Dummy-Magazin #29, Angst

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UNABHÄNGIGES GESELLSCHAFTSMAGAZIN AUSGABE 29 WINTER 2010/11 D ¤6 CH ¤12,50 EU ¤12 ANDERE ¤15 ANGST

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Monothematisches-, unabhängiges Gesellschaftsmagazin aus Berlin, Ausgabe 29. Thema: Angst. Gestaltet von Bjoern Wolf (bjoernwolf.com) und Benjamin Schulte (benjaminschulte.com)

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UNABHÄNGIGES GESELLSCHAFTSMAGAZINAUSGABE 29 WINTER 2010/11D ¤6 CH ¤12,50 EU ¤12 ANDERE ¤15

ANGST

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9ANGST

EDITORIAL

Schiss, Muffensausen, Bammel …

… oder wie auch immer man es nennen mag, ist ein ziemlich bestimmendes Gefühl in unserer Gesellschaft. Die Menschen haben Angst vor Überfremdung – selbst wenn die Zahl der Einwanderer und Asylanten stetig sinkt, fürchten sie sich davor, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder ihren Wohlstand. Es gibt Eltern, die haben Angst, dass sie die Karriere ihrer Kinder versauen, wenn sie die falsche Kita aus-wählen. Die Bild-Zeitung will uns Angst machen vor der Schweinegrippe, die dann doch glimpflich verläuft – vor gewalttätigen Jugendlichen, die im Drogenrausch aufrechte Bürger überfallen, oder vor Kinderschändern, die öfter in den Schlagzeilen vorkommen als im echten Leben. Der Alarmismus zwecks Auflagensteigerung ist in den Medien der Normalzustand.

Die Politik bedient sich derweil der Angst der Bürger, wenn es gilt, die Gesetze zu verschärfen. Geht es um die Einschränkung der Bürgerrechte, um Telefonüberwachung und Vorratsdatenspeicherung, ist man schnell mit neuen Erkenntnissen über die weltweite Bedrohung durch Terroristen zur Hand.

»Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren«, hat Benjamin Franklin gesagt – die Bundesregierung aber hält es lieber paradox: Sie gibt die Sicherheit auf und erlangt nicht mal die Freiheit. Oder wie lässt es sich erklären, dass ihr die berechtigten Sorgen der Bürger vor strahlendem Atommüll und vor von Attentätern gesprengten Meilern egal sind und sie stattdessen die Laufzeiten der AKWs verlängert?

Erbärmlich ist auch, dass ein Land, das so viel Furcht und Schrecken verbreitet hat, keine besondere Solidarität mit Verfolgten mehr verspürt. So hoffen in türkischen Trabantenstädten Tausende von geflohenen Iranern auf Asyl in Deutschland – keine Terroristen, sondern Studenten und Ingenieure, mit denen viele Deutsche vor anderthalb Jahren zurzeit der Demonstrationen in Teheran noch mitgefiebert haben. Aber aus Angst vor dem Wählerwillen hat man sich ja schon schwer getan, drei offensichtlich unschuldige Uiguren aufzunehmen, die jahrelang in Guantanamo gefoltert wurden. Jenes Guantanamo, auf dessen Schließung auch deutsche Politiker eindringlich gepocht haben.

Man könnte es angesichts dieses wohlfeilen Gratismuts mit der Angst bekommen, aber davon wollten wir uns beim Machen dieses Hefts nicht leiten lassen. Stattdessen haben wir versucht, ohne Vorbehalte an das Thema ranzugehen – und selbst dem Verfolgungswahn einer alten Dame gute Seiten abzugewinnen S. 24.

Wir haben uns außerdem auf Haiti erschrecken lassen S. 90, haben angeblich Mut machende Drogen genommen und halten ein Plädoyer für eine Wiederentdeckung der Seeungeheuer. Die Angst – sie ist vielleicht nicht schön, aber sie ist ein schönes journalistisches Thema. Hoffentlich sehen Sie das nach der Lektüre genauso.

PS: Die Buchstaben auf dem Cover haben wir sämtlich aus der Bild-Zeitung ausgeschnitten, die im Verbreiten von Angst und Schrecken unerreicht ist.

HERAUSGEBER

:

OLIVER GEHRS

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10 DUMMY

INHALT

18NA, DU FLASCHE

Die neue Modedroge Tilidin soll die Angst vertreiben. Ein Selbstversuch

24FINGER WEG

VON MEINER PARANOIAZu Besuch bei einer alten Dame,

deren Nachbar sie töten will. Sagt sie

28GARYS AUFTRAG

Für diesen Mann ist Bin Laden nur „Binny Boy“, an dessen Dialysegerät er will

36DAS HASENFUSSRENNEN

Von einem, dem eine Mutprobe den Schlaf raubte

39MAL NICHT

SO SCHÜCHTERNWenn sich ein Mann nicht traut, einen anderen

Mann anzusprechen

44DER EISHEILIGE

So kalt muss man auch erst mal sein: Der Finne Simo Häyhä hat so einige Russen erschossen

52IM SPERRGEBIET

In Argentinien bringen sich manche gleich selbst hinter schwedische Gardinen

62DAS IST JA FINSTER

Wie es der Staat schafft, zwei Terroristen im Ruhestanddoch noch vor Gericht zu bringen

72NUR NICHT AUFFLIEGEN

Stewardessen mit Flugangst? Davon gibt es leider mehr, als uns lieb ist

78VOM SCHLACHTEN

Viele von Grimms Märchen sind blanker Horror – dieses ist das Schlimmste

80IM LAND

DER SCHLÖSSERDie Deutschen gehen gern auf Nummer sicher

84DIE ÜBERLEBENDE

Vor einigen Jahren wurde ihr die Kehle aufgeschnitten – von ihrem Ehemann, der nun wieder in der Nähe wohnt

NUR MUT

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11ANGST

INHALT

90DA KRIEG

ICH ABER ANGSTErschreckend, was man in Haiti so trägt

99IN LICHTLOSER TIEFEWir sind doch selbst schuld, dass es kaum

noch Monster gibt

108WÄCHST MIR

AUCH EIN ATOMBUSEN? Über die Furcht, zu werden wie seine Mutter

110WÄHLE ICH

IRGENDWANN CDU?Über die Furcht, zu werden wie sein Vater

112SEHR GEISTREICH

Was tun, wenn es spukt? Besuch beim Geisterjäger

118 GUT VERSTECKT

Der Mobilfunk lässt einige Menschen ziemlich verstrahlt zurück 127

DIE SCHWANZ-WASCHMASCHINE

Bei Adorno waren selbst die Albträume schön

JAMES FRANCOist

ALLEN GINSBERG

Ein Film vonROB EPSTEIN & JEFFREY FRIEDMAN

DAS GEHEUL

JAMES FRANCOist

ALLEN GINSBERG

„Aufregender cineastischer Genremix”SPIEGEL.DE

„Erweckt ein brilliantes Gedicht zum Leben”THE NEW YORK TIMES

„Mutig, engagiert und einfallsreich”LOS ANGELES TIMES

www.pandorafilm.de

AB 6. JANUAR IM KINO

DAS GEHEULEin Film von

ROB EPSTEIN & JEFFREY FRIEDMAN

DAS GEDICHT EINER GENERATIONDER BEAT EINER REVOLUTION

„Aufregender cineastischer Genremix”SPIEGEL.DE

„Erweckt ein brilliantes Gedicht zum Leben”THE NEW YORK TIMES

„Mutig, engagiert und einfallsreich”LOS ANGELES TIMES

HOWL_Dummy:Druck 16.11.2010 21:58 Uhr Seite 1

NICHT E

RSCHRECKEN

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12 DUMMY

CONTRIBUTORS

Der finnische Groß-vater unseres Autors Mikael Krogerus (33) sprach nie über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Bei der Konfirmation seines Enkels aber begann er, schon leicht angetrunken, die Nationalhymne zu singen und erzählte, wie die Finnen in den Schüt-zengräben bei minus 30 Grad gefroren hatten. Sein Opa schilderte dem Autor auch die schweren Gefechten in Kollaa, wo der legendäre Scharfschützen Simo Häyhä stationiert war – ein Mann, der noch immer weltweit von Militärfans bewun-dert wird. Auch wenn Mikael Krogerus nie wirklich herausfinden konnte, ob sein Groß-vater tatsächlich an der später „Killer Hill“ getauften Anhöhe gekämpft und den Scharfschützen per-sönlich gekannt hatte, war von diesem Tag an klar: Er wollte einmal die Geschichte vom Winterkrieg und Simo Häyhä schreiben, dem Mann ohne Angst.

25 Jahre ist es her, dass die New Yorker Fotografin Phyllis Galembo (58) erstmals nach Nigeria kam und dort die Masken der Einheimischen sah. Die kulturelle Herkunft, die Kunst-fertigkeit und der Zauber der Ver-kleidungen, die ihren Trägern selbst in der größten Armut Größe und Lebens- lust verleihen – das alles ließ Galembo seitdem nicht mehr los. Neben Nigeria hatsie in den ver-gangenen Jahrzehnten viele andere afrikani-sche Länder besucht und dort ihre Bilder gemacht. Die Fotos in diesem DUMMY entstanden auf Haiti. Die Masken, die mal erschreckend sind, mal eher belustigend, sind für die Menschen‚ in dem vom Voodoo-Kult geprägten Land Vehikel zum Rückzug, zur Transformation.

Beim Thema Angst überkam uns während der Heftproduktion eine gewisse Panik: Was daran lag, dass das traditionelle Zusammenraufen von Artdirektion und Redaktion diesmal übermäßig viel Zeit in Anspruch nahm, bzw. letztlich ganz scheiterte. Einen Monat vor Heftschluss standen wir zwar mit jeder Menge guter Geschichten da, aber ohne jemanden, der ihnen die richtige Form zu geben versteht. Dass uns schließlich Björn Wolf (35) und Benjamin Schulte (32) retteten, war wieder um unserem Sicherheitsdenken geschuldet: Denn natürlich hat man immer ein paar Lieblings-designer im Kopf, mit denen man immer schon mal wieder arbeiten wollte. Ganz ohne Drohgebärde gelang es uns, Wolf und Schulte aus ihrem richtigen (Berufs-) Leben loszueisen und für die Gestaltung dieser Ausgabe zu gewinnen. Puuuuh.

Theodor Wiesen-grund-Adorno (107) vermutete, dass alle Träume Teil einer kontinuierlichen Erzählung sind. Deswegen pflegte er sie sofort nach dem Erwachen in möglichst wahrhaf-tiger Form niederzuschreiben. Gretel Adorno, transkribierte die Notizen anschließend tapfer – selbst dann, wenn ihr Mann sich darin mit jungen Geliebten verlustierte. Auffallend oft ging es in Adornos Träumen nämlich um Sex und Bordelle, aber auch um Gewalt. Die gesammelten Protokolle sind in der Bibliothek Suhr-kamp erschienen. Für unser Heft haben wir uns auf die besten Albträume Adornos beschränkt.Ausgerechnet

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Angst? „ Angst hatte ich noch nie in meinem Leben. Das muss ein genfehler sein.“Kapitän Emil Feith, Hamburg. Er überlebte im Oktober 1991 den schwersten Sturm seit Beginn der Wetteraufzeichnungen auf dem Nordatlantik. Seine Geschichte lesen Sie in der Anthologie: „Orkanfahrt.“

Ankerherz - nichts ist so spannend wie das echte Leben. www.ankerherz.de

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Angst? „ Angst hatte ich noch nie in meinem Leben. Das muss ein genfehler sein.“Kapitän Emil Feith, Hamburg. Er überlebte im Oktober 1991 den schwersten Sturm seit Beginn der Wetteraufzeichnungen auf dem Nordatlantik. Seine Geschichte lesen Sie in der Anthologie: „Orkanfahrt.“

Ankerherz - nichts ist so spannend wie das echte Leben. www.ankerherz.de

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TEIL

I

NUR MUT

Angst? „ Angst hatte ich noch nie in meinem Leben. Das muss ein genfehler sein.“Kapitän Emil Feith, Hamburg. Er überlebte im Oktober 1991 den schwersten Sturm seit Beginn der Wetteraufzeichnungen auf dem Nordatlantik. Seine Geschichte lesen Sie in der Anthologie: „Orkanfahrt.“

Ankerherz - nichts ist so spannend wie das echte Leben. www.ankerherz.de

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DUMMY 18

Endlich einmal mutig sein: ein Selbstversuch mit Tilidin, der angeblichen Lieblingsdroge aller Amokläufer und Kleinganoven

NA, DU FLASCHE

TEXT:

FABIAN DIETRICH—

ILLUSTRATION:

ANDRE GOTTSCHALK

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20 DUMMY

NA, DU FLASCHE

Mein Tag ohne Angst begann mit leichtem Schwindel und Risotto am Küchentisch einer Freundin im vierten Stock eines Hinterhofs in Berlin. Die Stadt war in dieses knochenfarbene Licht getaucht, es regnete und war recht kalt. Es war ein Mitt-wochmittag, so um den Schulschluss rum. Ein ziemlich sinnloser Tag. Ich hielt den Zeitpunkt für ideal. Wann wenn nicht jetzt tanken gelangweilte Straßenkämpfer ein bisschen Mut? Vor mir stand ein braunes Fläschchen aus der Apotheke, zwanzig Milliliter, auf dem Etikett war der Umriss eines Gehirns zu sehen. Tilidin. Der Beipackzettel war natürlich ellenlang. Rezeptpflichtig. Nicht an Drogensüchtige abgeben. Auf keinen Fall in die Venen spritzen. Nebenwirkungen. Und so weiter und so fort.

Glaubt man dem, was so geschrieben wird, hat dieser Stoff das Potenzial, jeden in einen furchtlosen Psychopathen zu ver-wandeln. Der Amokläufer von Erfurt soll es im Blut gehabt haben. Ein Junge, der bei der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs wahllos auf Menschen einstach, hatte es genommen. Eine Bande, die vor Kurzem ein Pokerturnier überfiel, putschte sich damit auf. Des Weiteren sind überliefert: Machetenangriffe auf Spielhöllen, Karambolagen, Prügeleien.

Es wird berichtet, dass die Droge vor allem bei arabischen Jugendlichen äußerst beliebt sein soll. Tilidin ist ein synthetisches Opioid, das zur Behandlung von Krebspatienten verschrieben wird. Es betäubt, macht stark und angstfrei. So sagt man jedenfalls. Ich nahm erst mal 32 Tropfen aus dem Fläschchen, eine mittelhohe Dosis. Sie zerplatzten im Wasserglas, zerstäubten zu wächserne Blumen und lösten sich auf.

Das Erste, was ich merkte, war eine nebulöse Leichtigkeit. Eine Art kribb-liges Dröhnen hinter der Stirn. Mir fiel ein Auge zu, und dann das andere. Außer dem aß ich enorm heißes Risotto und verbrannte mir nicht den Mund. Ich verließ die Wohnung, ging raus auf die Straße und machte die Musik an. Ich hatte mir zur akustischen Untermalung dieses Tages ein paar Alben von Blokk monsta auf Hirntot Records besorgt. Es war das Fieseste und Aggressivste, was sich auftreiben ließ, eine ziemlich düstere Sache. Im ersten Lied ging es darum, wie Blokkmonsta und sein Partner einen anderen Rapper foltern und ihm dann die Kehle durchschneiden.Im zweiten Lied wurde der Potsdamer Platz angezündet. Im dritten Lied en sorgten sie irgendwelche Leichen in einem Massengrab. Auch wenn sich kaum etwas reimte, fand ich die Musik – irgendwie war es ja schon bemerkenswert konsequenterDilettanten-Brutaloquatsch – eigentlich gar nicht so übel, ich begann mit dem Kopf zu nicken, ich zog mir die Kapuze über, ich dachte mir: Massaker! und schlürftefreudig durch den Regen in Richtung Kottbusser Tor. In der Bank hob ich dann 200 Euro ab. Mir fiel auf: Die hatten zwei Überwachungskameras im Innenraum, links und rechts an den Säulen. Ich zählte die Menschen in der Schlange vor mir. Ich schätzte ihre Kampfkraft ein. Der Gedanke Geiseln zu nehmen. Na ja.

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NA, DU FLASCHE

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NA, DU FLASCHE

An der Ecke Skalitzer- und Adalbertstraße sah ich ein Mäd-chen vor einem Fotoautomaten stehen und sprach es nicht an. Vielleicht war sie hübsch. Vielleicht aber auch nicht. Ich konnte nicht sagen, wie ich sie fand. Sie war so dinglich irgendwie. Sie wirkte wie ein Bauzaun, eine Ampel, ein Laternenpfahl.

Die Gedanken engten sich nun zunehmend ein. Soll heißen: Ich dachte phänomenalerweise an gar nichts mehr. Nicht an gestern und nicht an morgen.Nicht an den Text, den ich schreiben sollte, nicht an die Mutproben, die ich mir eigentlich in wochenlanger Beratung mit meinen Redaktionskollegen vorge-nommen hatte, um meine toxisch gewonnene Angstfreiheit unter Beweis zu stellen: Dinge, vor denen ich so richtig Schiss habe – vor vielen Menschen Karaoke singen, mich unangekündigt in das Vereinsheim der Hells Angels schleichen, mich ganz weit über die Brüstung eines Turms lehnen und danach, nur um zu quatschen, von einem Bordell ins nächste ziehen. Vor allem: der ganze intime Kram. Irgendwem einmal die Wahrheit sagen. Sich offenbaren. Probleme lösen und so.

Tut mir leid, aber das alles war mir auf einmal so was von egal. Ich ver sank in einem weichen Nebel, in dem es gar keine Gefühle mehr zu geben schien. Tilidin machte mich nicht zu Rambo oder Braveheart. Es machte mich zu Jack Nicholson in „Einer flog übers Kuckucksnest“. Man hatte mich lobotomiert. Ich dachte: Bordstein, Regen, Spielkasino, Fahrradladen, Haus. Ich dachte: Mann, Frau, Regen, Kind. Ich starrte minutenlang auf das Rinderhackfleisch im Schaufenster einer türkischen Metzgerei. Ich bemerkte, dass das Blut auf die Fliesen rann.

Irgendwann fand ich mich in der fürchterlichsten öffentlichen Toilette Kreuzbergs wieder (fürchterlich deswegen, weil hier immer sterbende Drogensüch-tige liegen). Die Toilette hatte Lautsprecher und es lief so etwas wie Kruder und Dorfmeister (was es nicht besser machte). Ein Schild sagte: 20 Minuten, dann geht die Türe wieder auf. Ich dachte: Okay, jetzt aber richtig, und legte noch mal nach. Dreizehn Mal tröpfelte ich aus der braunen Flasche in meine Quittenlimo rein, dann sah ich mich im Spiegel an: kreideblass, komische Falten und Sprünge im Gesicht, winzigste Pupillen – der unsympathische Statist aus dem Zombiefilm. Dass die Leute das nehmen, weil man es niemandem ansehen kann, stimmte also schon mal nicht. Als ich die Toilette verließ, schlich sich ein letzter, eini-germaßen klarer Gedanke in mein partiell gelähmtes Gehirn: Wie kann man ein Verbrechen in einem Zustand begehen, in dem ein so banaler Vorgang wie die Überquerung einer Seitenstraße nur mit absoluter Mühe gelingt? Wie kann man strategisch denken, wenn man überhaupt nicht mehr denken kann? Wie kann man sich bitteschön prügeln, wenn man sich immerzu in einer Art Zeitlupentempo bewegt? Auf der Suche nach anderen Streetfightern zog ich weiter in Richtung Süden, in die Tilidin hochburg Neukölln.

Dort wartete ich, im Regen, auf der Parkbank, auf einem Spielplatz in der Nähe der Rütli-Schule auf irgendwas. Allein. Gegenüber auf der Bank saß eine Frau und zupfte an ihrem Kind. Ich hörte noch immer Blokkmonsta von Hirntot Records. »Der Hass in meinem Kopf / verwandelt mich zur Bestie / Ich bin am Explo-

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NA, DU FLASCHE

dieren / Und greif mir die Schussweste.« Ich fand die Platte mittlerweile so wie alles um mich rum. Gar nicht so schlecht, aber auch nicht wirklich gut, ziemlich zero insgesamt. Hatte ich noch Angst vor irgendwas? Ich wusste es nicht. Die Polizei behauptet ja, Menschen auf Tilidin seien so gefährlich, dass man ihnen bei der Festnahme die Arme brechen müsse. Sie spürten keine Schmerzen und ließen sich auf die wildesten Verfolgungsjagden ein. Mir kam es sehr absurd vor wegzulaufen. Ich saß auf dieser Parkbank und fühlte mich wie ein abkühlender Klumpen Brei.

Irgendwann löste ich mich dann doch und ging noch weiter in das finstere Viertel hinein, betrat eine arabische Teestube, freundete mich mit zwei Jugend-lichen an und zog an einer Wasserpfeife mit Apfelgeschmack. Wenn ich das richtig verstand, hatten Ahmed und Khasib aus dem Libanon (die ja schließlich die Zielgruppe waren) noch nie von Tilidin gehört. Sowieso fanden sie Drogen offenbar doof und Schlägereien auch. Ihr Interesse galt spirituellen Angelegenheiten und Geld. Sie baten mich, ihnen den Urknall zu erklären. Ich rief in den Rauch der Wasserpfeife hinein, dass das Leben an sich vermutlich ein ganz, ganz seltsamer Zufall sei, der mit einer oder mehreren Explosionen vor unfassbar langer Zeit begonnen habe. Khasib erwiderte, dass das natürlich falsch, aber durchaus eine akzeptable Meinung sei. Dann fragte er mich, ob ich für ihn arbeiten wolle. Autos abholen, es sei äußerst lukrativ. Ich lehnte ab. Ob es mir irgendwie schlecht gehe, fragten Ahmed und Khasib. „Nein, Nein. Alles super“, log ich, stand auf und taumelte hinaus in eine lilafarbene, fleckige Dunkelheit.

Dort ging ich eine Weile im Kreis und hielt vor einem Laden, auf dessen Tür stand: „Auch Waffenbesitzer haben Grundrechte.“ Ich sah ein Schwert mit dem Namen Excalibur, eine Armbrust im Landhaus-Stil und ein Maschinen-gewehr aus der Zeit Al Capones. Macheten hatten sie nicht und mir war ziemlich schlecht. Ich kehrte um. Auf der Karl-Marx-Straße drehten sich die Leuchtreklamen schon, verschleierte Frauen errichteten Straßensperren aus Kinderwägen, mit Goldketten und Militärhaarschnitten dekorierte Streetfighter, mit denen ich mich nicht anlegen wollte, schossen aus der Schräge an mir vorbei. Ich bückte mich, ich stolperte. Dann kotzte ich dreimal und erinnerte mich wieder an meine Mission: das Experiment. Ich riss mich zusammen, suchte die nächste U-Bahn-Station und fuhr ein bisschen schwarz. Man muss wissen, dass Berliner Fahrkartenkon-trolleure gewalttätige, unrasierte Flegeltypen sind, die die Verkehrsbetriebe in Gefängnissen und Anstalten für schwer Erziehbare rekrutieren. Ich fuhr also schwarz, grobes Ziel Karaoke-Bar. Die U-Bahn ruckelte, bremste, zischte, pfiff. Nach Norden und Süden, nach Osten und Westen, hin undzurück. Ich fuhr so was von schwarz. Und ich, der Mann mit der Intelligenz einer Coladose, war so superlocker dabei. Aber ich stieg nicht aus, weil ich war irgendwie gelähmt.

Dann wurde es Abend und man hatte mich immer noch nicht kontrolliert. Ich wankte nach Hause, brach auf dem Sofa zusammen und schlief – quasi im Fallen noch – in brezelförmiger Verkrümmung ein. Mich überkam ein unendli-cher Friede, eine galaktische Erleichterung. Ich freute mich darauf, dass alles bald zu Ende war. Ich freute mich auf meine Probleme. Ich freute mich auf meine Angst. Ich träumte von einer Armee aus Kuscheltieren, deren Anführer eine Art grau-weißes, hermaphroditisches Meerschweinchen war.

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GARYS AUFTRAG

TEXT:

GUIDO MINGELS–

FOTOS:

SERGE HOELTSCHI

Wer ist der Mann, der ganz allein nach Pakistan zog, um Osama Bin Laden zu erledigen?

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GARYS AUFTRAG

Lauf der Welt selbst in die Hand. Natürlich, sein Plan klingt ziemlich abwegig. Er ist ein Held, oder ein Wahnsinniger, oder ein wahnsinniger Held. Zu Tausenden treffen sich an diesem Tag in den Kommentarspalten des Internets die Bewunderer. »Danke, Gary!«, sagt johnraccoon. »Endlich tut mal einer was«, meint Sharrie55. »Garrrrrrrrrrrry! Probiers noch mal!!!«, ruft 23cham-pion. Ein Blog der »New York Times« vermerkt mit Hinweis auf Geheimdienstquellen, dass Faul-kner möglicherweise tatsächlich in der richtigen Gegend nach Osamas Höhle suchte.

Noch weiß niemand, dass Gary lange selbst ein Gejagter war, ein Einbrecher, ein Autodieb, ein Junkie, der viele Jahre im Gefängnis verbrachte. Noch weiß niemand, dass es bereits sein elfter Versuch war, seinen Feind zu finden. Siebenmal war er in den letzten sechs Jahren schon nach Islamabad geflogen. Zweimal hatte er zudem versucht, Pakistan von der amerika ni schen Westküste aus mit einem Segelboot zu erreichen. Und zwei weitere Male testete er zum selben Zweck einen Hängegleiter in Israel.

Scott Faulkner, 44, der in Fort Morgan, ein paar Meilen östlich von Greeley, eine Arztpraxis führt, ist ein vernünftiger Mann. Nach der Festnahme seines Bruders musste er immer wieder dieselbe Frage beantworten: Ist Gary geisteskrank? Jetzt sitzt er in seinem blauen Doktorkittel im eigenen Wartezimmer und gibt mit todernster Miene noch immer dieselbe Antwort: »Als Arzt kann ich sagen, dass Gary weder psychotisch noch schizophren noch paranoid ist. Er hört keine Stimmen. Er sieht keine Dinge, die nicht da sind. Er ist so normal wie Sie und ich. Aber er ist ein Mann mit einer Mission. Und wenn er sich etwas in den Kopf setzt, dann bringt ihn nichts davon ab. So ist Gary.«

In der Kneipe läuft Garys unendlicher Monolog weiter. In den letzten Minuten streifte er nacheinander die Gefahr eines iranischen Atom-schlags, den Reiz von Sex in der Natur, die Vorzüge von Pistolen mit 40er-Kaliber und die Tücken des Gleitschirmfliegens ohne Ausbildung. Es stört ihn in der Regel nicht, wenn man mitten hinein eine Frage stellt.

Warum, Gary, tust du das?Sein Gesicht ist braun gebrannt von

der pakistanischen Sonne. Zwei tiefe skeptische Furchen zwischen den Augen verleihen ihm einen Anschein von Ernst, den er nicht hat. Manchmal sieht er aus wie ein Prophet, manchmal wie ein Jedi-Ritter. Jetzt wie ein Bauarbeiter beim Frühstück. In seinem Hemdausschnitt ist der Venenkatheter zu sehen, dreimal pro Woche wird er darüber zur Blutwäsche angeschlossen, Zysten in den Nieren, vom Vater geerbt, der starb daran. Das Weltpublikum nahm nach Garys Heimkehr mit Erstaunen zur Kenntnis, dass es zu

»Nennt mich Gary. Oder Rocky Mountain Rambo, oder Faulkanator, hab ich auch schon gelesen, oder American Ninja, mir egal, ich weiß ja, wer ich bin, und ich bin eigentlich ein ganz normales Arschloch, Leute, bloß hat der gute alte Gary eben diesen Auftrag, you know. Kann ich bestellen bitte? Schätz-chen? Hallo?«

Gary Faulkner, Bin-Laden-Jäger, hat Hunger. Er lag heute seit sechs Uhr morgens für vier Stunden an einem Dialysegerät in der Klinik nebenan, denn er hat’s mit den Nieren. Jetzt bestellt er in diesem Frühstückslokal namens Egg & I, »das Ei und ich«, vier Spiegeleier, ein paar Würstchen, Bratkartoffeln, eine Extra-portion Speck, europäische Butterwaffeln, Frucht-salat, einen großen schwarzen Kaffee und einen Preisel beer-Schnaps. »Was ist noch mal eine europäische Butterwaffel, Schätzchen?«, fragt er die Bedienung mit seiner Bärenstimme, die immer zum Minne sang wird, sobald eine Frau in der Nähe ist. »Einfach ’ne Waffel«, mault die.

Er muss sich stärken, denn er will bald wieder zurück nach Pakistan. »Back to Pak«, wie er sagt. Um die Sache endlich zu Ende zu bringen. Osama Bin Laden fangen. Oder »Binny Boy«, wie er seinen Gegner nennt. Das ist seine Mission. Ein Bauarbeiter aus Colorado ganz allein gegen den Top-Terroristen der Welt.

Gary schnetzelt kurz und klein, was auf seinem Teller liegt, egal, ob süße Waffel, Truthahnwürstchen oder Früchte, mischt alles ineinander, gießt Ahornsirup über das Schlacht-feld. »Wie viel Zeit haben wir?« Dann fängt er an zu reden und hört drei Tage lang nicht mehr damit auf.

Eine Meldung geht um die Welt, 15. Juni 2010. Amerikaner auf Jagd nach Bin Laden in Pakistan festgenommen. Gary Brooks Faulkner, 52, aus Greeley, Colorado, nahe der afghani schen Grenze von Polizeikräften aufgegriffen. Beamte nahmen ihm ein Samuraischwert, einen Dolch, eine Pistole und ein Nachtsichtgerät ab. Zur Tarnung trug der Festgenommene lokale Kleidung und einen Vollbart. Der Chef der Polizei-behörde der nahe gelegenen Stadt Chitral sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: »Der Mann bewegte sich auf verdächtige Weise in einem Sperrgebiet.« Bei der Vernehmung gab Faulkner zu Protokoll, er sei im Gebirge auf der Suche nach dem Führer der radikal-islamis tischen Terrororganisation al-Qaida, Osama Bin Laden, gewesen.

Amerika ist begeistert vom einsamen Rächer für 9/11. Da steht einer auf und nimmt den

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GARYS AUFTRAG

seinem Plan gehörte, Osama Bin Ladens Dialyse-gerät zu benutzen, sobald er den Mann, der an derselben Krankheit leiden soll wie sein Ver-folger, in Handschellen gelegt hätte.

»Du willst wissen warum? Ich sag dir warum. Manche Leute haben geschrieben ›Gary Faulkner, der Rächer für 9/11‹ und so, aber ehrlich gesagt, gehen mir die Twin Towers am Arsch vorbei, da hab ich sogar ein bisschen Respekt für Binny Boy, ich meine, das musst du erst einmal hinkriegen, ein paar Idioten dazu abzurichten, Flug-zeuge in Wolkenkratzer zu steuern.«

Gary hat sich vor allem daran gestört, dass Bin Laden erklärt habe, sein Gott habe ihm die Tat befohlen und Allah sei der Größte. Damit hat er ein Problem. Denn sein Gott habe ihm ebenfalls einen Auftrag gegeben, »und so, wie’s aussieht, sind wir zwei jetzt die beiden Titanen des Glaubens hier, Binny Boy und sein Allah gegen Gary und den Allmächtigen, Tyson gegen Holyfield«.

Dann ruft er quer durchs Lokal nach der Bedienung. »Schätzchen! Mein Freund hier möchte bezahlen, bitte bring ihm die Rechnung.«

Wir fahren zu Garys Wohnung. Er möchte uns seine Pistole und den Pass mit den vielen Einreisestempeln zeigen. Greeley, eine trotz 70 000 Einwohnern leicht zu übersehende Kleinstadt, liegt am Rande der Great Plains, mitten in Amerika. Blickt man nach Osten, sieht man endlose Ebenen, von schnurgeraden Highways durchzogen. Sieht man nach Westen, erheben sich urplötzlich die tausendemeterhohen, schneebe-deckten Rocky Mountains in den Himmel, die übergangslos aus dem Flachland wachsen. Gott selbst hat hier Gartenarchitekt gespielt und einfach ein paar riesige Berge auf eine giganti-sche leere Fläche geschmissen. Es ist eine erha-bene Landschaft, in der man leicht auf große Ideen kommen kann. Und auf den Glauben, dass alles, alles möglich ist.

Gary lebt gemeinsam mit einem schwergewichtigen Kumpel namens Bigga in einer Zweizimmerwohnung am Ortsrand, Treffpunkt seiner seltsamen Entourage. Der Wohnblock gehört seinem jüngeren Bruder Scott, der ihn mietfrei wohnen lässt. Als Gegenleistung macht Gary den Hauswart. Er kriegt vom Staat eine Invali-denrente von 449 Dollar sowie Essensmarken für 100 Dollar. Derzeit lebt auch noch Jen hier, Garys Geliebte, die eigentlich die Gattin eines Mannes ist, dessen Haus er renovierte, die Sache ist kompliziert. Es gibt vier Fernseher in den

drei Räumen, derzeit läuft »Unsere kleine Farm«. Auf einem Lautsprecher in der Ecke sitzt eine aufblasbare Sexpuppe, ein Geschenk von Gary für Bigga. Solche Scherze macht er ab und zu. »So ist Gary eben«, sagt Jen.

Das ist ein Satz, den man öfter hört, wenn man die Leute nach ihm befragt: That’s just Gary. Er tickt ein bisschen anders als die meisten, er ist eben Gary. Er schweigt nur, wenn er schläft, und dann schnarcht er, so ist er halt. Alles, was kaputt ist, kann er reparieren, jedes Problem lösen, das ist Gary. Wenn du traurig bist, geh zu Gary, nach zwei Minuten geht’s dir wieder gut. Wenn einer es schaffen kann, den Obertaliban umzulegen, dann Gary. Esther, die mexikanische Nachbarin von unten und Mutter von Bigga, stößt zur Runde und stimmt mit ein ins Loblied. Gary sei der beste Mensch, den es gibt. »Er ist nicht verrückt, er ist einfach Gary«, lautet ihr Urteil. Aber Esther ist vielleicht auch etwas verrückt. So wie wohl alle früher oder später ein bisschen den Verstand verlieren, die es mit ihm zu tun bekommen, Jen, Bigga, Esther, Cindy, Scott und all die anderen.

Als Gary am 24. Juni aus Pakistan zurück-kommt, warten am Flughafen von Los Angeles die Kameras auf ihn. Sein Bruder Scott hat in den zehn Tagen seit seiner Verhaftung alles vorbe-reitet für seine Rückkehr, hat einen PR-Fachmann engagiert, damit Gary nur die richtigen Inter-views gibt und vielleicht einen Buch- oder Film-vertrag abschließen kann. Doch Gary mag nicht schweigen, er ist kein Freund von Strategien. Noch in der Ankunftshalle steht er allen Rede und Antwort, die etwas von ihm wollen. Auf die Frage, ob er denn keine Angst gehabt habe, sagt er: »Hier geht es nicht um mich. Es geht um das ameri-kanische Volk. Wir lassen uns doch von denen keine Angst einjagen. Im Gegenteil, wir jagen denen Angst ein.«

In den Tagen darauf tritt er in New York in den wichtigen US-Talkshows auf, er ist Gast in David Lettermans »Late Show«, in den »Fox News«, in der »Early Show« von CBS, in der von der Schauspielerin Whoopi Goldberg moderierten Gesprächsrunde »The View«. Er nennt Bin Laden weiterhin »Binny Boy« und spricht von Saddam Hussein als »Saddam Who’s Insane«, er irritiert Gastgeber und Publikum. Whoopi Goldberg macht ihn darauf aufmerksam, dass sein Ausdruck »Pakis« für Pakistaner nicht wirklich politisch korrekt sei. Später lehnt er ein Angebot für ein Buchprojekt mit der Begründung ab, es sei zu früh für ein Fazit, schließlich fehle das Happy End, »der Job ist noch nicht erledigt«. Sein Bruder Scott macht Gary seither Vorwürfe, dass er kein Kapital schlug aus dem öffentlichen Interesse. »Ich weiß, Gary macht es nicht fürs Geld, aber mit einem Buchdeal hätte er sich viel-

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DER EISHEILIGE

seinen 1 Meter 52 kaum größer war als ein Kind, kauerte sich im Schnee zusammen; mit einer Hand richtete er das Gewehr aus, mit der anderen hielt er sich gefrorenen Schnee vor den Mund, um seinen Atem zu kühlen und damit für den Feind unsichtbar zu machen. Mehrere Stunden verharrte Häyhä nun bei -30 Grad unbe-weglich in dieser Position.

Während sich die Russen in ihren grauen Mänteln deutlich in der Schneelandschaft abzeichneten, trugen die finnischen Soldaten weiße Anoraks, die wie Tarnkappen funktionierten. Weil sie im tiefen Schnee fast nicht zu erkennen waren, bekamen sie auf Seite der Russen den Übernamen »Belmetj snaja«, »Weißer Tod«. In der Gegend von Kollaa aber meinten die Russen damit Simo Häyhä. Den Scharfschützen, der allein in den ersten Kriegswochen über 100 Russen aus dem Hinterhalt niederstreckte. Die hohen Verluste lösten bei den Russen große Unsicherheit aus und zwangen sie zu einem langsameren Vorgehen. Als legendär gilt ein Vorfall Mitte Dezember des Jahres 1939: Häyhä und einige Sol-daten waren nachts auf Skiern hinter die feind-liche Linie gefahren und hatten sich an ein Lager gepirscht. Aus kürzester Distanz eröffneten sie das Feuer auf die rund 50 russischen Soldaten und eroberten wertvolle Munition und Waffen. Anschließend sollen sie den Soldaten die Ohren abgeschnitten und als Trophäe an sich genommen haben. Nach diesem, durch Häyhä nicht bestä-tigten Vorfall, begann die Angst der Russen vor dem »Weißen Tod« in Panik umzuschlagen.

Die russische Führung re-agierte und setzte ein Kopfgeld auf Häyhä aus. Sie beschossen seine vermu-teten Positionen mit schwerer Artillerie. Als die finnische Propaganda Häyhäs 200. Treffer meldete, richtete die Rote Armee schließlich eine Spezialeinheit ein, um ihn zu erledigen. In den Folge-wochen machten Scharfschützen regel-recht Jagd auf den kleinen Finnen.

Mehrfach kam er mit zerschossenem Obermantel oder mit Schrammen im Gesicht zu rück ins Lager. Häyhäs Privatkrieg mit der Spezi-aleinheit gipfelte in einer Auseinandersetzung, die als »Das Duell« in die finnische Militärge-schichte eingehen sollte: Ein russischer Scharf-schütze hatte die Position des Finnen entdeckt und versucht, ihn »auszuwarten«. Die Kunst des Präzisionsschießens liegt darin, so lange regungs- los zu liegen, bis das Gegenüber, sich in Sicher-heit wähnend, für einen Moment seine Deckung verlässt. Der Russe wartete lange. Stunden.

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DER EISHEILIGE

Als es zu dämmern begann – der natürliche Feier-abend jedes Scharfschützen (da 1939 noch keine Nachtsichtgeräte im Einsatz waren) –, erhob er sich vorsichtig, um seine Position zu verlassen. Auf diesen Moment hatte Häyhä gewartet. Obwohl die Distanz fast einen halben Kilometer betrug und also für einen Präzisionsschuss ohne Zielfernrohr zu weit war, traf er den Russen tödlich im Gesicht.

Inzwischen hatte die finnische Militär-führung die vielseitige Verwendbarkeit von Häyhä erkannt. Sie begann ihn per Schlitten von einer Front zur nächsten zu fahren, um Sonderauf-gaben zu lösen. Zumeist ging es darum, feindliche Scharfschützen oder strategische Maschinenge-wehrpositionen zu eliminieren. Mit wissenschaft-licher Genauigkeit versuchten Militärexperten derweil das Phänomen Simo Häyhä zu ergründen. Wie zum Teufel hatte der 1905 geborene Bauernsohn gelernt, derart präzise zu schießen? Neben den nahe liegenden Gründen wie gutes Auge, ruhige Hand und Erfahrungen als Jäger er klärte Simo Häyhä seinen Erfolg erstaunlich einfach: Anders als die meisten anderen Soldaten brachte er sein eigenes, ihm vertrautes Gewehr mit zur Front, mit dem er seit über einem Jahr bereits gejagt und trainiert hatte. Es war eine M/28-30, eine finnische Variante der russischen »Mosin Nagant«, die von Häyhä bereits »einge-schossen« war. Auf die Frage, was sein Geheimnis beim Schießen war, sagte Häyhä später in einem der seltenen Interviews: »Ich bereitete mich lange vor, dann zielte ich schnell, dann schoss ich schnell.« Was Häyhä meinte, war etwas, das jeder Hobbyschütze kennt: Wenn man zu lange zielt, wird das Auge müde und die Sicht ver-schwimmt. Wer umgekehrt zu früh schießt, bevor die Waffe wirklich ruhig liegt, trifft nie.

Die Geschichte des »Weißen Todes« endete am 6. März 1940 um 14 Uhr in der Schlacht um Ulismainen in der Kollaa-Gegend. Simo Häyhä war in den blutigen Endtagen des Winterkriegs vom Scharfschützen zum Truppenführer umfunk-tioniert worden. Mit einigen Soldaten brach er in den frühen Morgenstunden noch bei Dunkel-heit auf, um einen Gegenangriff zu starten. Nach- dem sie einen Sumpf durchquert hatten, befanden sie sich plötzlich direkt vor den feindlichen Stellungen. Häyhä beschrieb den Moment später so: »Der Feind war nah, manchmal nur zwei Meter von mir entfernt. Mein Gewehr funktionierte gut. Aber in unseren Reihen brach Panik aus. Plötzlich hörte ich einen dumpfen Knall – ich wusste sofort, dass ich getroffen war. Ich bekam den Tunnelblick. Dann verlor ich das Bewusst-sein.« Aus weniger als 20 Metern Entfernung war Häyhä im Gesicht getroffen worden.

»Sein halbes Gesicht war weg, ich war mir sicher, dass er tot war«, berichtete einer

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Schlechte Neuigkeiten: Etwa jeder dritte Flugbegleiter leidet unter Flugangst

NUR NICHT AUFFLIEGEN

TEXT:

KATJA SCHWARZ

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NUR NICHT AUFFLIEGEN

»Um Haaresbreite … dem Tod von der Schippe gesprungen«, habe der Pilot gemurmelt, als er nach der Landung aus dem Cockpit gekommen sei, erinnert sich Robert Fischer *. Kreideblass sei der Kapitän gewesen und habe sich erst mal zittrig eine Zigarette angesteckt. Später habe er Robert und den anderen Flugbegleitern erzählt, dass sie im Anflug fast einen Baukran gerammt hätten.

»Dem Tod von der Schippe gesprungen«

Diese Worte bleiben bei Robert wie ein Mantra hängen. Nur wenige Wochen später sei er bei einem anderen Flug in heftige Turbu-lenzen geraten. »Ich wollte mich gerade hinsetzen,als das Flugzeug plötzlich absackte. Ich wurde hochgeschleudert und fiel zu Boden. Dann der nächste Schlag. Die Getränkewagen flogen durch die Luft«, erzählt er. Es hätte in der Küche aus-gesehen, als sei eine Bombe eingeschlagen. Totales Chaos. Schreiende Passagiere, angstbe-setzte Gesichter, Mütter klammerten sich an ihre Kinder. Keiner lachte mehr über Mister Bean, der grinsend über die Bildschirme flimmerte.

Und dann sei er wieder da gewesen, dieser Satz: »Dem Tod von der Schippe gesprungen«. Das Aufräumen der Kabine habe ihn abgelenkt. Er habe einfach nur noch »funktioniert« und sich um die verletzten und verängstigten Fluggäste gekümmert.

Robert kam mit einer Platzwunde an der Stirn davon. »Also alles halb so schlimm«, hat er sich gedacht – und sich gewaltig getäuscht.

Denn kaum zu Hause angekommen, brach er zusammen. »Ich konnte es einfach nicht fassen. Ich– ein fast Zweimetermann – sitze auf dem Sofa meiner Freundin und kann nur noch heulen, heulen, heulen. So viele Tränen, so viel Rotze, so viele Taschentücher. Das war nicht ich.«

Als er seinen nächsten Flug antreten wollte, schlug sein Herz immer schneller, als er seine Uniform anzog. Je näher er dem Flughafen kam, desto zittriger und feuchter wurden seine Hände am Lenkrad. »Mein ganzer Körper war wie Wackelpudding, ich musste anhalten, mir ein Taxi rufen und wieder nach Hause fahren. Da habe ich verstanden, dass ich nicht einfach wieder fliegen gehen kann. Ich wollte meinen Job als Flugbegleiter kündigen. Ich dachte, ein Steward mit Flugangst – so was kann es doch nicht geben«, sagt er.

»Die Auslöser für Flugangst bei Flugbeglei-tern sind häufig überraschende Belastungssituati-onen an Bord, wie beispielsweise starke Turbulenzen oder aggressive Passagiere«, sagt der Luftfahrt-psychologe Reiner Kemmler. Da Flugangst bei Flugbegleitern naturgemäß zu Arbeitsunfähigkeit führt und damit Kosten verursacht, nehmen die meisten Fluggesellschaften das Thema inzwischen ernst. Um Spätfolgen nach psychisch belasten- den Situationen bei ihrem Flugpersonal so gering wie möglich zu halten, haben die Airlines einige Mitarbeiter darin geschult, mit betroffenen Kollegen über das Erlebte zu sprechen.

Das Critical Incident Stress Management (CISM) genannte Konzept der Nachsorge in Form von Gesprächen und kognitiver Verarbeitung

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NUR NICHT AUFFLIEGEN

der Gefühle geht zurück auf den US-amerikani-schen Notfallpsychologen und ehemaligen Feuer-wehrmann Jeffrey Mitchell. Es wird seit mehr als zehn Jahren auch bei der Polizei, der Feuer-wehr und den Rettungsdiensten angeboten. Ob die Methode den Betroffenen wirklich hilft, mit dem Erlebten klarzukommen, oder ob sie vielleicht sogar eher schädlich ist und das Trauma noch verstärkt, wird unter Notfallpsychologen allerdings seit einigen Jahren heftig diskutiert. Für manche scheint Verdrängen wohl die bessere Strategie zu sein.

Robert und die anderen Crewmitglieder wurden nach der Landung auch von einem CISM-Team betreut. »Jeder sollte sagen, wie es ihm geht und welche Erinnerungen er am liebsten aus seinem Gedächtnis löschen würde. Es war okay zu hören, dass es den anderen ähnlich ging, aber nach der Sitzung hatte ich auch noch die Bilder und die Ängste der Kollegen im Kopf«, erinnert er sich. Immerhin habe er den Tipp bekommen, eine Verhaltenstherapie zu machen, falls die Symptome nicht nachlassen.

Bilder, immer wiederkehrende Bilder sind es auch, die Flugbegleiterin Barbara Suder* quälen. Sie lassen sie hochschrecken: nachts, beim Kofferpacken oder wenn es auf einem längeren Flug gerade mal nicht viel zu tun gibt. Es sind die Bilder der Flugzeugkatastrophen der vergangenen Jahre. »Schon als Mädchen wollte ich unbedingt Stewardess werden. Ich habe die Atmosphäre auf den Flughäfen geliebt, dieses Wegfliegen und Ankommen, dieses Leben in ständiger Bewegung«, sagt die 33-Jährige. Aber

als sie nach der Geburt ihrer Tochter wieder fliegen wollte, hätte sie immer häufiger »mulmige Gefühle« bei dem Gedanken an ihren nächsten Flug bekommen. Sie habe es aber für Abschieds-schmerz von der Tochter gehalten. »Wenn es im Flugzeug wacklig wurde oder ein komisches Geräusch zu hören war, dachte ich sofort: ›Wenn wir jetzt abstürzen, wächst meine Kleine ohne Mutter auf.‹ Dieser Gedanke kam immer öfter«, erzählt Barbara. Erst viel später, als sie nach einer Therapie offen über ihre Flugangst sprechen konnte, hörte sie von vielen Kolleginnen, denen es ähnlich ging.

Auch der Luftfahrtpsychologe Reiner Kemmler hat beobachtet, dass die Ängstlichkeit bei Frauen nach der Geburt eines Kindes ansteigt. Bei vielen legt sich die Flugangst mit der Zeit wieder. Auch Barbara dachte seltener daran, was alles passieren könnte. Aber dann kam »Emma« und machte alles noch schlimmer. Das Sturmtief peitschte am 1. März 2008 über Europa hinweg. Barbara sei einfach nur froh gewesen, dass sie an dem Wochenende nicht fliegen musste. Am folgenden Tag stieß sie im Internet auf ein Video von Hobbyfilmern: Ein Lufthansa Airbus schlingerte bei der Landung in Hamburg über die Bahn, ein Flügel berührte die Landebahn – bevor die Piloten durchstarteten. »Mir stockte der Atem. Trotzdem habe ich mir das Video wieder und wieder angesehen«, sagt sie.

Von dem Tag an habe sie bei windigem Wetter und später bei fast jedem Landeanflug die Bilder im Kopf gehabt. Manchmal hätten die Kollegen bemerkt, dass ihre Beine zitterten, und

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Es folgt das schlimmste Märchen der Welt (natürlich für Kinder gedacht)

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80 DUMMY

Gute Geschichten, heißt es, beginnen wie eine Explosion und steigern sich dann. Wie pas-send, dass es in der ersten Ausstellungshalle der Sicherheitsmesse in Essen aussieht, als habe eine Bombe eingeschlagen. Man wähnt sich auf einer Ausstellung für Fenster, Türen und Garagentore, die in die Luft gejagt wurde. In allen Winkeln gibt es Scherben, verbeultes Metall und bröckelnden Putz. Nur waren es die Hersteller selbst, die ihren Fenstern, Türen und Garagen-toren so arg zugesetzt haben. Hier in Essen präsentiert sich eine Branche, die zeigen will, dass sie unter allen Umständen dicht hält. Eine Branche, die vor nichts zurückschreckt?

Die Firma Schneebeli Sicherheitsschleusen versetzt die geborstenen, aber in ihrer Form unver wüstlichen Produkte des Hauses in ein kristallines Farb- und Lichtspiel, das die Besucher entzückt. »Das muss schon ein größeres Projektil gewesen sein«, tuscheln zwei Mitfünfziger, »ja, das hatte richtig Joule.« Unter den Flaneuren machen Begriffe wie MG, Kalaschnikow und Sprengstoffla-dung die Runde. Für Raunen sorgt ein zum Hun-dertwasser-Objekt gebogenes Metallsicherheitstor der Firma Sälzer – building security. Ein Schild erklärt: »Hier sind Artilleriegranaten eingeschlagen. Gewicht ca. 43 Kilogramm«. Hinter dem Hundert-wasser-Garagentor steht eine Stahltür weit offen,

IM LAND DER SCHLÖSSER

Sicher eine Geschichte für sich: Ein Besuch auf der Sicherheitsmesse in Essen

TEXT:

OLIVER GEYER

Page 31: Dummy-Magazin #29, Angst

81ANGST

Der Weg in Richtung »Abwehrsysteme« führt an Zäunen entlang, die obendrauf mit Nato-draht versehen sind. Hinter Gittern der türkischen Firma »Kösedag« hat sich eine Gruppe von Anzugträgern im Halbkreis aufgestellt, ein Bild, als sei eine Unit von Unternehmens beratern ins Arbeitslager eingeliefert worden. Sie schauen zwei Kollegen dabei zu, wie die beiden abwech-selnd auf eine unkaputtbare Plastikblende springen. Gleich nebenan warnt eine deutsche Firma vor Schludrigkeit beim Thema Brandschutz in Unternehmen. Beschriftung der mit einem flammenden Inferno tapezierten Wände:

Mit Kamin-EffektNicht romantisch

Sondern zerstörerischStrom losDaten los

Geschrei groß

Von Ferne ist schon der Sprecher der Firma Enforce Pülz Tierabwehrsysteme zu vernehmen, der einer Menschentraube mit einem auffälligen Anteil an Kombathosen den Tornado SPS vorführt. Der »Tornado« verfügt über ein Stroboskop, das den Angreifer für Minuten blendet, eine Pat-rone mit Pfefferspray, die den Angreifer schachmatt setzt, und eine Alarmsirene, mit der

man als Opfer auf sich aufmerksam machen kann. »Angreifer«, »schachmatt setzen«, »Alarm aus-lösen« – das sind seine Worte. Am Ende der Präsentation unter vier Augen: Mal ehrlich, nach Tierabwehr klingt das aber nicht, wenn man Sie so hört? Außerdem, was soll man in der freien Natur mit einer Alarmsirene anfangen? – Er wehrt sich gar nicht groß: In Deutschland müsse man eben von Gesetzes wegen offiziell von Tierabwehrsystemen sprechen, weil man sonst mit dem Waffengesetz in Konflikt gerate. Dann schwenkt der PR-Mann um zur faszinie-renden Geschichte des »Tornado«: Den habe ein Deutschkanadier, ein Zweimetermann, ent-wickelt, nachdem er mal in eine Schlägerei ver wickelt wurde. Mit dem Tornado SPS wollte er

die im richtigen Leben besser schön verriegelt bleibt. Sie ist hart getestet, durch Prüfzeugnisse belegt und seit Jahren bewährt im rauen Alltag bei Polizei und Justizvollzug, steht wie eine Scheu-nentorinschrift überm Türrahmen.

Deutlich leiser tritt das Unternehmen OFC

Engineering auf. Die zentrale Botschaft von OFC mate-rialisiert sich schon beeindruckend genug in dem einzigen präsentierten Sicherheitsfenster – einem unglaublichen Oschi. »Unser Modell Rammstein«, sagt Herr Herbig und lässt die Finger weihevoll am Rahmen entlanggleiten, wobei Betonkrümel auf den braunen Messeteppich brö-seln. »Wir beliefern forensische Psychiatrien, Knäste und US-Kasernen.« Er tätschelt Rammstein wie einen Hund. »Da ist mit allen erdenklichen Waffen draufgehalten worden.«

Friedlicher geht es in der Halle mit den »Schließsystemen« zu. Wer sie betritt, kann den riesigen Stand von KABA kaum verfehlen, das in diesem Jahr mit seinem neuen »Biometric Reader« und der passenden Verheißung »unlock your life« aufwartet. Frage an einen Mitarbeiter, ob er den Biometric Reader denn schon zu Hause eingebaut habe. Ja, hat er. Ist das denn wirklich nötig? Gar nicht primär aus Sicherheitserwä-gungen, beteuert er, mehr aus Gründen der Conve-nience. Convenience? Ja, der Vorteil ist, dass man nur noch einen Schlüssel braucht, nämlich den eigenen Daumen. Solche Systeme seien für Privatnutzer aber noch zu teuer. Ein Problem sei auch, dass seine Tochter manchmal vor verschlossenen Türen steht, wenn ihre Finger mal wieder ein Stück gewachsen sind und der Scanner sie nicht mehr erkennt. Aber das sind Kinder-krankheiten. Dem System gehört die Zukunft.

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86 DUMMY

DIE ÜBERLEBENDE

Tunnels sieht: Bei guter Führung können Straftäter nach Zweidritteln ihrer Haftzeit entlassen werden, und diese Zweidrittel sind bei Siegfried Borowski in wenigen Tagen rum.

Mit ihrem Umzug in den Bungalow am Oder-Spree-Kanal beginnt für Susanne und Siggi das letzte Kapitel ihrer Ehe. Susanne ist gerade in Rente gegangen, im Januar 2005. Siggi arbeitet schon seit sieben Jahren nicht mehr. Nach dem Verlust seines Jobs Anfang der Neun-ziger hatte er nur noch kurzfristige Anstellungen gefunden. Nun kümmert er sich darum, den Bungalow zu renovieren. Susanne kocht drei Mahlzeiten am Tag und versucht ihre neue Frei-zeit zu genießen: Sie singt im Kirchenchor, geht mit den Nachbarn zum Eisbaden, im Früh-ling kauft sie Inlineskater, für sich und Siggi, die sie nach ein paar Wochen wieder verschenkt.

»Siggi saß nur zu Hause rum«, sagt Susanne. »Manchmal fuhr er mich an: ›Na, gehste wieder zu deinem Tralala?‹ Und wenn ich abends ein Buch las, knipste er mir die Lampe aus: ›Du verbrauchst zu viel Licht, lebst hier auf meine Kosten. Was hast du in deinem Leben überhaupt erreicht?‹ Das war sehr niederschmetternd für mich.« In ihrem so genannten »Rentnerdomizil« schläft Siggi im Schlafzimmer, Susanne im Wohnzimmer, ein Bett teilen sie sich schon »seit zwanzig Jahren nicht mehr«, sagt Susanne.

Wann sich dann zwischen ihr und Wolf-gang etwas entwickelt hat, weiß Susanne nicht mehr genau. Wolfgang, 50, ein Junggeselle, war schon lange ihr Nachbar in der Bungalowsied-lung, aber erst später lernte sie ihn näher kennen. Er ist es, der sie zum ersten Mal mit zum Eisbaden nimmt. Sie machen Radtouren, fahren gemeinsam an den See oder in die Sauna. »Ich hatte schon so viele Jahre keine Ehe mehr gelebt«, sagt Susanne. »Und mit Wolfgang war es auf einmal wieder wunderschön. Er gab mir die Kraft, um einzusehen, dass ich meinen letzten Lebens-abschnitt nicht in dieser grauen Welt verbringen will.«

Im Sommer 2005 entschließt sich Susanne, Siggi zu verlassen. Endgültig. Sie mietet eine Wohnung im Nachbardorf. Ihre Kleider, ihr Geschirr, ihre Bücher packt sie nachts in Plastiktüten und legt sie durch das Badezimmer-fenster auf die Mülltonne. Morgens, wenn Siggi noch schläft, geht sie ums Haus und gibt die Tüten ihrer Freundin Elisabeth, die nebenan wohnt. Der heimliche Umzug dauert zwei Wochen. In der Küche achtet Susanne darauf, dass die Teller im Schrank immer in vorderster Reihe stehen. So sieht Siggi nicht, dass etwas fehlt. »Hätte er was gemerkt, hätte er mich totgeschlagen«, glaubt Susanne.

Dann, an einem Montag, muss Siggi zum

Arzt, er leidet an Diabetes. Susanne legt ihm noch einen Brief auf den Küchentisch, steigt auf ihr Rad und fährt die vier Kilometer zu ihrer neuen Wohnung. »Ich war so glücklich, nur Elisabeth wusste, wo ich bin«, sagt Susanne. Ihr Glück hält vier Wochen, dann verrät sie »dieses blöde Paket«.

August 2009: Telefongespräch mit Susanne Borowski

»Mich hat eben der Staatsanwalt angerufen: Siggi wurde heute entlassen.«

Die Postbotin muss nur den Namengelesen haben. Sie kennt Susanne schon seit Jahren,die Frau, die mit ihrem Mann vorne am Kanal wohnt. Als sie klingelt, öffnet ihr Siggi die Tür. Er nimmt das Paket zwar nicht an, aber hat sich die eigentliche Lieferadresse gemerkt. »Damit«, sagt Susanne, »ging der Terror los.«

Siggi steht abends mit dem Auto vor ihrer Wohnung. »Er hat mir in die Fenster geblendet und meine Mülltonne durchsucht«, sagt Susanne. »Manchmal hat er auch gegen die Scheiben gewummert. Und dann fragte er mich, ob ich ihm nicht die Wäsche machen kann, das ist doch schizophren.«

Als Siggi seine Frau zusammen mit Wolf-gang auf der Couch sitzen sieht, tritt er Susanne fast die Wohnungstür ein, demoliert die Seiten-spiegel von Wolfgangs Auto. Susanne reicht es jetzt, sie nimmt sich eine Anwältin, will die Scheidung und die Hälfte des gemeinsamen Vermögens. Das ist zu viel für Siggi. Am 30. Dezember 2005 fährt er zu dem See, an dem sich Susanne mit ihren Freunden zum Eisbaden treffen will. Er nimmt ein Messer mit.

August 2009: Telefongespräch mit Susanne Borowski

»Ich habe ihn gesehen. Am Mittwoch, nur zwei Tage nach seiner Entlassung. Ich war in Frank-furt unterwegs, mit dem Auto, wollte im Real einkau-fen, und unten, an der Brücke nach Slubice, sitzt er auf einer Bank und wartet auf die Trambahn. Er hatte ein türkisfarbenes T-Shirt an, ich habe ihn sofort erkannt. Mir wird ganz übel, wenn ich daran denke. Am nächsten Tag habe ich mir neue Ärzte und einen neuen Friseur in Eisenhüttenstadt gesucht. Nach Frankfurt fahre ich nicht mehr, Siggi wohnt da jetzt bei seiner Schwester. Natürlich hat er Auflagen bekommen: Er darf mich nicht anrufen, er darf mir keine Briefe schreiben und sich nur auf fünfzig Meter nähern. Trotzdem gehe ich jetzt nicht mehr ohne Handy und Tränengas aus dem Haus. Meine Psy-chotherapeutin hat mir zu den 80 noch einmal 30 Therapiestunden verschrieben.«

Susanne fährt an diesem kalten, son-nigen Dezembertag mit dem Rad. Als sie an dem

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DA KRIEG ICH ABER ANGST

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DA KRIEG ICH ABER ANGST

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IN LICHTLOSER TIEFE

Laut Lexikon ist ein Monster »ein Tier von merkwürdiger oder Furcht einflößender Gestalt«. Der knapp fünf Meter lange und fast eine Tonne schwere Riesenmaulhai, der vor der Hawaiiinsel Oahu gefangen wurde, war schon aufgrund seiner Größe beein-druckend. Sein gigantisches Maul, mit dem er in den lichtlosen Tiefen des Ozeans Plankton filterte, war in der Tat merkwürdig. Aber der Riesenmaulhai durfte den Titel »Monster« nur für kurze Zeit tragen. Sobald er gefangen, untersucht, bestimmt und etiket-tiert war, verlor er die wichtigste Voraussetzung eines Seemonsters – er wurde von der Wissenschaft vereinnahmt.

Vielleicht haben die Skeptiker recht, was viele gemeldete Sichtungen von Seemonstern betrifft. Eine ganze Reihe davon wären sicher leicht zu erklären gewesen, hätten die Beobachter sich in der Materie nur ein wenig besser ausgekannt. Manche könnten tatsächlich zur Gattung der Monster zählen, aber nicht alle.

Einst war die Welt von Ungeheuern erfüllt. Jede dunkle unbekannte Gegend hatte ihre eigenen merkwürdigen und Furcht einflößenden Kreaturen, die durch die Geschichten und Alp-träume unserer Vorfahren stampften, krochen, schwammen oder flogen. Auf alten Landkarten trugen die unerforschten Gebiete häufig den Vermerk: »Hier Ungeheuer möglich«.

Heute sind die weißen Flecken selten geworden, die meis-ten Monster verschwunden, sie wurden in Formaldehyd eingelegt und mit wissenschaftlichen Namen belegt. Aber das Meer bleibt rätselhaft, ein Hort der Wunder und Geheimnisse, die nur sehr anmaßende Leute für aufgeklärt halten können. Doch gibt es in den Ozeanen wirklich noch echte »Monster«? Viele Zweifler, ob Wissenschaftler oder nicht, meinen, die großen Kreaturen seien inzwischen alle entdeckt worden. Fänge wie den Riesenmaulhai sehen sie als Abweichungen an, als Tiere, die wegen ihrer Verbrei-tung nicht früher entdeckt wurden. Berichte über wirklich große Meeresbewohner werden als Verwechslungen mit bekannten Tie-ren abgetan, als optische Täuschungen oder als Zeitungsenten.

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WÄCHST MIR AUCH EIN

ATOMBUSEN?

Wie es ist, wenn man Angst davor hat, so zu werden wie seine Mutter

Die erste Hälfte meines Lebens habe ich sie Mama genannt. Mit siebzehn aber beschloss ich, meine Mutter, auch wenn sie mich auf die Welt gepresst hatte, bei ihrem Vornamen zu nennen: Hanne. Eigentlich hätte ich aber Frau Jollensen zu ihr sagen müssen, denn sie war der mir fremdeste Mensch auf Erden. Umgekehrt war es sicher genauso. Alle Regeln, die sie, die strenge Mutter, aufstellte, waren für mich, die rebellische Tochter, willkommener Anlass sie zu brechen: Ich erschien in zerrissenen Hosen zu Familienfeiern, erledigte die Hausarbeit nur liederlich, verweigerte mit Süßigkeiten voll-gestopft den Sonntagsbraten – all das eben. Abgrenzung, sagt man, sei wichtig für die Entwick-lung der eigenen Identität. Es heißt, das sei völlig normal. Doch meine Mutter und ich waren eine gottverdammte Heimsuchung für die anderen, auch noch, nachdem ich, kaum acht-zehn, ausgezogen war.

Nicht nur war ich schon von Natur aus das Gegenteil von ihr – ich zelebrierte es förmlich, der Gegenentwurf zu ihrem Leben zu sein: Trieb

TEXT:

JYTTE JOLLENSEN

mich durch Clubs und Bars, in die sie sich nie hineingetraut hätte, schlug mich mit Nebenjobs durch, wo sie immer den sicheren Berufsweg gewählt hatte. Gönnte mir binnen kurzer Zeit mehr Liebschaften als sie in ihrem ganzen Leben. Politische Meinungen, die sie kategorisch ablehnte, vertrat ich mit größtem Enthusiasmus. Aus Ländern, die sie nie bereist hatte, schrieb ich ihr schwärmerische Postkarten. Fremdworte, deren Bedeutung sie nicht kannte, benutzte ich selbstverständlich. Ich wollte mich rächen, ja, sie verunsichern. Wie auch sie mich lange verunsichert hatte – mit dem latenten Vorwurf, nicht richtig zu sein. Weil sie eine Tochter geboren hatte, die gänzlich anders als sie war und ihr deshalb immer fremd blieb.

Gut zehn Jahre dauerte dieser Groll an, dann geschah, was ich nie für möglich gehalten hatte: Wir sprachen über das, was zwischen uns schiefgelaufen war. Wir stritten, schrien, heulten. Überraschenderweise haben wir uns das erste Mal annähernd verstanden und versuchen das bis heute. Manchmal, wenn sie mich rührt, nenne ich sie Mutsch. Kürzlich ist sie sechzig geworden und ich habe alte Fotos von ihr durchgeschaut. Hanne als Mädchen auf der Gartenschaukel, Hanne als Braut am Arm meines Vaters, Hanne mit Freunden im Skiurlaub. Ich musste zwei mal hinsehen. Himmel! Wie sie da am Tisch der Skihütte sitzt, vergnügt zwischen zwei Freunden – sie sieht aus wie ich. Nie haben wir uns auch nur einen Funken ähnlich gesehen. Hektisch suchte ich Bilder mit uns beiden raus. Die große Nase! Die Fältchen um die Augen! Das forsche Kinn! Die Erkenntnis erschütterte mich.

Dass ich keinen grünen Kajal benutze, dass ich mir keine Dauerwelle ins Haar legen lasse, dass ich kein süßliches Parfum auftrage, dass ich keine Polyesterblusen anziehe, keine Jogginganzüge, keine billigen Pumps – das alles habe ich im Griff. Dass mich die mütterli-chen Gene so hinterrücks durchdringen, nicht. Ich hatte nie Angst davor, so auszusehen wie sie, weil es schlichtweg keinen Anlass dafür gab: ich groß, blond, schlank, kleinbrüstig – sie klein, brünett, moppelig, atombusig. Und jetzt das!

Was von ihr, so frage ich mich, diffun-diert noch unterhalb meiner Wahrnehmung durch mich hindurch? Spreche ich mit vollem Mund? Lache ich zu laut? Putze ich wie eine Irre? Ich denke, nicht. Aber wenn ich mir die Haare bürste, zupfe ich meine Frisur mit denselben Gesten zurecht, wie sie es tut. Ein Blick auf die akkurat im Wäscheschrank sortierten Bettlaken und

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Handtücher zeigt mir, wie ihr Ordnungssinn auch mich durchdringt. Und wenn ich wütend werde, erkenne ich in meinem Rasen nur allzu gut ihre Hilflosigkeit.

Das erste Mal habe ich diese Wut bei ihr mit sechs Jahren erlebt. Mein Vater war gerade mit einer anderen Frau durchgebrannt. Meine Mutter hatte nicht nur ihre erste große Liebe und die Doppelhaushälfte, sondern auch ihren Glauben an die Welt verloren.

Ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Ahnung, wie es weitergehen sollte, saß sie mit zwei kleinen Mädchen in einer Sozialwohnung, 14. Stock, übles Viertel. Weil ich nicht bekommen hatte, was ich wollte, sagte ich zu ihr, mein Vater sei viel besser als sie. Kindlicher Trotz. Da ist sie ausge-rastet, hat einen Stock aus der Küche geholt und ihn mit Wucht auf meinen Hintern nieder-sausen lassen – solange, bis die Wut vorbei war. Nie zuvor hatte sie so etwas getan. Später, ich lag in meinem Bett, hörte ich, wie sie im Neben-zimmer weinte. Ich ging zu ihr und brachte ihr ein Taschentuch. Sie tat mir leid. Weil ich schon damals verstand, dass sie sich geschworen hatte, nie ihren Kindern anzutun, was sie selbst erlebt hatte.

Dass auch sie Angst hatte, so zu werden wie ihre Mutter.

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SEHR GEISTREICH

hingewiesen haben könnte? Oft sind es ganz alltägliche Dinge.

AS: Auf jeden Fall fühlte ich mich danach wie befreit – als ob ich jetzt von irgendetwas geschützt würde. Wenn überhaupt, könnte es die Botschaft gewesen sein, dass nur ich die Dinge verändern kann.

WvL: Aber was war es denn, das Ihnen gefehlt hat?

AS: Vermutlich Selbstvertrauen. Und das Vertrauen, einen Lebensweg zu gehen, der richtig für mich ist. Die Kraft, alte Ideen zu verabschieden, besonders berufliche.

WvL: Das ist doch ein prima Ergebnis des Spuks. Ein Spuk als solcher ist nichts Negatives. Auch bei psychosomatischen Reaktionen beobachtet man ja oft, dass sich bei diesen Patienten gerade eine weit reichende Veränderung im Leben zuträgt. Man soll solche Spukfälle nicht immer durch diese Horrorfilm-Brille betrachten. Die Menschen in der Vergan-genheit hatten eine weniger verkrampfte Art, mit diesen Dingen umzugehen. Die Römer zum Beispiel haben die Haus- geister, die Penaten, als gute Helfer wahrgenommen.

AS: Wenn ich also noch mal alles auf einen Nenner bringe, sagen Sie, dass Menschen wäh- rend eines Spukerlebnisses nicht in ihrer Mitte sind. Und dass der Spuk im Grunde eine auf Materie einwirkende Psyche ist. Mir gefällt an Ihrer Theorie, dass sie einen positiven Zugang findet und man nicht pathologisiert wird. Ist ja schön, wenn der Spuk sogar gesund sein soll. Aber dass sich eine kaum

noch vorhandene Lackfarbe Kraft meiner Psyche vermehren und sechs Meter durch die Küche bewegen soll, bleibt für mich rätselhaft. Dass klingt im Grunde genauso seltsam wie der Gedanke, dass es der Geist eines Toten war.

Und was glauben Sie, warum mir dieses Ritual geholfen hat?

WvL: Es hat Sie dazu gebracht, über Ihren Schatten zu springen, etwas Irratio-nales zu machen und sich auf sich selbst zu verlassen – ein Verhalten, das Sie in dieser Lebenssituation brauchten, wie sie ja selbst berichten. Da der Spuk selbst eine symbolische Sprache »spricht«, kann man auch mit einer symbolischen Reaktion wie diesem Ritual antworten. Wichtig ist, dass es ihre eigene Überwindung war.

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Es gibt Mobilfunkmasten, die sieht man so wenig wie die Strahlung, die von ihnen ausgeht. Eine Strahlung, vor denen sich manche Menschen so fürchten,

dass sie ebenfalls fast unsichtbar sind

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MARCO LAUER–

FOTOS:

ROBERT VOIT

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GUT VERSTECKT

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GUT VERSTECKT

er Strom nur aus einem kleinen Generator bezieht. Über ihm stehen Bücher in einem Regal, »Elektrosmog – eine reale Gefahr«, »Generation Handy«, »Grundlage der Funk- und Kommunikationstechnik«, die Bibel. Aus der liest er jeden Morgen, da sie ihm Hoffnung gebe in seinen dunkleren Stunden hier. Von der Decke herunter baumelt ein Tropf, den er mit einer Lösung aus hoch dosiertem Vitamin C und Kalzium füllt. »Das hilft mir wieder auf die Beine, wenn ich mal draußen war.« Weil Weiner trotz allem viel unterwegs ist in Feindesland. Um Aufklärung zu betreiben über die Gefahren des Mobilfunks und die Ignoranz derselben durch Politik, Betreiberfirmen und eben auch den Nutzern selbst. Er beschäftigt sich ja seit Jahren mit nichts anderem mehr, ist anerkannt auf seinem Gebiet.

Die Entwicklung der Handynutzung ist gewaltig. Laut Bundesnetz agentur, Deutschlands Behörde für Telekommuni-kation, gab es noch 1999 erst 23,5 Millionen Handys, 2003 schon 65 Millionen und im letzten Jahr zählte man 108 Millionen, mehr schon als Einwohner.

Und waren Anfang der Neunziger, zu Beginn der Handyära, gerade einmal tausend Sendeanlagen installiert, sind es mittlerweile 70.000, die über das Land funken, um dem monströsen Datenstrom Herr zu werden und dem Wunsch der meisten Handynutzer nachzukommen, immer und überall erreichbar zu sein. Gleichzeitig aber wächst das Unbehagen, weil zumindest übermäßig gesund das alles nicht sein kann. Über 15.000 Bürgerinitiativen haben sich dem Mobilfunk und seinen vermeintlichen Folgen schon verschrieben.

Deswegen ist Weiner gefragt. Erst vor Kurzem war er wieder unterwegs für Vorträge in Bayern. Jedes Mal wenn er sein Refugium verlässt, »in die Exposition«, wie er es nennt, bereitet er sich vor, als ob er in eine Schlacht zieht. Windet sich in seinen Strahlenschutzanzug, mit in Baumwolle eingenähten Silbernähten, die wie ein faradayscher Käfig wirken und die Strahlung zurückwiesen. Dann zieht er die Kapuze aus demselben Stoff über den Kopf und zum Schluss eine Gittermaske vor das Gesicht. Zuletzt aber half alles nichts. Als er vor einer Klasse stand für eine Stunde, war es plötzlich vorbei. Die Strahlung war wohl zu groß im Raum. »Ver-mutlich hatten einige trotz meiner Bitte am Anfang noch ihr Handy an.« Er hetzte vom dritten Stock des Schulgebäudes die Treppen hinunter, rannte wie auf der Flucht bis zu einem nahen Park, »wo ich mich ein wenig erholen konnte«.

Von den Schülern erntete er nur, wie sonst auch, wenn er unterwegs ist, Lächeln hinter vorgehaltener Hand. Er könne die Leute sogar ein wenig ver stehen. Weil sich das keiner vorstellen könne. »Man riecht ja nichts und schmeckt auch nichts.« Weil es eben kein Sinnesorgan gebe für Strahlung. Immerhin hätten ja die Elektrosensiblen noch das Glück, dass sie die Strahlung spürten und eben entsprechend handeln könnten. »Viele leben ja mit dieser Krankheit, ohne es zu wissen.« Diesen Vorteil zumindest habe er. Ein Vorteil, der ihm ein Leben an idyllischen Orten beschert. »Mit der Natur.« Ein Vorteil, der ihn aber auch einsam macht. Eine Freundin hat er keine. Wobei das wohl auch schon vor seiner Krankheit etwas schwierig war. Die vielen Leute, die ihn besuchen kommen in seinem Wohn-

NEW TREESAls sich der Fotograf Robert Voit vor Jahren mit Unternehmen beschäf-tigte, die künstliche Weih-nachtsbäume herstel len, stolperte er über eine wesentlich spannendere Spezies: Als Bäume verkleidete Mobilfunkmas- ten. Die möglichst lebensechte Gestaltung der Masten, die auf- grund der reibungslosen Funktionsweise gleich-zeitig isoliert und kerzengerade in der Natur herumstehen, ergibt ein phänomenales foto-grafisches Sujet. Für seine Arbeit »new trees« hat sich Voit vor allem in Mittel- und Südeuropa, aber auch in den USA, Südafrika und Südkorea auf die Suche nach den neuen Bäumen gemacht. Wobei sich die Art der Verkleidung den jeweils landestypischen Vegetati-onen anpasst:So wird in südlichen Gefilden aus dem Mobil-funkmast ein Kaktus, in Deutschland eher eine Fichte. Voits opulente Sachlichkeit sorgte schon in New York für strah-lende Kunstliebhaber. In Deutschland wird er von der Galerie Walter Storms/München und der Galerie Robert Morat/ Hamburg vertreten.