen hohen Druck verursachen kann, zeigen auch Aussagen von Betroffenen, die sich

von der Sozialhilfe abgelöst haben (um nicht ausgewiesen zu werden). In manchen Fällen wurde

dadurch ihr familiäres, verwandtschaftliches oder privates Netzwerk nachhaltig belastet. So führt es

bei Angehörigen oder Freunden zu grossen ökonomischen Belastungen, wenn sie den Betroffenen

„informell“ helfen, um den Wegfall der Sozialhilfe zu kompensieren. Manchmal werden Kinder, die

44

Interview BS. 45

Interview BS.

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bisher bei den Eltern wohnten und von ihnen unterstützt wurden an die Sozialhilfe „delegiert“, weil

die Eltern selbst davon wegkommen wollen. Die Sozialhilfeabhängigkeit wird also an die Kinder

„vererbt“.

Der mit der IntV ausgelöste Druck bleibt bei den Betroffenen häufig auch nach dem ersten Ge-

spräch auf dem Amt bestehen, falls die Bewilligungsverlängerung an Massnahmen oder an (von den

Betroffenen so verstandene) konkret eingeforderte Veränderungen geknüpft wird.

Die Auswertung der qualitativen Gesprächsprotokolle zeigte, dass drei Viertel der Betroffenen die

IntV als Bestrafung/Drohgebärde wahrnehmen und nur ein Viertel als Unterstützung.

Wie bereits erwähnt, werden in Kanton Basel-Stadt die Betroffenen schriftlich gebeten, eine Person

ihres Vertrauens zum Gespräch mitzubringen, sofern sie sich auf Deutsch nicht ausreichend ver-

ständigen können. Vom Amt aus wird keine professionelle Übersetzung zur Verfügung gestellt. Als

Begründung werden einerseits die Kosten und andererseits die zeitliche Verzögerung und Verkom-

plizierung des Verfahrens angegeben. Oft dolmetschen Familienangehörige oder befreundete Per-

sonen, die selbst nicht immer ausreichende Deutschkenntnisse besitzen. Diese Praxis ist laut dem

Migrationsamt bisher jedoch nie zu einem Problem geworden. Dem widersprechen Aussagen der

Betroffenen. Zwar bringen sie in der überwiegenden Anzahl der Fälle einen Bekannten oder Ange-

hörigen zum Amtsgespräch mit, der sich auf Deutsch verständigen kann. Trotzdem verstehen 2/3

der Betroffenen das Gespräch nur mehr oder weniger, ein Drittel sogar eher nicht.46 Nach dem Ge-

spräch scheinen bei den meisten Betroffenen weiterhin Unklarheiten zu bestehen.

Bei einigen der beobachteten Gespräche waren Kinder anwesend. Ihnen wurden keine altersadä-

quaten Spiel- oder Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten, so dass sie manchmal während des

Gesprächs von ihren Bezugspersonen betreut werden mussten. Das dürfte sich auf die Verständi-

gung und auf die Konzentration eher negativ auswirken.

Obwohl aufgrund der Aufteilung der Aufgaben zwischen Integration Basel und dem Migrationsamt

gewisse Unklarheiten bezüglich der Zuständigkeiten bestehen – zumal eine Mitarbeiterin von Integ-

ration Basel an einigen IntV beteiligt war – ist doch deutlich, dass die IntV ein Instrument des Migra-

tionsamts ist, während sich Integration Basel in der Pilotphase nur konzeptionell mit der IntV be-

schäftigt hat. Da im Migrationsamt verschiedene Personen für den Abschluss von IntV zuständig

sind, ist innerhalb des Amtes eine Unité de Doctrine erforderlich, damit eine Gleichbehandlung der

Betroffenen gewährleistet werden kann.

Das Migrationsamt schliesst nicht nur mit Personen IntV ab, die von einer anderen Amtsstelle ge-

meldet wurden, sondern kann auch aufgrund von Akteneinträgen bei Straftaten oder Sozialhilfeab-

hängigkeit direkt mit den betroffenen Personen Vereinbarungen abschliessen.47

7.2.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung, Controlling, Sanktionen)

Die Projektbeschreibung enthält eine detaillierte Darstellung des gesamten Prozessablaufs. Das

Migrationsamt hat Formulare für die Meldung der Fälle und Empfehlungen für die Erstellung einer

IntV ausgearbeitet. Auch eine Muster-IntV ist in der Projektbeschreibung enthalten.

46

Auswertung der qualitativen Gesprächsprotokolle. 47

Interview BS.

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50

Indikationsstellung IntV

Nachdem das operative Geschäft zunächst bei Integration Basel angesiedelt war, führt nun das Mig-

rationsamt die IntV durch. Dort wird aufgrund der Akten entschieden, wer für eine IntV aufgeboten

werden soll. Zum Teil hat das Migrationsamt in den Akten gewisse Meldungen (z.B. über Kriminali-

tät, extreme Schulden usw.) festgehalten; manchmal teilt eine andere Amtsstelle mit, dass ihre ei-

genen Massnahmen nicht greifen. Weitere Hinweise auf Integrationsdefizite von Personen liefern

die Polizeirapporte, etwa dann, wenn eine vernommene Person sich nicht verständigen konnte.

Betroffene beklagen, dass sich mit Einführung der IntV die „Aufenthaltskonditionen“ in der Schweiz

plötzlich verändert hätten. Jetzt werde unvermittelt gefordert. Zudem monieren Betroffene, dass

sie mit der IntV für Sachverhalte verantwortlich gemacht werden, deren Folgen sie (damals) jedoch

nicht abschätzen konnten. Dass mit einem Sozialhilfebezug das Risiko entsteht, mit einer IntV kon-

frontiert zu werden, sei damals nicht klar und auch nicht zu erwarten gewesen. Die IntV werden

daher von einigen als „Veränderung der Spielregeln“ erlebt.

Die Beratungsstellen und Sprachschulen nehmen deutlich wahr, dass die Personen, die wegen einer

IntV zu ihnen kommen, unter Druck stehen, und stellen sogar Panik- und Angstzustände fest. Den

Druck halten sie mehrheitlich für kontraproduktiv. Wenn Betroffene aufgrund von Druck oder Be-

drohung zu ihnen kämen, stünde der Kurs auf „wackligen Füssen“.48 Auch seien die Ziele bezüglich

des zu erreichenden Sprachprofils manchmal unverhältnismässig hoch gesteckt, wenn sich etwa im

Kurs herausstelle, dass die Betroffene Analphabetin ist. Nur einzelne Befragte halten einen gewis-

sen Druck für angebracht und meinen, dass bei bildungsfernen Personen manchmal Aussagen wie

„Irgendwann kommt die Polizei, wenn Sie nichts lernen “ einen positiven Effekt haben können.

Dann würde jemand sich „dreimal überleg[en], ob man jetzt ein neues Kleid kauft, oder vielleicht in

so einen Kurs geht“.49

Das Migrationsamt versucht, nur dann eine IntV abzuschliessen, wenn es Möglichkeiten für Sankti-

onen gibt. Es prüft aber auch, wie sinnvoll die IntV für die Betroffenen ist. Es wird z.B. dann eine

Massnahme angeordnet, wenn die Schulden noch nicht so hoch sind und ohne eine Schuldenbera-

tung vermutlich grösser würden

7.2.6 Gesprächsführung

Das Gespräch zur IntV wird anhand eines Leitfadens und eines Formulars durchgeführt. Eine weite-

re anwesende Behördenvertreterin erstellt ein Protokoll über das Gespräch. Insgesamt ist die Ge-

sprächsführung eher direktiv. Eine durchführende Amtsperson beschrieb den Ablauf so: Zu Beginn

werden die Personalien aufgenommen. Anschliessend wird kurz zusammengefasst warum die Per-

son da ist, was sie gemacht hat. Dann sagt man ihr, wenn sie so weitermache, könne es sein, dass

die Bewilligung nicht verlängert wird. Danach überlege man, wie die Situation verbessert werden

könne. Man schlage etwas vor und höre, was die Person dazu meint.

Fast alle Betroffenen geben im Interview an, dass in ihrem IntV-Gespräch das Risiko einer Auswei-

sung erwähnt wurde. Die Massnahme wird fast ausschliesslich als verpflichtend erlebt. Die Folgen

einer Nichtbefolgung der IntV würden von der Amtsperson im Gespräch ausgeführt und so auch

von den Betroffenen als Druck wahrgenommen.

Die Auswertung der teilnehmenden Beobachtungen zeigt, dass der Gesprächsstil der durchführen-

den Amtspersonen auf die Erzeugung von Druck ausgerichtet ist und sowohl „anklagend, konfronta-

48

Interview BS, Beratungsstellen. 49

Interview BS, Sprachschulen.

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51

tiv“ als auch „normativ, moralisierend“ wirkt. Das dürfte mit der Ausrichtung auf mehrfach belaste-

te Zielgruppen zusammenhängen. In den Dimensionen „konstruktiv motivierend“, „klärend, infor-

mierend“ sowie bei den Beziehungsaspekten weist der Gesprächsstil im Vergleich zu den anderen

Kantonen sehr tiefe Werte auf, während bei den Kategorien „nachfragend“ und „fixierend“ durch-

schnittliche Werte festgestellt wurden. Diese Art der Gesprächsführung veranlasst die Betroffenen

dazu, vorwiegend Tatsachen zu liefern und ihre Situation zu erklären. Ihre Reaktionen sind vor al-

lem „defensiv ausweichend“, „rechtfertigend“, „konfrontativ verweigernd“ oder „unterstützungs-

suchend appellierend“. Daneben konnten bei den Betroffenen auch passive Verhaltensweisen wie

Abwarten und Hilflosigkeit sowie eine wachsame Haltung ausgemacht werden. Daraus lässt sich

folgern, dass der konfrontative Gesprächsstil bei den Betroffenen eine Verteidigungshaltung aus-

löst.

Zielformulierung und Massnahmenbestimmung

Bei der Diagnose der richtigen Massnahme bemühen sich die Amtspersonen, das Integrationsdefizit

zu erkennen und zu überlegen, wie es behoben werden kann. Die Festlegung der IntV-Massnahmen

wird von den Betroffenen grundsätzlich kritisiert: die persönlich-biographischen Umstände, die zu

„Integrationsproblemen“ führten, würden von den Behörden nicht angemessen berücksichtigt. Die

Betroffenen beklagen, sie würden für kritische und wenig beeinflussbare Lebensereignisse wie

Scheidung oder Erkrankung eines Partners verantwortlich gemacht . Eine Person meinte, es wäre

nie zu einer IntV gekommen, wenn ihr Vater nicht krank geworden wäre; der Sozialhilfebezug habe

alles ins Rollen gebracht, und nun habe sie resigniert. Eine andere Betroffene und ihre Kinder muss-

ten nach der Trennung von ihrem damaligen Lebenspartner ein Jahr lang ohne Bewilligung leben. Er

habe sie sehr unter Druck gesetzt und verlangt, dass sie die Schweiz verlasse. Weitere Personenfin-

den es wichtig, zu fragen, wie die Betroffenen in ihre problematische Situation gekommen seien,

und halten es für einen Fehler, dass das im jetzigen Verfahren ausgeblendet wird.

Um zu bestimmen, welches Sprachprofil (gemäss dem europäischen Sprachenportfolio) erreicht

werden soll, will die Behörde immer die Bildung und die Herkunft der Betroffenen berücksichtigen.

Sie ist jedoch mit der Entscheidung über den zu besuchenden Sprachkurs sehr zurückhaltend und

möchte die Evaluation der Kompetenzen der Schule überlassen, die den Sprachkurs durchführt.

Trotzdem meint eine interviewte Betroffene, dass das für sie (vom Migrationsamt) angesetzte

Deutschniveau A2 zu hoch gewesen sei. Die Sprachschule habe deshalb nachträglich das Migration-

samt kontaktiert, und dann habe sie sich für einen geeigneteren Kurs angemeldet. Auch von Perso-

nen, denen das Lernen sehr schwer fällt, erwartet das Amt zumindest minimale Anstrengungen in

die gewünschte Richtung. Eine Betroffene bestätigte, dass es für sie schwierig sei, Deutsch zu ler-

nen, und berichtete, dass sie von ihrem erster Deutschkurs nur wenig profitiert habe.

Von den Betroffenen wird auch kritisiert, dass die Beratungsstellen oder die Sozialhilfe sie kaum

wirksam unterstützen. Oft hilft ihnen die Beratung nicht weiter, weil sie die Informationen schon

kennen und damit ihr grundsätzliches, strukturelles Problem nicht lösen können, z.B. wenn ihr Ein-

kommen nicht einmal ausreicht, um Arztrechnungen zu bezahlen. Mehrere Betroffene fühlen sich

aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands nicht oder kaum in der Lage, die Massnahme

zu erfüllen und beispielsweise kurzfristig Arbeit zu finden. Manche versuchen es trotz gesundheitli-

cher Probleme,.andere hoffen auf einen positiven IV-Bescheid.

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52

Unklare Rahmenbedingungen

Die Rahmenbedingungen für die Erfüllung der Massnahme scheinen den Betroffenen in zweierlei

Hinsicht unklar zu sein: Erstens ist ihnen nicht deutlich, inwieweit die Verlängerung der Bewilligung

an die Erfüllung gekoppelt ist, d.h. wann welche Sanktionen hinsichtlich des Aufenthalts zu befürch-

ten sind. Wenn Schulden nicht abgezahlt werden können, wird das damit verbundene Risiko jedoch

als hoch eingeschätzt. Zum anderen bleibt offen, in welchem Zeitraum welche Teilmassnahmen zu

erfüllen sind. Auch wenn klar ist, was verlangt wird, z.B. welche Beratungsstellen aufgesucht wer-

den müssen, bleiben die Konsequenzen im Dunkeln.

Controlling

Die Betroffenen müssen dem Migrationsamt innerhalb eines Monats die Anmeldung bei der

Sprachschule zuschicken. Auch der Besuch einer Beratung soll schriftlich nachgewiesen werden; es

bestehen jedoch momentan diesbezüglich gewisse Unklarheiten.

Laut der Fachstelle Integration Basel ist es sehr schwierig, konkrete Aussagen darüber zu machen,

mit welchen Konsequenzen bei der Nichterfüllung der Vereinbarung zu rechnen ist. Die Entschei-

dung darüber, ob eine Bewilligung verlängert wird oder nicht, ist nämlich ebenso wie die Anwen-

dung der IntV ein Kann-Entscheid. Das heisst, es liegt im Ermessen der Behörden, die unterschiedli-

chen Aspekte und Faktoren gegeneinander abzuwägen. Falls jemand die vereinbarten Ziele der IntV

erfüllt, werde das berücksichtigt und könne zu einer Verlängerung der Bewilligung führen. Wenn

jedoch die Vereinbarung nicht erfüllt werde und zusätzlich negative Aspekte wie Arbeitslosigkeit,

Straftaten oder Sozialhilfeabhängigkeit vorliegen, könne das zu einer Nichtverlängerung führen.50

Das Verfahren ist nicht standardisiert und wird individuell-fallbezogen gehandhabt. Unklar bleibt

auch, inwieweit die Bemühungen der Betroffenen auch dann anerkannt werden, wenn sie bei der

Erfüllung der Massnahmen mit grösseren Problemen konfrontiert sind.

Ein Ermessensspielraum besteht auch bei den Kriterien, nach denen eine Vereinbarung als erfüllt

gilt oder nicht. Bei Sprachkursen ist klar, dass die Bestätigung einer Sprachschule über den Kursbe-

such als Nachweis akzeptiert wird. Eine vollständige Schuldentilgung ist dagegen ein nur schwer

oder kaum zu erreichendes Ziel. Hier müssten folglich, so die Schuldenberatungsstelle, längerfristi-

ge Ziele oder stark reduzierte Teilziele definiert werden.

Alle Fälle werden vom Amt in anonymisierter Form erfasst und aufbereitet, um „die Wirkung, Ziel-

erreichung, Nachhaltigkeit und Praktikabilität der im Gesetz definierten Massnahmen zu überprü-

fen“. Vorgesehen ist, dass das Controlling durch das Statistische Amt Basel-Stadt begleitet wird.

Parallel dazu sollen die Angebote der Kursanbieter/innen bei Bedarf angepasst und eine Statistik

zur Nutzung der verschiedenen Angebote erstellt werden (Integration Basel 2008a).

7.2.7 Wirkung

(Antizipierte) Wirkung auf die Betroffenen

Auf die Frage danach, wie die Betroffenen die Gespräche vermutlich wahrnehmen, werden von den

interviewten Amtspersonen unterschiedliche Akzente gesetzt. Eine der durchführenden Amtsper-

sonen meinte: Wenn die IntV als Chance dargestellt wird, kommt das bei den Betroffenen auch so

an. Anfangs ist den Betroffenen manchmal nicht klar geworden, worum es eigentlich ging, aber in-

50

Interview BS.

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53

zwischen ist das kein Problem mehr. Wenn man genau erläutert, was man eigentlich erwartet,

kommen z.T. Emotionen hoch, aber ausfällig ist noch niemand geworden.

Eine andere durchführende Amtsperson sieht die unterschiedlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten

der Betroffenen und deutet sie vor dem Hintergrund der von ihr erlebten Reaktionen Betroffener.

Eine dritte Amtsperson vermutet, dass bei den Betroffenen aufgrund ihrer Machtlosigkeit ein Ge-

fühl der Resignation im Vordergrund stehen dürfte.

Eine Mehrheit der Betroffenen nimmt das Gespräch als „diffuse Drucksituation“ und Androhung

von Sanktionen wahr. Manche beurteilen das Gespräch als eher „hart“. Besonders prekär erscheint

den Betroffenen die Situation deshalb, weil sie die Folgen des Gesprächs und der ihnen auferlegten

Massnahmen nicht abschätzen können und grosse Angst vor einer möglichen Ausweisung haben.

Dabei stellt für sie ihre ursprüngliche Heimat keine Alternative zur Schweiz dar. Der Druck spitzt sich

besonders zu, wenn Bewilligungen nur über einen kurzen Zeitraum von wenigen Monaten ausge-

stellt werden. Eine Betroffene zeigte ein gewisses Verständnis dafür, dass Druck ausgeübt wird, um

z.B. eine übermässige Inanspruchnahme der Sozialhilfe zu verhindern; sie betonte, dass ihr die

Schweiz sehr geholfen habe, ganz anders als ihr Herkunftsland.

Als positiv werten die Betroffenen, dass das persönliche Gespräch mit einer Amtsperson grundsätz-

lich die Möglichkeit bietet, die eigene Situation zu schildern und zu erfahren, was von einen erwar-

tet wird.

In einzelnen Fällen werden die Massnahmen von den Betroffenen als Gewinn betrachtet. Eine Be-

troffene findet, dass die Massnahmen integrationsfördernd seien, zwei weitere, dass man Deutsch

sprechen können müsse, denn ohne Deutsch sei das Leben schwierig. Einschränkend wurde er-

wähnt, dass es eigentlich freiwillig sein sollte, Deutsch zu lernen, da dies motivierender sei.

Wirkung nach innen in Bezug auf die eigene Arbeit, die eigene Stelle

Die Einführung der IntV scheint viel an Kommunikation und Reflexion innerhalb der beteiligten In-

stitutionen und zwischen ihnen mit sich gebracht zu haben. Vor allem scheint der positive Effekt

des persönlichen Gesprächs mit Adressaten deutlich geworden zu sein, so dass solche Gespräche

nicht nur im Zusammenhang mit der IntV eingesetzt, sondern auf andere Kontexte übertragen wer-

den. Dazu kommt ein sogenannter „Propagandaeffekt“: Es spricht sich unter den Betroffenen her-

um, dass der Staat eine ernsthafte Integrationsleistung erwartet.

7.2.8 Aufwand und Nutzen

Angaben über die Höhe der Stellenprozente konnten von Integration Basel für die Pilotphase nicht

gemacht werden, da man die IntV „einfach gemacht hat“.51

7.2.9 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen

Von zentraler Bedeutung sind im Kanton Basel-Stadt die Kompetenzen der verschiedenen Akteure

bei der Identifizierung allfälliger Integrationsdefizite ausländischer Personen. Unterschiedliche

Amtsstellen wie die Sozialhilfe, das Amt für Wirtschaft und Arbeit, die Vormundschaftsbehörde, die

Polizei oder die Schulen haben die Aufgabe, den Integrationsgrad von Personen zu beurteilen und

die in ihrem Kompetenzbereich stehenden Sanktionsmöglichkeiten auszuschöpfen. Erst wenn diese

zu keinem Erfolg führen, können die Amtsstellen dem Migrationsamt den Abschluss einer IntV emp-

51

Interview BS.

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54

fehlen. Dasselbe gilt für die Amtsstellen der beiden Gemeinden Riehen und Bettingen. Erst dann

kann das Migrationsamt die möglichen Fälle näher prüfen (Integration Basel 2008a).

Die Zusammenarbeit mit den anderen Kantonen ist, wie von einer Amtsstelle berichtet wurde,

durch die IntV sehr gut geworden. Sie habe sich bereits vor dem Pilotprojekt anlässlich der gemein-

samen Kampagne und der Migrationszeitung gefestigt und bereite Freude.52 Was die Zusammenar-

beit mit anderen Amtsstellen anbelangt, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Während einer-

seits Datenschutzvorschriften dem Informationsaustausch Grenzen setzen, wird andererseits recht-

lich festgelegt, dass „die mit dem Vollzug dieses Gesetzes betrauten Behörden sich gegenseitig in

der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen“. So sind andere Behörden des Bundes, der Kantone und

der Gemeinden verpflichtet, die für den Vollzug dieses Gesetzes notwendigen Daten und Informati-

onen auf Verlangen der Behörden mitzuteilen. Laut Bundesgerichtspraxis sind ab CHF 80‘000.-- So-

zialhilfe oder bei hoher Verschuldung Massnahmen zu prüfen. In solchen Fällen kontaktiert das

Migrationsamt die Sozialhilfe. Auch wenn z.B. eine Kumulierung von Schulden, Urteilen, Polizeirap-

porten und Sozialhilfebezügen schwere Integrationsdefizite vermuten lässt, wird die Sozialhilfe ge-

fragt, wie die entsprechende Person integriert ist. In diesen Einzelfällen gibt es einen Informations-

austausch unter Einhaltung des Datenschutzes. Die Sozialhilfe Basel-Stadt merkt dagegen an, dass

der Informationsaustausch schwierig sei und keine eigentliche Zusammenarbeit mit dem Migration-

samt bestehe.53

52

Interview BS. 53

Interview BS, Sozialhilfe.

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55

8 Policy und Umsetzung im Kanton Solothurn

Ende 2008 zählte der Kanton Solothurn rund 254'400 Einwohnerinnen und Einwohner. Mit einem

Ausländeranteil von 20 Prozent liegt der Kanton leicht unter dem schweizerischen Durchschnitt

(21.1 Prozent). Der Bezirk Olten zeigt dabei mit knapp 24 Prozent den höchsten, der Bezirk Buch-

eggberg mit 5.4 Prozent den tiefsten Anteil ausländischer Bevölkerung. Die Staatsangehörigen aus

Serbien und Montenegro stellen mit 18.1 Prozent den höchsten Anteil an den Einwanderern aus

Drittstaaten (Amt für Finanzen SO 2008).

8.1 Integrationspolitik

Im April 2005 wurde die Integrationsarbeit im Kanton Solothurn umstrukturiert: Der Bereich Integ-

ration wurde vom Migrationsamt in das Amt für soziale Sicherheit (ASO) verlegt und die Fachstelle

Integration gebildet. Seit Mai 2009 gilt das umfassende Leitbild und Konzept „Integration Migran-

tinnen und Migranten im Kanton Solothurn“ für die beteiligten Dienststellen der kantonalen Ver-

waltung als verbindliche Handlungsanleitung. Das erklärte Ziel der Integrationsarbeit ist dabei „das

friedliche und von gegenseitigem Respekt geprägte Zusammenleben zwischen schweizerischen und

ausländischen Staatsangehörigen. Dieses Zusammenleben zeichnet sich aus durch eine gleichbe-

rechtigte Teilhabe und Mitverantwortung am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben“

(ASO SO 2009). Als rechtliche Grundlage der Integrationsbemühungen dient das Sozialgesetz des

Kantons Solothurn, ein 177 Paragraphen umfassendes Gesetz, welches alle sozialen Leistungsfelder

regelt. Die Integration ist im zweiten Kapitel des vierten Abschnitts in den Paragraphen 120-124

geregelt. Darin wird ihr Ziel und Zweck umschrieben, und es werden klare Richtlinien für die aus-

ländischen und schweizerischen Staatsangehörigen, die Einwohnergemeinden und den Kanton

festgehalten (Regierungsrat Kanton Solothurn 2008).

8.2 Integrationsverständnis

Die Mehrheit der 10 interviewten Betroffenen begreift Integration als eine Anpassungsleistung, die

primär Sprachkenntnisse und das Respektieren von Regeln beinhaltet, aber auch ein Bemühen um

sozialen Kontakt und Austausch. Alle Betroffenen haben das Bedürfnis, sich zu integrieren, in der

Schweiz zu leben. Sie fühlen sich bereits integriert, wenn auch dazu noch ein paar Schritte fehlen.

Eine Mehrheit wünscht, die Sprache zu lernen und sich generell zu bilden, um sich integrieren zu

können. Man möchte lesen, schreiben, verstehen können, um einen Job zu haben oder sich wohl zu

fühlen. Integration bedeutet auch, vom Staat und von Hilfsangeboten unabhängiger zu sein.

8.3 Integrationsvereinbarungen

Nach Aussagen der durchführenden Amtsperson hat der Kanton Solothurn den Abschluss der IntV

seit Beginn des Pilotprojekts systematisch vorangetrieben, sowohl hinsichtlich des Konzepts als

auch der Ressourcen und der konkreten Implementierung. Bis zum Sommer 2009 wurden bereits

125 IntV abgeschlossen. Ziel ist es, jährlich etwa 400 Vereinbarungen abzuschliessen. Der Kanton

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56

Solothurn hat den Abschluss von IntV bereits als Daueraufgabe institutionalisiert. Der Integrations-

delegierte ist für die Umsetzung der IntV verantwortlich, setzt aber selbst nur ca. 10% aller IntV

um.54

8.3.1 Zielsetzungen und Zweck

Im erwähnten Leitbild und Konzept „Integration Migrantinnen und Migranten im Kanton Solothurn“

bildet die IntV einen wichtigen Bestandteil. Unter den Zielsetzungen wird beschrieben, dass man

„die Integrationsvereinbarungen verbindlich und kantonsweit“ einführen will, da bislang eine klar

geregelte Umsetzung fehle. Ebenso wird die personelle Aufstockung transparent gemacht und die

Kostensteigerung aufgezeigt (ASO 2009). Finanziert werden die Massnahmen über den Integrati-

onskredit des Kantons Solothurn.

Die Ziele der IntV werden direkt aus Art. 5 Abs. 3 VIntA55 abgeleitet. Auch wenn dem Erlernen der

deutschen Sprache eine Schlüsselfunktion zukomme, gehe es in erster Linie darum, die wirtschaftli-

che Unabhängigkeit zu erreichen, meinte die durchführende Amtsperson (ASO 2008). Generell ist

die IntV als Motivations- und Integrationshilfe gedacht, um die genannten Ziele zu erreichen. Im

persönlichen Gespräch zwischen der durchführenden Amtsperson und den Betroffenen stehen In-

formation und Beratung – und nicht die fremdenpolizeilichen Belange – an erster Stelle, auch weil

das ASO nicht für die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen zuständig ist.56 Entsprechend äusserte

sich eine durchführende Amtsperson, man könne mit dem neuen Instrument direkt eingreifen und

müsse nicht erst nach zwanzig Jahren feststellen, dass jemand nicht Deutsch spricht. Es werde aber

nicht nur gefordert, sondern man biete auch viele Hilfen an. Die Betroffenen schätzen die IntV als

positiven „amtlichen Support“ und empfinden das Gespräch als hilfreich und motivierend.

Insgesamt wird die IntV als ein Mittel zur Herstellung von Gleichberechtigung erachtet, da z.B. die

Verpflichtung, einen Deutschkurs zu besuchen, bei einer nachgezogenen Ehefrau ein gewisses Be-

wusstsein schafft.57 In der Muster-IntV (ASO 2008) ist vermerkt, dass es sich positiv auf Bewilli-

gungsentscheide auswirken könne, wenn die unterzeichnende Person die vereinbarten Massnah-

men erfüllt und dem ASO des Kantons Solothurn die entsprechende Bestätigung unaufgefordert

weiterleitet. Falls die Vereinbarung nicht eingehalten wird, klärt das ASO die Situation individuell

ab. Wenn jemand z.B. aufgrund eines längeren Arbeitsweges den verordneten Kurs nicht mehr be-

suchen konnte, besteht die Möglichkeit einer Abänderung der ursprünglichen Vereinbarung. Eine

Meldung an das Migrationsamts erfolgt erst dann, wenn eine Vereinbarung nicht eingehalten wur-

de, obwohl keine objektiv ersichtlichen Gründe dafür vorliegen. Ebenso kommt es zu einer Mel-

dung, wenn die Unterzeichnung der IntV grundsätzlich verweigert wird.58

8.3.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien

Im Kanton Solothurn liegt der Schwerpunkt auf den neu zugezogenen Personen (Aufenthalt im Kan-

ton 0-6 Jahre), insbesondere im Familiennachzug. Das betrifft zum einen Jugendliche (15 bis 18 Jah-

re) und junge Erwachsene (ab 18 Jahren), die keinen Nachweis erbringen können, dass sie eine

54

Im Erhebungszeitraum war auch eine Praktikantin mit Aufgaben der IntV betraut, und eine weitere Mitarbeiterin

wurde für diese Aufgaben eingearbeitet. 55

S. Zitat in 4.2.1 56

Interview SO. 57

Interview SO, Operative. 58

Interview SO.

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57

Schule besuchen oder eine Lehrstelle angetreten haben. Zum anderen werden neu eingereiste

Mütter im erwerbsfähigen Alter und mit schlechtem Bildungshintergrund einbezogen, da Mütter als

Schlüsselpersonen in der Erziehung gelten. Neben den neu zugezogenen Personen werden aber

auch Migranten/innen verpflichtet, die schon einige Jahre in der Schweiz wohnen und bei denen die

Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung oder die Erteilung der Niederlassungsbewilligung fraglich

erscheint.59 Allerdings herrscht die Meinung vor, dass schwierige Fälle (Mehrfachbelastungen) mehr

Ressourcen des Amtes benötigen und die Erfolgsaussichten trotzdem unklar bleiben.60 Dass relativ

wenige Betroffene von der Sozialhilfe abhängig sind, hängt damit zusammen, dass der Familien-

nachzug den Nachweis eines ausreichenden Einkommens voraussetzt. Auch wenn das Alter kein

Auswahlkriterium ist, gilt der Grundsatz, dass man mit der IntV vor allem bei jungen Personen an-

setzen will. Mit Rentnern oder Personen, die schon länger als zehn Jahre in der Schweiz leben, wer-

den keine IntV abgeschlossen.61 Seit November 2009 wählt das ASO monatlich ca. 15-10 Personen

aus der vom Migrationsamt weitergeleiteten Liste von Bewilligungen aus. Dabei werden in erster

Linie mit gefährdeten Personen aus potentiell prekären Lebenssituationen IntV abgeschlossen. Als

Kriterien für potentiell herabgesetzte Eigenverantwortung gelten:

- Sozialhilfeabhängigkeit, Schulden (wirtschaftliche Situation)

- Bildungsferne und Bildungsbenachteiligung (Bildungssituation)

- Patriarchale Familienverhältnisse (soziale Situation).

Die durchführende Amtsperson präzisierte in einem weiteren Gespräch, dass diese Gefährdungen

auch binationale Ehen betreffen. Frauen aus Mittel und Südamerika sowie Südostasien, die mit

schweizer Männer verheiratet sind, lebten oft in integrationshemmenden Verhältnissen.

Wie noch näher erläutert wird, können im Kanton Solothurn die Gemeinden selbst IntV abschlies-

sen, wenn eine ausländische Person Sozialhilfe bezieht. Während der Prozessablauf bei neu zuzie-

henden Personen definiert wurde, steht das bei der Gruppe der bereits anwesenden Personen noch

aus.

Die statistische Auswertung zeigt, dass dem Kanton Solothurn mit 125 Fällen62 56 Prozent der in

den fünf Pilotkantonen abgeschlossenen IntV zuzuordnen sind. Laut der offiziellen Statistik63 stellt

die Gruppe der Serben und Montenegriner mit 18.1 Prozent die stärkste Migranten/innengruppe

dar. Daher wäre zu erwarten, dass mit diesen auch am meisten IntV abgeschlossen wurden. Tat-

sächlich werden aber die meisten Vereinbarungen mit Betroffenen aus der Türkei (17.3 Prozent

aller IntV) und aus Asien (16.3 Prozent) abgeschlossen, während die Serben und Montenegriner nur

9,2 Prozent ausmachen. Ferner fällt auf, dass der Anteil der Frauen ungleich höher ist als derjenige

der Männer (87 Prozent gegenüber 13 Prozent). Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine Mehrheit

der Betroffenen eher bildungsstark ist und dass der Grossteil im Jahre 2008 zugewandert ist. Nur

ca. 25 Prozent der Betroffenen sind berufstätig, was vermutlich mit den Faktoren Geschlecht und

Einreisezeitpunkt zusammenhängen dürfte. Dagegen sind ca. 60 Prozent der Betroffenen mit Erzie-

hungsaufgaben beschäftigt. Beim Aufenthaltszweck / Einreisegrund handelt es sich bei 97 Prozent

(95 Personen) um einen Familiennachzug; nur bei einer Person werden als Grund religiöse Betreu-

ungspflichten genannt, und 3 waren ursprünglich als Asylsuchende gekommen.

59

Wenn beispielsweise eine Person auf Sozialhilfe angewiesen ist oder zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt

wurde. 60

Mittlerweile hat sich das Schwergewicht eindeutig auf Neuzugezogene verlagert. 61

Interview SO. 62

Erhebungszeitraum: Mai 2008-Mai 2009. 63

Amt für Finanzen SO 2008.

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58

Die Stichprobe 10 interviewter Betroffener entspricht weitgehend den erhobenen statistischen Da-

ten zur IntV des Kantons Solothurn.

IntV werden auch mit Drittstaatenangehörigen abgeschlossen, welche mit Schweizern/innen ver-

heiratet sind, sowie mit Ausländer/innen mit C-Ausweis, wenn Integrationsdefizite vermutet wer-

den. Da die IntV nicht primär als Druckmittel, sondern als Aufklärungs- und Informationsinstrument

verstanden wird, um die Wichtigkeit der Integration – auch für den persönlichen Erfolg – klar zu

kommunizieren, sieht man kein Problem darin, dass Sanktionsmöglichkeiten bei dieser Gruppe feh-

len.64 Bisher wurden IntV bei 5 Personen veranlasst, die eine C-Niederlassung besitzen.

8.3.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente)

Im Kanton Solothurn liegt der Fokus auf Deutsch-Integrationskursen (Alphabetisierungskurse, Ni-

veaukurse, Muki-Deutsch), welche von verschiedenen Sprachschulen angeboten werden. Daneben

gibt es die marktüblichen, nichtsubventionierten Deutschkurse, die nicht als Integrationskurse gel-

ten. So bietet ECAP einen viermonatigen Intensivintegrationskurs an, der über Schule und Bildungs-

system, Rechte und Pflichten, Gesundheit, Versicherungen bis hin zur Abfallentsorgung im Kanton

informiert. Dabei findet man es wichtig, dass der Kurs die Auseinandersetzung unter den Kursteil-

nehmenden fördert, damit sich eine konstruktive und integrative Gruppendynamik entwickeln

kann.65

Die Befragung der Betroffenen zeigt, dass sie mehrheitlich verstehen, was für eine Massnahme ver-

einbart/verordnet wurde und welche Gründe Anlass dazu gaben. Nahezu alle Betroffenen meinen,

dass sie einen „Deutschkurs besuchen“ müssten. Manche erwähnen auch, dass sie Arbeit suchen;

dabei bleibt jedoch unklar, ob es sich um eine festgelegte Massnahme handelt oder nicht.

Die quantitative Auswertung zeigt, dass in 73 Prozent der Fälle eine Massnahme und in 26 Prozent

mehrere Massnahmen verordnet wurden. Neben den erwähnten Kursen, die den Grossteil ausma-

chen, werden zu einem geringen Teil zusätzlich Beratungen oder andere Massnahmen verordnet.

So wird nach Aussagen einer durchführenden Amtsperson auch eine Beratung beim RAV oder bei

der Sozialhilfe als Massnahme in Betracht gezogen. In diesem Zusammenhang wurde positiv ange-

merkt, dass es in Olten jetzt eine Integrationsbeauftragte gebe, an die weiterverwiesen werde kön-

ne und die eine Bündelung und Triage vornehme. Es brauche ein ziemlich vernetztes Denken und

Erfahrung in der Praxis, um bestehende Möglichkeiten möglichst gut zu nutzen. Manchmal wird den

Betroffenen nahe gelegt, eine Zeitung zu lesen oder andere deutschsprachige Medien zu nutzen,

was jedoch nicht kontrolliert werden kann.

Die Deutsch-Integrationskurse werden von Kanton und Bund subventioniert. Alle Kursbesu-

cher/innen zahlen einen Beitrag von fünf Franken pro Lektion. Bei Zahlungsschwierigkeiten über-

nimmt die Sozialhilfe diesen Betrag.66 Zum Teil versuche man auch direkt mit dem Sozialamt oder

der Integrationsdelegierten in Olten Kontakt aufzunehmen, um deutlich zu machen, dass sich die

Investition in einen teuren Intensivkurs lohnen könne.67 Die befragten Betroffenen fanden die Kurs-

kosten nicht problematisch; lediglich eine Person wünschte sich eine finanzielle Unterstützung.

Eine Liste mit Internetlinks von einigen Sprachschulen wie ECAP oder der Volkshochschule Solo-

thurn sind auf der Homepage des ASO zu finden.

64

Interview SO. 65

Interview Sprachschulen SO. 66

Interview SO. 67

Interview SO, Operative.

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59

8.3.4 Behördenarrangement und Setting

Die Federführung der IntV liegt beim Amt für soziale Sicherheit, das im Departement des Innern

angesiedelt ist. Das Migrationsamt des Kantons Solothurn meldet dem ASO ausländische Personen

mit schlechten Deutschkenntnissen, Anhäufung von Schulden, Beanspruchung von Sozialhilfe oder

Straffälligkeit weiter. Schon seit 2005 wird in den Verfügungen zum Familiennachzug aus Drittstaa-

ten als Bedingung festgehalten, dass die gesuchstellende Person für die Verlängerung ihrer Bewilli-

gung den Nachweis eines Deutschkurses erbringen muss. Fehlt der Nachweis, leitet das Migration-

samt die Namen dieser Personen der Integrationsdelegierten weiter.68

Man sieht im ASO Vor- und Nachteile darin, dass eine andere Amtsstelle die Entscheide über die

Aufenthaltsbewilligungen fällt: Wenn alle Verfahrensschritte in einem Amt angesiedelt wären, gäbe

es keine Probleme mit dem Datenschutz und weniger Schwierigkeiten beim Informationsfluss. Dann

wären alle Abläufe transparenter. Andererseits hat die Aufgabentrennung sicherlich auch Vorteile,

da sich das ASO vorwiegend in beratender Funktion sieht.69

Das Schreiben an die betroffenen Personen trägt die Überschrift „Einladung“ und informiert dar-

über, dass das „Dossier … weiter geleitet“ wurde und dass der Abschluss einer IntV geprüft werde.70

Es wird vermerkt, dass es sich um eine „Einladung“ zu einem „gemeinsamen Gespräch“ handle.

Falls die Betroffenen nicht erscheinen, sendet das Amt erneut ein Einladungsschreiben und als drit-

ten Schritt eine Vorladung. Die durchführende Amtsperson meinte, dass die Betroffenen das in

Amtsdeutsch abgefasste Schreiben bestimmt nicht verstünden und daher wohl zunächst mit einer

kritischen Haltung kämen.71 Das entspricht den Aussagen der interviewten Betroffenen: Viele ver-

standen nicht genau, weshalb sie eingeladen wurden oder was im Einladungsschreiben stand. Un-

klarheiten liessen sich jedoch in einem zweiten Schritt mehrheitlich telefonisch klären. Keine Person

scheint durch die IntV massiv irritiert oder verunsichert worden zu sein, wenn auch Gründe und

Ziele in den meisten Fällen erst im persönlichen Gespräch geklärt werden konnten. Aufgrund dieser

Erkenntnis aus der laufenden Evaluation hat das ASO den Einladungsbrief inhaltlich ausführlicher

gestaltet, und es wird explizit erwähnt, dass die Anwesenheit des Ehepartners / der Ehepartnerin

erwünscht ist.

Das ASO legt grossen Wert darauf, dass bei den Gesprächen immer professionell und unabhängig

gedolmetscht wird. Das wird auch im Einladungsbrief explizit erwähnt. Nur so ist man sicher, dass

Äusserungen in beide Richtungen inhaltlich richtig übertragen werden.72 Das professionelle Dol-

metschen soll nicht nur die sprachliche Verständigung gewährleisten, sondern auch vertrauensbil-

dend wirken und Angst reduzieren. Knapp die Hälfte der befragten Betroffenen (10 Personen) gab

an, dass die Erklärungen zur IntV überwiegend verständlich waren. Je konkreter und beispielhafter

die IntV besprochen wurden, desto klarer war das Verständnis der Betroffenen. So meinte eine Be-

fragte, dass die Beispiele verständlich waren, abstrahierte Sachverhalte jedoch nicht. Eine andere

Betroffene war zuerst erschrocken, weil sie nicht verstanden hatte, weshalb sie eingeladen worden

war. Danach habe sich aber gezeigt, dass man ihr helfen wolle, und sie wolle ja gerne Deutsch ler-

nen.

68

Interview SO. 69

Interview SO. 70

Einladungsschreiben des Kantons SO. 71

Interview SO, Operative. 72

Interview SO, Operative.

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60

Bei Ehepaaren wird von der Behörde immer angestrebt, dass beide Partner am Gespräch teilneh-

men. Wenn Kinder dabei sind, wird eine ihrem Alter entsprechende Beschäftigungsmöglichkeit ge-

boten, wie zum Beispiel Papier und Malstifte.

Kommt es tatsächlich zum Abschluss einer IntV, so wird sie entweder gleich vor Ort unterschrieben,

oder die Betroffenen können sie mit nach Hause nehmen. Sollte z.B. der Partner nicht dabei gewe-

sen sein, kann er die IntV noch vor der Unterzeichnung zur Kenntnis nehmen. In diesem Zusam-

menhang meinte jedoch eine Betroffene, es sei problematisch, dass man gleich an Ort und Stelle

die IntV unterschreiben solle. Sie fände es besser, die rechtlichen Grundlagen nochmals prüfen zu

können. Der Druck vom Amt sei spürbar gewesen. Demgegenüber hält eine Mehrheit der Befragten

die Massnahmen für angemessen und nimmt sie positiv auf. Sie werden von allen als Gewinn erach-

tet. Die Betroffenen fühlen sich willkommen, akzeptiert und gefördert. Viele bekunden den Willen,

aus eigenem Antrieb IntV-Massnahmen zu verwirklichen, auch wenn das Amt sie nicht dazu auffor-

dert. Probleme und Verbesserungsbedarf werden nur punktuell gesehen. Kritik wird insbesondere

an der Festlegung des zu erwerbenden Sprachprofils bei Deutschkursen geäussert. Ferner wird be-

mängelt, dass manche Massnahmen – insbesondere die Aufforderung, einer Erwerbstätigkeit nach-

zugehen – aufgrund der familiären Situation (kleine Kinder, Haus- und Erziehungsarbeit) nur schwer

zu erfüllen sind.

8.3.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung, Controlling, Sanktionen)

Im Rahmen des IntV-Gesprächs gibt das ASO Empfehlungen für die zu besuchenden Kurse (Mass-

nahmen). Gleichzeitig wird während des Gesprächs das Sprachniveau ermittelt. Kommt es diesbe-

züglich zu Unklarheiten, wird die betroffene Person zu einem Einstufungstest an einer Sprachschule

weitergeleitet. Zwei interviewte Betroffene beklagten eine unangemessene Einstufung. Eine weite-

re beanstandete, dass sie als Alleinerziehende und Angestellte wenig Zeit finde, einen Deutschkurs

zu besuchen, und dass nicht berücksichtigt worden sei, dass sie bereits einen Kurs besucht hatte.

Für die Gesprächsdurchführung wurde ein Leitfaden entwickelt, der eine gewisse Standardisierung

des Gesprächsverlaufs gewährleistet. Das wurde auch deshalb für sinnvoll gehalten, weil die durch-

führenden Amtspersonen in Gesprächsführung und -techniken wenig geschult sind. Aus diesem

Grund werden potentiell schwierige Gespräche vom Integrationsdelegierten selbst durchgeführt��

Die Anmeldung für einen Kurs, den die Betroffenen selbst wählen können, wird an das Amt ge-

schickt. Die durchführende Amtsperson schreibt einen Protokollvermerk in die Akte, die den per-

sönlichen Eindruck, aufgetretene Schwierigkeiten, Einschätzungen zur Motivation sowie Personen-

angaben enthält, und notiert die Frist, bis wann der Kursbesuch abgeschlossen und schriftlich bes-

tätigt werden muss. Die Angaben werden dem Amt für Ausländerfragen (AfA) weitergereicht.

Kommt die Kursbestätigung (unaufgefordert), so wird auch diese ans Migrationsamt weitergeleitet

und der Fall gilt als abgeschlossen.73 Der Entscheid über die Verlängerung der Aufenthalts- oder

Erteilung der Niederlassungsbewilligung, den das Migrationsamt zu fällen hat, wird jedoch nicht an

das ASO zurückgemeldet. Das ASO erachtet das als Manko,74 denn falls die IntV keinen Einfluss auf

den Ermessensentscheid haben sollte, müsse man das ganze Projekt in Frage stellen. Laut Migrati-

73

Interview SO, Operative. 74

Interview SO, Operative.

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61

onsamt wird die Nichterfüllung der IntV bei den Erwägungen zur Verlängerung der Aufenthaltsbe-

willigung berücksichtigt.75

Zur Überprüfung der Zielerreichung sind eher kurz- und mittelfristige Indikatoren vorgesehen, wie

z.B. die Verbesserung der Deutschkenntnisse. Diesbezüglich scheinen bei den Betroffenen jedoch

Unklarheiten zu bestehen. Eine Person meinte, die Massnahmen seien nicht freiwillig, und trotzdem

sei nicht bestimmt worden, welches Sprachprofil erreicht werden müsse. Eine weitere Betroffene

monierte, dass man auf dem Besuch eines im Kanton angebotenen Deutschkurses bestehe und ei-

gene Bemühungen nicht anerkannte oder anrechne. Die durchführende Amtsperson meinte, dass

dem ASO derzeit das Instrumentarium und die Kapazitäten für die wünschenswerte längerfristige

Messung des tatsächlichen Integrationserfolgs fehlen.76

Im Kanton Solothurn wird zur Zeit eine Datenbank „Integrationsvereinbarungen“ entwickelt. Die

monatlich um bis zu 40 Einheiten steigende Zahl von IntV erfordert den Aufbau verbesserter Cont-

rollingabläufe (z.B. Zweitgespräch, Empfehlungen an das Migrationsamt zu Verlängerung/Nicht-

Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung usw.). Eine Ausweisung ist laut ASO aber nur möglich,

wenn mehrere Faktoren zusammenkommen. Wenn eine Mehrfachproblematik vorliegt, steigt der

Handlungsspielraum für mögliche Sanktionen, denn laut Gesetz kann man Leistungen der Sozialhilfe

oder IV an den Besuch eines Deutschkurses koppeln und bei Nichteinhaltung mit Leistungskürzun-

gen drohen.77

8.3.6 Gesprächsführung

Die durchführende Amtsperson setzt durch die Gestaltung der Gesprächssituation, durch die Be-

nutzung einer bestimmten Begrifflichkeit und Sprache, aber auch durch non- und paraverbale Sig-

nale die auf Ebene der Policy definierte Strategie um. Nach Meinung einer durchführenden Amts-

person hat schon die Sitzordnung einen wichtigen Stellenwert und beeinflusst die Übermittlung

bestimmter Botschaften und die Verfolgung der Ziele. Man will eine gewisse Nähe zu der betref-

fenden Person herstellen und gleichzeitig eine Hierarchie zum Ausdruck bringen, damit die durch-

führende Amtsperson als „Chef“ erkennbar wird. Dabei wird aber kein autoritäres Verhältnis, son-

dern „eine relativ offene und lockere Atmosphäre“ geschaffen, „wo sich die Leute auch getrauen zu

sagen, was sie denken“ (P2, Z:116). An einer anderen Stelle im Interview wurde betont, dass be-

wusst nicht der Begriff „Klient/in“ verwendet wird, sondern „Migrant/in“, da man „sich auf gleicher

Augenhöhe begegnen“ wolle. Offenbar wird „Klient/in“ vermieden, weil die damit assoziierte Be-

deutung „hilfsbedürftige Person“ oder „problembelastete Person“ eher abgelehnt wird. Nach Aus-

sagen der durchführenden Amtsperson wird zu Beginn des Gesprächs jeweils die Unterstützung des

Amtes signalisiert und am Motivationsaufbau gearbeitet. Sofern das beim Gegenüber auf Ableh-

nung stosse, würde aber schnell umgeschwenkt und verdeutlicht, dass Integration eine gesetzliche

Pflicht ist, sowie auf mögliche Sanktionen hingewiesen.

Dementsprechend wird das Gespräch von den Betroffenen im Allgemeinen als hilfreich und positiv

wahrgenommen. Ihre Aussagen weisen darauf hin, dass die Behörden sehr darum bemüht sind, gut

zu kommunizieren und den Betroffenen Hilfsbereitschaft zu signalisieren. Die Gespräche werden als

motivierend erlebt, es herrscht ein gutes Einvernehmen und Gesprächsklima. So fühlte sich eine

Person durch die Einladung zur IntV mit der Schweiz mehr verbunden und begrüsste, dass es im

75

Interview SO. 76

Interview SO. 77

Interview SO, Operative.

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Gespräch auch die Möglichkeit gab, Themen zu diskutieren. Eine andere Befragte hatte den Ein-

druck, dass man herausfinden wollte, wo sie momentan mit den Integrationsbemühungen steht.

Eine weitere Person sagte, man habe sie informiert, dass man ihr helfen wolle, auf eigenen Füssen

zu stehen.

Allerdings sieht die ausführende Amtsperson, dass das Aufzeigen von negativen Konsequenzen die

asymmetrische Position der Gesprächspartner klar werden lässt. Insofern sei der Anspruch, sich

„auf gleicher Augenhöhe“ zu begegnen, „ein wenig schön gefärbt“. Diese Ambivalenz kommt auch

darin zum Ausdruck, dass man den Betroffenen zwar sagt, man wolle ihnen helfen, aber auch be-

tont, dass es dafür beide Seiten brauche.78

Die Befragten schätzten die Freiwilligkeit der IntV und der vereinbarten/verordneten Massnahme

sehr unterschiedlich ein. Knapp die Hälfte meinte, dass sie freiwillig sei, die andere hielt sie für ver-

pflichtend, wobei die Antworten den Eindruck machen, dass der Druck nicht als hoch empfunden

wird. Allerdings sagten relativ viele Befragte, dass das Risiko einer Ausweisung im IntV-Gespräch

erwähnt wurde und bei ihnen Verunsicherung ausgelöst habe. Ferner wird deutlich, dass es auch

um Vermittlung von Ansprüchen geht, die der Kanton an die Betroffenen stellt Dazu gehört z.B. die

Botschaft, dass Gleichberechtigung in der Schweiz einen zentralen Wert darstellt.

Wie die Analyse der teilnehmenden Beobachtung zeigt, lässt sich die Gesprächsführung im Kanton

Solothurn als in erster Linie klärend und informierend mit klaren Aufforderungen und Appellen an

die Betroffenen beschreiben.79 Dabei wird ein Bewusstsein für die Realität, aber auch für die Ges-

taltung der Zukunft geschaffen. Durch Nachfragen wird auch den Betroffenen Raum für Informatio-

nen und Stellungsnahmen gegeben. Ausgeprägter als in den anderen Pilotkantonen wurden auch

„überprüfende“ sowie „normativ moralisierende“ Momente beobachtet. Seitens der Betroffenen

überwiegen motivierte Reaktionen, sie verhalten sich entgegenkommend und offen. Ebenso wer-

den auch Erklärungen für die seitens des Amtes aufgeworfenen Fragen geboten. Es konnten keine

konfrontativen, verweigernden oder rechtfertigenden Reaktionen der Betroffenen und nur selten

defensiv ausweichende oder unterstützungssuchende Verhaltensweisen beobachtet werden.80

8.3.7 Wirkung

(Antizipierte) Wirkung auf die Betroffenen

Eine Amtsperson äusserte die Hoffnung, dass über die IntV auch etwas mehr Gleichberechtigung

von Mann und Frau erreicht wird, wenn Frauen unabhängig von ihren Ehepartnern Kurse besuchen

und sich verständigen lernen. Die Wirkung auf die Betroffenen wird vom ASO zu 80-85 Prozent als

positiv eingeschätzt, als Hilfestellung und als Wertschätzung. Diese Einschätzung korrespondiert mit

derjenigen der Betroffenen. Ingesamt werden die Massnahmen als Hilfestellung, als „amtlicher

Support“ erlebt. Die Betroffenen fühlen sich vorwiegend gefördert, sie werden motiviert und wol-

len die Massnahmen aus eigenem Antrieb erfüllen. Widerstände sind laut ASO eher selten, zeigen

sich aber manchmal bei Älteren, die meinen, sie könnten nicht mehr lernen, oder bei Männern, die

keinesfalls wollen, dass ihre Frauen lernen gehen. Wenn die Verpflichtungen durch Kinder und Ar-

beit zu gross sind, kann die IntV als Belastung empfunden werden (vgl. hierzu auch Kap. 1.3.5 zu

78

Interview SO, Operative. 79

Vgl. TB, Übersicht Durchführende. 80

Vgl. TB, Übersicht Betroffene.

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Assessment). Zum Teil haben die Betroffenen Ängste in Bezug auf das geforderte Niveau. Sie be-

fürchten, den Kurs sehr gut machen zu müssen, damit sie ihren Ausweis, der solange auf dem Mig-

rationsamt bleibt, zurückbekommen können. Die Amtsperson meint, dass die Betroffenen den Pro-

zess des Sprachenlernens und der Integration bewusster angingen, als wenn das Gespräch mit IntV

nicht stattgefunden hätte.

Der insgesamt positive Eindruck wurde auch von den befragten Betroffenen bestätigt: Manche

schilderten, dass sie am Anfang unsicher gewesen seien, sich aber im Verlauf des Gesprächs doch

ermutigt gefühlt hätten. Einige hatten den Eindruck, dass sie von dem Verfahren profitieren,. oder

schätzten die Informationen über einzelne Aspekte der Schweiz (z.B. Gesundheitssystem) als hilf-

reich ein. Rund die Hälfte aller befragten Betroffenen bewertete die Massnahmen als integrations-

fördernd und fühlte sich ermutigt und unterstützt, Integrationsprobleme anzugehen.

Wirkung nach innen in Bezug auf die eigene Arbeit, die eigene Stelle

Von der durchführenden Amtsperson wird das Gespräch selbst als Erfolg angesehen. Es entstehe

das Gefühl, tatsächlich miteinander ins Gespräch gekommen zu sein, eine Kooperationsbeziehung

hergestellt zu haben, zu spüren, dass der andere Interesse hat und bemüht ist, das, was besprochen

wurde, umzusetzen. Auch sonst wird die Wirkung nach innen (und nach aussen) positiv gesehen.

Mit den IntV komme man dem politischen Bedürfnis nach, auch einmal zu fordern und nicht immer

nur zu fördern, so wie das in Form von Deutschkursen, Integrationskursen usw. bereits geschehe.

Dadurch werde auch wieder mehr Spielraum für andere Integrationsprojekte geschaffen. Die Ideen

zu weiteren sinnvollen Projekten könnten z.B. aus den Gesprächen mit den Betroffenen hergeleitet

werden, die sehr viele Informationen und tiefe Einblicke in Einzelschicksale liefern. Dennoch sollte

die Arbeit im Kontext der IntV nicht als sozialarbeiterische Einzelfallhilfe missverstanden werden,

denn das sei nicht Aufgabe des Amtes.

Wirkung nach aussen

Zur Aussenwirkung meinte eine durchführende Amtsperson, dass die Erwartungen viel zu hoch ge-

steckt seien. Die Tatsache, dass es die Willkommenveranstaltungen und die IntV gebe, spreche sich

allerdings schnell herum und erzeuge eine gewisse Wirkung, die IntV werde ernst genommen. Je

früher ein solches Gespräch mit Betroffenen stattfinden könne, desto besser sei es, denn sonst

würde man wertvolle Zeit verstreichen lassen, während der z.B. Jugendliche „rumhängen“.

Zur Umsetzung der IntV im Kanton Solothurn äussern sich die Sprachschulen weitgehend positiv.

Ihre anfänglichen Befürchtung, dass die Betroffenen unmotiviert zu den Deutschkursen kommen

würden, hat sich nicht bewahrheitet. Vielmehr konnten sie beobachten, dass die meisten Teilneh-

menden mit einer IntV die Kurse motiviert besuchen und dass insbesondere Frauen, die wohl ohne

IntV kaum einen Deutschkurs besucht hätten, nach anfänglicher Scheu mehr Selbstvertrauen und

Offenheit entwickeln. Ausserdem würden die Betroffenen nicht nur dahingehend kontrolliert, ob

sie den Deutschkurs absolviert hätten, sondern würden im Sinne einer Fördermassnahme betreut

und begleitet.

Die Sprachschulen halten die Einstufung des Sprachprofils nach dem Europäischen Sprachenportfo-

lio zum Teil für problematisch und für einen Grossteil der Zielgruppe der IntV für ungeeignet. Des-

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halb entwickelt ECAP derzeit ein neues, effektiveres Einstufungsverfahren.81

8.3.8 Aufwand und Nutzen

Nach den Angaben einer durchführenden Amtspersonen liegt der Aufwand im Durchschnitt bei 3

Stunden pro Gespräch, inklusive Vor- und Nachbereitung. Insgesamt wird der Aufwand als „recht

gross“ eingeschätzt, vor allem, wenn etwas nicht planmässig verläuft –beispielsweise, wenn die

professionelle Übersetzerin nicht erscheint oder es zu anderweitigen Verzögerungen kommt. Neu

stehen 120 Stellenprozente für den Bereich der IntV zur Verfügung. Davon entfallen 20 Prozent auf

den Leiter des ASO, 60 Prozent auf eine Sachbearbeiterin, 20 Prozent auf Sozialarbeit, 30 Prozent

auf Sozialarbeiterpraktikanten/innen und 10 Prozent auf den Leiter der Fachstelle Integration. Die

Durchführung der IntV wird vom Kanton im Rahmen eines Integrationskredits finanziert. Die bereit

zur Verfügung gestellten Ressourcen werden in Bezug auf das angestrebte Ziel von 400 IntV als äus-

sert knapp eingeschätzt. Seit November 2009 werden 30-40 IntV pro Monat durchgeführt. Gäbe es

mehr Ressourcen, könnte man sich, so das ASO, vielleicht auch auf schwierigere Personen konzent-

rieren. Migranten/innen mit mehrfachen Problemen schätze man aber als für die IntV wenig geeig-

net ein. Im Rahmen der Zusammenarbeit innerhalb des Amtes für Soziale Sicherheit gibt es eine

geleitete Intervision sowie eine Triage zur Klärung von schwierigen Einzelfällen.

8.3.9 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen

Im Kanton Solothurn kommt den Gemeinden eine besondere Funktion zu, denn gemäss Sozialge-

setz können sie mit Personen IntV abschliessen, die Sozialhilfe beziehen. Demnach bleibt es den

Gemeinden (im Kanton Solothurn sind es in diesem Fall Sozialregionen) überlassen, ob und wie sie

IntV bei ihren Fällen anwenden wollen. Eine Standardisierung des Verfahrens wurde bisher nicht

vorgenommen, was laut ASO jedoch auch nicht problematisch ist, denn die Sozialhilfe ist laut Sozi-

algesetzgebung eine kommunale Leistung. Im Rahmen des Pilotprojekts IntV erachtete man die

vereinzelten Versuche der Gemeinden, IntV abzuschliessen, als Ergänzung zum kantonalen Vorge-

hen.82 Die unterschiedliche Handhabung innerhalb des Kantons hat jedoch in gewissen Fällen zu

Doppelspurigkeiten geführt. So kann es geschehen, dass das ASO eine Person zu einem Gespräch

einlädt und dann erfährt, dass die Gemeinde schon erste Schritte in Richtung IntV veranlasst oder

bereits eine IntV abgeschlossen hat. Doppelspurigkeiten beschränken sich jedoch nicht nur auf die

Zusammenarbeit zwischen den Sozialregionen und dem Kanton, sondern stellen teilweise auch zwi-

schen kantonalen Ämtern ein Problem dar. So wurde in einem ähnlichen Fall eine Person eingela-

den, die bereits von der Abteilung Ausländerfragen eine Niederlassungsbewilligung erhalten hatte

und somit für eine IntV nicht mehr in Frage kam.83

Die Zusammenarbeit mit den anderen Kantonen der Nordwestschweiz wird als sehr gut bezeichnet.

81

Interview SO, Sprachschulen. 82

Interview SO. 83

Interview SO.

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Bericht Nach Vernehmlassung, vor definitiver Version April 2010

9 Policy und Umsetzung im Kanton Zürich

Zürich, der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz, zählte Ende 2008 rund 1'327'000 Einwohne-

rinnen und Einwohner. Der Ausländeranteil liegt bei rund 23 Prozent, wobei die Stadt Zürich und

die Region Limmattal mit 30 Prozent den höchsten Anteil aufweisen.

Unter den Migranten/innen aus Drittstaaten stellt die Gruppe der serbischen Staatsangehörigen mit

11 Prozent den höchsten Anteil (Statistisches Amt Zürich 2008).

9.1 Integrationspolitik

Im Herbst 2007 hat der Regierungsrat die Integrationspolitik neu ausgerichtet und zu einem der

Schwerpunkte in der Legislaturperiode 2007-2011 erklärt. Die neue Integrationsbeauftragte und die

von ihr geleitete Fachstelle für Integrationsfragen setzen den Auftrag des Regierungsrates um. Ihre

Aufgabe ist es, im Kanton eine kohärente und koordinierte Integrationsförderung zu ermöglichen.84

Im Gegensatz zu den anderen Pilotkantonen ist im Kanton Zürich das Thema Integration in keinem

Gesetz verankert. In den Jahren 2007 und 2008 wurden jedoch zwei parlamentarische Initiativen

und zwei Motionen eingereicht, in denen der Regierungsrat eingeladen wird, gesetzliche Grundla-

gen für die Integration der ausländischen Bevölkerung auf Kantonsebene zu schaffen.85 Drei der vier

Vorstösse sind zurzeit beim Regierungsrat hängig, eine Motion ist noch beim Kantonsrat pendent.

Die Fachstelle für Integrationsfragen erachtet die Schaffung eines kantonalen Integrationsgesetzes

nach dem Vorbild der beiden Basel als dringendes Anliegen. Im Rahmen der eingereichten parla-

mentarischen Initiativen ist ein Entwurf für ein Integrationsgesetz in Ausarbeitung. Die Fachstelle

rechnet damit, dass ein solches Gesetz „frühestens am 1. Januar 2011 in Kraft treten wird“.86

9.2 Integrationsverständnis

Mit dem Legislaturziel 13 will man „mit verbesserter schulischer, gesellschaftlicher und beruflicher

Integration aller Bevölkerungsgruppen den sozialen Zusammenhalt stärken“ (Regierungsrat Kanton

Zürich 2007). Nach dem Vorbild des Basler Integrationsmodells gilt neu das Prinzip des verbindli-

chen „Förderns und Forderns“ ab dem ersten Aufenthaltstag. Das bedeutet, dass „als Gegenstück

zur Förderung der Integration die aktive Integrationsbereitschaft und -betätigung gefordert werden

soll“ (Legislaturziel 13.2).

Im Gespräch mit der durchführenden Amtsperson wurde deutlich, dass es bei dem Instrument IntV

nicht nur um Sprachkurse geht, sondern um eine Gesamtsicht auf die Lage, in der sich die betroffe-

nen Personen befinden. Die Möglichkeit, vorzeitig eine C-Bewilligung zu erhalten, soll dabei Anreize

schaffen, die eigenen Bemühungen um Integration zu verstärken. Von den Betroffenen wird Integ-

ration als wichtig erachtet und als eine von ihnen zu erbringende Anpassungsleistung verstanden.

Es geht darum, die hiesige Sprache zu sprechen und die Regeln zu befolgen, um nicht negativ aufzu-

fallen. Es geht darum, Respekt für andere Personen und Kulturen zu entwickeln, mit offenen Augen

zu leben, meinen sie. Grundsätzlich möchten sich alle befragten Betroffenen besser integrieren.

Ihnen ist es wichtig, zu arbeiten und die deutsche Sprache zu sprechen, um in der Schweiz leben zu

können und selbständig zu sein.

84

Siehe www.integration.zh.ch 85

Motion, KR-Nr. (156/2007), Parlamentarische Initiative (KR-Nr. 192/2007), Parlamentarische Initiative (KR-Nr.

100/2008), Motion (KR-Nr. 2/2008). Für Details siehe Literaturverzeichnis. 86

Interview ZH.

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9.3 Integrationsvereinbarungen

Da Zürich über kein kantonales Integrationsgesetz verfügt, wird der rechtliche Rahmen für die IntV

direkt aus dem AuG und der dazugehörigen Verordnung (VIntA) hergeleitet. Als politische Grundla-

ge dienen die Legislaturziele 2007-2011 des Regierungsrats. Ein weiteres wichtiges Dokument ist

das „Merkblatt zu den IntV (gemäss Art. 5 VIntA; Art. 32, Abs. 2, Art. 54 Abs. 1 AuG)“ der Fachstelle

für Integrationsfragen des Kantons Zürich. Darin sind die wichtigsten Punkte zur Umsetzung der

IntV – Zielgruppen, Kriterien für Integrationsdefizite, Konsequenzen bei Nichteinhaltung usw. – ent-

halten. Einige Ausführungen sind direkt aus dem Bundesgesetz übernommen, andere (z.B. die Krite-

rien für die Integrationsprognose/Integrationsdefizite) sind spezifisch für den Kanton Zürich formu-

liert. Das Besondere am organisatorischen Vorgehen im Kanton Zürich ist, dass hier Gemeinden auf

freiwilliger Basis als zuweisende Stellen in das Pilotprojekt IntV einbezogen wurden.

9.3.1 Zielsetzungen und Zweck

Die Forderung zur aktiven Integrationsbereitschaft und -betätigung „wird klar kommuniziert und

mit individuellen Vereinbarungen umgesetzt“ (Regierungsrat Kanton Zürich 2007). Das Hauptziel

der IntV ist die Herstellung von Chancengleichheit. Zur Erreichung dieses Ziels soll die IntV als ver-

bindliches Integrationsinstrument angewendet werden. Die Förderung von Sprachkenntnissen er-

laubt es, den Integrationsprozess bei neu Zuziehenden abzukürzen. Deshalb liegt der Schwerpunkt

bei den operativen Massnahmen klar beim Erlernen der Sprache.87 Auch von den Betroffenen wer-

den die vereinbarten Sprachkurse als Qualifizierung verstanden, um eine gute Stelle zu finden. Eine

Befragte erwägt zu studieren, ein anderer beabsichtigt die Gründung eines eigenen Geschäfts, wäh-

rend eine weitere sich von dem Sprachkurs verspricht, die eigenen Kinder besser begleiten zu kön-

nen, damit sie sich in der Schweiz gut zurechtfinden.

Die durchführende Amtsperson betonte, dass die Integrationsvereinbarung im Kanton Zürich pri-

mär die Migranten/innen auf dem Weg zu einem Ziel motivieren soll, das für sie von hoher Attrakti-

vität ist: der Erhalt einer Niederlassungsbewilligung nach ununterbrochenem Aufenthalt und guter

Kenntnis der Landessprache. Die Stärkung intrinsischer Motivation, das Entwickeln einer entspre-

chenden inneren Haltung, muss also im Kontext der IntV ein explizites Ziel sein, auch wenn es, im

Unterschied zu verbindlichen Massnahmen nicht unmittelbar erzwungen werden kann.

Die Interviews mit den Betroffenen zeigen, dass die von der Behörde intendierte Förderung der

Motivation zur Erfüllung der Massnahme und die Stärkung der Eigeninitiative mit dem Instrument

der IntV tendenziell zu gelingen scheinen. Die Betroffenen erachten Sprache, Bildung und Arbeit

insgesamt als wichtig: Sieben von zehn meinen, dass das Ziel der IntV das Erlernen der Landesspra-

che Deutsch ist.88 Die meisten möchten die Sprache erlernen oder besser sprechen lernen, sich wei-

terbilden oder eine (feste) Arbeitsstelle finden. Sechs Befragte gaben an, es gehe bei der IntV nicht

darum, auf die Ausländerinnen und Ausländer Druck auszuüben. Nur eine Person empfand das so.

9.3.2 Zielgruppen und Anwendungskriterien

Im Kanton Zürich werden die IntV auf die vom Bund empfohlenen Zielgruppen angewendet, d.h.

einerseits auf Neuzuziehende aus Drittstaaten mit schlechter Integrationsprognose, andererseits

auf bereits länger anwesende Personen aus Drittstaaten mit Integrationsdefiziten. Für das Pilotpro-

87

Interview ZH. 88

Auswertung der qualitativen Gesprächsprotokolle.

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67

jekt liegt der Fokus klar auf Neuzuziehenden. Eine „flächendeckende Einführung“ der IntV ist nicht

vorgesehen, da sie nicht für alle Personen geeignet sei.89 Sie solle vielmehr als individuelle Motiva-

tions- und Integrationshilfe angewendet werden.

Ausser mit Personen aus den empfohlenen Zielgruppen wurde auf freiwilliger Basis IntV mit weite-

ren 13 Personen aus EU/EFTA-Staaten abgeschlossen. Die Fachstelle für Integration sieht darin kein

Problem, da die Personen motiviert seien und ihnen dieselben „Dienstleistungen“ wie Drittstaaten-

angehörigen zur Verfügung gestellt werden sollten.90 Die Nichteinhaltung von Vereinbarungen auf

freiwilliger Basis hat selbstverständlich keine Auswirkung auf das Bewilligungsverfahren.

Gemäss dem Merkblatt der Fachstelle für Integrationsfragen unterscheiden sich die Anwendungs-

kriterien der IntV je nach Zielgruppe. Bei neuzugezogenen Personen gelten unzureichende Deutsch-

kenntnisse, mangelhafte Schulbildung und/oder berufliche Qualifikation sowie Erziehungsverant-

wortung als Prädiktoren verminderter Integration. Sie sind daher auch ausschlaggebende Anwen-

dungskriterien für eine IntV. Ausserdem wird der Integrationsgrad von Angehörigen bei der An-

wendung von IntV berücksichtigt.91

Bei länger ansässigen Migranten/innen stehen nicht die Integrationsprognose, sondern allfällige

Integrationsdefizite im Mittelpunkt. Dazu zählen Unkenntnis der Pflichten, Überforderung bei der

Erziehungsverantwortung (auch wegen fehlender Information und Sprachkompetenz) sowie Regel-

verstösse aufgrund mangelnder Integration. Weiter zählen auch soziale Isolation und familiäre oder

gesundheitliche Probleme dazu. Grundsätzlich gilt es als Integrationsdefizit, wenn jemand den All-

tag nicht ohne Hilfe von Dritten bewältigen kann.92

Im Kanton Zürich wurden bis Mai 2009 insgesamt 42 IntV abgeschlossen. Sie machen rund ein Vier-

tel aller in die Studie einbezogenen Vereinbarungen aus. Aufgeschlüsselt nach Nationalitäten

stammen die meisten Betroffenen zu je gleichen Teilen aus Makedonien, Serbien-Montenegro und

Asien. Knapp 80 Prozent der Migranten/innen sind Frauen. Knapp 60 Prozent befinden sich in der

Alterskategorie der 21- bis 30-Jährigen und 5 Prozent (2 Personen) unter den 16- bis 20-Jährigen;

weitere 17 Prozent sind zwischen 31 und 35 Jahren alt. Die restlichen verteilen sich auf die verblei-

benden Alterskategorien, wobei die älteste Person 45 Jahre alt ist. Diese Altersverteilung entspricht

der Kantonsstrategie, vor allem die jüngeren Neuzugezogenen in den Blick zu nehmen. Rund 40

Prozent leisten Erziehungsarbeit. Etwa 85 Prozent der Migranten/innen sind im Jahre 2008 oder

2009 in die Schweiz eingereist, was sich ebenfalls mit der Policy des Kantons deckt.93

9.3.3 Konkrete Massnahmen, Kursangebot (operative Elemente)

Die Mehrheit der Kursangebote sind Sprachkurse, denn die grösste Zielgruppe im Kanton Zürich

bilden die Neuzuziehenden. Aus dem Interview mit der durchführenden Amtsperson geht jedoch

hervor, dass eine gelingende Integration nicht nur Sprachkompetenz voraussetzt. Andere Bedin-

gungen, z.B. Schuldenfreiheit oder Erwerbstätigkeit sind ebenso notwendig. Aus diesem Grund

werden in der Regel je nach individueller Situation der Betroffenen mehrere aufeinander folgende

Massnahmen (Sprachkurse, Qualifizierungsprogramme) festgelegt. Bei der Auswahl geeigneter Kur-

89

Beispiel: Ein Drittstaatangehöriger kommt in die Schweiz, wohnte jedoch zuvor jahrelang in Deutschland und be-

herrscht deswegen die deutsche Sprache. 90

Interview ZH. 91

Ein geringer Integrationsgrad der bereits anwesenden Person ist ein Indikator für eine ungünstige Integrationsprog-

nose. 92

Kantonale Fachstelle für Integrationsfragen ZH. 93

Die Angaben zu Bildung und Arbeitstätigkeit wurden erst nach Abschluss der Auswertung nachgereicht, so dass wir

sie nicht mehr in die Darstellung einbeziehen konnten.

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se werden die Lebensverhältnisse der Betroffenen berücksichtigt (Ausbildung/Beruf, wirtschaftliche

und familiäre Bedingungen, Sprachkompetenz). In der IntV wird eine Art Projektplan zur Erreichung

der gesetzten Ziele oder zur Annäherung daran festgehalten. Die befragte Amtsperson erwähnte

das Beispiel einer Migrantin, die zunächst einen sechsmonatigen Sprachkurs (Deutsch für den Ar-

beitsmarkt) absolvieren und anschliessend ein Bildungs- und Beschäftigungsprogramm besuchen

soll. Ob es danach noch eine weitere Begleitung gibt, ist derzeit noch offen. Bei rund 95 Prozent der

Klienten/innen werden mehrere Massnahmen verordnet, nur wenige erhalten nur eine Massnah-

me. In diesem Punkt weichen die Aussagen der Betroffenen ab: In der Regel meinen sie, die Mass-

nahme bestehe darin, einen Sprachkurs zu absolvieren. Nur eine Person gab an, dass sie einen In-

tegrationskurs absolvieren müsse, und eine andere vereinbarte einen Kurs für Pflege sowie einen

PC-Kurs (neben einem Deutschkurs). Insgesamt sind die Betroffenen in der Lage, die Massnahme

konkret zu benennen, sie verstehen deren Inhalt.

Druckausübung

Die durchführende Amtsperson findet, dass man bei schwierigen Fällen, bei denen die Mittel der

Kontaktaufnahme, des Gesprächs usw. nicht mehr „fruchten“, mehr Druck ausüben können müsse.

Dafür sei eine Zusammenarbeit mit dem Migrationsamt nötig. Es sollte eine zweite Stufe einge-

schaltet werden, mit einem Schreiben, das die Betreffenden darauf aufmerksam macht, dass auf-

grund der Nichterfüllung der IntV ihre Aufenthaltsbewilligung gefährdet ist. Möglicherweise müsste

es ein abgestuftes Sanktionssystem (Bussen) geben, vom Nichterscheinen zum Beratungsgespräch,

für das ja auch Aufwand betrieben wird und das Kosten verursacht, bis hin zur Nichterfüllung der

vereinbarten Massnahme.

Für das Migrationsamt stellt das Nichterfüllen der in der IntV beschlossenen Massnahmen rechtlich

keinen entscheidenden Faktor dar. Es könne höchstens ein Element unter anderen sein, das zu

möglichen Sanktionen führe, aber nie allein ausschlaggebend sein. Auch vor der Einführung der IntV

habe das Migrationsamt bereits über die Möglichkeit verfügt, die Verlängerung der Aufenthaltsbe-

willigung an Auflagen zu knüpfen. Das Erlernen der deutschen Sprache war dabei keine Option, weil

das Amt eine solche Auflage weder überprüfen noch das erreichte Niveau einschätzen konnte.94

Kursangebot

Das Pilotprojekt der IntV hat nach Meinung der befragten Amtsperson Lücken im Kursangebot of-

fengelegt. Während das Deutschkursangebot mit Kinderhütedienst für Frauen in den Gemeinden

relativ gut ausgebaut sei, müsse das Angebot an dezentralen subventionierten Abendkursen

(Sprach- und Integrationskurse) für Erwerbstätige in den Gemeinden optimiert werden. Auch der

Ausbau des Angebots an dezentralen, niederschwelligen Integrationskursen in den Gemeinden sei

nötig, da solche Kurse derzeit noch kaum existieren. Ein Konzept dafür befindet sich momentan in

Ausarbeitung.95

Um Doppelspurigkeiten und Lücken zu vermeiden, sollen in Zukunft Gemeindeanalysen durchge-

führt werden, die den tatsächlichen Bedarf klären und eine entsprechende Optimierung des Kurs-

angebots (Sprach- und Integrationskurse) ermöglichen. In Zusammenarbeit mit dem Statistischen

Amt des Kantons Zürich werden dazu Instrumente entwickelt, die es erlauben, den prognostizierten

Kursbedarf bei den ausländischen Bevölkerungsgruppen abzuleiten.

94

Interview ZH. 95

Interview ZH.

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69

Erwähnenswert ist die übersichtlich eingerichtete Datenbank auf der Homepage der Integrations-

förderung des Kantons Zürich, die je nach Gemeinde über alle Integrationsangebote des Kantons

informiert (www.intergration.zh.ch).

Kurskosten

Die Sprachkurse werden vom Kanton subventioniert und dezentral in den Gemeinden angeboten.

Die Kurskosten betragen für die Migrantinnen und Migranten 5 CHF pro Lektion Manchmal besu-

chen Migranten/innen schon einen Kurs, der teurer ist als eine mögliche Alternative. Dann wird ein

Wechsel vorgenommen, damit das Geld für zwei Kurse statt nur für einen reicht. Bezieht eine Per-

son Sozialhilfeleistungen, so setzt sich die Fachstelle für Integrationsfragen mit der Wohnsitzge-

meinde in Verbindung, um die Übernahme der Kosten durch den Sozialdienst zu regeln.96 Von den

Betroffenen gibt nur eine an, dass der Kurs ihrer Schule recht teuer sei;, dafür könne sie aber ein

höheres Niveau erreichen und ein Diplom erwerben.

9.3.4 Behördenarrangement und Setting

Die Federführung des Pilotprojekts liegt bei der Kantonalen Fachstelle für Integrationsfragen (Direk-

tion der Justiz und des Innern). Dort wurde für die Durchführung der IntV projektbezogen und zeit-

lich befristet eine 40-Prozent-Stelle geschaffen, die derzeit mit einem Psychologen mit interkulturel-

ler Erfahrung besetzt ist. Die Stelle wie auch die zusätzlich anfallenden Übersetzerdienste werden

mit Kantons- und Bundesgeldern finanziert.

Die Fachstelle hält es wegen der Nähe zu juristischen/fremdenpolizeilichen Belangen grundsätzlich

auch für vertretbar, die IntV vom kantonalen Migrationsamt (Sicherheitsdirektion) abschliessen zu

lassen. Die Gründe, warum das in der Pilotphase anders gehandhabt wird, sind die starke Überlas-

tung und die fehlenden Kapazitäten im Migrationsamt.97 Ein weiterer Grund lag nach Einschätzung

der durchführenden Amtsperson darin, dass es bei der IntV nicht primär um die Aufenthaltsbewilli-

gung gehe, sondern dass eine Integrations-Beratung gefragt sei.

Die Einwohnerkontrolle, der Sozialdienst und die Schulbehörde in den Gemeinden melden der kan-

tonalen Fachstelle für Integrationsfragen die Personen mittels Antragsformular. Dann werden im

kantonalen Migrationsamt die fremdenpolizeilichen Aspekte geprüft. Wenn es einem IntV-

Verfahren zustimmt, lädt die Fachstelle für Integrationsfragen die betreffende Person zu einem Ge-

spräch auf das Amt ein.

Der Einladungsbrief enthält keinen Betreff, wird also weder als Einladung noch als Vorladung be-

zeichnet. Im Schreiben selbst wird jedoch erwähnt, dass es um die Unterstützung bei der Integrati-

on geht. Die Betroffenen werden zu einem Beratungsgespräch eingeladen, in dessen Rahmen orien-

tiert und „Möglichkeiten zur Verbesserung Ihrer Integration“ zusammen geprüft werden sollen. Der

Abschluss einer IntV wird dabei als prinzipiell integraler Bestandteil des Beratungsgesprächs aufge-

führt. Der Partner bzw. die Partnerin werden aufgefordert, mitzukommen, während ein(e) Überset-

zer/in nicht erwähnt wird. Beim Anschreiben fällt auf, dass es implizit an den Bemühungen des Ge-

genübers anknüpft. Der Brief setzt Motivation und Bestrebungen zur Integration voraus und signali-

siert, dass man dabei Hilfe in Form von Beratung anbieten möchte. Der Kanton Zürich ist der einzige

Kanton, der das IntV-Gespräch bereits im Anschreiben als Beratungsgespräch definiert. Während

bei allen anderen Kantonen der Abschluss einer IntV explizit als angestrebtes Ziel erwähnt ist, wird

96

Interview ZH. 97

Interview ZH.

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70

das im Kanton Zürich als „im Prinzip zum Beratungsgespräch dazu gehörig“ bezeichnet. Die Formu-

lierung bestätigt den Eindruck, dass man die Motivation und Selbstverantwortung der Betroffenen

betonen möchte, schon bevor ein persönlicher Kontakt stattgefunden hat. So ist es auch nachvoll-

ziehbar, dass tatsächlich in einigen Fällen keine IntV zu Stande kommt – zum Beispiel, weil sich die

Zuweisungskriterien in der Realität als nicht geeignet erweisen oder weil eine Vereinbarung derzeit

aus bestimmten Gründen nicht angezeigt ist. Dieses Ergebnis wird offensichtlich in einem gemein-

samen Verhandlungsprozess von den beteiligten Akteuren entwickelt. Wenn man aufgrund des Ge-

sprächs zum Schluss kommt, dass eine IntV sinnvoll wäre, schliesst die Fachstelle eine solche Ver-

einbarung mit der betroffenen Person ab; sie besucht dann die vorgeschriebenen Kurse und bleibt

(freiwillig) mit der Fachstelle in Kontakt.

Die Betroffenen äusserten sich unterschiedlich darüber, wie sie das Schreiben zum IntV-Gespräch

wahrgenommen und verstanden haben: Eine überwiegende Mehrheit verstand, weshalb sie zum

Gespräch eingeladen wurde und fühlte sich folglich auch nicht von behördlichen Massnahmen be-

droht, sondern nahm die IntV (auch nach dem persönlichen Gespräch) als Hilfestellung wahr.98 Zwei

von zehn befragten Betroffenen war unklar, worum es ging, und sie befürchteten zunächst etwas

Schlimmes. Eine dieser Personen berichtete, sie sei sehr erschrocken und habe Angst gehabt, die

Schweiz verlassen zu müssen. Deshalb habe sie dann die Kinder und auch eine Verwandte zum Ge-

spräch mitgebracht. Sie habe beinahe vor Glück geweint, als ihr bewusst wurde, dass man ihr und

ihren Kindern helfen wollte.

9.3.5 Verfahrensschritte (Assessment, Gesprächsdurchführung, Zielvereinbarung, Controlling, Sanktionen)

Prozessablauf und Indikationsstellung IntV

In einem Prozessablauf, der auf der Homepage der Kantonalen Fachstelle für Integrationsfragen (99)

einzusehen ist, wird detailliert dargestellt, welche Akteure in welchem Prozessschritt zuständig

sind. Um eine interkommunale Standardisierung bei der Fallmeldung zu gewährleisten, stehen

Musterformulare zur Verfügung.100 Falls es zwischen den Gemeinden trotzdem zu einer uneinheitli-

chen Handhabung kommen sollte, würde die Fachstelle für Integrationsfragen eingreifen und die

Situation individuell mit der jeweiligen Gemeinde klären.101 Das Interview mit der durchführenden

Amtsperson machte deutlich, dass hier im Laufe der Zeit Entwicklungen und Anpassungen stattge-

funden haben. Es gab zwei Weisungen an die Gemeinden. Nach der ersten Weisung stellte sich her-

aus, dass Unklarheiten bezüglich der Zielgruppen bestanden. Das zweite Merkblatt (Weisung) griff

sie auf und spezifizierte z.B., dass Personen mit einer Niederlassungsbewilligung und Familienange-

hörige von Schweizern/innen nicht als Zielgruppe der IntV vorgesehen sind. Es seien jedoch freiwil-

lige IntV (auch mit EU-Bürgerinnen und Bürgern) möglich.

98

Vgl. dazu auch statistische Angaben zu den qualitativen Gesprächsprotokollen. 99

www.integration.zh.ch 100

Es wird unterschieden zwischen den Zielgruppen: "Antrag und Beurteilung zur Ausstellung einer Integrationsverein-

barung bei neu vom Ausland zugezogenen Personen aus Drittstaaten" und "Antrag und Beurteilung zur Ausstellung

einer Integrationsvereinbarung bei länger in der Schweiz anwesenden Personen aus Drittstaaten". 101

Interview ZH.

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71

Zielformulierung und Massnahmenbestimmung

Während des Gesprächs wird in Form eines Assessments das Integrationsniveau hinsichtlich der

Wahrnehmung und des Umgangs mit kulturellen Unterschieden (Heimatland und Schweiz) anhand

einer sechsstufigen Skala des „Development Model for Intercultural Sensitivity“ (DMIS) nach Milton

Bennet (1993) eingeschätzt. Sie bildet eine Ausgangsbasis, aufgrund derer sinnvolle und erreichbare

Ziel definiert werden können.

In Zürich gibt es eine Reihe von Beilagen, die mit der IntV zusammen verschickt werden. So werden

z.B. das Raster zum Sprachenportfolio und die Kriterienliste zur vorzeitigen Erteilung der C-

Bewilligung beigefügt. Es wird aber betont, dass die Sprache (verlangtes Niveau ist B1) für eine sol-

che Bewilligung alleine nicht ausreicht, sondern dass sie nur ein „guter Start, ein Impuls“ zur besse-

ren Integration ist.

Wenn beispielsweise ein Deutschkurs als Massnahme „verordnet“ wird und die Voranmeldung er-

folgt ist, muss die betroffene Person die definitive Anmeldung selbst vornehmen.

Controlling

Analog zu den Anwendungskriterien zählen eine erhöhte Sprachkompetenz, ein verbesserter Zu-

gang zu Informationen, eine Steigerung des Bildungs- und Wissensniveaus, eine bessere soziale

Vernetzung, das Kennen und Einhalten der Rechtsordnung, die Teilnahme am Wirtschaftsleben so-

wie die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs als Erfolgsindikatoren einer Integration. Wie diese Krite-

rien angewendet werden sollen, wird jedoch nicht weiter ausgeführt.

Wenn die IntV erfüllt wird, kann die Bewilligung – sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind

– verlängert werden. Werden die in der Vereinbarung festgelegten Verpflichtungen jedoch nicht

eingehalten, prüft die Fachstelle für Integrationsfragen die möglichen Ursachen. Falls sich eine Per-

son zwar bemüht, aber aufgrund ihrer Möglichkeiten ein bestimmtes Deutschniveau nicht fristge-

recht erreichen kann, steht einer Verlängerung der IntV nichts im Wege. Auch bei anderen Grün-

den, die zur Nichteinhaltung der Vereinbarung geführt haben, wie Erziehungsaufgaben, familiären

Problemen oder Krankheit, muss nicht mit Sanktionen gerechnet werden. Vielmehr versucht die

Fachstelle dann, die Person weiter zu begleiten und die passenden Stützangebote zu finden. Damit

soll gewährleistet werden, dass Betroffene ihre persönlichen Ziele erreichen können.

Während es viele Ursachen gibt, die eine Verlängerung der Vereinbarung notwendig machen, hat

eine „böswilligen Verweigerung“ – insbesondere in Verbindung mit weiteren Faktoren wie Sozialhil-

febezug oder Straftaten – einen negativen Einfluss auf das Bewilligungsverfahren.102 Dasselbe gilt

bei einer grundsätzlichen Verweigerung gegenüber dem Abschluss einer IntV. Da es im Kanton Zü-

rich bis anhin keinen derartigen Fall gab, sind die oben beschriebenen Vorgehensweisen vorerst

theoretischer Natur. Inzwischen stellen sich allerdings auch neue ausländerrechtliche Fragen, an die

man anfangs noch nicht gedacht hat – zum Beispiel, wie man vorgehen soll, wenn jemand während

der laufenden IntV in eine andere Gemeinde oder einen anderen Kanton umzieht. Hier ist für die

Fachstelle noch offen, wie es um die Gleichbehandlung der Betroffenen in den Gemeinden bestellt

ist.

Nahezu alle interviewten Betroffenen sehen keinen Verbesserungsbedarf bei der IntV. Sie nennen

weder unklare Rahmenbedingungen oder Erwartungen noch strukturelle Gründe, die die Erfüllung

der Massnahme grundsätzlich behindern. Die persönliche Situation und der biographische Hinter-

102

Interview ZH.

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72

grund scheinen angemessen berücksichtigt zu werden. Laut den Befragten läuft das IntV-Verfahren

gut, die Massnahmen erscheinen ihnen angemessen und sinnvoll.

Monitoring, umfassendes Betreuungssetting

Laut Auskunft der Fachstelle haben die Erfahrungen inzwischen gezeigt, dass neben dem Control-

ling auch ein Monitoring nötig ist. Man müsse die Personen, mit denen eine IntV abgeschlossen

wurde, in regelmässigen Abständen anrufen und fragen, wie es ihnen gehe und wie der Sprachkurs

verlaufe. Nach ein paar Monaten hätten sie die IntV nicht mehr präsent, aber nicht aus „bösem Wil-

len“, sondern einfach, weil sie nicht mehr daran dächten. Damit die Betroffenen ihr Ziel erreichten,

müsse man mit ihnen wiederholt Kontakt aufnehmen. Das sei auch deshalb wichtig, weil sich die

Lebensumstände ändern können; wenn z.B. jemand eine Stelle findet und nun pendeln muss oder

wenn jemand schwanger oder krank wird, muss das berücksichtigt werden.

Die Fachstelle bietet auch Hilfen bei weiteren Fragen an und verweist auf passende Angebote wie

z.B. Geburtsvorbereitungskurse bei schwangeren Frauen oder Angebote für kleine oder heranwach-

sende Kinder. Solche Angebote sind aber nicht verbindlich und stellten keinen Bestandteil der IntV

dar. Einige Betroffene erwähnten in den Interviews, dass sie eine weitreichende sozialarbeiterische

Unterstützung bekommen haben, die sie sehr schätzen. Insgesamt scheint die Unterstützung fall-

adäquat und flexibel zu sein.

Ein weiteres Monitoringinstrument besteht in einer schriftliche Befragung, mit der man in Erfah-

rung bringen will, ob die Betroffenen mit dem Sprachkurs zufrieden sind und welche Angebote sie

vielleicht zusätzlich brauchen (z.B. einen Konversationskurs, da das aktive Sprechen in dem besuch-

ten Sprachkurs zu kurz komme). Neben dem formalisierten, brieflichen Kontakt und dem persönli-

chen Gespräch gibt es einen regen, nicht formalisierten und an den aktuellen konkreten Bedürfnis-

sen orientierten Kontakt per Telefon oder auch SMS zwischen durchführender Amtsperson und Be-

troffenen.

9.3.6 Gesprächsführung

Die Gesprächsführung folgt einem beraterischen Ansatz, der sehr deutlich wird. Das Gespräch wird

von den Betroffenen als guter, persönlicher und hilfreicher Kontakt wahrgenommen. Die Betroffe-

nen können ihre Anliegen äussern, und die Amtsperson wird als freundlich und hilfsbereit erlebt.

Sie fühlen sich gut informiert und finden, dass ihnen die IntV verständlich erklärt wurde. Professio-

nelle Übersetzer/innen werden immer eingesetzt, auch wenn Angehörige dabei sind und überset-

zen könnten. Nur wenn die Amtsperson selbst die Muttersprache der Betroffenen spricht, wird

nicht gedolmetscht. Im Gespräch geht man zusammen den Text der IntV durch. Wenn es um die

Erfüllung der Massnahme geht, fordert die durchführende Amtsperson ihr Gegenüber auf, sich zu

melden, falls sich die Lebensbedingungen ändern und das einen Einfluss auf die vereinbarten Mass-

nahmen hat Dabei wird nicht auf negative Sanktionen eingegangen. Die Motivation und die Bereit-

schaft zur Erfüllung der IntV werden nicht in Frage gestellt. Zwar wird auch das potentielle Risiko

einer Ausweisung bei Nichterfüllung der IntV erwähnt, doch entkräftet das die Amtsperson sofort,

indem sie den Betroffenen sagt, dass sie nichts zu befürchten hätten. Die meisten Betroffenen füh-

len sich verpflichtet und motiviert, die vereinbarten Massnahmen zu erfüllen, ohne das auf die er-

wähnten Sanktionen zurückzuführen, sondern schätzen die IntV als sinnvolle Unterstützung.

Dieses Bild wird auch durch die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung gestützt, wo sich zeigt,

dass die durchführende Amtsperson in erster Linie klärt und informiert sowie gleichzeitig einen

konstruktiv motivierenden Gesprächsstil einsetzt. Sie unterstützt die Betroffenen und empfiehlt

Angebote oder Massnahmen, nachdem sie durch Nachfragen die Ausgangssituation der Betroffe-

nen geklärt hat. Dabei hat der Beziehungsaufbau, welcher auf Humor und Wertschätzung gründet,

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eine höhere Wichtigkeit als in anderen Kantonen. Es konnten wenig fixierende und keine auffor-

dernden, anklagenden oder konfrontativen Momente festgestellt werden. Auf Seite der Betroffe-

nen wird der konstruktive Beziehungsaufbau positiv erwidert, sie erklären ihre Situation und geben

kompetent Auskunft. Gleichzeitig sind sie entgegenkommender und wertschätzender gegenüber

der durchführenden Amtsperson als in anderen Kantonen. Appellierende, konfrontative oder auch

passiv verhaltene Verhaltensweisen konnten nicht ausgemacht werden.

(Antizipierte) Wirkung auf die Betroffenen.

Nach Meinung der durchführenden Amtsperson schreitet der Integrationsprozess bei den Betroffe-

nen „langsam aber sicher“ voran. Konkret nehmen sie ihre Realität anders wahr, indem sie klarer

als zuvor sehen, was erforderlich ist, um in einer neuen Kultur und Gesellschaft „zu leben“. Deshalb

beteiligen sie sich intensiver und bewusster am Alltag, entdecken viel Neues, treten in Kontakt mit

anderen, setzen sich also mit dem täglichen „In-einer-anderen-Kultur-leben“ auseinander. Das be-

schleunigt, so die Amtsperson, den Integrationsprozess. Diese Einschätzungen decken sich mit den-

jenigen der Betroffenen: Der überwiegende Teil der Befragten schreibt den Massnahmen eine in-

tegrationsfördernde Wirkung zu. Die Massnahmen werden für wichtig gehalten und als Unterstüt-

zung erlebt. Fast alle Betroffenen betonen den persönlichen Gewinn aus den Massnahmen, insbe-

sondere die Verbesserung beruflicher Chancen. Sie schätzen den Lerngewinn und erwähnen auch

positiv, dass ihre Wünsche berücksichtigt worden seien. Druck hingegen wird für das Erlernen der

Sprache eher als hinderlich angesehen.

Wirkung nach innen in Bezug auf die eigene Arbeit, die eigene Stelle

Für die Umsetzung der IntV wurde eine befristete 40-Prozent-Stelle geschaffen. Ursprünglich gab es

die Idee, die IntV beim Migrationsamt anzusiedeln, doch dann fand man, dass es sinnvoller sei, die

IntV der Fachstelle Integration zuzuordnen, da es ja, wie erwähnt, nicht nur um die Aufenthaltsbe-

willigung gehe, sondern um Beratung und Integration. Nach den bisherigen Erfahrungen sind alle

Beteiligten der Fachstelle vom gewählten beraterischen Ansatz überzeugt und haben das Gefühl,

dass das gewählte Vorgehen von den Betroffenen gut aufgenommen wurde.

9.3.7 Aufwand und Nutzen

Auf die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Nutzen meinte die durchführende Amtsper-

son, dass die Zusammenarbeit mit den Gemeinden, die Einladung zum Gespräch und die IntV als

solche vom Aufwand her vertretbar seien, so auch das Controlling mit den Kursbestätigungen sowie

die schriftliche Befragung. Sehr aufwändig gestaltet sich hingegen das Monitoring und die Beglei-

tung der Betroffenen. Alle 4 bis 5 Wochen werden die Betroffenen angerufen, und es kommt immer

wieder vor, dass sie ihre Verpflichtung aus der IntV nicht mehr präsent haben. Ein bis zwei Kurse

werden konsequent besucht, aber nach vier bis fünf Monaten verflüchtigt sich die Motivation und

die Betroffenen vergessen, dass sie eine IntV unterschrieben haben. Konkret schätzte die durchfüh-

rende Amtsperson, dass der Aufwand für eine nicht abgeschlossene IntV bei ca. 3.5 Stunden liege.

Bei abgeschlossenen Vereinbarungen hängt der Aufwand meist von der Schulbildung der Betroffe-

nen ab. Bei den besser Qualifizierten braucht man insgesamt einen Arbeitstag, bei den anderen, die

meist mehr Abklärungen erfordern, 1.5 bis 2 Arbeitstage.

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9.3.8 Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Kantonen und weiteren Partnerstellen

Da es sich bei der IntV um eine Kann-Bestimmung handelt und im Kanton Zürich (noch) kein kanto-

nales Integrationsgesetz vorliegt, war es den einzelnen Gemeinden überlassen, über eine Projekt-

beteiligung zu entscheiden. Die Gemeinden wurden von der Fachstelle diesbezüglich angeschrie-

ben. 14 Gemeinden waren zur Teilnahme bereit und wurden in das Pilotprojekt miteinbezogen.103

Die Aufgaben der Gemeinden beschränken sich auf die Fallerkennung sowie die Fallmeldung. Die

relevanten Institutionen und Akteure in den Gemeinden (Einwohnerkontrolle, Sozialamt, Schulpfle-

ge, Gemeinderäte) wurden von der Fachstelle eingeladen und informiert. Darüber hinaus wurden

sie bei der Umsetzung des Projekts unterstützt. Die Gemeinden konnten selbst entscheiden, auf

welche Zielgruppe sie sich konzentrieren wollten, kantonale Prioritäten wurden aber auch mittels

Weisungen an die Gemeinden mitgeteilt. Alle Akteure werden regelmässig vom Kanton eingeladen,

um eine bestmögliche Transparenz und Kommunikation zu gewährleisten. Die durchführende

Amtsperson hat den Auftrag, beim Abschluss der IntV jeweils individuelle Schlussberichte über den

Verlauf der IntV, den aktuellen Integrationsgrad und die Perspektiven der betreffenden Person zu

Handen der zuweisenden Stelle zu verfassen.

Wie die Interviews mit den zuweisenden Stellen zeigen, sind die mitwirkenden Einwohnerkontrol-

len in den Gemeinden von ihrem Vorgehen überzeugt, während die Sozialen Dienste bei Überwei-

sungen eher etwas zurückhaltend geworden sind. Einzelne meinen, dass sich die IntV für problema-

tische „Klienten/innen“ nicht wirklich eigne. Bei ihnen nütze die IntV nicht viel, da ihnen nur ein

Deutschkurs empfohlen würde, für den dann die Sozialhilfe aufkommen müsse. Zudem verfüge die

Sozialhilfe schon über genügend eigene Druckmittel. Andere finden jedoch, dass die Klienten/innen

im IntV-Gespräch gut motiviert und begleitet worden seien. Dazu komme, dass die Fachstelle über

Kursangebote besser informiert ist.

Die kantonale Fachstelle für Integrationsfragen arbeitet vor allem mit dem kantonalen Migration-

samt, den Städte- und Gemeindebehörden und weiteren Betreuungs- und Fachstellen zusammen.

Im interkulturellen Bereich dient die Taskforce interkulturelle Kompetenz als Aussenstelle, die bei

schwierigen Fällen beigezogen wird. Das Migrationsamt begrüsst es, dass die Durchführung der IntV

von der Integrationsfachstelle übernommen worden ist, denn im Gegensatz zum Migrationsamt

habe sie das dafür notwendige fachliche Know-how.

Ansonsten wird im Kanton Zürich derzeit eine Angebotsdatenbank erstellt, die alle Integrationsan-

gebote bezüglich Sprache, Freizeit und Beratung der jeweiligen Gemeinde aufführt. Daraus wird

ersichtlich, welche Angebote es gibt und wo Lücken bestehen.

103

Winterthur, Dübendorf, Hombrechtikon, Bachenbülach, Eglisau, Pfungen, Thalwil, Opfikon-Glattbrugg, Wetzikon,

Schlieren, Dietikon, Langnau a.A., Dällikon und Volketswil.

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10 Übersicht zur Umsetzung der Integrationsvereinbarung nach Kanton

Basel-Stadt Basel-Landschaft Solothurn Zürich Aargau

Integrations-verständnis

Wirtschaftliches Integrations-

defizit: Verlust/- Betreibungs-

scheine

Lernunwilligkeit = Integrations-

unwilligkeit

Fördern und Fordern

Fordern: zeitliches und finanziel-

les Engagement

Fördern: Erlaubnis, in der CH

integriert zu sein

„ein wenig zum Glück zwingen“

Friedliches, von gegenseitigem

Respekt geprägtes Zusammenle-

ben;

gleichberechtigte Teilhabe und

Mitverantwortung am wirtschaft-

lichen, sozialen und kulturellen

Leben

Förderung der aktiven Integrati-

onsbereitschaft und -betätigung;

Gesamtsicht der Betroffenen

Förderung durch Rahmenbedin-

gungen, die Integration ermögli-

chen;

Fordern: Anpassung an hiesige

Werte unter Beibehaltung der

eigenen Identität

Integrations-vereinbarung als …

Letzte Chance

Versuch einer einvernehmlichen

Zielfindung

Integrations- und Motivationshil-

fe, präventiv „zum Schutz des

Ausländers selbst“

Motivations- und Integrations-

hilfe zur Zielerreichung, v.a. auch

Gleichberechtigung der Ge-

schlechter

Informations- und Aufklärungs-

mittel

Anreiz, vorzeitig eine C-

Bewilligung zu erhalten;

Abkürzung des Integrationspro-

zesses

Instrument als Hilfsmittel, das die

Verpflichtung und Mitverantwor-

tung zur Integration fördert;

dient der Orientierung und ge-

währt Hilfen, als Anreiz

Zielgruppen/ Auswahlkriterien

Unfähig selbständig in täglichen

Angelegenheiten zu handeln

Vorliegen von Integrations-

defiziten

Bedarf an spezifischen Förder-

massnahmen

Neuzugezogene ohne rechtlichen

und völkerrechtlichen Anspruch,

Personen, die häusliche Gewalt

ausüben, sozialhilfeabhängige

und/oder arbeitslose Personen,

die mangelnde Deutsch-

kenntnisse aufweisen (Drittstaa-

ten)

Vor allem Neuzugezogene Müt-

ter mit schlechtem Bildungshin-

tergrund, Jugendliche und junge

Erwachsene

neu zugezogene Personen, die in

binationalen Ehen mit Schweizer

Partner/innen verheiratet sind

Neu Zugezogene: fehlende

Deutschkenntnisse,

minimale Schulbildung; mangel-

hafte berufliche Qualifikation,

Erziehungsverantwortung

Länger Anwesende: Defizite

stehen im Vordergrund = unfä-

hig, in täglichen Angelegenheiten

selbständig zu handeln

Neuzugezogene, v.a. Jugendliche

und Familienfrauen;

Personen, die eine Statusum-

wandlung erfahren haben (von F

auf B) mit Integrationsdefiziten

(schlechte Deutschkenntnisse, IV)

Auswahlprozede-re/Assessment

Wer „an die Oberfläche gespült

wird“

Auswahl für IntV durch Akten,

nicht durch Gespräch

Je nach Schuldenhöhe oder Ar-

mutsbetroffenheit macht IntV

Sinn oder nicht

Rückmeldung durch Sozialhilfe

der Gemeinden, Polizei,

Dossier Neuzugezogene liegt

dem Migrationsamt vor

kriteriengeleitet;

Akten via Migrationsamt

Einwohnerkontrolle, Sozialdiens-

te, Schulbehörden der Gemein-

den melden fragliche Fälle; kan-

tonale Fachstelle für Integrati-

onsfragen lässt fremdenpolizeili-

che Aspekte beim Migrationsamt

prüfen; es gibt Musterformulare

zur Fallmeldung

Migrationsamt (Stelle für Famili-

ennachzug) prüft Kriterien und

gibt dem ASO

Nachricht

Setting/ behördliches Ar-rangement

Einladungsschreiben als Vorla-

dung. Grund „Integrationsdefizi-

te“

für Dolmetschen ist zu sorgen

kein spezielles Arrangement für

anwesende Kinder

Prozessablauf im Konzept klar

geregelt

Einladungsschreiben, Grund:

a) mangelnde Sprachkenntnisse

(betr. IntV)

b) Willkommen in der

CH/Abschluss IntV

für Dolmetschen ist zu sorgen

(Partner)

einfacher und klarer Prozessab-

Einladungsschreiben mit Ver-

merk, dass die Akte weiterge-

reicht wurde und der Ankündi-

gung einer IntV; Professionelles

Dolmetschen ist vom Amt sicher-

gestellt

Beschäftigungsmöglichkeit für

Kinder wird bereitgestellt;

Einladungsschreiben, Grund:

Unterstützung bei Integrations-

bemühungen. Definition als

„Beratungsgespräch“; IntV ist

möglich;

Übersetzer/innen nicht erwähnt,

werden aber beigezogen, falls

notwendig;

Zunächst erfolgt ein Infogespräch

mit in Frage kommender Person;

Protokolleintrag mit Empfehlung;

4-Augen Prinzip; danach IntV-

Gespräch;

dazwischen werden Unterstüt-

zungsangebote geklärt

Professionelles, unabhängiges

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Basel-Stadt Basel-Landschaft Solothurn Zürich Aargau

lauf Prozessablauf bei Neuzugezoge-

nen vorhanden, bei länger Anwe-

senden nicht

Prozessablauf im Konzept klar

geregelt

Dolmetschen

Gesprächsführung Entlang Leitfaden (IntV Formular)

Protokollführung

Personalien, Grund für Aufgebot,

Androhung einer Nichtverlänge-

rung der Bewilligung

Vorschlag einer Massnahme ,

Anhörung der Betroffenen

Aufzeigen der Erwartungen und

der Konsequenzen bei Nichterfül-

lung

Entlang Leitfaden (IntV-Formular)

Im Vordergrund steht Beratung

und Information

der Sitzordnung wird Beachtung

geschenkt (nahe bei der Amts-

person, die Autorität verkörpert);

Inszenierung einer offenen At-

mosphäre; Begegnung auf „glei-

cher Augenhöhe“

Ziel ist es, intrinsische Motivation

(innere Haltung) aufzubauen;

Gespräch wird als Beratung ges-

taltet; Fokus liegt auf dem er-

wünschten Verhalten und dem

Anreiz der IntV.

geplante, strukturierte Ge-

sprächsführung auf der Grundla-

ge von Recherchen und Abklä-

rungen im Vorfeld

Art der Gesprächs-führung (TB)

Direktiv, eher anklagend, kon-

frontativ, druckerzeugend, nor-

mativ, moralisierend

Klärend, informierend, nachfra-

gend, fixierend, auffordernd,

empfehlend, z.T. druckerzeu-

gend, überprüfend, anklagend

Primär klärend und informierend,

überprüfende sowie moralisie-

rende Momente kommen auch

zum Tragen

Primär klärend motivierend,

beziehungsaufbauend, unterstüt-

zend empfehlend

Klärend informierend, fixierend,

Realität herstellend, auf Zukunft

ausgerichtet, konstruktiv moti-

vierend

Stellenprozente Keine Angaben möglich 20 Prozent; ca. 5 h pro Gespräch,

inkl. Kurzprotokoll

120 Prozent; 3 h pro Gespräch

inkl. Vor- und Nachbereitung;

geplant: 400 IntV pro Jahr;

40 Prozent; 3,5 h bei nicht abge-

schlossenen IntV; sonst 1,5-2

Arbeitstage pro IntV.

Antizipiert: 150 Prozent bei 80

Infogesprächen und 50 IntV

jährlich

4-5 h bei nicht abgeschlossenen

IntV.

Massnahmen 30 Prozent Deutschkurse

20 Prozent Kombination Sprach-

und Integrationskurs

20 Prozent Kombination Sprach-

kurs und Beratung

30 Prozent Beratung u. Anderes

Deutsch- und Integrationskurse,

Kurse gegen häusliche Gewalt in

Planung

Deutsch-Integrationskurse und

Deutschkurse

2/3 Niveaukurse, z.T. Beratung

bei RAV oder Sozialhilfe, (Benut-

zung deutschsprachiger Medien)

Deutsch- und Integrationskurse;

meist mehrere Massnahmen

nacheinander;

ausgehend vom Zielzustand wird

eine Art Projektplan erstellt

Vor allem Deutschkurse, Integra-

tionskurse sollen auch angeboten

werden

definierte Massnahme wird in

der Datenbank erfasst

Assessment für Bestimmung der Massnahme

Erkennen des Defizits durch

Amtsperson

Vorschlag von Massnahmen

bei Bestimmung des zu errei-

chenden Sprachprofils wird Bil-

dung berücksichtigt (bleibt i.d.R.

den Sprachschulen überlassen)

eine Datenbank liegt vor

Ausländerdienst BL oder andere

Sprachschulen nehmen Einstu-

fungstests vor

eine Datenbank liegt vor

Feststellen des Sprachprofils

durch Amtsperson oder Einstu-

fung durch Sprachschule

Eine Datenbank wird aufgebaut

Feststellen des Integrationsni-

veaus durch Amtsperson anhand

einer sechsstufigen Skala

eine Datenbank liegt vor

Kostenlose, elektronisch durch-

geführte Spracheinstufung vor

IntV-Gespräch

Es gibt keine Datenbank

Controlling Anmeldung bei Sprachschule

wird Migrationsamt innerhalb

eines Monats zugeschickt

Vermerk auf Aktendeckel, dass

IntV läuft; bei der Verlängerung

2010 muss Kursbesuchs-

bestätigung vorliegen

Unaufgeforderte Zusendung der

Kursbestätigung

bei unbegründetem Nichteinhal-

ten der IntV oder Weigerung

erfolgt Meldung ans Migration-

samt; Akteneintrag mit Bemer-

Wenn keine Bestätigung kommt,

wird nach den Ursachen ge-

forscht; neben Controlling gibt es

Monitoring und oft weitere (Le-

bens-)Hilfen

Datenbank gibt Rückmeldung, bis

wann eine Vereinbarung abläuft;

Kursbestätigung ist Bringschuld;

falls nicht erfolgt, schaltet sich

das Amt ein; wenn keine Reakti-

on erfolgt, gilt IntV als nicht er-

Page 79: Evaluation Pilotprojekt zur Einführung der ... · Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich Year: 2010 Evaluation Pilotprojekt

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Basel-Stadt Basel-Landschaft Solothurn Zürich Aargau

kungen zu. Motivation, Schwie-

rigkeiten usw. Weiterleiten an

Migrationsamt; dieses meldet

aber nicht seine Entscheide über

Bewilligungen zurück; Mittlerwei-

le ist eine Datenbank eingerich-

tet

füllt und es gibt eine Meldung an

die Amtsleitung; es erfolgt ver-

mutlich ein Verweis als Sanktion;

Kriterien für Verlängerung der

IntV und Nichterfüllung stehen

noch nicht fest

Antizipierte Wirkung auf die Betroffenen

Druck ist vorherrschend

z.T. Dankbarkeit

individuell unterschiedliche Re-

aktionen

Resignation auf Grund von

Machtlosigkeit

a) freundlich, kooperative Ge-

genüber, die motiviert sind

b) z.T. nur vordergründig moti-

viert Erscheinende

Hoffnung, dass mehr Gleichbe-

rechtigung der Geschlechter

erreicht wird;

wird zu 80 Prozent als Hilfestel-

lung und Wertschätzung bewer-

tet

Integrationsprozess wird als

„langsam aber sicher“ voran-

schreitend beschrieben;

Veränderung der Wahrnehmung

seitens der Betroffenen

Wird als positiv und freiwillig

erlebt;

die Betroffenen wissen, was von

ihnen erwartet wird;

positive Berücksichtigung der

IntV bei Bewilligungen ist moti-

vierend

Wirkungt nach innen

Reflexion der Verwaltungspraxis

Gespräch als effektive Interven-

tion erkannt

- Ins Gespräch zu kommen, eine

Beziehung herstellen wird als

Erfolg gewertet

Beratungsansatz wird als geeig-

net wahrgenommen

Gute Akzeptanz von Prozedere,

guter Austausch und Auseinan-

dersetzung; IntV als Entschei-

dungshilfe für weiteres Vorgehen

Wirkung nach aussen

Propagandaeffekt Überdimensionierte Erwartung

an IntV

kein Masseninstrument, Wirk-

samkeit von Einhaltung der IntV

abhängig

Propagandaeffekt

überzogene Erwartungen an das

Instrument

Überwiegend positive Berichter-

stattung in verschiedenen Me-

dien

Beweis für Politik, dass etwas

getan wird;

viele Erwartungen, z.T. falsche

Vorstellungen und Begehrlichkei-

ten

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11 Prozessrelevante und wirkungsanalytische Dimensionen

11.1 Verfahrensdimensionen

Als Verfahrensdimensionen werden alle Schritte im Prozess des Abschlusses einer IntV verstanden,

von der Auswahl der Zielgruppen über das Assessment des Integrationsgrades und die Gestaltung

des Gesprächssettings bis hin zum Festlegen von Massnahmen und ihrem Controlling oder Monito-

ring und Konsequenzen bei Erfüllung oder Nichterfüllung.

Auswahl der Zielgruppen

Während die meisten Kantone sich auf die Zielgruppe der Neuzugezogenen im Familiennachzug

konzentrierten (AG, BL, SO), wobei Zürich auf solche mit schlechter Integrationsprognose fokus-

siert, besteht die Zielgruppe in Basel-Stadt aus länger Anwesenden, die „Integrationsdefizite“ auf-

weisen (Schulden, Sozialhilfeabhängigkeit, Straffälligkeit usw.). Mit der Bestimmung der Zielgruppe

scheint bereits deutlich zu werden, dass diejenigen, die im Familiennachzug aus Drittstaaten kom-

men, am einfachsten zu rekrutieren sein dürften. Wenn die Federführung für die IntV dann noch im

Migrationsamt angesiedelt ist, wie im Kanton Basel-Landschaft, ist die Auswahl und Zuweisung der

Zielgruppe einfach. Sofern die IntV von einer anderen Abteilung oder einem anderen Amt durchge-

führt wird, wie z.B. von einer Fachstelle für Integration (AG, SO, ZH), so stellt die Zusammenarbeit

zwischen den involvierten Ämtern eine potentielle Herausforderung dar, die Kommunikation und

Klärung erfordert. Sofern der Prozess der Umsetzung der IntV als ämterübergreifender, gemeinsa-

mer Entwicklungsprozess verstanden und gehandhabt wird, wie das im Kanton Aargau der Fall ist,

wirkt sich das positiv auf die Zusammenarbeit aus. Schwieriger wird es, wenn innerhalb der Ziel-

gruppe der Neuzugezogenen, wie im Kanton Zürich, mit einer spezifischen Gruppe (Unterstichpro-

be) gearbeitet werden soll und dabei noch verschiedene Gemeinden beteiligt sind. So ist Zürich

wiederholt damit konfrontiert, dass Betroffene vermittelt werden, die den bekanntgegebenen Kri-

terien nicht entsprechen. Im Kanton Basel-Stadt gibt es keine definierten Kriterien, anhand derer

zuweisende Stellen eine Auswahl treffen. Sobald jemand „negativ auffällt“, sei es bei der Polizei, bei

der Sozialhilfe oder neuerdings auch im schulischen Kontext, indem er z.B. seinen Erziehungspflich-

ten nicht nachkommt, kann eine Meldung an das Migrationsamt erfolgen. Es prüft daraufhin, ob die

Person aus einem Drittstaat stammt und schon länger in der Schweiz lebt und lädt sie dann gege-

benenfalls vor.

Der Kanton Solothurn sieht auch neuzugezogene Personen für die IntV vor, welche in binationalen

Ehen mit Schweizer Partnern/innen leben. Grund dafür ist die Beobachtung, dass sich insbesondere

Schweizer Ehemänner integrationshemmend gegenüber ihren ausländischen Ehefrauen (z.B. aus

Südostasien, Mittel- und Südamerika) verhalten.104

Assessment zur Bestimmung des Integrationsgrades

Im Kanton Aargau gibt es eindeutige Kriterien dafür, was als Integrationsdefizit und damit als förde-

rungs- und forderungswürdig anzusehen ist und wie man damit umzugehen gedenkt. Der Kanton

104

Gemäss Angaben der durchführenden Amtsperson.

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stützt sich weitgehend auf die Vorgaben des BFM, das sprachliche Massnahmen und schulische o-

der ausbildungsbezogene Interventionen ins Zentrum stellt. Probleme anderer Art, seien es Schul-

den, Gewalttätigkeit oder Alkoholismus, werden nicht im direkten Kontext der Integration gesehen

und deren Bearbeitung stellt daher auch kein Interventionsziel dar. In einem ersten Gespräch, das

dem Kennenlernen und der Orientierung der Betroffenen dient, wird abgeklärt, ob sich der Ab-

schluss einer IntV als Massnahme eignen könnte. Falls dem so ist, wird in der Zwischenzeit ein

sprachlicher Einstufungstest durchgeführt, dessen Resultate der Fachstelle elektronisch zugestellt

werden und die als Grundlage für die Bestimmung geeigneter Massnahmen dienen. Gleichzeitig

recherchiert die Amtsperson sonstige Optionen, um den Integrationsprozess zu fördern und Ange-

bote machen zu können, die die Betroffenen überzeugen und motivieren.

Im Kanton Zürich gelten fehlende Deutschkenntnisse, eine minimale Schulbildung/mangelhafte be-

rufliche Qualifikation sowie Erziehungsverantwortung als Anzeichen für eine schlechte Integrati-

onsprognose. Hier nimmt die durchführende Amtsperson die Einschätzung anhand einer sechsstu-

figen Skala, die das Niveau der Integration abbildet, selbst vor. In den anderen Kantonen fehlt ein

solches Instrument, so dass die subjektive Einschätzung der Amtsperson der alleinige Gradmesser

für die Angemessenheit einer Massnahme bleibt. Dementsprechend ist auch z.T. Kritik bei den Be-

troffenen zu vernehmen, z.B. dass ihr Sprachprofil falsch (meist zu hoch) eingeschätzt worden sei –

das wird von den Sprachschulen bestätigt. Auch sie monieren die z.T. überhöhten Erwartungen vor

allem bei bildungsfernen Betroffenen. Abgesehen von der sprachlichen Einstufung gelten im Kanton

Basel-Stadt z.B. Schulden in einer bestimmten Höhe oder langfristige Sozialhilfeabhängigkeit als

Ausgangspunkt für die Festlegung einer entsprechenden Massnahme.

Gestaltung des Gesprächssettings

Wenn sich die Beteiligten zum Gespräch treffen, sind schon im Vorfeld Einladungsschreiben ver-

schickt worden, die bestimmte Botschaften enthalten und dementsprechend Erwartungen und Be-

fürchtungen bei den Betroffenen auslösen. Während im Kanton Basel-Stadt z.B. auf „Integrations-

defizite“ als Ein- oder Vorladungsgrund hingewiesen wird, definiert man im Kanton Zürich den

Grund für das Vorsprechen auf dem Amt als „Unterstützung bei den Integrationsbemühungen“.

Diese Erstbotschaft schlägt sich auch im Stil des darauf folgenden IntV-Gesprächs nieder. In Basel-

Stadt wird gemäss dem verwendeten Leitfaden nach der Aufnahme der Personalien zunächst der

Grund für das Aufgebot erwähnt und die Möglichkeit der Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilli-

gung in den Raum gestellt. Daraufhin folgen die vorgeschlagenen Massnahmen und die Anhörung

der Betroffenen. Das Kontrastmodell hierzu stellen Solothurn und Zürich dar. Bei beiden steht die

Beratung und Information der Betroffenen im Vordergrund, wobei der Fokus auf das erwünschte

Verhalten gelegt und eine Gesprächssituation „auf gleicher Augenhöhe“ angestrebt wird. Der Kan-

ton Aargau weist nochmals ein anderes Setting-Modell auf, denn hier hat bereits ein Erstgespräch

stattgefunden und allen Beteiligten ist schon klar, dass es nun um den Abschluss einer IntV gehen

wird. Daher handelt es sich hier um ein sorgfältig geplantes, vorbereitetes und durchstrukturiertes

Gesprächssetting.

Was die am Gespräch teilnehmenden Personen angeht, laden alle Kantone beide Eheleute zum Ge-

spräch ein und lassen auch beide die IntV unterschreiben. Der nichtbetroffene Ehepartner bestätigt

mit seiner Unterschrift lediglich die Kenntnisnahme der vereinbarten Massnahmen. Die durchfüh-

renden Stellen erhoffen sich, die Motivation und Unterstützung des nicht direkt betroffenen Ehe-

partners fördern zu können.

Um die Verständlichkeit des Inhalts der IntV zu gewährleisten und die direkte Verständigung sicher-

zustellen, ziehen die Kantone Solothurn und Aargau grundsätzlich unabhängige professionelle Ü-

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bersetzer/innen bei. In Zürich spricht die durchführende Amtsperson fünf Sprachen. Sprechen die

Betroffenen eine andere Sprache, so werden ebenfalls externe professionelle Übersetzer/innen

eingesetzt. Die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft fordern die Betroffenen auf, selbst für

das Dolmetschen zu sorgen. Dabei werden zum Teil wichtige Inhalte und Präzisierungen nicht oder

nur ungenügend verstanden. Auch wenn ein Familienmitglied oder Freund des Hauses dolmetscht

oder als Fürsprecher fungiert und damit unterstützend wirken kann, ist mit der fehlenden Unab-

hängigkeit und Professionalität immer auch die Gefahr verbunden, dass es zu einer schwierigen Rol-

lenvermischung und schlimmstenfalls zu Manipulationen kommt. Juristisch gesehen stellt nur die

Mitwirkung eines unabhängigen, professionellen Übersetzers sicher, dass die relevanten Inhalte

verstanden wurden. Somit wird auch die Unterschrift der betroffenen Person rechtsgültig. Zum Teil

sind bei den Gesprächen zur IntV auch Kinder anwesend, die sich über eine lange Zeitspanne hin-

weg ruhig verhalten müssen. Im Kanton Solothurn und in Zürich werden ihnen geeignete Beschäfti-

gungsmöglichkeiten angeboten. Dies wirkt sich sowohl auf die Verständigung im Gespräch als auch

auf das psychische Befinden der beteiligten Betroffenen positiv aus. Quengelnde Kinder und der

dadurch ausgelöste Stress steigern bei den Betroffenen den Druck und die Anspannung, die mit

dem Vorsprechen auf dem Amt ohnedies verbunden sind.

Festlegen von Massnahmen

Bei den Massnahmen stehen in allen Kantonen die Deutschkurse im Vordergrund. Das entspricht

auch einer der beiden Vorgaben im AuG. Auch die zweite im AuG genannte Massnahme, nämlich

Integrationskurse, wird von fast allen Kantonen vereinbart oder verordnet. Mit der Bezeichnung

„Integrationskurs“ können sehr unterschiedliche Inhalte gemeint sein, kann z.B. die allgemeine Ori-

entierung über die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme der Schweiz und des Kantons,

oder auch ein spezifischer Kurs gegen häusliche Gewalt. Im Kanton Aargau verfolgt man eine enge,

an die Richtlinien des Bundes angelehnte Definition von Integrationsdefiziten. Damit werden alle

Probleme ausgeschlossen, die nicht nachweislich auf ein Integrationsdefizit zurückzuführen sind,

wie Erwerbslosigkeit infolge von mangelnden Kenntnissen der Landessprache. Dementsprechend

sind zwar auch hier Integrationskurse künftig vorgesehen, jedoch erst, nachdem man den Begriff

und die Massnahmen genauer bestimmt und die entsprechenden Angebote erfasst hat. Vom juristi-

schen Standpunkt aus handelt das Amt damit auf einer solideren Basis, nicht zuletzt auch deshalb,

weil vorgängig eine objektive Einstufung des Sprachprofils erfolgt und zumindest die Ausgangslage

geklärt ist. Welches Niveau dann zu erreichen ist, ist Gegenstand des Gesprächs und abhängig von

den Möglichkeiten, dem Bildungsniveau und den angestrebten Zielen der Betroffenen. Im Kanton

Basel-Landschaft nimmt der ALD die sprachlichen Einstufungstests vor, im Kanton Solothurn die

aufnehmende Sprachschule, sofern eine Notwendigkeit hierfür gesehen wird. Eine systematische

Praxis der Rückmeldung zwischen einstufender Instanz und Behörde gibt es allerdings nicht. Ähnlich

wie im Kanton Aargau scheint es auch im Kanton Zürich einen umrissenen Entwurf des zu errei-

chenden Ziels zu geben, der gemeinsam mit der betroffenen Person ausgehandelt wird. Da das Ziel

der Berufsausbildung oder Umschulung oft nicht in einem Schritt zu erreichen ist, werden die Ziele

in Teilziele unterteilt und die Zielerreichung gestaffelt. Folglich enthält die IntV mehrere hinterein-

ander angeordnete Massnahmen. Das bedeutet, dass die Zeitspanne der IntV mehr als ein Jahr um-

fassen kann, was Auswirkungen auf das Controlling und Monitoring hat (vgl. den nächsten Ab-

schnitt). Da ein mehr oder weniger klar definierter Endzustand erreicht werden soll, genügt es

nicht, nur den Nachweis der Kursteilnahme zu erbringen, sondern es muss ein bestimmter Lerner-

folg erzielt werden. In anderen Kantonen ist das zum Teil nicht klar, es fehlen Kriterien zur Festle-

gung des bestehenden wie auch des zu erreichenden Sprachprofils. Zwar ist allen Beteiligten theo-

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retisch klar, dass das Erlernen der Sprache sich bei einem Analphabeten ganz anders gestaltet als

bei bildungsnahen Migranten/innen. Aber was genau von welcher Person, in welchem Zeitraum

und aus welchen Gründen zu erwarten ist, bleibt offen. Ebenso fehlen klare Regelungen zum Um-

gang mit Arztzeugnissen, laufenden IV-Anträgen und ähnlichem. Derzeit werden sie weitgehend

ignoriert, oder sie führen innerhalb der verordneten Massnahme zu leichten Modifikationen – etwa

hinsichtlich des zu erwerbenden Sprachprofils oder dem Umfang des zu besuchenden Kurses. Wie-

derholt wurde explizit und auch implizit deutlich, dass mit den Sprachkursen nicht nur die Hoffnung

verbunden ist, dass die Betroffenen Deutsch lernen, sondern auch, dass insbesondere Frauen dar-

über hinaus auch einen Schritt in Richtung Gleichberechtigung und Ausweitung ihres Bewegungsra-

dius machen können.

In fast allen untersuchten Kantonen werden die Sprachkurse subventioniert. Ausserdem werden

Betroffenen an die Sozialhilfe vermittelt, wenn die Kurskosten ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten

überschreiten. Mittlerweile unterhalten auch alle Kantone ausser dem Aargau eine Datenbank, in

der mögliche Angebote aufgelistet sind.

Controlling und Monitoring der Massnahmen

Die Art des Controllings von IntV-Massnahmen unterscheidet sich von Kanton zu Kanton stark.

Während im Kanton Basel-Stadt die Anmeldung zum Sprachkurs dem Migrationsamt innerhalb ei-

nes Monats vorliegen muss, wird in den anderen Kantonen die Kursbestätigung bis zum Ablauf der

Frist erwartet („Bringschuld“). Sollte sie nicht rechtzeitig eintreffen, wird zunächst nach den Ursa-

chen gefragt. Wenn die Nichterfüllung der Massnahme nach abgelaufener Frist unverschuldet ist,

kann eine Fristverlängerung gewährt werden, ansonsten erfolgt eine Meldung an das Migration-

samt. Die Integrationsstellen, die mit der Ausstellung der IntV betraut sind, wünschen sich vom

Migrationsamt eine Rückmeldung über Bewilligungsentscheide, was aber in den meisten Kantonen

nicht zu funktionieren scheint. Bei der Wahrung der Termine erweist sich eine Datenbank als sehr

gewinnbringend. Vor allem bei einer grossen Anzahl von IntV wie in Solothurn stösst man mit „ma-

nuellen Mitteln der Kontrolle“ schnell an Grenzen. Aus Gründen des professionellen und effizienten

Controllings haben die Kantone Solothurn und Aargau solche Datenbanken eingeführt. Die Erfah-

rung im Kanton Zürich zeigt, dass neben dem Controlling auch ein Monitoring erforderlich ist, d.h.

eine begleitende und beaufsichtigende Prozessgestaltung der IntV. Möglicherweise resultiert diese

Einsicht aus IntV mit einer längeren Laufzeit, bei denen mehrere Massnahmen hintereinander an-

beraumt wurden. Bei langen Laufzeiten rückt die IntV im Alltag der Betroffenen etwas in den Hin-

tergrund, so dass man sie noch einmal daran erinnern muss. Oft werden im Laufe der Zeit neue Hil-

fen und Problemlösungen benötigt, weil Schwierigkeiten entstanden sind, die zum Zeitpunkt des

Abschlusses der IntV noch nicht bestanden, nun aber die erfolgreiche Erfüllung der Massnahme

beeinträchtigen oder gar verhindern.

Der Kanton Solothurn wendet diesbezüglich eine spezielle Checkliste mit 13 Punkten an, in welcher

die vereinbarten Massnahmen wie folgt geprüft werden: Wer nicht zum Gespräch erscheint, erhält

eine zweite Einladung, dann eine Vorladung mit Meldung an das Migrationsamt. Nach Abschluss

der IntV muss die Anmeldung für den vereinbarten Kurs innerhalb von 10 Tagen zurückgesendet

werden. Kommt die Bestätigung nicht, wird gemahnt (nach Angaben der Amtsperson bei etwa

20%), ebenso bei Nichteintreffen der Kursbestätigung nach absolvierter Massnahme. Notfalls wird

auch zu einem Zweitgespräch eingeladen, und es werden Folgevereinbarungen mit einer Mitteilung

ans Migrationsamt getroffen.

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Erfüllung von Massnahmen und Anordnung allfälliger Sanktionen

Welche Konsequenzen die Erfüllung oder Nichterfüllung der IntV hat, ist noch wenig geklärt, so dass

in diesem Bereich noch viele Fragen und Unsicherheiten bestehen.

Wurden die verordneten Massnahmen erfüllt, so führt das zu einer positiven Anrechnung der er-

brachten Leistungen, etwa in Form einer Bewilligungsverlängerung oder einer frühzeitigen Erteilung

der Niederlassungsbewilligung. Das sieht z.B. der Kanton Zürich in seinem Konzept explizit vor. Bei

Nichterfüllung der Massnahme ohne triftigen Grund erfolgt eine Meldung an das Migrationsamt,

sofern dieses nicht ohnedies mit der Durchführung der IntV beauftragt wurde. Ist das Migration-

samt selbst die IntV-durchführende Behörde, so wird die Nichterfüllung in der Akte des Betroffenen

vermerkt. Nur im Kanton Aargau ist der amtsinterne Verfahrensweg bei einer Nichterfüllung expli-

ziert, wenn auch noch nicht definitiv festgelegt. Die vorgesetzte Person (Amtsleitung) wird infor-

miert, und meist wird ein Verweis ausgesprochen. Allerdings steht auch hier noch die Festsetzung

von Kriterien für eine Verlängerung der IntV aus. Im AuG ist vorgesehen, dass die Nichteinhaltung

der IntV beim Entscheid über die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung oder dem Erteilen ei-

ner Niederlassungsbewilligung berücksichtigt werden kann. Die Konsequenzen einer Nichterfüllung

von IntV-Massnahmen liegen aber im behördlichen Ermessen. Öffentliche und persönliche Interes-

sen werden dabei gegeneinander abgewogen. Ermessensentscheide müssen jedoch verhältnismäs-

sig sein, und die versäumte Einhaltung der IntV darf nicht alleine zu einem Negativentscheid führen.

Neben einer Nichterfüllung der IntV müssen noch weitere schwerwiegende Defizite wie langjährige

Sozialhilfeabhängigkeit und/oder Kriminalität vorliegen, damit ein solch weitreichender Entscheid

legitimiert werden kann.

Die in der vorliegenden Studie evaluierten Prozessabläufe in den einzelnen Kantonen machen eini-

ge Verfahrensprobleme und juristische Schwachstellen deutlich, die bei einem allfälligen Rekurs

aller Wahrscheinlichkeit nach problematisiert würden. Es gibt auch die Befürchtung, dass die Migra-

tionsämter ihre Entscheide ohne Berücksichtigung des IntV-Verlaufs fällen könnten. Sollte sich das

bewahrheiten, so könnte die IntV nicht als Sanktionsmittel eingesetzt werden, sondern würde, wie

ein Amtsvertreter meint, zu einem „zahnlosen Tiger“.

11.2 Wirkungsanalyse

Ob eine erfolgreiche Integration auf die Vereinbarung zurückzuführen ist (kausale Wirksamkeits-

analyse), welchen Anteil sie an etwaigen Verbesserungen der Chancen auf eine Integration hat und

ob diese Verbesserungen auch ohne IntV erfolgt wären, kann wissenschaftlich nur mit einem Kon-

trollgruppenvergleich und einer entsprechenden evaluativen Studie ermittelt werden. Im Rahmen

unseres Untersuchungsauftrags liess sich ein solches Forschungsdesign nicht implementieren. Des-

halb haben wir die Wirksamkeit der Vereinbarung in Form einer mehrperspektivischen Gesamtana-

lyse der Einschätzungen der beteiligten Akteurinnen und Akteure erhoben. Dieses Vorgehen erlaubt

uns auch zu erfahren, welche Nebeneffekte die IntV mit sich gebracht hat. Die intendierten und

nichtintendierten Wirkungen der IntV werden folglich aus der Sicht der verschiedenen Akteure her-

ausgearbeitet und dokumentiert.

Im Zentrum der Wirkungsanalyse steht die Frage, inwiefern das Instrument der IntV eine Einstel-

lungs- und Verhaltensänderung hinsichtlich der integrationspolitischen Ziele motiviert. Motivation

wird hier primär wertfrei, als „Anreizen zu einem bestimmten Denken und Verhalten“ verstanden.

Grundsätzlich kann man sowohl mit einer Fordern-Politik (Druck ausüben) als auch mit einer För-

dern-Politik (Freiwilligkeit, wohlwollende Unterstützung ohne Druck) Anreize schaffen. Inwieweit

die IntV oder die vereinbarten Massnahmen eine Wirkung entfachen können, hängt ganz wesent-

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lich vom Behörden-Setting, von der Zielgruppe und der Gesprächsführung der Amtsperson ab, wie

auch die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen.

11.2.1 Einschätzungen der Wirkung durch die institutionellen Akteure

Wirkungseinschätzung der Kooperationspartner

Die IntV wird als Instrument gesehen, welches die Kommunikationskompetenzen, die sprachlichen

Kenntnisse und die Integration der betroffenen Personen verbessern soll. Die interviewten Sprach-

schulvertreter/innen schätzen die Lernwilligkeit der Personen mit IntV recht hoch ein, doch merken

sie an, dass der tatsächliche Lernzuwachs oft nicht gross und auch nicht einfach nachzuweisen ist.

Das gilt vor allem für lernungewohnte Personen; bei ihnen müssen schon kleine Fortschritte aner-

kannt werden. Der Zeitraum eines Jahres wird allgemein als zu kurz beurteilt, um bei lernunge-

wohnten Menschen sprachliche Lernfortschritte in ausreichendem Mass zu erreichen. Einige halten

die Zeitspanne von drei Jahren für realistischer, um die Umsetzung von Massnahmen einzulösen

und zu überprüfen.

Grenzen bei der Erreichung der Ziele sehen sie bei älteren Personen (über 50 Jahren), weil ihre

Chancen für eine spätere Arbeitsaufnahme und somit auch ihre Lernmotivation gering sind. Auch

bei Ausländerinnen und Ausländern, die schon länger in der Schweiz sind, ist die Motivation für das

Erlernen der Landessprache meist wenig ausgeprägt, da sie sich bisher auch mit ihren rudimentären

Sprachkenntnissen einigermassen durchschlagen konnten. Ebenso ist es bei bildungsfernen, nicht-

alphabetisierten, kranken, traumatisierten oder sonst psychisch belasteten Personen fraglich, wie

viel Lernzuwachs mit einem angemessenen Aufwand überhaupt leistbar und erreichbar ist. Oft ist

die Lebenssituation von Individuen mit verschiedensten psychosozialen Belastungen derart über-

fordernd, dass sie die Konzentration zum Lernen gar nicht aufbringen können. In solchen Fällen ist

zu überlegen, ob eine IntV überhaupt eine positive Wirkung entfalten kann. So ist für bildungsferne

und sozial eher randständige Personengruppen eine IntV, die Eigenverantwortung, Eigeninitiative

und Bildungsfähigkeit voraussetzt, eine Überforderung. Auf der anderen Seite wird von einzelnen

Beratungsstellen und Kursanbietern kritisch angemerkt, dass junge, gut gebildete Leute die im

Rahmen einer IntV vereinbarten Bildungsbemühungen sicher auch von sich aus unternommen hät-

ten. Auch bei Beratungsmassnahmen dürfte der übliche Zugang, d.h. die mehrheitlich eigenmoti-

vierte freiwillige Inanspruchnahme von Beratungsangeboten, eine bessere Wirkung zeigen.

Die Meinungen der befragten Kurs- und Beratungsanbieter und -anbieterinnen zu den Sanktions-

möglichkeiten und den durch die IntV verursachten Druck sind geteilt. Die einen meinen, dass ohne

Druck die Bemühungen der Betroffenen um den Erwerb oder die Verbesserung der Sprachkompe-

tenzen und Integration zu gering wären, während andere eine echte und wirksame Lernbereitschaft

nur bei intrinsischer Motivation für möglich halten.

Bei Sozialhilfebezügern/innen und solchen mit psychosozialen Mehrfachbelastungen sehen die

meisten zuweisenden Stellen grosse Hürden für eine IntV und halten diese Zielgruppe deshalb für

wenig geeignet. Diese potentiell Betroffenen resignieren bei Druckanwendung und lassen sich da-

durch nicht aktivieren; zum Teil können sie auch schon mit Druck umzugehen und sich ihm entzie-

hen oder ausweichen. Für diese Personengruppen sieht die Sozialhilfe aufgrund ihrer Erfahrungen

nur eine enge Begleitung über einen längeren Zeitraum als gewinnbringend an; dabei müsse auch

die ganze Vorgeschichte in Betracht gezogen werden. Auch bei ökonomischen Problemen bringen

die IntV und der damit verbundene Druck die Klienten/innen nicht weiter, sondern blockieren sie

womöglich. Zudem ist z.B. die Auflösung der Schulden ein zu hoch gestecktes Ziel, und die berufli-

chen Wiedereingliederungschancen können aufgrund verschiedener Defizite (Kompetenzen, Krank-

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heit usw.) stark eingeschränkt sein und auch durch Sprachkompetenzen nicht wettgemacht wer-

den.

Einige Interviewpartner/innen bewerten die Rollenverteilung und die Zuständigkeiten zwischen

Migrationsbehörde und Sozialdiensten oder Sozialhilfe als unklar. Zum Teil wird auch kritisiert, dass

der Informationsfluss wegen des Datenschutzes weitgehend nicht möglich ist; das kann eine Koope-

ration unmöglich machen und zu Doppelspurigkeit bei den Massnahmen führen. Zur Finanzierung

der im Rahmen der IntV vereinbarten Massnahmen wird kritisch angemerkt, dass sie an die Sozial-

hilfe delegiert wird, wenn die Kurskosten für den/die Klient/in nicht zumutbar sind.

Die befragten Sozialdienste kennen sich mit schwierigen Situationen (Arbeit mit Personen in

Zwangskontexten) aus und wissen, dass für die Arbeit mit solchen Betroffenen Professionalität, Ko-

operation und eine enge, langfristige Begleitung notwendig sind, um realistische Ziel erreichen zu

können. Mit dem Instrument der IntV befasst sich nun eine weitere Amtsstelle mit diesen Klien-

ten/innen. Aus Sicht der Sozialdienste wird dadurch das Problem der ökonomischen Unselbständig-

keit nicht gelöst, zumal als Massnahmen meist lediglich Deutschkurse vereinbart werden; die mit-

unter massiven Hindernisse für die Arbeitsintegration werden jedoch so nicht behoben. Es wurde

auch betont, dass die Sozialhilfe schon über genügend Sanktionsinstrumente verfügt, um selbst

Druck auszuüben, und dass sich insgesamt positive Anreize als wirkungsvoller erwiesen haben. Die

Ausweisungsandrohung im Rahmen der IntV wird folglich nicht als „innovative“ Massnahme beur-

teilt. Andere wiederum meinten, dass die IntV die Verbindlichkeit in der Arbeit mit Betroffenen da-

durch, dass von einer weiteren Instanz her Druck ausgeübt wird, erhöhen kann.

Wirkungseinschätzung der durchführenden Amtspersonen

Die Wirkung der IntV, wie sie im Kanton Zürich definiert wird, besteht nicht nur in der Verbesserung

der Sprachkompetenz, sondern soll auch zu einer umfassenderen Weiterqualifizierung der Betrof-

fenen führen. Die erfolgten Bemühungen (Kursbesuch, Weiterbildung usw.) werden dadurch be-

lohnt, dass ein Betroffener aufgrund der im Rahmen der IntV erbrachten Leistungen seine C-

Bewilligung früher erhalten kann. Dieser Anreiz wird als besonders förderlich für die Lernmotivation

gesehen. Dabei will man nicht nur den Betroffenen isoliert in den Blick nehmen, sondern auch sein

familiäres Umfeld berücksichtigen und Hilfen anbieten, z.B. sich nach Ausbildungsmöglichkeiten für

die heranwachsenden Kinder erkundigen oder ihnen einen Schulplatz vermitteln. Man geht davon

aus, dass die durch die Lösung eines Problems entstandene Entlastung und das daraus resultieren-

de Wohlbefinden Energien freisetzt, die für die Integration genutzt werden können.

Im Kanton Basel-Stadt wird der Erfolg der Integrationsbemühungen stärker an Tatsachen festge-

macht. So müssen die Betroffenen ähnlich wie beim RAV Bewerbungsschreiben oder Zertifikate der

absolvierten Kurse vorlegen. Es wird als Erfolg verbucht, dass einige Betroffene eine Stelle gefunden

haben. Bei den verschuldeten Betroffenen sieht man in der IntV nun endlich griffige Sanktionsmög-

lichkeiten. Man erhofft sich, dass Resultate sichtbar werden und die Betroffenen nicht mehr den-

ken, „sollen die nur machen, es passiert ja sowieso nichts“. Dasselbe gilt bei Straffälligkeit. Diese

positive Wirkung resultiert nach Meinung der Amtspersonen auch aus dem direkten „face to face“-

Kontakt mit den Betroffenen, der die Verbindlichkeit zusätzlich erhöht. „Begraben“ könne man die

IntV jedoch, wenn keine Ausweisungen bei Nichterfüllung erfolgen, weil sich das herumsprechen

kann. Daher verbindet man die Wirksamkeit der IntV mit dem Statuieren von Exempeln. Effizient

könne die IntV nur bleiben, wenn sie weiterhin ein Instrument für gezielt ausgewählte Einzelfälle

bleibe, denn als Masseninstrument tauge sie nicht. Auch dürfe man sich nicht der Illusion hingeben,

dass jemand infolge der IntV schon integriert sei. Durch sie werde höchstens eine erste Stufe er-

reicht, eine umfassende Integration sei nicht zu erwarten.

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Im Kanton Basel-Landschaft soll die IntV den Betroffenen auch das Gefühl vermitteln, dass sie die

Integrationsbemühungen nicht für das Migrationsamt, sondern für sich selbst sowie für ihre Kinder

und ihr Umfeld erbringen. Auch hier sieht man die Gefahr einer Einbusse an Verbindlichkeit und

echtem Engagement der Betroffenen, wenn sich in Ausländerkreisen herumspricht, dass es da „so

pro forma“ um das Absolvieren eines Deutschkurses geht, aber die IntV „keine Zähne zeigen“ kann.

Im Kanton Solothurn gehen die durchführenden Amtspersonen von einer allgemeinen Erfolgsquote

von mindestens 80 Prozent aus. Als Erfolg wird es bezeichnet, wenn man bei Betroffenen aktive

Bemühungen zur Erfüllung der IntV feststellt. Es gibt inzwischen einen merklichen Anstieg der

Kursteilnehmenden in den subventionierten Deutsch-Integrationskursen. Durch bessere Deutsch-

kenntnisse sollen sich auch die Chancen der nicht beschäftigten Betroffenen verbessern, eine Ar-

beitsstelle zu finden. Doch machen sie sich keine Illusionen, was die momentane Situation auf dem

Arbeitsmarkt betrifft. An die IntV ist auch die Hoffnung geknüpft, dass eine Sozialhilfeabhängigkeit

vermieden oder abgelöst werden kann. Diesbezüglich gibt es jedoch noch wenig konkrete Erfolge,

die nur dann registriert werden können, wenn ein entsprechendes Controlling existiert (was mitt-

lerweile durch die Inbetriebnahme einer Datenbank geschehen ist). Man möchte die Migran-

ten/innen dazu anregen, im Hinblick auf die Integration aktiver und bewusster zu werden, als sie es

vielleicht ohne IntV gewesen wären. Doch sieht man mehr Potential bei Neuzugezogenen und we-

niger bei den sozialhilfeabhängigen Betroffenen. Mit kleinen Lerneffekten (wie etwa, dass jemand

einen Kaffee bestellen kann oder die Waschküchenordnung versteht), will man sich nicht zufrieden

geben, denn Integration soll tiefer gehen. Nach den Wirkungen der IntV befragt, werden viele posi-

tive Aspekte genannt, u.a. dass Personenkreise erreicht werden können, die sonst vermutlich kei-

nen Zugang zu einem Deutschkurs gefunden hätten, z.B. Frauen, welche in den Kursen Selbstver-

trauen entwickeln und sich nun vielleicht besser gegenüber ihren Ehemännern durchsetzen kön-

nen. Zumindest wird ihnen im Rahmen der IntV vermittelt, was in der Schweiz unter Gleichberech-

tigung verstanden wird. Man beobachtet auch, dass sich Betroffene in den Kursen mit den hiesigen

Werten wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit usw. auseinandersetzen. Ein weiterer positiver Effekt wird

in der „Diffusion der IntV“ gesehen, weil sie sich in Ausländerkreisen herumspricht. Das hat man

auch schon bei Willkommensveranstaltungen festgestellt. Es verbreitet sich die Erkenntnis, dass

aktive Integrationsbemühungen vorausgesetzt werden und für einen sicheren Aufenthaltsstatus in

der Schweiz unabdingbar sind.

Im Kanton Aargau steht man mit den Erfahrungen bezüglich der IntV noch ganz am Anfang. Es wird

die Befürchtung ausgesprochen, dass Wirkung und Glaubwürdigkeit der IntV leiden können, wenn

bei einer Nichterfüllung keine wirksamen Sanktionen erfolgen. Den Erfolg möchte man zielgruppen-

spezifisch definieren. Wichtig für den erfolgreichen Ausgang einer IntV ist, dass sich die betroffene

Person mit ihr und den vereinbarten Massnahmen identifizieren kann. Hinsichtlich der vier (oben

genannten) Integrationsziele erwarte man von der IntV wenig Wirkung. So wird das Ziel „Einhaltung

der Rechtsordnung“ als bereits bestehende Voraussetzung betrachtet. Durch die Verbesserung der

sprachlichen Fähigkeiten erhofft man sich hingegen auch eine Stärkung des Selbstbewusstseins;

daraus kann eine positive Wirkkette entstehen und damit wiederum eine aktivere Teilnahme am

öffentlichen Leben. Als positiv wird auch die Auseinandersetzung mit hiesigen Werten, wie etwa

Gleichstellung von Mann und Frau, gesehen. Zentral ist aber die Teilnahme am Arbeitsleben. Damit

eine IntV in diesem Sinne Kooperation bei den Betroffenen bewirken kann, muss ein Arbeitsbündnis

aktiv hergestellt werden. Dieses fördert die Verbindlichkeit und Motivation.

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Übergreifende Wirkungseinschätzungen

In vielen Interviews ist von der präventiven Wirkung die Rede, welche die IntV gerade bei Neuzu-

ziehenden entwickeln kann, indem sie deren Integration beschleunigt: „Geld sprechen für Kurse

heisst hier langfristig sparen, weil man ihnen so Integration ermöglicht“.105 Diese Einschätzung be-

ruht auf der Beobachtung, dass neu zugewanderte Ausländer/innen oft ein paar Monate bis Jahre

verstreichen lassen, bis sie über die Arbeitssuche hinaus auch Deutschkurse besuchen. Dabei muss

man nicht nur die Wirkung auf die unmittelbar von der IntV Betroffenen im Blickfeld haben, denn

von der Integrationsleistung und den Sprachkenntnissen der Eltern profitieren auch deren Kinder

profitieren. Die IntV stellt in diesem Sinne eine Investition in die Zukunft dar.

Verschiedene durchführende Amtspersonen betonen, dass eine breite Einführung der IntV ihre Ar-

beitskapazitäten übersteigen würde. Eine Erfassung aller Neuzuziehenden durch die IntV erachten

sie in ihren Kantonen als unmöglich.

Während die Kooperationspartner die Wirkung der IntV bezüglich der Lernziele und deren Mess-

barkeit meist recht kritisch beurteilen und diverse Implikationen (Druck, Problemlagen usw.) als

problematisch erachten, hegen die durchführenden Amtspersonen meist weniger Zweifel bezüglich

der Wirksamkeit der IntV als Instrument des „sanften Drucks“ und der vereinbarten Massnahmen.

Die öffentliche Breitenwirkung der IntV wird aufgrund des Pilotcharakters meist als gering einge-

schätzt. Zum einen erhofft man sich, dass das Instrument, das ja immer nur für eine Minderheit o-

der für ein bestimmtes Zielgruppensegment angewandt wird, sich in den verschiedenen Ausländer-

kreisen herumspricht und allgemein zu einer Erhöhung der Integrationsbemühungen beiträgt. An-

dererseits ist man sich gerade auf Behördenseite bewusst, dass die IntV aus politischen Motiven als

„Fördern und Fordern“-Instrument geschaffen wurde und dass sichtbare Resultate erwartet wer-

den. Doch werde die IntV in der Öffentlichkeit meist überbewertet, wie das insbesondere in den

Medien vor der Abstimmung geschehen sei. Diese Erwartungen könne man angesichts der be-

schränkten Fallzahlen und Ressourcen wohl nicht einlösen.

11.2.2 Wirkungseinschätzung der Betroffenen

Damit eine Massnahme Wirkung entfalten kann, muss sie grundsätzlich verstanden und persönlich

eingeordnet werden. Wenn die Betroffenen verstehen, welche Gründe zur IntV geführt haben, und

gemeinsam mit den Amtspersonen adäquate Massnahmen diskutiert und vereinbart werden, sind

die Betroffenen in der Regel auch motiviert, die Massnahmen aus eigenem Antrieb zu erfüllen. Je

nach dem Setting, in dem die IntV abgeschlossen wird, unterscheiden sich die motivationalen Mo-

mente. Aus dem gesamten bisher ausgewerteten empirischen Material lassen sich analytisch drei

solcher Settings der IntV rekonstruieren und typisieren. Nachfolgend werden diese drei Settings

dargestellt und zwar so, wie sie in der Praxis vorgefunden und – noch spezifischer – wie sie von den

Betroffenen erlebt wurden. Selbstverständlich existieren in der Praxis Überschneidungen der drei

Settings. Die Materialanalyse zeigt aber, dass in jedem Kanton vornehmlich mit einem Typ von Set-

ting operiert wird. Ferner ist festzustellen, dass die rekonstruierten Settings der je spezifischen kan-

tonalen Policy entsprechen. Das behördliche Vorgehen, so lässt sich folgern, wird im konkreten Fall

von der Policy, und insbesondere von der Zielgruppe bestimmt. Grundsätzlich muss man zwischen

neu zugezogenen Personen und Personen mit bestehendem Aufenthaltsrecht, die Integrationsdefi-

zite aufweisen, unterscheiden. Neuzugezogene sind in der Regel motiviert, eine neue Sprache zu

105

Interview ZH, SD.

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lernen. Personen der zweiten Gruppe kommen zum Teil aus einem schwierigen sozialen und beruf-

lichen Umfeld. Gespräche mit ihnen müssen die vielschichtigen Probleme berücksichtigen und sind

deshalb in der Regel herausfordernder und schwieriger.

Wirkungen des „Fordern-Settings“

Die Betroffenen – zum grossen Teil sozial mehrfach belastete Personen – erleben die IntV in diesem

Setting eher als Druckausübung und Sanktionsinstrument. Es überwiegt der Eindruck des „For-

derns“, der Druck wird nicht als „sanft“ wahrgenommen. Es geht darum, sogenannte Integrations-

defizite wie Sozialhilfeabhängigkeit, Schulden, Arbeitslosigkeit oder fehlende/mangelnde Deutsch-

kenntnisse zu korrigieren. Der behördliche Druck soll dazu motivieren, die eigenen Integrationsdefi-

zite anzugehen (extrinsische Motivation). Ein Zusammenhang mit der politischen Leitidee der Integ-

ration kann jedoch kaum hergestellt werden. Dass die Massnahmen der IntV zu einer besseren In-

tegration führen (sollen) und dass die Integration einen Gewinn darstellt (bessere Chancen, besse-

res Zusammenleben usw.), wird von den Betroffenen so nicht gesehen. Bei ihnen taucht Integration

kaum als erstrebenswertes Ziel auf. Vielmehr ordnen sie die Massnahmen auf einer sehr konkreten

und pragmatischen Ebene ein. Es geht darum, bestehende soziale Probleme wie Schulden, Arbeits-

losigkeit, Sozialhilfeabhängigkeit zu lösen oder Deutsch sprechen zu lernen. Sie haben nicht das Ge-

fühl, eine positive Chance zu nutzen, sondern wollen der Forderung nachkommen, ein soziales

Problem zu lösen, um die eigene missliche Lage nicht noch weiter zu verschlimmern.

Diese Fordern-Strategie scheint auf den ersten Blick zu funktionieren. Die Betroffenen nehmen den

Druck wahr, können die eigenen Verhaltensdefizite erkennen, und nehmen die Notwendigkeit

ernst, etwas an der Situation zu verändern. Auf der anderen Seite kann das Fordern-Setting zu Ver-

unsicherungen bis hin zu existentiellen Ängsten (vor Ausweisung) führen. Die zu erfüllenden Mass-

nahmen stellen dann meist auch eine grosse Herausforderung dar, insbesondere wenn es sich um

Massnahmen wie „Ablösung von der Sozialhilfe“, „Schuldensanierung“, „Reduktion der Schulden“

oder Arbeitssuche handelt. Aus Sicht der Betroffenen ist es problematisch, wenn ihre persönliche

Situation nicht angemessen berücksichtigt wird (Scheidung, Arbeitslosigkeit, Alter, familiäre Situati-

on) und sie für ihre ökonomische Unselbständigkeit verantwortlich gemacht werden. Auch erachten

sie das Erreichen der Ziele als kaum möglich oder schwer zu beeinflussen, was zu einer Überforde-

rung führen kann. Die Auswirkungen auf die integrationspolitischen Zielsetzungen im AuG und in

den kantonalen rechtlichen Bestimmungen lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt kaum einschätzen.

Das hängt mit dem Stand der Operationalisierung der IntV zusammen, der es unmöglich macht,

mittelfristige Effekte zu evaluieren. Kurzfristig zeigt sich, dass am ehesten das Erlernen der deut-

schen Sprache gefördert wird. Bei allen anderen Massnahmen wie Arbeitssuche, Ablösung von

Schulden, Unabhängigkeit von der Sozialhilfe zeigt sich ein diffuses Bild mit vielen Problemen, die

von den Betroffenen genannt werden.

Wirkungen des „Fördern-Setting“

In diesem Setting wird die IntV bei den Betroffenen als Unterstützung und wohlwollende Förderung

erlebt. Sie werden durch den „amtlichen Support“ motiviert und schätzen ihn sehr. Das „Fördern-

Setting“ zeichnet sich durch ein gutes Gesprächsklima und Einvernehmen aus, auch wenn das Risiko

behördlicher Sanktionen oder gar einer Ausweisung erwähnt wird (was die Betroffenen zum Teil als

irritierend empfinden). Im persönlichen Gespräch werden Anlass und Ziele erörtert und Unklarhei-

ten ausgeräumt, so dass sich die Betroffenen nicht mehr verunsichert fühlen. Sie stufen die IntV zur

Hälfte als freiwillig ein, Druck nehmen sie nicht oder nicht in hohem Mass wahr. Die am häufigsten

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vereinbarte Massnahme „Besuch eines Deutschkurses“ wird als sinnvoll und gewinnbringend be-

trachtet. Die Betroffenen sehen, dass die IntV ihre eigenen Chancen verbessern soll, was sie als er-

strebenswertes Ziel erachten. Die intrinsische Motivation spielt in diesem Setting eine Rolle und soll

gefördert werden. Integration wird hier weniger über persönliche Defizite und soziale Probleme

definiert (wie im „Fordern-Setting“), sondern vielmehr als Verbesserung eines guten Zusammenle-

bens begriffen. Was die integrationspolitischen Zielsetzungen angeht, so zeigt sich kurzfristig, dass

die IntV deutlich zum Erlernen der deutschen Sprache motiviert. Laut Aussagen der Betroffenen –

bei denen es sich fast ausschliesslich um neu zugezogene Familienangehörige handelt – wirkt die

IntV integrationsfördernd.

Wirkungen des „Fördern-und-Fordern-Settings“

In diesem Setting erlebt der einzelne Betroffene die IntV sehr unterschiedlich, teils als Hilfestellung

und behördliche Unterstützung, teils als Druckausübung, Bestrafung oder Drohung. In diesem Set-

ting wird mit einer Strategie der „Hilfe/Unterstützung mittels Druck und Aktivierung zur Verhal-

tensänderung“ operiert. Dieser „hilfreiche Druck“ ruft bei Betroffenen Unklarheiten und Unsicher-

heiten hervor. Es wird nicht einseitig auf eine Fordern-Politik gesetzt, sondern eine wohlwollende

Unterstützung mit Druck und Sanktionsmöglichkeiten verflochten. Für die Betroffenen – mehrheit-

lich nachgezogene Familienangehörige – bleibt dabei undurchsichtig, was Druck erzeugt und wie

weit der Druck gehen kann. Der Druck bleibt diffus. Betroffene fühlen sich unter Druck gesetzt,

auch wenn das Risiko einer Ausweisung nicht oder nur undeutlich formuliert oder nicht verstanden

wurde. Sie haben das Gefühl, dass von den Behörden Verhaltensänderungen eingefordert werden.

Die Massnahmen – in den meisten Fällen der Besuch eines Deutschkurses – werden ernst genom-

men und häufig (aber nicht immer) als verpflichtend erlebt. Integrationsdefizite werden hier vor-

nehmlich mit Sprachdefiziten identifiziert. Deutsch zu lernen wird von den Betroffenen jedoch als

gewinnbringend und integrationsfördernd erachtet. Die Sprache hilft, sich im Alltag besser zu be-

wegen oder soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit anzugehen. Trotz des diffusen Drucks scheint die

IntV die Betroffenen zu motivieren und ein produktives Engagement auszulösen; sie stellt also ei-

nen „hilfreichen Druck“ dar. Oft ist den Betroffenen aber nicht klar, dass als „letzte Sanktion“ eine

Ausweisung drohen könnte. Mehrheitlich sind sie gewillt, die Massnahmen zu erfüllen. Ingesamt

scheint der behördliche Druck also einen produktiven Prozess in Gang zu setzen und die Betroffe-

nen zu Kursbesuchen zu motivieren. Dabei spielt die Bemessung des zu erreichenden Sprachprofils

und des Lerntempos im Einzelfall eine wichtige Rolle. Überforderung belastet dagegen gerade bei

älteren Betroffenen die Motivation. Für länger in der Schweiz anwesende und für ältere Betroffene

ist das Erlernen der Sprache eine sehr hohe Anforderung, die teilweise frustrierend wirkt.

11.3 Effizienzanalyse

Mitteleinsatz und Doppelspurigkeiten: die Sicht der Kooperationspartner/innen Laut einigen Kooperationspartner/innen sind z.T. die Rollenverteilung und die Zuständigkeiten zwi-

schen Migrationsamt und Sozialhilfe unklar. Zudem wird eine Kooperation dadurch erschwert, dass

der Informationsaustausch wegen den Datenschutzes weitgehend unmöglich ist. Zum Teil wird

auch kritisiert, dass die Finanzierung der vereinbarten Massnahmen an die Sozialhilfe delegiert

wird, wenn die Kurskosten für die Betroffenen nicht zumutbar sind.

Ferner wird bemängelt, dass als Massnahmen meist nur Deutschkurse vereinbart werden. Das er-

mögliche in Fällen mit massiven Defiziten auf verschiedenen Ebenen noch keine Arbeitsintegration.

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Die Sozialhilfe verfügt ihrer Ansicht nach schon über genügend Druckmittel und erachtet die IntV

nicht als notwendiges und wirksames Instrument für Betroffene mit Mehrfachbelastungen. Zudem

beklagt sie Doppelspurigkeiten und wünscht sich eine bessere interinstitutionelle Zusammenarbeit.

Es gibt aber Klienten/innengruppen, für die ihr die Weitervermittlung an die IntV sinnvoll erscheint,

nämlich Neuzuziehende und ausländische Migranten/innen mit C-Bewilligung oder solche, die als

„Working Poor“ bezeichnet werden können.

Positiv wurde angemerkt, dass die für die IntV zuständigen Personen sich bezüglich der Deutschkur-

se gut auskennen und so diese Angebote besser vermitteln können und dass die Betroffenen durch

die IntV positiv motiviert werden und die Vermittlung von Massnahmen schätzen.

Arbeitsaufwand und Kosten der Durchführenden

Die Einschätzung des Arbeitsaufwands pro abgeschlossene IntV war für die durchführenden Stellen

meist nicht einfach. Zum Teil wurde zwischen reibungslos ablaufenden IntV und solchen mit mehr

Aufwand unterschieden. Wenn Betroffene nicht zu den vereinbarten Gesprächsterminen erschei-

nen, Übersetzer/innen für neue Termine wieder aufgeboten werden müssen oder Personen

schwierig zu kontaktieren sind, verursachen solche Verzögerungen einen erheblichen Mehrauf-

wand, der bis zu einer Verdoppelung der aufgewendeten Arbeitsstunden und mehr führen kann.

Dazu kommt, dass bei diesen „schwierigeren“ Personen, welche zum Teil Mehrfachbelastungen

aufweisen oder als wenig kompetent und selbständig beschrieben werden, auch die Wirkung und

der Erfolg der IntV fraglich sind und sich daher die Frage stellt, ob das Verhältnis zwischen Aufwand

und Nutzen angemessen ist. Die reine Gesprächszeit für den Abschluss einer IntV beträgt in den

meisten Kantonen zwischen ein und zwei Stunden. Auch mit zunehmender Routine lässt sich dieser

Arbeitsaufwand nicht reduzieren. Bei diesen Überschlagsberechnungen werden in der Regel nur die

klientenbezogenen Aufwendungen berücksichtigt und keine institutionellen Rahmenfunktionen,

wie etwa Kosten für die Zusammenarbeit mit den zuweisenden Stellen und Kooperationspartnern.

Auch die Zeit für Recherchen und Informationsbeschaffung ist in den genannten Zahlen nicht ent-

halten.

Im Kanton Zürich hat man anfangs mit der IntV noch nicht den ganzen Aufwand pro Abschluss der

IntV vorausgesehen, insbesondere auch nicht das Controlling und Monitoring mitberücksichtigt. Für

das Gespräch werden jeweils rund zwei Stunden aufgewendet. Dazu kommt die Vor- und Nachbe-

arbeitung, die weitere zweieinhalb bis vier Arbeitsstunden und manchmal sogar bis zu einem Tag

ausmachen kann, bei schwierigeren Fällen sogar eineinhalb bis zwei Arbeitstage. Manchmal werden

wegen mangelnder Vorabklärungen der zuweisenden Stellen oder sonstiger Informationsdefizite

Personen aufgeboten, welche für eine IntV gar nicht in Frage kommen, weil sie zum Beispiel schon

gut Deutsch sprechen, mit Schweizer Bürgern/innen verheiratet sind oder EU/EFTA-Staatsbürger

sind. Solche „Leerläufe“ verursachen einen grossen Aufwand, lassen sich aber wohl nicht ganz ver-

meiden. Es kommt auch immer wieder vor, dass Betroffene behaupten, keinen Brief mit einer IntV-

Vorladung erhalten zu haben, oder ihn unbeantwortet zurückschicken, weil sie ihn nicht verstanden

haben. Das geschieht oft nicht aus „bösem Willen“, sondern aus Unkenntnis und erfordert deshalb

eine eingehende Anleitung und Erklärung selbst solcher elementarer Korrespondenzvorgänge.

Verschiedene interviewte Personen meinen, dass die im Kanton Zürich vorhandenen 40 Stellenpro-

zente bei weitem nicht ausreichen, und betonen, dass der für die IntV Zuständige einiges mehr leis-

tet als er müsste und viel eigenes Engagement einbringt. Wenn man das Controlling und Monitoring

mit einem ständigen Kontakt mit den Betroffenen weiter aufrecht erhalten möchte, sind zusätzliche

Ressourcen unabdingbar.

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Im Kanton Basel-Stadt hält man das Verhältnis von Aufwand und Ertrag für angemessen, wenn nicht

sogar für überproportional gut. Die Gespräche dauern zwischen ein und zwei Stunden, manchmal

auch drei. Insgesamt werden ca. fünf Stunden für eine IntV mit Kurzprotokoll aufgewendet. Wenn

aber die Behörden die Zielgruppen für eine IntV ausweiten oder weitere Abklärungen für Betroffe-

ne vornehmen müssten, wäre der Aufwand unter Umständen nicht mehr zu vertreten. Es ist auch

fraglich, ob sich der Aufwand noch rechnen würde, falls man Übersetzungen der IntV in verschiede-

ne Sprachen, Übersetzerdienste usw. einbeziehen würde.

Im Kanton Solothurn fällt insbesondere der administrative Aufwand ins Gewicht. Es gibt eine 13-

Punkte-Checkliste für die Vorgehensweise, inklusive interner Kommunikation mit dem Migration-

samt. In der Regel funktioniert bei sieben von zehn Personen das Einladungsverfahren problemlos.

Bei den anderen kommt es z.B. dass der mit der/ dem Übersetzer/in vereinbarte Termin nicht passt,

die Adresse nicht mehr stimmt oder die betroffene Person ortsabwesend ist. Einige wenige (meist

schweizer Ehemänner) wollen nicht, dass die Ehefrauen an einem Integrationsgespräch teilnehmen,

was Vermittlungsgespräche notwendig macht. Nach Abschluss der Vereinbarung kommt das

Mahnwesen zum Zuge, wenn die verlangten Unterlagen nicht rechtzeitig eingereicht werden. All

das bedeutet einen Mehraufwand. Seit 2010 werden zwischen 30 und 40 Vereinbarungen pro Mo-

nat abgeschlossen. Darunter fallen auch solche, bei denen ein „Verzicht auf Massnahmen“ be-

schlossen wird, weil der Integrationsstatus in sprachlicher, wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht als

genügend gelten kann. Das ist nicht immer aus den Papieren ersichtlich, die im Vorfeld der Auswahl

zur Verfügung stehen.106

Im Kanton Aargau kann man Aufwand und Ertrag aufgrund der kurzen Erfahrungsspanne noch nicht

gut abschätzen, doch werden im Vorfeld von IntV ohne verbindlichen Abschluss rund vier Arbeits-

stunden für Vorabklärungen und Gespräch aufgewendet. Kommt eine IntV zustande, muss insbe-

sondere bei Jugendlichen mit mehr Aufwand gerechnet werden, da in solchen Fällen verschiedene

Bildungsangebote geprüft und die Kompatibilität mit dem Abschluss aus dem Herkunftsland abge-

klärt werden müssen. Insgesamt sollen 150 Stellenprozente für die IntV eingesetzt werden.

Der Aufwand der Kooperationspartner

Die zuweisenden Stellen schätzen den Arbeitsaufwand im Zusammenhang mit der IntV unterschied-

lich ein, meist wird er aber nicht als übermässig eingestuft. Die Zuweisung scheint den geringsten

Aufwand zu verursachen, wenn sie über die Einwohnerkontrolle abgewickelt wird – wenn sich aus-

ländische Personen auf der Gemeinde anmelden und sie lediglich an die zuständige Stelle für die

IntV weitergeleitet werden müssen. Müssen die in Frage kommenden Personen hingegen eigen-

ständig identifiziert und kontaktiert werden, wird der Aufwand meist als gross eingestuft.

Die kommunalen Sozialen Dienste äussern sich unterschiedlich: Einige kritisieren den Informations-

austausch bei Betroffenen, mit denen eine IntV abgeschlossen wird, und sehen wenige Vorteile in

der Kooperation; andere schätzen die Zusammenarbeit als fruchtbar und entlastend ein, wenn die

Betroffenen gut beraten und begleitet werden.

Für eine bessere Kooperation und einen besseren Informationsfluss mit den zuweisenden Stellen,

den Sozialen Diensten, den Sprachschulen und Beratungsstellen sind zusätzliche institutionelle Ge-

fässe erforderlich, die es in den meisten der fünf Pilotkantone noch nicht gibt. Das gleiche gilt für

das Controlling, denn hier sind ebenfalls über die Sprachtests und Kursbestätigungen hinaus weite-

re Informationen notwendig, damit ein abschliessendes Urteil über die Erfüllung der IntV gefällt

106

Gemäss Angaben der durchführenden Amtsperson.

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werden kann. Teilweise sind wiederholte, über das Jahr der laufenden IntV verteilte, Kontaktauf-

nahmen erforderlich, um die Beziehung und den Informationsaustausch mit den Betroffenen stän-

dig aufrecht erhalten zu können. All das erfordert zusätzliche zeitliche Ressourcen für die durchfüh-

renden Stellen.

Abschliessende Einschätzung der Effizienzanalyse

Die Angaben und Einschätzungen zum Aufwand für die IntV differieren stark von Kanton zu Kanton

und hängen insbesondere damit zusammen, welcher Ansatz verfolgt wird. Ein Kanton, der die IntV

mit einem Beratungsansatz umsetzt, der mit entsprechenden Abklärungen und intensiver Betreu-

ung verbunden ist, muss auch bereit sein, die dazu notwendigen personellen Ressourcen zur Verfü-

gung zu stellen. Nimmt man zudem die Kooperation mit den zuweisenden Stellen und den Bera-

tungsstellen sowie Sprachschulen ernst, resultiert daraus ein weiterer, nicht unerheblicher Auf-

wand. Wird die IntV hingegen als rein verwaltungstechnischer Akt verstanden und keine weitere

Hilfestellung geboten, scheint der Aufwand nicht übermässig gross zu sein. Allerdings stellen sich in

diesem Falle Fragen nach der Wirksamkeit und Verständlichkeit der IntV und nach der Motivation

der Betroffenen zur Umsetzung der Massnahmen.

11.4 Eignung und Übertragbarkeit des Instruments IntV

Die Frage nach der Eignung der IntV ist mit den in Kapitel 11.2 bereits besprochenen Wirkungszu-

sammenhängen verbunden, also der Frage, inwieweit ein bestimmtes behördliches Setting zur Be-

arbeitung und Erreichung der integrationspolitischen Ziele motiviert. Damit rücken ein Bündel von

wirkungsrelevanten Aspekten und diverse Spannungsfelder in den Blick, die einer Systematisierung

bedürfen. Erst auf dieser Basis lassen sich Aussagen zur Eignung und zur Übertragbarkeit einzelner

Massnahmen auf bestimmte Zielgruppen diskutieren.

11.4.1 Systematisierung der rekonstruierten Wirkungsvariablen

Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass die Wirkung der IntV von vielen Variablen abhängt. Sie

werden in einem ersten Schritt systematisch, in verdichteter und abstrahierter Form typisiert und

synoptisch auf die drei in Kapitel 11.2.2 rekonstruierten Settings bezogen. Bei diesen Settings han-

delt es sich um Bündelungen von Merkmalsausprägungen, die idealtypisch ein bestimmtes Muster

(Typ) ergeben. Die evaluierten Kantone können den Typen zugeordnet werden, denen sie am ehes-

ten entsprechen; die Umsetzungspraxis enthält aber immer Anteile von allen Typen. Die Zuordnung

zu einem Typ orientiert sich deshalb nur an den dominantesten Eigenschaften der Vorgehensweise.

Tabelle 2: empirisch gewonnene idealtypische Verfahrensweisen

Fordern – Setting

„Politik der letzten

Chance“

Fördern – Setting „Ermöglichende Politik des

Unterstützens“

Förden-und-Fordern- Setting Politik des „hilfreichen Drucks“

Logik des Settings Administrativer Vollzug:

Auflage und Auflagen-

erfüllung ohne Beglei-

tung

Professionelle Sozial-

beratung: Hilfe und Beglei-

tung im Sinne eines amtli-

chen Supports

Informierendes Gespräch:

Hilfe durch sanften Druck und

Information, ohne Begleitung

Gesprächsführung und Qualität der Interaktion

Direktiv – drohend:

druckerzeugend, auf

Direktiv – partizipativ: ein-

vernehmlich, ermutigend

Direktiv – wohlwollend – dro-

hend: gutgemeinter Druck, der

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Sanktionen ausgerichet und wohlwollend, gutes

Gesprächsklima

diffus bleibt

Kooperationsverhältnis Sachlicher Kontakt Arbeitsbündnis zentral Begegnung, z. T. emotional

Integrationsverständnis Negativ definiert, soziale

Defizite wie Arbeitslo-

sigkeit, Schulden und

Sozialhilfeabhängigkeit

beheben.

Positiv definiert, gutes

Zusammenleben, Chancen

nutzen, Kompetenzen er-

weitern

Sowohl negativ, als auch positiv

formuliert: das Sprachdefizit

beheben hilft, sich besser zu

integrieren.

Zusammenhang mit Integ-rationsverständnis

Eher losgelöst Zusammenhang gegeben Zusammenhang gegeben

Amtsperson Amtsverständnis:

unpersönlich, verwal-

tend – kontrollierend

Professionelles Sozialar-

beitsverständnis:

persönlich, empathisch,

akzeptierend, kongruent

Diffuses Amtsverständnis: per-

sönlich, verwaltend – kontrol-

lierend

Massnahmen Mehrere Massnahmen

gleichzeitig, häufig auch

Deutschkurse

Deutschkurse und Arbeit-

sintegrations- und Umschu-

lungsmassnahmen

Deutschkurse und Deutsch-

Integrations-Kurse

Kurse gegen häusliche Gewalt

Zielgruppen Sozial mehrfach Belaste-

te, seit Jahren in der

Schweiz

Familienachzug, Neuzuzie-

hende

Mehrheitlich Familiennachzug,

Neuzugezogene

auch ausländische Part-

ner/innen aus Ehen mit Schwei-

zer/innen

Motivationale Anteile (extrinsisch, intrinsisch)

Extrinsische Motivation

durch Druck und Sankti-

on

Intrinsische Motivation

durch positive Anreize

Extrinsische Motivation durch

diffusen/sanften Druck, regt

auch intrinsische Motivation an

11.4.2 Diskussion der Wirkungszusammenhänge und Spannungsfelder

In einem weiteren Schritt werden diese Variablen hinsichtlich der Eignung und Übertragbarkeit dis-

kutiert. Dabei gilt es zu beachten, dass die motivierende Wirkung der jeweiligen Settings mehrheit-

lich das Erlernen der deutschen Sprache betraf. Bei Massnahmen wie Arbeitssuche, Ablösung von

Schulden, Unabhängigkeit von der Sozialhilfe zeigt sich ein stark ambivalentes Bild, wie den nach-

folgenden Ausführungen zu entnehmen ist.

Diskussion Fordern – Setting

Beim Fordern-Setting besteht tendenziell das Risiko, dass die Motivation der Betroffenen in Frustra-

tion umschlägt und ein resignatives und defensives Verhalten gefördert wird. Wenn Betroffene die

vereinbarten Massnahmen als Überforderung erleben ihre Erfüllung für unrealistisch halten und

nicht abschätzen können, welche Folgen es hat, wenn sie das Ziel (z.B. Schulden abbauen oder sich

von der Sozialhilfe lösen) nicht erreichen, kann das bei ihnen zu Blockaden führen – insbesondere,

wenn sie ohnedies unter grossen (existentiellen) Druck stehen. Die Betroffenen monieren auch,

dass sie für kritische Ereignisse in ihrem Leben (z.B. Scheidung, Arbeitslosigkeit) verantwortlich ge-

macht werden, die nicht sie (oder nicht nur sie) verschuldet haben. Vielmehr verstehen sie sich als

Opfer dieser Umstände, was mit einer geringen Selbstwirksamkeit verbunden sein dürfte. Als prob-

lematisch erweist es sich, dass die IntV in diesem Setting ohne angemessene Unterstützung dazu

eingesetzt wird, typische soziale Probleme bei einer mehrfach belasteten Zielgruppe anzugehen, die

wenig sozioökonomische und soziokulturelle Ressourcen hat. Wichtig wäre in solchen Fällen ein

sorgfältiges, individuelles Assessment (Problemdiagnose im Einzelfall unter Berücksichtigung der

persönlich-biographischen Problemkonstellation), eine realistische Zielvereinbarung und die Ver-

einbarung von erfüllbaren/realistischen Massnahmen. Zu bedenken ist auch, dass die Evaluation

der Massnahmen meist nicht nach professionellen Standards erfolgt, obwohl hohe Erwartungen an

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die Betroffenen gestellt werden. Wenn die Behörden z.B. eine langjährige Abhängigkeit von der

Sozialhilfe, Schulden oder Delinquenz als Integrationsproblem sehen, so erfordert eine Korrektur

dieser Probleme gemäss dem neuesten Forschungsstand eine komplexe professionell gestützte Be-

arbeitung und enge Begleitung (Arbeitsbündnis, professionelles Case Management usw.; siehe dazu

z.B. Heiner 2004; Kutzner 2004; Spiegel 2004; Becker-Lenz et al. 2009; Wigger 2009). Es reicht nicht

aus, die Verantwortung bei den Betroffenen sichtbar zu machen und eine Änderung unter Andro-

hung von Sanktionen zu fordern – was u.a. im Diskurs zur (behördlichen) professionellen Sozialar-

beit in Zwangskontexten intensiv diskutiert wurde (vgl. z.B. Wigger 2009; Spiegel 2004). Gerade hier

droht der zur Motivation eingesetzte Druck sein Ziel zu verfehlen: Frustration, Ängste und Überfor-

derung führen eher zu einer resignativen, defensiven Haltung bei den Betroffenen. So überwiegen

auch in Äusserungen von (sozial mehrfach belasteten) Betroffenen im Fordern-Setting die frustrie-

renden Anteile. Beabsichtigt die Behörde eine Politik der Integration – was selbstverständlich auch

im Sinne einer einseitigen Fordern-Politik denkbar ist – so muss sie sich stärker bemühen, die Be-

troffenen zu motivieren und sie in der Einsicht zu bestärken, dass Integration ein sinnvolles Ziel ist,

sich lohnt und erreicht werden kann.

Verfolgt die kantonale Politik hingegen eine Fordern-Strategie, ohne das Ziel der Integration vor

Augen zu haben, so besteht das Risiko, dass die IntV zu einem Vorwand für einschneidende Sankti-

onen wird. Eine Politik des Forderns kann somit ohne das Ziel der Integration nicht als Strategie der

Integrationspolitik verstanden werden. Die Behörde kann jedoch den Zusammenhang zwischen

Druckausübung und Integration grundsätzlich entflechten, indem sie gar nicht beansprucht, bei den

Betroffenen einen produktiven Integrationsprozess in Gang zu setzen, sondern offen das Anliegen

verfolgt, gegen problematische Migranten migrationsrechtliche Sanktionen zu verhängen. Die in-

tegrationspolitische Unterstützungslogik (bei der das Fordern immer im Dienste des Förderns der

Integration steht) wird dann durch eine migrationspolitische Sanktionslogik ersetzt, so dass nicht

mehr von einer integrationspolitischen Strategie gesprochen werden kann. Auch in sozialpolitischer

und professioneller Hinsicht ist diese Variante kritisch zu beurteilen, denn die IntV soll in dieser Aus-

formung langjährige gravierende soziale Probleme wie Sozialhilfeabhängigkeit ohne Unterstützung

(professionelle Begleitung) durch die Behörden lösen. In einem solchen IntV-Verfahren können die

Betroffenen nicht adäquat und qualifiziert unterstützt werden. Damit bleibt die IntV in diesem Set-

ting hinter ihren Möglichkeiten zurück. Selbst in Fällen, in denen die IntV vordergründig eine Ablö-

sung der Sozialhilfe bewirkte, erfolgte „unter der Oberfläche“ lediglich eine Verschiebung des Prob-

lems erfolgte, weil andere Familienangehörige für die IntV-Betroffenen finanziell aufkamen und sich

zum Teil massiv belasteten.

Der Fordern-Ansatz wird vor allem bei einer sozial belasteten Zielgruppe eingesetzt, bei der bisher

wenig Selbstwirksamkeit und wenig Erfolg von Fremdeinwirkung zu konstatieren ist. Für diese an-

spruchsvolle Zielgruppe standen u.a. der Sozialhilfe, die sie abgeklärt, beraten und gefördert hat,

bisher schon eine ganze Reihe von Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Nun soll die IntV Lösun-

gen schaffen und Eigenaktivität wecken – eine Herausforderung, die mit grosser Wahrscheinlichkeit

zum Scheitern verurteilt ist. Will die IntV den Fordern-Aspekt betonen, um einen produktiven und

daher motivierenden Druck auf eine sozial mehrfach belastete Zielgruppe auszuüben, so sollte ein

entsprechendes, professionelles Setting implementiert werden. Das erhöht die Chancen, dass die

IntV tatsächlich die Integration fördert.

Diskussion Fördern – Setting

Die Aussagen der Betroffenen zum Fördern-Setting zeigen, dass sie die Massnahmen (mehrheitlich

Deutschkurse) als angemessen und sinnvoll erachten. Sie fühlen sich adäquat unterstützt, um die

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Massnahmen erfüllen zu können. Vereinzelt wird das Verfahren kritisiert (das Sprachprofil wird zu

hoch eingestuft; man muss die IntV an Ort und Stelle unterschreiben, familiäre Verpflichtungen er-

schweren das Erfüllen der Massnahmen), was jedoch die Motivation der Betroffenen nicht (grund-

sätzlich) zu beeinträchtigen scheint. Wird dieser Beratungs- und Begleitansatz umfassend verstan-

den, d.h. als Förderung der Kompetenzerweiterung und Integration der Betroffenen, erfordert das

aber zumindest teilweise eine enge Betreuung der Betroffenen und ein effektives Monitoring, also

über das Gespräch zur IntV hinaus Kontaktaufnahmen in bestimmten Zeitabständen und womöglich

eine weiterführende Begleitung auch über das Jahr der IntV hinaus. Hier stellt sich nun die Frage,

ob sich dieser Aufwand mit Blick auf den Nutzen (integrationspolitische Ziele) rechtfertigen lässt.

Wenn dieser Förderansatz breit angewendet und nicht nur selektiv auf einzelne Personen zuge-

schnitten werden soll, so muss mit einem grossen Aufwand gerechnet werden. Die Kantone müss-

ten die entsprechenden Strukturen und Ressourcen bereitstellen, womit Fragen der Machbarkeit

und des effizienten Einsatzes von staatlichen Mitteln zu diskutieren wären. Es müssten auch Lösun-

gen für Betroffene gefunden werden, welche sich dem „Fördern“-Ansatz verweigern,, etwa abge-

stufte Sanktionen durch eine andere behördliche Instanz (z.B. Migrationsamt), da sich der Bera-

tungsansatz personell kaum mit dem „Fordern“-Ansatz verbinden lässt. Allgemein zeigen aber Aus-

sagen einiger durchführender Amtspersonen wie auch die teilnehmenden Beobachtungen, dass

Migrant/innen über erhebliche Kompetenzen und auch Eigeninitiative verfügen, so dass sich die

Aufgabe des Amtes auf punktuelle Beratung und gezielte Unterstützung beschränken lässt.

Diskussion Fördern-und-Fordern-Setting

Im Fördern-und-Fordern-Setting wird zwar durch Informationen und Ratschlägen Hilfe geleistet. Sie

werden jedoch von einem gleichzeitigen „sanften Druck“ begleitet, der insgesamt diffus bleibt. Ob-

wohl mögliche Sanktionen genannt werden, bleiben sie für die Betroffenen wenig greif- und ein-

schätzbar. Je nach Einschätzung der Situation und der Persönlichkeit des Betroffenen spielt im Ver-

lauf des IntV-Gesprächs die Möglichkeit von Sanktionen eine geringere oder grössere Rolle: Wenn

die Amtsperson den Betroffenen als entgegenkommend und motiviert erlebt, relativiert sie die

Sanktionsdrohungen und den Druck. Dieses Setting zeichnet sich durch ein ambivalentes Verhalten

der Amtsperson aus, das einerseits wohlwollend fördernd und andererseits fordernd ist. Für die

Amtspersonen besteht wenig Verfahrenssicherheit (wann und wie weit ist zu fordern und wann soll

vorwiegend gefördert werden?), was zu Überforderungen in der Gesprächssituation führen kann –

insbesondere bei anspruchsvollen Betroffenen- und Problemkonstellationen und dann, wenn die

Amtspersonen nicht über professionelle Gesprächsführungs- oder Beratungskompetenzen verfü-

gen. Mit diesem ambivalenten Setting droht ein permanenter „Kippmoment“, der manchmal das

Fordern und manchmal das Fördern betont. Für die Betroffenen dürfte das nicht oder nur schwer

durchschaubar sein, sie fühlen sich zum Teil verunsichert und haben Mühe, die an sie gestellten

Erwartungen richtig einzuschätzen. Weil die vereinbarten Massnahmen verpflichtend sind, wird

wahrscheinlich Konformität, aber wenig intrinsische Motivation erzeugt; bestenfalls werden Bemü-

hungen zur sachlichen Erfüllung der IntV angeregt. Verstärkt wird dieses Risiko der „defensiven An-

passung“ auch dann, wenn die Betroffenen die Massnahmen nicht als gewinnbringend erachten

oder nur als behördlichen Zwang verstehen, oder wenn sie die Massnahmen als Überforderung er-

leben und ihre Erfüllung unrealistisch finden (z.B. weil beim zu erreichenden Sprachprofil zu hohe

Ansprüche gestellt werden oder die Kurskosten zu hoch sind). Erschwerend kommen Verfahren-

sunklarheiten hinzu, z.B. bei der Anerkennung von Diplomen), die Wahrnehmung der Betroffenen,

dass es keinen Verhandlungsspielraum gibt, oder Verständigungsprobleme. Diese Mängel beein-

trächtigen die positive Wirkung der IntV auf die Integrationsförderung.

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Der objektive Erfolg und die tatsächliche Wirkung der IntV müsste durch langfristige Begleitfor-

schung untersucht werden. Dennoch lässt sich aus den vorliegenden Ergebnissen folgern: Damit die

Betroffenen die IntV eindeutig verstehen und die Situation besser einschätzen können, müssen so-

wohl die Erwartungen an sie als auch die möglichen Risiken und Sanktionen transparent gemacht

und systematisch mitgeteilt werden. Die Klärung verschärft bei den Betroffenen vielleicht den

Druck, macht ihnen aber auch deutlich, woran sie sich halten müssen. Damit wird das Verfahren

greifbarer und weniger beängstigend. Wenn bei sozial mehrfach belasteten Betroffenen durch

„sanften Druck“ die Integration gefördert werden soll, so ist eine professionelle Begleitung vom

Assessment bis hin zur Zielevaluierung erforderlich. Sofern die IntV dagegen vorwiegend als präven-

tives Instrument bei neu zugezogenen Familienangehörigen angewendet wird, insbesondere um

Sprachdefizite zu beheben, könnte das bisherige behördliche Setting wohl beibehalten werden, oh-

ne dass die professionellen Anforderungen erhöht werden müssen.

11.5 Integrationsvereinbarung als Verwaltungsinstrument

11.5.1 Angemessenheit der Integrationsvereinbarung und problematische Implikationen aus Sicht der Kooperationspartner/innen

In unseren Interviews mit unterschiedlichen Kooperationspartnern wurden verschiedentlich Beden-

ken bezüglich der Umsetzung der IntV (insbesondere der Vertretbarkeit von Sanktionen) und be-

züglich der Rahmenbedingungen geäussert. Diese Probleme haben wir gesammelt und thematisch

gebündelt, damit sie als Ausgangspunkt für weiterführende Diskussionen verwendet werden kön-

nen.

Die Vertretbarkeit von Sanktionen im Rahmen der IntV

Einige der interviewten Kursleitenden sehen sich mit einer unverhältnismässig grossen Verantwor-

tung konfrontiert, wenn den Betroffenen mögliche Sanktionen angedroht wurden, die sie ihrerseits

nicht vertreten können. In solchen Fällen möchten sie nicht in das Verfahren involviert werden. Sie

sehen die Situation der Klienten/innen und halten es für falsch, Integrationsbemühungen an der

Sprachkompetenz zu messen und den Aufenthaltsstatus davon abhängig zu machen. Ausserdem

sind sie der Meinung, dass die Schweiz als Staat eine Verantwortung gegenüber Personen hat, die

schon länger hier leben und unter anderen Voraussetzungen eingewandert sind: Damals waren sie

trotz fehlender Sprachkenntnisse willkommene Arbeitskräfte und wurden jahrelang weder von den

Arbeitgebern noch vom Staat sprachlich gefördert. Deshalb dürfe man Bildungsdefizite und man-

gelnden Eigenantrieb, Deutsch zu lernen, jetzt nicht „kriminalisieren“.

Andere Kursleitende wüssten gerne von Anfang an, welche Kursteilnehmer/innen eine IntV haben,

damit sie mit ihnen individuelle Ziele besprechen und so vielleicht auch Verunsicherung oder Ängs-

te etwas „auffangen“ können. Tatsächlich erfahren sie oft erst im Laufe des Kurses von der IntV,

wenn nur noch wenig Zeit für die Einlösung der vereinbarten Ziele bleibt. Oft fallen solche Teilneh-

mer/innen durch ihre spezielle Motivation und ihr Engagement auf, aber ebenso oft ist es für sie

nicht einfach, Leistungsziele zu erreichen, weil sie aufgrund ihrer Bildungslücken nur verhältnismäs-

sig langsam lernen. Wenn sie nun unter Androhung einschneidender Sanktionen Eigenverantwor-

tung, Eigeninitiative und Lernkompetenz entwickeln sollen, ist das für viele von ihnen eine Überfor-

derung.

Manchmal beobachten die Kursleitenden bei den Betroffenen existentielle Ängste wegen der mög-

lichen Sanktionen, wie etwa die Befürchtung, dass ihre Familien durch Ausweisungen auseinander-

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gerissen werden könnten. Die meisten interviewten Kursanbieter/innen halten ein effektives Ler-

nen unter Stress und Angst jedoch für unmöglich. Daher stellt sich die Frage, ob die IntV nicht eine

kontraproduktive Wirkung hat, wenn mit „Schreckensszenarien“ zuviel Druck ausgeübt wird.

Ausserdem muss berücksichtigt werden, dass manche Menschen aufgrund psychischer Probleme

oder Traumatisierungen nicht in der Lage sind, die Bedingungen der IntV zu erfüllen. In solchen Fäl-

len wäre eine Ausweisung unverhältnismässig und unverantwortlich.

Bei Personen, die das Sozialsystem der Schweiz „verantwortungslos ausnutzen“ oder „falsche Tat-

sachen vortäuschen“, befürworten die meisten Interviewpartner/innen die Anwendung drastischer

Sanktionen, geben aber zu bedenken, dass die zweifelsfreie Identifizierung solcher Fälle hohe An-

forderungen an die Kontrollinstanzen stellt.

Die Messbarkeit von Lernfortschritten und Sprachkompetenz

Ein weiteres Problem sehen die Kursleiter/innen in der Standardisierung und Objektivierbarkeit der

Lernfortschritte. Bisher werden dazu die Sprachtests und Sprachprofile des Europäischen Spra-

chenportfolios verwendet, aber einige Anbieter halten sie bei dieser Zielgruppe für wenig adäquat.

Aus diesem Grund gibt es auch Bemühungen, bessere Messinstrumente gerade für lernungewohnte

Personen zu entwickeln, um auch kleine Lernfortschritte erfassen zu können. Es stellt sich aber die

Frage, ob kleinste Lernfortschritte und ihre Umsetzung im Alltag überhaupt überprüft werden kön-

nen. Wenn Betroffene keine sichtbaren Fortschritte machen, obwohl sie sich Mühe geben, darf da-

her der Staat, wie in einem Interview gesagt wurde, daraus keinen „Straftatbestand“ machen. Kaum

vertretbar finden es die Interviewpartner/innen, wenn die durchführenden Amtspersonen in der

IntV ein zu erreichendes Sprachprofil festlegen, weil sie meist nicht über die notwendige Kompe-

tenz verfügen.

Die Auswahl der Zielgruppe und das Anzeigen von Personen für die IntV

Eine Schwierigkeit, welche von mehreren Interviewpartnern/innen thematisiert wurde, sind die

begrenzten Kapazitäten für die Auswahl von Personen, die sich für eine IntV eignen. Derzeit können

daher nur mit einer Minderheit solche Vereinbarungen abgeschlossen werden. Das ist den Sprach-

schulen bewusst und stellt sie vor das zusätzliche Problem, dass sie sich als „Handlanger“ eines Sys-

tems verstehen, das gegen einzelne Menschen mit Migrationshintergrund Sanktionen verhängt,

während andere verschont bleiben.

Ferner wurde die Befürchtung geäussert, dass Personen mit vermeintlichen Integrationsdefiziten an

das Migrationsamt „denunziert“ werden. So gäbe es viel Raum für „Willkür und Rassismus“, wenn

zum Beispiel Lehrpersonen „unliebsame“ ausländische Eltern weitermelden können. Das Weiter-

melden von Personen für die IntV muss folglich sorgfältig gehandhabt werden, und es müssen

Fachpersonen sein, die diese Aufgabe übernehmen. Auf keinen Fall dürfen persönliche Ressenti-

ments mitspielen, zum Beispiel gegenüber einer bestimmten Ausländergruppe. Deshalb muss das

Verfahren so angelegt werden, dass diese persönliche Dimension keine Relevanz hat.

Vertretbarkeit von Kurs- und Prüfungskosten

Ein weiteres Problem sehen die Sprachschulen darin, dass manche Kursteilnehmer/innen, die nahe

am Existenzminimum leben, die recht teuren Sprachtests und Prüfungen absolvieren möchten, be-

vor sie das dafür notwendige Niveau erreicht haben. Denn sie wollen belegen, dass sie die Anforde-

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rungen der IntV erfüllt haben. Die Prüfungsgebühren seien in solchen Fällen „zum Fenster hinaus-

geworfenes Geld“.

Einwandfreies Verstehen der IntV

Beratende und Kursleitende berichten, dass die IntV einzelne Betroffene in Panik versetzt habe,

weil sie die Inhalte nicht genau verstanden hätten und sich auch nicht getraut hätten, genauer

nachzufragen. Sie sind deshalb der Meinung, dass eine IntV nur abgeschlossen werden sollte, wenn

die Inhalte professionell übersetzt und ausführlich erklärt worden sind. Ausserdem sollten die Be-

troffenen die Möglichkeit haben, zuerst eine Beratungsstelle zu konsultieren, bevor sie die Verein-

barung unterschreiben, weil sie oft Hemmungen haben, Fragen zu stellen und sich Bedenkzeit zu

erbitten.

Professioneller Hintergrund zur Durchführung von IntV

Verschiedene interviewte Personen meinen, dass die Zuständigkeit für die IntV nicht beim Migrati-

onsamt liegen sollte, da man dort nicht über die erforderliche Beratungsausbildung verfüge. Es sei

interkulturelle Kompetenz nötig sowie ein breites Wissen über Integration und Migration, über un-

terschiedliche Massnahmen und Angebote. Wenn Druck auf Betroffene ausgeübt werden müsse,

könne das Migrationsamt mit der Integrationsfachstelle zusammenarbeiten. Ansonsten sollten Mig-

rationsbeamte an der IntV nicht mitwirken, solange sie nicht über ein neues, erweitertes professio-

nelles Profil verfügen.

Aufgrund ihres professionellen Hintergrundes haben die Interviewten andere Erwartungshaltungen

gegenüber der IntV und dem, was sie leisten soll, und sind weniger bereit, die IntV als rein admi-

nistrativen Vorgang zu begreifen. Insbesondere sehen sie im Leistungsnachweis einer Sprachschule

keinen ausreichenden Indikator für die tatsächliche Integration der Betroffenen und halten ein län-

gerfristiges Begleiten und Beraten für wirkungsvoller.

11.5.2 Juristische Implikationen

Im Laufe der Untersuchungen sind wir auf diverse juristische Unsicherheiten und Probleme gestos-

sen, die im Gespräch mit einem Experten für Migrationsrecht, Dr. Alberto Achermann, präzisiert

werden konnten.107 Die vielfältigen Fragen und Probleme konzentrieren sich auf zwei Bereiche,

nämlich erstens die juristische Form der IntV und zweitens Aspekte des Verfahrens. Beide Themen-

bereiche werden im rechtlichen Fachdiskurs intensiv diskutiert, was verdeutlicht, dass die von uns

festgestellten Unklarheiten das Instrument der IntV grundsätzlich betreffen. Sie spiegeln sich zu-

dem in vielfältigen Verfahrensproblemen der Verwaltungspraxis, so wie sie auch im vorliegenden

Bericht zum Ausdruck kommen. Eine Konkretisierung der rechtlichen Grundlagen der IntV ist des-

halb von zentraler Bedeutung.

107

In diesem Expertengespräch wurden die konkreten Fälle aus Anonymitätsgründen so dargestellt, dass die beteilig-

ten kantonalen Behörden nicht identifiziert werden konnten.

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Die IntV als verwaltungsrechtliches Instrument

Fragen, die sich uns in Zusammenhang mit der IntV als verwaltungsrechtlicher Handlungsform ge-

stellt haben, waren unter anderem:

– Welche rechtliche Form hat die IntV, ist sie eine Verfügung oder ein Vertrag? Wie unter-

scheiden sich diese Rechtsformen in ihren rechtlichen Implikationen und in den Spielräumen

und Verhandlungsmöglichkeiten zwischen Betroffenen und Behörden?

– Soll von einer „Einladung“ oder von einer „Vorladung“ zu einem IntV-Gespräch gesprochen

werden?

– Inwiefern ist es sinnvoll, die IntV von Kanton zu Kanton unterschiedlich zu handhaben? Wel-

che Folgen hat es, wenn die Betroffenen während der Laufzeit einer IntV in einen anderen

Kanton umziehen? Laufen unterschiedliche rechtliche Handlungsformen in den jeweiligen

Kantonen dem Grundsatz der Rechtsgleichheit zuwider? Wenn ja, könnte gegen eine solche

Rechtsungleichheit rekurriert werden?

Um welche rechtliche Handlungsform es sich bei der IntV handelt, scheint nicht abschliessend ge-

klärt zu sein. Diese Unklarheiten schlagen sich in der Umsetzungspraxis der kantonalen Verwaltun-

gen nieder. Die Frage, ob es sich bei der IntV um eine Verfügung oder um einen Vertrag handelt,

hat weitreichende Folgen: Im einen Fall wird eher das „Fordern-Setting“ betont, im anderen das

„Fördern-Setting“ (zu Charakteristika und Folgen dieser Settings siehe 11.4.2). Das wird bereits an

der Definition der beiden Rechtsformen deutlich: „Das wesentliche Merkmal, das den verwaltungs-

rechtlichen Vertrag von der Verfügung unterscheidet, ist die übereinstimmende gegenseitige Wil-

lenserklärung der beteiligten Parteien. Dieser Konsens ist Ausdruck ihrer Verhandlungsautonomie“

(Hunziker 2009, 41). Genauer gesagt, bleibt dort „Raum für den Vertrag, wo das Gesetz nach sei-

nem Sinn und Zweck der einvernehmlichen Konkretisierung bedarf. Dies wäre dann der Fall, wenn

beide Parteien eine dauerhafte Bindung bezwecken und wenn ein erheblicher Ermessensspielraum

besteht, der nach Sinn und Zweck des Gesetzes konsensual konkretisiert werden soll. Besteht im

Fall der IntV für den Betroffenen Ausländer oder die Ausländerin kein Verhandlungsspielraum, ist

etwa der Inhalt der Vereinbarung seitens der Verwaltung von Anfang an vorgegeben, wäre die

Form der Vereinbarung unzulässig“ (Achermann 2007, 123f., Herv. i. O.). Grundsätzlich können die

durch das AuG und die VintA eingeführten IntV in der Form des verwaltungsrechtlichen Vertrags

abgeschlossen werden. Die Vertragsform stützt sich auf “die übereinstimmende, autonome Wil-

lenserklärung zwischen zwei Vertragsparteien“ (Büren von/Wyttenbach 2009, 86). Sie hat den Vor-

teil, dass Personen stärker einbezogen werden und ihre Autonomie als Vertragspartner betont

wird. Auch wenn der verwaltungsrechtliche Vertrag in der Praxis weit verbreitet ist, gilt dennoch als

„Grundhandlungsform der staatlichen Behörden, um Pflichten von Individuen festzulegen, […] die

Verfügung“ (Hunziker 2009, 42). Sie hält fest, zu welchen Handlungen oder Unterlassungen eine

Person angehalten ist, stützt sich auf eine gesetzliche Grundlage und kann mit Rechtsmitteln ange-

fochten werden (vgl. Büren von/Wyttenbach 2009, 86; vgl. Achermann 2007, 122). Das Bundesamt

für Migration definiert jedoch die IntV explizit als eine Vereinbarung, die auf Freiwilligkeit beruht

und so ein Einverständnis beider Parteien nahelegt (vgl. Hunziker 2009, 41). Daher ist mit Recht ge-

fragt worden, „weshalb der Gesetzgeber Integration mittels einer Vereinbarung, also eines verwal-

tungsrechtlichen Vertrages, einfordern will, und nicht den Weg einer Verfügung, hier also einer Be-

willigungserteilung (auch mit Auflagen oder Bedingungen) wählt“ (Achermann 2007, 122; Herv. i.

O.). Denn die Festlegung auf die Form einer Vereinbarung lasse rechtliche Fragen offen und führe

damit zu neuen Problemen: „So ist unklar, nach welchen Regeln die Vereinbarungen entstehen sol-

len, welches die formellen Voraussetzungen sind und wie die Rechte Drittbetroffener (insbesondere

der Familienangehörigen) gewahrt werden können. Im Weiteren ist offen, ob und wie ein Vertrags-

abschluss angefochten werden kann. Allgemeine Unklarheiten und Schwierigkeiten rund um den

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verwaltungsrechtlichen Vertrag, wie die Auslegungsregeln, das Vorgehen bei einem fehlerhaften

Vertrag, die Feststellung und Beseitigung von Mängeln oder die Durchsetzung der Verpflichtungen,

kommen hinzu und führen wiederum zur Grundfrage, weshalb im Bereich der Integrationsverpflich-

tung die Vereinbarungsform gewählt worden ist“ (Achermann 2007, 124). Folglich ist der Vertrag

nur dann die adäquatere Form, „wenn zwischen den Vertragsparteien kein übermässiges Machtun-

gleichgewicht besteht, ihnen effektiv ein Verhandlungsspielraum zukommt, die längerfristige Bin-

dung gegenseitig ist, der rechtsgleichen Behandlung der verschiedenen Privaten untergeordnete

Bedeutung zugeschrieben werden kann und es sich nicht um einen Bereich handelt, in welchem die

Privaten besonders schutzbedürftig sind“ (Büren von/Wyttenbach 2009, 87).

In der vorliegenden Studie hat sich auch bestätigt, dass der Rechtsbegriff der Integration weiterhin

unbestimmt ist und präzisiert werden muss (vgl. Achermann 2007, 115ff. sowie Bianchi 2003, 11).

Der Integrationsbegriff bewegt sich „zwischen den Polen Chanceneröffnung und Anpassungserwar-

tung. Die Problematik besteht hier insbesondere darin, dass Integration als zu erreichendes Ziel

statt als ständiger Entwicklungsprozess begriffen wird, wobei die Determinanten unklar bleiben“

(Büren von/Wyttenbach 2009, 75). „Die Umschreibungen [des Integrationsbegriffs] sind nicht nur

uneinheitlich, sondern auch nicht konkret genug, um den Anforderungen der alltäglichen Bewilli-

gungspraxis zu genügen“ (Büren von/Wyttenbach 2009, 92).

Verfahrensunsicherheiten

Bezüglich des Verfahrens haben sich uns eine ganze Reihe von Fragen gestellt, die einer Klärung

bedürfen:

– Welche Aussichten hätte der Rekurs von Betroffenen, wenn sie gegen die Beschneidung von

Persönlichkeitsrechten klagen, z.B. gegen bestimmte Massnahmen, die sie für nicht adäquat

halten? Welche Implikationen hätte es, wenn gegen Massnahmen Rekurs eingelegt wird, die

im Gesetz nicht explizit erwähnt werden, etwa Arbeitssuche, Ablösung von der Sozialhilfe

oder Abbau von Schulden?

– Wenn eine Person klagt, dass ihr die Kriterien für die Anordnung der Massnahme, z.B. eines

Gewaltpräventionskurses, nicht klar seien, könnte sie damit Erfolg haben?

– Welche juristischen Folgen erwachsen aus dem Umstand, dass Betroffene die in der IntV

festgehaltenen Massnahmen nicht richtig verstehen?

– Welche konkreten Massnahmen dürften gemäss AuG und kantonalen Gesetzen und Verord-

nungen angeordnet werden? Wie verbindlich sind Massnahmen, die beim Abschluss der

IntV nur mündlich angesprochen werden (z.B. keine Schulden mehr machen oder Arbeit su-

chen)?

– In mehreren Kantonen wird die IntV nicht bloss von den direkt Betroffenen unterschrieben,

sondern auch von Partnern oder anderen Familienangehörigen. Wie ist dieser Umstand aus

rechtlicher Sicht zu beurteilen?

– Was gilt als Erfüllung der Massnahme? Genügt es, einen Kurs zu absolvieren oder müssen

nachweislich bestimmte Ziele (z.B. ein zertifiziertes Sprachprofil) erreicht werden? Wie ist

das Bundesrahmengesetz hierzu auszulegen?

– Müssen Diplome, die die Betroffenen bereits besitzen, auf die Erfüllung der vorgesehenen

Massnahme angerechnet werden oder nicht? Welche rechtliche Bedeutung hat es, wenn

Sprachdiplome ein bestimmtes Sprachprofil attestieren, sich im IntV-Gespräch aber zeigt,

dass die Person trotzdem kaum Deutsch versteht? Inwieweit müssen Arztzeugnisse bei der

Festlegung von Massnahmen berücksichtigt werden?

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– Wie ist es rechtlich zu beurteilen, wenn in der schriftlichen IntV Sanktionen angedroht wer-

den, aber der Beamte sie im Gespräch relativiert, also z.B. meint, eine Ausweisung sei sehr

unwahrscheinlich?

– Ist es rechtlich zulässig, dass Betroffene die IntV direkt nach dem IntV-Gespräch ohne Be-

denkfrist unterschreiben müssen? Dürfte jemand nach der Unterzeichnung von Teilen der

Vereinbarung Abstand nehmen, ohne mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen?

Aus rechtsstaatlichen Überlegungen sind eine Klärung der juristischen Form der IntV (Vertrag oder

Verfügung) und eine stärkere Formalisierung des behördlichen Verfahrens anzustreben. Die vorlie-

gende Evaluationsstudie zeigt, dass die Eingriffe der kantonalen Exekutivbehörden in die Privat-

sphäre der Betroffenen doch sehr weit gehen können, auch wenn es in der juristischen Literatur

unterschiedliche Einschätzungen gibt, ob die Verpflichtung zum Besuch eines Sprach- oder Integra-

tionskurses ein leichter oder ein erheblicher Eingriff ist (vgl. Büren von/Wyttenbach 2009, 77; A-

chermann 2007). Dabei kommt es sicherlich darauf an, wie viele Massnahmen in welchem Umfang

vereinbart werden. Je schwerer der Eingriff wiegt, desto klarer sollten die rechtlichen Grundlagen

und Verfahrensmodalitäten geregelt sein.

Es ist kritisiert worden, dass die „offenen Formulierungen in der Bundesgesetzgebung […] den kan-

tonalen Behörden einen erheblichen Handlungsspielraum“ einräumen:

- „in Bezug auf die Frage, welche Kriterien ‚erfolgreicher Integration’ bzw. ‚erfolgloser Integra-

tion’ im Bewilligungsverfahren berücksichtigt werden sollen und mit welchem Gewicht;

- bezüglich der Frage, ob eine Person zu Integrationsmassnahmen verpflichtet werden soll

(Entschliessungsermessen);

- hinsichtlich der Art der anzuordnenden Integrationsmassnahmen (Auswahlermessen) und

der Sanktionen bei Nichtbeachtung;

- in Bezug auf die Handlungsform (Integrationsvereinbarung);

- bezüglich der Ausgestaltung von Sprach- und Integrationskursen“ (Büren von/Wyttenbach

2009, 76).

Auf Gesetzesstufe müssen die Betroffenen erkennen können, was von ihnen konkret gefordert wird

und welchen Erwartungen und Verpflichtungen sie Folge zu leisten haben. Gesetzlich verankerte

Richtlinien sollen klären, welche Leistungen wie und von wem, bis wann und mit welchen Ausnah-

memöglichkeiten zu erbringen sind. Die Richtlinien sind den Betroffenen klar mitzuteilen, was bei

sprachlichen Verständigungsproblemen eine professionelle Übersetzung erfordert. „Legt der Staat

gesetzliche Integrationsanforderungen fest, müssen diese Normen somit inhaltlich genügend be-

stimmt sein, damit die Pflichten für die Menschen klar und vorhersehbar sind und die Anwendung

der Normen durch die Behörden im Einzelfall verfassungskonform und insbesondere rechtsgleich

erfolgen kann“ (Büren von/Wyttenbach 2009, 64). Von den Behörden müssen die Verfahrensschrit-

te und Verfahrensregeln detailliert geregelt und kantonalrechtlich verankert werden (an wen rich-

tet sich die Verfügung konkret, aus welchem Grund und mit welcher Rechtsfolge?). Wenn unter-

schiedliche Personen in unterschiedlichen Funktionen beteiligt sind, müssen ihre Funktionen und

die an sie gerichteten Erwartungen explizit gemacht werden, z.B. wenn der Partner einer betroffe-

nen Person die IntV ebenfalls zur Kenntnis nehmen soll oder wenn Familienangehörige dolmet-

schen. Ferner ist auf Gesetzesstufe zu konkretisieren: Welcher Stundenumfang an Sprachkurslekti-

onen wird von Betroffenen in welchem Zeitraum erwartet? Welche konkrete Lern- oder Präsenz-

leistungen werden erwartet? Wie erfolgt die Erfolgskontrolle? Wer trägt die Kosten der Sprachkur-

se? Ist die Teilnahme an Kursen verpflichtend oder freiwillig? Mit welchen Rechtsfolgen muss man

bei Verstössen und Nichtbeachtung konkret rechnen? Wann ist bei einer Nichterfüllung eine Weg-

weisung verhältnismässig? Mit welchen Folgen haben Betroffene zu rechnen, wenn die Sozialhilfe

die Kurse mitfinanziert? Welche Diplome/Eigenleistungen werden angerechnet? Welche Entschul-

digungsgründe werden anerkannt (z.B. Schwangerschaft, Krankheit, Betreuung von Kleinkindern)?

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Welche Einsprachemöglichkeiten gibt es? Solche Punkte müssen festgelegt und transparent ge-

macht werden. Notwendig ist eine „gesetzliche Konkretisierung auf kantonaler Ebene oder durch

Rahmenvorgaben des Bundes“ (Büren von/Wyttenbach 2009, 78). Das gilt auch für Fragen der be-

hördlichen Zuständigkeit: Welche Behörde operiert mit welchen Kompetenzen? Gelten Massnah-

men als verfügt oder nicht? Werden sie einvernehmlich ausgehandelt und vereinbart oder nicht?

Welche Behörden haben Zugriffsrechte auf die Dossiers der Betroffenen und wie ist der behördli-

che und ausserbehördliche Informationsfluss geregelt? Jede Behörde sollte auf einer klaren Rechts-

grundlage mit formalisierten Verfahrensregeln operieren, denn das schafft Verfahrenssicherheit für

die Amtspersonen und wirkt der Ungleichbehandlung entgegen. Die bestehenden Ermessens- und

Handlungsspielräume müssen daher klarer geregelt und rechtlich verankert werden.

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12 Empfehlungen

Grundsätzliche Anmerkungen

Dieses Kapitel resümiert die wichtigsten Ergebnisse aus den vorangegangenen Ergebnisdarstellun-

gen und Analysen, die zum Teil kantonsbezogen und zum Teil gesamthaft über die Kantone hinweg,

erfolgten. Die gewonnenen Erkenntnisse zum Verfahren, zu den Wirkungen, zur Effizienz und zu

juristischen Implikationen leiten unmittelbar zu Empfehlungen über. Die Struktur dieses Kapitels

lehnt sich daher zunächst an die in Kapitel 11.1 („Verfahrensdimensionen“) gewählte an.

An dieser Stelle sei nochmals daran erinnert, dass das Instrument der IntV eine Kann-Bestimmung

des Bundes mit sehr wenigen Vorgaben ist, sodass der Ausgestaltungsspielraum der Kantone und

der betreffenden Ämter im konkreten Verfahren beträchtlich ist. Wenn die Ämter selbst keine kla-

ren Definitionen und Festlegungen ihres Verständnisses von Integration, ihrer Ziele, Mittel, Sankti-

onen, Strukturen und Ressourcen vornehmen, dann ist nicht nur der Spielraum der involvierten

Verwaltungseinheiten und damit die Unterschiedlichkeit zwischen den Kantonen gross. Vielmehr

besteht auch die Gefahr, dass die operativ tätige Amtsperson das Instrument der IntV nach ihren

individuellen Möglichkeiten und Anschauungen definiert und handhabt. Wir meinen, dass das ü-

bergeordnete Ziel in der möglichst klaren Definition und Festlegung von Verfahrensschritten und

-regeln liegen soll, um diese Handlungsspielräume zu begrenzen, die es einer Amtsperson im positi-

ven Fall erlauben, sehr weitgehende motivierende und aufbauende Arbeitsbeziehungen mit Betrof-

fenen herzustellen, aber in der negativen Ausprägung Betroffene unverhältnismässigen Eingriffe in

ihre Privatsphäre aussetzen. Obwohl ein gewisses Manövrieren mit Unklarheiten als Arbeitsstrate-

gie die Betroffenen aktivieren mag, halten wir aus rechtsstaatlichen Überlegungen ein möglichst

grosses Mass an Transparenz für unabdingbar. Das gibt auch allen Beteiligten ein adäquates Mass

an Handlungssicherheit.

Als weiteren Aspekt möchten wir die Auswahl der Zielgruppe hervorheben. Als Mittel der Förde-

rung der Integration adressiert das Instrument der IntV nur einen sehr kleinen Teil aller potentiell

„integrationsbedürftigen“ Migranten/innen. Nur bei Migranten/innen aus Drittstaaten sind Sankti-

onen möglich, und wenn sie verheiratet sind, sogar nur dann, wenn auch der Ehepartner bzw. die

Ehepartnerin eine Aufenthaltsbewilligung B besitzt. Diese Einschränkung reduziert den Aktionsradi-

us des Instruments und schafft grundsätzliche Ungleichheiten zwischen Migrantinnen und Migran-

ten.

Die Auswirkungen auf die vier integrationspolitischen Ziele a) Respektierung der rechtsstaatlichen

Ordnung und der Werte der Bundesverfassung; b) Erlernen der am Wohnort gesprochenen Landes-

sprache; c) Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen in der Schweiz; d) Willen zur Teilnah-

me am Wirtschaftsleben und zum Erwerb von Bildung108 lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt kaum

einschätzen. Das hängt mit dem Stand der Operationalisierungsarbeiten bezüglich der IntV zusam-

men, die es unmöglich machen, mittelfristige Effekte zu evaluieren.

108

Art. 4 VIntA.

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103

Auswahl der Zielgruppen

- Durchführung einer Erstinformation für alle Neuzugezogenen

- Neuzugezogene mit Risiken für den Integrationsprozess als primäre Zielgruppe der IntV

- Unterscheidung von freiwilligen Integrationsempfehlungen und unfreiwilligen IntV

- Klärung der Rechtsform der genannten Instrumente

Die vorliegende Evaluationsstudie zeigt, dass bereits mit der Auswahl der Zielgruppe die Weichen

für das IntV-Verfahren gestellt werden. Basierend auf unserer Analyse und Diskussion im Kapitel

11.4 (Eignung und Übertragbarkeit) begrüssen wir den Vorschlag des Bundesrats, der im „Bericht

zur Weiterentwicklung der Integrationspolitik des Bundes“ vom 5. März 2010 formuliert ist, für die

Gruppe der Neuzugezogenen – auch Zuwandernde aus dem EU/EFTA-Raum – eine Erstinformation

(Begrüssungs- und Orientierungsgespräch) auf freiwilliger Basis anzubieten. Die Bedeutung des per-

sönlichen Gesprächs wurde im Verlaufe der Studie an vielen Stellen erwähnt, während schriftliche

Dokumente wie Briefe, Orientierungsschreiben usw. oft nicht richtig verstanden werden. Das direk-

te Gespräch ermöglicht es zum einen, individuell angepasst zu vermitteln, welche Aufgaben und

Integrationsleistungen von Seiten des Staats erwartet werden. Andererseits erlaubt es, die Bedürf-

nisse, Ressourcen aber auch Einschränkungen der neu eingewanderten Migranten/innen festzustel-

len. Anhand von Indikationskriterien, die zu entwickeln sind, könnte festgelegt werden, in welchem

Fall der Abschluss einer IntV angestrebt wird. Da dieses Erstgespräch freiwillig ist, muss es nicht

zwangsläufig professionell übersetzt werden.

Ein weiterer Vorteil des persönlichen Gesprächs liegt darin, dass diejenigen, die von sich aus bereit

sind, möglichst schnell die Landessprache zu lernen, nicht mit einer IntV „künstlich“ dazu verpflich-

tet werden müssen. Ausserdem wird die Gleichbehandlung aller Migranten/innen betont. Anderer-

seits erlaubt es das Gespräch, schon über Zweck und Ziel der IntV zu informieren und das Gegen-

über dazu zu motivieren, indem die Vorteile dieser Unterstützungsmassnahme verdeutlicht wer-

den. Integrationsempfehlungen (freiwillig) und IntV (unfreiwillig) sind klar zu unterscheiden, wobei

zu beachten ist, dass gegen Zuwandernde aus EU-/EFTA-Staaten im Unterschied zu Drittstaatsange-

hörigen bei einem Nichteinhalten von vereinbarten Massnahmen keine Sanktionen verhängt wer-

den können. Deshalb empfehlen wir zwei unterschiedliche Formen, je nachdem, ob Betroffene völ-

kerrechtliche Ansprüche geltend machen können oder nicht. Bei der ersten Gruppe, bei der keine

Sanktionen möglich sind, bietet es sich an, eine Empfehlung abzugeben und allenfalls auf freiwilli-

ger Basis Beratung oder Begleitung anzubieten. Bei Migranten/innen aus Drittstaaten, bei denen

Sanktionen möglich sind, empfehlen wir eine IntV. Die Rechtsform der beiden Instrumente ist zu

klären.

Für die Gruppe der länger Anwesenden und oft mehrfach belasteten Betroffenen sollte deutlich

geworden sein, dass sie ein beratend-begleitendes professionelles Setting brauchen, sofern es tat-

sächlich um deren Integration gehen soll. Der Aufbau von Motivation, Vertrauen und das Herstellen

eines Arbeitsbündnisses setzt eine professionelle Haltung voraus, braucht Zeit und Kontinuität. Aus-

serdem ist gut abzuwägen, wie hoch der Aufwand und wie gross der vermutlich erreichbare Integ-

rationserfolg ist. Dabei sollte man sich amtsintern darüber verständigen, wie viel man für welchen

Fall mit welchem Ziel zu investieren bereit ist. Ferner ist zu prüfen, ob nicht das Sozialamt oder an-

dere sozialarbeiterisch tätige Ämter für diese Aufgabe besser ausgerüstet sind. Die Komplexität der

Probleme erfordert oft eine Zusammenarbeit und Vernetzung mit verschiedenen Institutionen und

Personen, so dass auch Triage und das Zusammenführen, Ordnen, Bündeln und Bewerten von In-

formationen eine wichtige Kompetenz der fallbetreuenden Person darstellt (professionelles Case

Management). Dazu werden interkulturelle Kompetenz sowie gute Kommunikationsfähigkeiten

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104

benötigt. Uns erscheint es sinnvoll, in Zusammenarbeit mit dem Sozialamt zu klären, welche Stelle

im Einzelfall geeignet ist, die Federführung bei der Fallbetreuung zu übernehmen. Je nachdem, ob

z.B. Sprache oder Arbeitsintegration im Vordergrund steht oder andere Interventionen notwendig

sind, und je nachdem, in welcher Reihenfolge welche Schritte angegangen werden sollte, ist mögli-

cherweise die eine oder andere Zuständigkeit angebrachter.

Als Hauptzielgruppe für die IntV empfehlen wir die Neuzugezogenen, und zwar insbesondere die

Untergruppe, bei der Schwierigkeiten im Integrationsprozess zu erwarten sind. Der durch die IntV

geschaffene verbindliche Rahmen kann bei dieser Zielgruppe Orientierung bieten und für Motivati-

on und Ausdauer förderlich sein. Bei der Zielgruppe der mehrfachbelasteten Drittstaatenangehöri-

gen halten wir das Instrument der IntV hingegen nur dann für geeignet, wenn eine enge Begleitung

und ein Case Management mit den beteiligten Unterstützungssystemen implementiert wird. Diese

Aufgabe erfordert aber weitreichende Ressourcen und Kompetenzen und kann mit den vorhande-

nen und bereits involvierten Fachpersonen im Sozialbereich vermutlich besser bewältigt werden.

Assessment zur Bestimmung des Integrationsgrades

- Klärung des Integrationsbegriffs

- Einführung eines Spracheinstufungstests

Um realistische und sinnvolle Ziele bestimmen zu können, muss man die Ausgangslage möglichst

gut klären. Dabei geht es nicht nur um die individuelle Ausgangslage der betroffenen Person, son-

dern auch um die amtlich-institutionellen Voraussetzungen. Der Integrationsbegriff sollte geklärt

sein, da er die Basis des weiteren Handelns darstellt. Je nachdem, ob Integration nur auf sprachliche

Kompetenzen oder Kenntnisse über das Land bezogen oder aber in einem umfassenden Sinn ver-

standen wird (und sich damit auch auf Probleme wie Arbeitslosigkeit, Schulden, Delinquenz u.a.

bezieht), wird das gesamten Vorgehen enger oder breiter angelegt. Eine wichtige Variable ist in die-

sem Zusammenhang die Zielgruppe. Sofern mehrfach belastete Betroffene in den Blick genommen

werden, sind oft nicht (nur) Sprachprobleme, sondern auch Geldprobleme, Erziehungsschwierigkei-

ten, gesundheitliche Einschränkungen usw. relevant. Diese komplexen Problemlagen auszublenden

und als Massnahme lediglich einen Sprachkurs vorzusehen, ist für einen erfolgreichen Prozess nicht

nur unzureichend, sondern kann je nach Problemkonstellation sogar kontraproduktiv sein. Es ist

aber zu prüfen, ob weiterreichende Massnahmen in der IntV festgehalten werden sollen, da ihre

juristische Haltbarkeit zweifelhaft ist.

Das Erlernen der Landessprache ist die am häufigsten ausgesprochene Massnahme, da sie als Fun-

dament für den weiteren Integrationsprozess verstanden wird. Wie im „Rahmenkonzept Sprachför-

derung“ des BFM (2009109) gezeigt wird, gilt es bei der Einschätzung der Sprachkompetenzen zu

bedenken, dass die bestehenden Testverfahren für andere Zwecke (Fremdsprache für touristische

Zwecke usw.) entwickelt worden sind. Sie sind daher wenig geeignet, die spezifischen kommunika-

tiven Kompetenzen von Migrantinnen und Migranten, insbesondere von solchen mit wenig Schul-

bildung, im Rahmen der IntV zu prüfen. Hier müssen spezielle Testverfahren und Sprachprofile für

den Zweck der IntV entwickelt werden. Die Ermittlung der bestehenden sprachlichen Kompetenzen

und die Festlegung der anzustrebenden Kompetenzen sollten durch eine spezialisierte Stelle

109

Information des Bundesamts für Migration zu aktuellen Entwicklungen im Bereich der Sprachförderung und der

Sprachkompetenznachweise der Migrantinnen und Migranten (Bundesauftrag "Rahmenkonzept Sprachförderung"),

15. Juni 2009.

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105

(Sprachschule) erfolgen. Sie sollte die Ergebnisse an das Amt zurückmelden, damit sie bei der Pla-

nung der weiteren Schritte berücksichtigt werden können.

Gestaltung des Gesprächssetting zum Abschluss einer IntV

- Professionelles Übersetzen

- Motivierende Gesprächsführung

- Transparenz im Verfahrensprozess und bei der Informationsvermittung

Wie bereits erläutert, werden schon im Vorfeld eines Gesprächs mit dem behördlichen Einladungs-

oder Vorladungsschreiben Zeichen gesetzt, Botschaften vermittelt und damit der weitere Verlauf

des IntV-Prozesses massgeblich beeinflusst. Auch wenn die Behörde im Sinne eines Forderns Druck

anwenden möchte, sollte es immer darum gehen, eine produktive Kooperation und Motivation auf-

zubauen, in der Annahme, dass es ein natürliches Bedürfnis und auch eine Bereitschaft zur Integra-

tion gibt. Wir empfehlen daher für die Gruppe der Betroffenen, mit denen eine Integrationsemp-

fehlung angestrebt wird, das bereits im Anschreiben klarzustellen, indem man z.B. betont, dass der

Kanton die Integration unterstützen möchte. Sofern nicht schon ein Informations- und Orientie-

rungsgespräch stattgefunden hat, könnte man auch schreiben, dass der Abschluss einer IntV ge-

meinsam „geprüft“ werden soll. Das käme der Tatsache näher, dass die IntV in diesen Fällen ein

gewisses Einvernehmen voraussetzt und die Betroffenen nicht zu ihrem Abschluss gezwungen wer-

den können. Diejenigen Migranten/innen, gegen die Sanktionen verhängt werden können, sollten

durch eine Vorladung aufgeboten werden, in der bereits deutlich gemacht wird, dass es um den

Abschluss einer IntV geht. Für die Gestaltung dieses Gesprächssetting empfehlen wir, professionelle

Übersetzer/innen beizuziehen und, falls Kinder anwesend sind, für sie geeignete Beschäftigungs-

möglichkeiten anzubieten. Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben, sich auf das Gespräch zu

konzentrieren und die Inhalte richtig zu verstehen. Der Gesprächsleitfaden kann, wie bereits üblich,

dem Formular der IntV entsprechen. Er sollte vor allem die Ausgangslage (also den Grund für die

IntV und die bestehenden Kompetenzen oder Probleme), die angestrebten Ziele und Massnahmen

sowie die Zeitspanne für die Zielerreichung oder Massnahmeerfüllung und die Art des Controllings

und Monitorings berücksichtigen und die Protokollierung dieser Punkte strukturieren.

Im Gespräch sollte wie bereits im Vorfeld primär ein Motivationsaufbau angestrebt und gestärkt

werden. Positiv kann sich dabei die Aussicht auswirken, dass bei Erfüllung der Massnahme die Auf-

enthaltsbewilligung verlängert oder die angestrebte Niederlassungsbewilligung früher erteilt wird.

Neben der Motivationsarbeit ist die Herstellung eines Arbeitsbündnisses ein weiteres wichtiges Ziel

des Gesprächs. Hierzu ist ein gewisses Vertrauen nötig, das insbesondere durch transparente In-

formationen und ein klares, durchschaubares Verfahren hergestellt werden kann. Dazu gehört, dass

die Betroffenen genau über die Erwartungen des Staates an ihre Integrationsleistungen orientiert

werden (und auch darüber, was Integration nicht bedeutet), dass der Ist-Zustand sorgfältig ermit-

telt und realistische Ziele festgelegt werden. Auch die Regelung möglicher Sanktionen muss im De-

tail festgehalten werden. Bei denjenigen, die auf freiwilliger Basis eine IntV abschliessen, sind die

angestrebten Ziele und vereinbarten Massnahmen in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess

festzulegen.

Für beide Gruppen gilt, dass die IntV nur von der Person unterzeichnet werden soll, die die Mass-

nahmen erfüllen muss. Ihr sollte eine Bedenkfrist zugestanden werden und auch die Möglichkeit,

die Vereinbarung nochmals in Ruhe zu lesen und zu prüfen. Rekursmöglichkeiten müssen festgelegt

und klar erläutert werden. Eine solche Handhabung des Verfahrens wirkt auch vertrauensbildend.

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Bei einer freiwilligen Integrationsempfehlung, für die normalerweise ein einmaliges Gespräch ge-

nügt, sollte die ausführende Amtsperson ein administratives Profil mit etwas Schulung in motivie-

render Gesprächführung und einem Training in Kommunikation besitzen. Bei verpflichtenden IntV

sind darüber hinaus Kompetenzen in professioneller Gesprächsführung erforderlich.

Festlegen von Massnahmen

- Bestimmung des zu erreichenden Sprachprofils durch Sprachschulen

- Klärung des Umgangs mit Arztzeugnissen und Diplomen

- Formulierung von Minimalstandards zum Kursbesuch durch den Bund (begrüsst wird die Er-

arbeitung des „Rahmenkonzepts Sprachförderung“ durch den Bund)

Wie bereits erwähnt, hängt die Festlegung der Massnahmen von der Zielgruppe sowie vom Integra-

tionsverständnis und vom angestrebten Integrationsziel ab. Bei einer freiwilligen Integrationsemp-

fehlung handelt sich um gemeinsam vereinbarte Massnahmen, während bei den verpflichtenden

IntV die Massnahmen auch einseitig festgelegt werden können. Dabei kann eine Aufteilung in ver-

schiedene Phasen sinnvoll sein, in denen jeweils bestimmte Teilziele zu erreichen sind. Eine genaue

Beschreibung der erwünschten/geforderten Ziele kann, sofern sie realistisch sind, eine weitere Mo-

tivationssteigerung bewirken. Hilfreich ist es, wenn die möglichen Massnahmen in einer Datenbank

erfasst sind, so dass die durchführende Person sich schnell einen Überblick über bestehende Ange-

bote verschaffen kann. Bei Sprachkursen sollte die Festlegung des zu erreichenden Niveaus der

Sprachschule überlassen bleiben. Auch hier ist ein gestuftes Verfahren mit mehreren aufeinander

aufbauenden Kursen denkbar. Die Zeitspanne und die einzelnen Kurse sollten jedoch festgelegt

werden. Die Kommunikation mit den Kursanbietern hat dabei einen hohen Stellenwert. Sobald klar

ist, in welcher Schule die Anmeldung erfolgt ist, sollte es einen Kontakt zwischen Sprachschule und

Amt geben. Falscheinstufungen und Überforderungen der Betroffenen können so deutlich vermin-

dert werden. Den sogenannten kleinen Schritten bei bildungsungewohnten Personen ist dabei

Rechnung zu tragen. Zu klären ist auch die Frage, ob der Besuch des Kurses genügt oder ob es dar-

um geht, ein bestimmtes Sprachprofil zu erreichen. Auch hierfür sollten Kriterien definiert sein, was

für wen und warum gilt. Sofern Arztzeugnisse und Diplome, laufende IV-Abklärungen usw. vorlie-

gen, ist ebenfalls festzulegen, wie damit umgegangen wird. Möglicherweise wird dann die Mass-

nahme nicht oder nicht zum jetzigen Zeitpunkt oder nicht in der ursprünglich geplanten Form oder

im üblichen Tempo usw. durchgeführt. Der aktuellen Lebenssituation der Betroffenen ist im Einzel-

fall Rechnung zu tragen (wie hoch ist die Arbeitsbelastung? welche familiäre Verpflichtungen, z.B.

Erziehung von Kleinkindern, gibt es? usw.)

Mit der derzeitigen Bearbeitung des „Rahmenkonzepts Sprachförderung“, das Bestimmungen und

Regeln für Minimalstandards zum Sprachkursbesuch definiert, wird ein wichtiges Ziel erreicht. Diese

Rahmenvorgabe des Bundes soll bis 2011 vorliegen. Da die Verordnung eines anspruchsvollen

Sprachkurses als Eingriff in Grundrechte betrachtet werden kann, muss eine entsprechende rechtli-

che Grundlage geschaffen werden, die die Anforderungen detailliert regelt (vgl. 11.5.2). Vorgängig

ist festzulegen, welche Kostenbelastung für welches Budget verhältnismässig ist und wie die Kos-

tenaufteilung erfolgt. Bei mehrfach belasteten Familien sollte das Amt die Kosten mittragen. Wenn

die Sozialhilfe die Finanzierung unterstützt, sollte das die schon bestehende „Negativbilanz“ der

Betroffenen nicht zusätzlich belasten.

In der IntV Massnahmen im Kommunikations- und Sozialbereich, wie etwa das Lesen von Gratista-

geszeitungen oder die Teilnahme an Elterngesprächen in der Schule, festzulegen, erscheint uns

problematisch, zumal eine Überprüfung kaum möglich ist.

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Sanktionen

Bei unfreiwilligen IntV muss man die Betroffenen im Gespräch auf mögliche Sanktionen aufmerk-

sam machen und ihren Zweck erklären. Dabei müssen die Voraussetzungen für Sanktionen genau

benannt werden, damit Unsicherheiten ausgeräumt werden können.

Controlling und Monitoring

- Durchführung von Controlling- und Monitoring-Massnahmen

- Aufbau einer Datenbank

- Durchführung von Follow ups

Die Glaubwürdigkeit der IntV ist in starkem Masse von der Ernsthaftigkeit und Sorgfalt beim Cont-

rolling (und gegebenenfalls auch beim Monitoring) der Massnahmen abhängig. Gerade bei mehre-

ren aufeinander folgenden Massnahmen ist es wichtig, in gewissen Abständen bei Betroffenen und

Sprachschulen nachzufragen und den aktuellen Stand der Dinge abzurufen. Wenn (zunächst) nur

eine Massnahme vereinbart wurde, sollte ein definiertes Controllingverfahren ausreichen. Dabei

sollte die Bestätigung über den erfolgreichen Kursbesuch und/oder die bestandene Prüfung von der

betroffenen Person unaufgefordert beim Amt eingereicht werden, das für die Durchführung der

IntV zuständig ist. Eine Datenbank sollte den Überblick über abgelaufene Massnahmen und fällige

Fristen gewährleisten, so dass rechtzeitig nachgehakt werden kann, sofern keine Meldung eingeht.

Bei einer eingespielten Zusammenarbeit zwischen Kursanbietenden und Amtsstelle ist zudem

denkbar, dass in bestimmten Abständen ein kurzes, möglichst standardisiertes Feedback über den

Stand des Lernprozesses gegeben werden kann.

Ein systematisches Controlling und Monitoring könnte zudem wichtige Informationen über auftre-

tende Schwierigkeiten und Hürden liefern, so dass präventiv bereits Massnahmen ergriffen werden

können, um den Erfolg zu optimieren.

Einsatz von Arbeitsinstrumenten

- Formulieren von Kriterien zur Auswahl der Zielpersonen

- Installieren von klaren Abläufen

Als Arbeitsinstrumente für die Auswahl geeigneter Zielpersonen empfehlen wir, Kriterien zu formu-

lieren und klare Abläufe zu installieren. Die Kriterien können im Rahmen des vorgeschlagenen Erst-

gesprächs als Vorsondierung dienen, um Personen zu eruieren, die für eine IntV in Frage kommen.

Ausserdem empfiehlt sich die Schaffung von Datenbanken, mit denen die bestehenden Angebote

von Anbietern von Integrationsmassnahmen schnell gesichtet werden können.

Auch für das Controlling von Massnahmen sollte eine Datenbank implementiert werden. Sie sollte

Informationen über die Betroffenen enthalten, wie z.B. sozioökonomische Daten, Grund und Ziel

der Massnahmen, bestehendes Integrationsniveau, angestrebte Kompetenzen, Dauer der Mass-

nahme, sowie Daten, die bei einem Follow up nach etwa einem Jahr erhoben werden könnten. Ein

solches Follow up würde Aussagen über den Erfolg und die Nachhaltigkeit der IntV erlauben.

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Effizienz

- Klärung, was Erfolg bzw. Misserfolg bedeutet und wie hoch der Aufwand sein darf

Die Frage der Effizienz ist eine des Verhältnisses von Aufwand und Nutzen, also von investierten

Mitteln (Ressourcen) und erzieltem Ergebnis (Output oder Outcome). Die Beantwortung dieser Fra-

ge ist unmittelbar vom gesteckten Ziel abhängig, an dem der Erfolg messbar gemacht werden kann.

Wenn Erfolge bzw. Misserfolge operationalisiert sind und Ergebnisse der Integrationsempfehlungen

und der IntV nach einer definierten Zeitspanne gemessen werden, werden Aussagen zu diesem

Punkt mit einer gewissen Verlässlichkeit gemacht werden können.

Zusammenarbeit mit anderen Partnern

- Transparenz und regelmässiger Austausch

Beim Instrument der IntV ist die Kooperation mit verschiedensten Partnern eine zentrale Wirkgrös-

se im Geschehen. Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, ist es von grosser Bedeutung, die Ko-

operationspartner/innen über Ziele, Massnahmen, Probleme usw. rund um die IntV zu informieren.

Die damit einhergehende Transparenz dürfte sich positiv auf die Zusammenarbeit auswirken und

den Integrationsprozess der Betroffenen unterstützen. Das Gefühl, gemeinsam einen produktiven

Prozess voranzutreiben, der letztlich zur Unterstützung der integrationsbedürftigen Personen dient,

dürfte von den Kooperationspartnern positiv wahrgenommen werden – ganz anders als das wie-

derholt geäusserte Gefühl, zum Handlanger von unangemessenen und zweifelhaften Strafaktionen

instrumentalisiert zu werden.

Sofern die Gemeinden involviert sind, ist es auch hier wichtig, den Austausch zu pflegen, um ein

gemeinsames Verständnis bezüglich der Zielgruppen und der Verfahrensregeln herzustellen. Je

mehr Akteure involviert sind und je heterogener sie sind, desto klarer muss das Verfahren definiert

und mitgeteilt werden.

Erfüllung/Nichterfüllung von Massnahmen und Sanktionen

- Definition und Festlegung von Erfüllung und Nichterfüllung anhand von Kriterien

- Konsequente Umsetzung von Sanktionen

- Pflege der interinstitutionellen Zusammenarbeit

Wenn bei einer verpflichtenden IntV die Massnahme nicht in vereinbarter Weise oder im dafür vor-

gesehen Zeitraum erfüllt wurde, gilt es prinzipiell zu unterscheiden, ob eigenes Verschulden vorliegt

oder Hindernisse und Umstände, die nicht von der betroffenen Person zu beeinflussen waren. Es

sollte eine Kriterienliste erstellt werden, die Ausnahmen, Gründe und Umstände aufführt, damit ein

Verschulden oder Nichtverschulden eindeutig bestimmt werden kann. Es ist eine standardisierte

Beurteilung anzustreben. Ein Monitoring würde womöglich erlauben, den Anteil unerfüllter Mass-

nahmen zu reduzieren, falls dadurch schon im Vorfeld Probleme und Schwierigkeiten identifiziert

und unterstützende Massnahmen eingeleitet werden können. Bei eigenem Verschulden sollte das

weitere Vorgehen ebenfalls standardisiert werden. So kann eine erste Mahnung ausgesprochen

werden, mit dem Hinweis, dass die Nichterfüllung aktenkundig wird und sich bei einer nächsten

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Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung negativ auswirken kann. Falls das keine Reaktion bewirkt,

könnte eine weitere Steigerung der Sanktion in Betracht gezogen werden.

Sofern die Amtsstelle, die mit der Durchführung der IntV beauftragt ist, nicht dem Migrationsamt

zugeordnet ist, muss auf eine optimale interinstitutionelle Zusammenarbeit, d.h. auf transparente

Information und Kommunikation geachtet werden. Druck und Drohungen werden nur dann wirk-

sam sein, wenn tatsächlich Konsequenzen folgen.

Sicherlich ist das IntV-Verfahren grundsätzlich viel einfacher abzuwickeln, wenn es ganz beim Mig-

rationsamt angesiedelt ist. Wir möchten davon jedoch ausdrücklich abraten. Wenn die Aspekte der

Integrationsförderung und der Motivierung der Betroffenen als zentrales Ziel und als entscheiden-

der Erfolgsfaktor angesehen werden, empfiehlt es sich, die Durchführung der IntV bei einer ande-

ren Stelle anzusiedeln, etwa bei einer Fachstelle für Integration. Dadurch kann die Förderung und

Motivierung von den Sanktionsaufgaben des Migrationsamts getrennt werden. Somit ist die eine

Stelle primär unterstützend und beratend tätig und die andere verhängt Sanktionen. Wenn dage-

gen beide Funktionen in einer Stelle gebündelt sind, kann diese Koppelung für die durchführende

Amtsperson zu Rollenvermischung und Ambivalenzen führen, die den Förderungsprozess belasten

und bei den Betroffenen Unsicherheiten, mangelndes Vertrauen und letztlich Rückzug bewirken

können. Wie bereits erwähnt, kann man gerade in schwierigen Fällen und bei komplexen Proble-

men das Ziel der Integration am ehesten durch ein stabiles Arbeitsbündnis erreichen, das von ge-

genseitigem Vertrauen geprägt ist, während die Angst vor Sanktionen zu einem defensiven Verhal-

ten und ggf. auch zu Eskalationen führen kann.

Anderweitige juristische Implikationen

- Festlegung des Rechtscharakters der Integrationsempfehlung und der IntV

- Formulierung von Minimalstandards für Massnahmen durch den Bund

Wie im Kapitel 11.5.2 (Juristische Implikationen) erwähnt, ist die Frage des Rechtscharakters der

IntV zu klären. Wird sie als Verfügung verstanden, so steht eher der „Fordern“-Gedanke im Vorder-

grund. Bei der Integrationsempfehlung wird dagegen der „Fördern“-Aspekt und die Gleichwertig-

keit der involvierten Akteure betont. Wir empfehlen, diese beiden Rechtsformen und behördlichen

Arrangements klar zu trennen.

Ferner müssen Betroffene erkennen können, was hinsichtlich der Integration konkret von ihnen

verlangt wird. Das erfordert bei Sprach- und Integrationskursen eine rechtliche Verankerung der

Vorgaben für Umfang, Dauer, zu erbringenden Leistungen usw. Ebenso muss festgehalten werden,

mit welchen Konsequenzen Betroffene zu rechnen haben, wenn Massnahmen nicht erfüllt werden,

welche Diplome anerkannt werden und welche Ausnahmebestimmungen und Entschuldigungs-

gründe vorgesehen sind. Eine rechtliche Grundlage würde für alle am Verfahren beteiligte Akteure

Sicherheit schaffen und einer Gefahr der Ungleichbehandlung entgegenwirken.

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