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DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX WINTER 2008 AUSGABE 07 SCHATTIERUNGEN 10 EURO WINTER 2008 AUSGABE 07 SCHATTIERUNGEN 10 EURO DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTUR- MAGAZIN VON VELUX

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DAYLIGHT &ARCHITECTUREARCHITEKTUR-MAGAZINVON VELUX

DAYLIGHT & ARCHITECTUREARCHITEKTURMAGAZINVON VELUXWINTER 2008 AUSGABE 07

HerausgeberMichael K. Rasmussen

VELUX-RedaktionsteamChristine BjørnagerNicola EndeLone FeiferLotte KragelundTorben Thyregod

RedaktionsteamGesellschaft für Knowhow-TransferThomas GeuderAnnika DammannJakob Schoof

Übersetzungen und KorrektoratTony Wedgwood

BildredaktionTorben EskerodAdam Mørk

Art Direction und LayoutStockholm Design Lab ®

Per Carlsson Kent Nybergwww.stockholmdesignlab.se

TitelbilderTitelbild: Abelardo Morell, Camera Obscura Image of Manhattan View Looking South in Large Room, 1996.Umschlagvorderseite innen: Anna Nilsson, Lichtmaschine(s. auch S. 48-57)Foto: Torben Eskerod

Websitewww.velux.de/Architektur

Aufl age90,000 Stück

ISSN 1901-0982

Dieses Werk und seine Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf der Zustimmung der VELUX Gruppe.

Die Beiträge in Daylight&Architecture geben die Meinung der Autoren wieder. Sie entsprechen nicht notwendiger-weise den Ansichten von VELUX.

© 2007 VELUX Group. ® VELUX und das VELUX Logo sind eingetragene Warenzeichen mit Lizenz der VELUX Gruppe.

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DISKURS VONJEREMYWOLFE

Weil wir uns primär auf die Veränderung des Lichts und nicht auf das Licht selbst konzentrieren, unterliegen wir dem Irrtum, die linke Hälfte dieser Seite sei dunkler als die rechte. Dies ist aber nicht der Fall: In Wirklichkeit wird die linke Hälfte nur zur Mitte hin dunkler, die rechte gleichermaßen immer heller. Die somit entstehende Grenzlinie zwischen Hell und Dunkel verleitet uns dazu, Hell und Dunkel anders wahrzunehmen, obwohl der linke und der rechte Rand dieser Seite exakt die gleiche Fär-bung haben.

Prof. Jeremy Wolfe studierte in Princeton und promovierte zum Dok-tor der Philosophie am Massachusetts Institute of Technology. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich mit binokularem Sehen und visueller Adap-tation; sein aktuelles Interesse gilt der visuellen Aufmerksamkeit. Heute ist er Professor für Ophthalmologie an der Harvard Medical School und Leiter des Labors für visuelle Aufmerksamkeit am Brigham and Women‘s Hospital in Boston, USA.

In diesem Jahr verstarb im Alter von 102 Jahren Rudolf Arnheim, der Autor des Buchs schlechthin über ‚Kunst und visuelle Wahrnehmung’. Dem Thema ‚Licht’ widmet er sich darin erst im sechsten von zehn Kapiteln, also überraschend spät. Arnheim kommen-tiert dies so: „In der Hierarchie ursprünglicher Ursa-chen für die visuelle Wahrnehmung stünde das Licht sicherlich an erster Stelle, da das Auge ohne Licht keine Formen, Farben, Räume oder Bewegungen erkennen kann. […] Aber weil sich das Augenmerk der Menschen in erster Linie auf Objekte und deren Verhalten und Wirken richtet, wird die Bedeutung des Lichts häufi g verkannt.“ Das Licht präsentiert sich uns mit zwei Gesichtern. In der Bibel wird das reine Licht als erste Schöpfung bezeichnet, noch vor der Sonne und den Sternen: diese erscheinen erst am Dritten Tag. Im traditionellen jüdischen Glauben ermöglichte das erste Licht, von einem Ende der Welt bis zum anderen zu sehen, wobei seine Kraft allerdings so überwälti-gend war, dass es um sechs Siebtel reduziert werden musste. In Psalm 97 heißt es, „das Licht gehe den Gerechten auf“. Im traditionellen Glauben off enbart sich das bewahrte Licht den Würdigen als Belohnung am Ende aller Tage. Heutzutage beschäftigen wir uns weniger mit Licht an sich, sondern vielmehr mit den verschiedenen Lichtrefl exionen einzelner Oberfl ächen. Um mit Helmholtz zu sprechen: „Wir vernachlässigen die Lichtquelle.“ Dem Licht als solchem schenken wir wenig Beachtung; unser Interesse richtet sich vielmehr auf das Wesen konkreter Dinge. Schon Hänsel im Märchen von Hänsel und Gretel sammelte bei Tag ‚weiße Kieselsteine’ mit der Gewissheit, dass diese im Mondschein ‚wie blanke Silbertaler’ glitzern, obgleich ein weißer Kieselstein bei Nacht weitaus weniger Licht refl ektiert als ein Kohlestück am Tag. Die gelbe Lichtfärbung einer Glühlampe nehmen wir kaum wahr. Unser visuelles System ist viel mehr mit dem Phäno-men beschäftigt, dass eine gelbe Banane sowohl in der Küche als auch im Freien gelb aussieht. Dennoch haben wir den Kontakt zum ursprüng-lichen Licht nicht völlig verloren. Es beeinfl usst unsere Stimmung und bestimmt unsere innere Uhr. Das Licht als solches off enbart seine Kraft und Wirkung also weitgehend außerhalb unseres alltäglichen Bewusst-seins, in dem eher die von ihm beleuchteten Objekte im Mittelpunkt stehen.

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Das zentrale Thema dieser Ausgabe von Daylight & Architecture ist die Frage, wie der Mensch Licht und Raum wahrnimmt. Sinneserfahrung und Wahr-nehmung sind einerseits sehr persönliche Phäno-mene und werden andererseits immer auch durch die kulturellen Werte einer Gesellschaft geprägt. So hat gerade in der industrialisierten Welt des Vi-suellen Fuß gefasst. Zu Unrecht, schreibt Juhani Pallasmaa, der fi nnische Architekt und Architek-turtheoretiker, in seinem Artikel ‚Greifbares Licht’: Der Mensch sieht Licht nicht nur mit seinen Augen, sondern spürt es auch durch seine Haut. Diese Über-zeugung teilt auch Philippe Rahm, dessen Arbeiten im Grenzbereich der Architektur wir in diesem Heft vorstellen. Rahm erforscht darin die unbewussten physischen Reaktionen des Menschen auf seine Um-gebung und deren Einfl ussgrößen wie Licht und Dunkelheit, Temperatur und Luftfeuchte.

Die These, dass sich die Wahrnehmungen von Licht und Raum nicht voneinander trennen las-sen, vertritt der türkisch-französische Architekt Ahmet Gülgönen in seinem Interview mit Daylight & Architecture. Für Gülgönen ist „eine Leere ohne Licht kein Raum“ – sie wird vielmehr erst dann zu Raum, wenn Licht durch eine Öff nung oder ein Fen-ster einströmt. Wie sich ein dunkler Bunker in licht-durchfl uteten Wohnraum verwandeln lässt, haben

Luczak Architekten im Kölner Stadtteil Nippes ge-zeigt: Sie ließen einen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes ‚auf-schneiden’ und gestalteten ihn zu geräumigen und hellen Apartments um. Die massiven Mauern und dicken Betondecken des Bauwerks dagegen blei-ben bis heute mit allen Sinnen spürbar.

In der Rubrik ‚VELUX im Dialog’ stellen wir Ihnen eine Reihe außergewöhnlicher, von Stu-denten der Oslo School of Architecture and Design (AHO) entworfener Licht- und Rauminstallationen vor, die mit Unterstützung von VELUX Norwegen realisiert wurden. Diese Lichtmaschinen „tun nichts weiter, als Emotionen off en zu legen“, wie AHO-Professor Rolf Gerstlauer in seinem Artikel schreibt, und eröff nen eben dadurch völlig neue Wege in der Licht- und Raumerfahrung. Ähnliche Absichten verfolgte übrigens auch Villum Kann Rasmussen, der Gründer von VELUX, als er in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts sein erstes Dachwohnfenster entwickelte. Seither haben Tau-sende dunkle Dachböden in aller Welt mit Hilfe sei-ner Erfi ndung im wahrsten Sinne des Wortes ‚das Licht erblickt’ und sind zu bewohn- und nutzbaren Räumen geworden.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen mit der siebten Ausgabe von Daylight & Architecture.

JETZT

Neues zum Thema Tageslicht aus aller Welt: Ger-hard Richter lässt den Kölner Dom in einem neuen Licht erglühen – und erweitert die Geschichte des Kirchenfensters um eine neue, abstrakte Spielart. Ein Pavillon in Madrid zeigt ‚literarische‘ Licht- und Schattenspiele, ein ehemaliges Kloster in Andalusien die raumbildende Kraft des Tageslichts. Und: Peter Zumthor hat die Kirchenruine St. Kolumba in Köln in ein mystisches Halbdunkel gehüllt.

MENSCH UND ARCHITEKTURGREIFBARES LICHT

Der Sehsinn galt seit jeher als ‚edelster‘ der fünf Sinne des Menschen; seine Dominanz in unserer Kultur hat sich im Medienzeitalter eher noch ver-stärkt. Das hat auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Architektur heute geplant wird, schreibt Juhani Pallasmaa. Er plädiert dafür, die fünf Sinne und ihre wechselseitigen Verknüp-fungen in der Wahrnehmung von Raum, Licht und Schatten neu zu entdecken.

Diskurs von Jeremy WolfeVELUX EditorialInhaltJetztMensch und ArchitekturGreifbares LichtTageslichtPhilippe Rahm:Das Unbewusste und das LichtLicht EuropasCamera obscura von Abelardo MorellRefl ektionenFenster zur WeltTageslicht im DetailLicht, Raum und ArchitekturInterview mit Ahmet GülgönenVELUX EinblickeSpürbare SchwereUmbau eines Bunkers in KölnVELUX im DialogDer Eigensinn der ArchitekturDie B3-LichtmaschinenBücherRezensionenVorschau

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INHALT

VELUX EDITORIALLICHTERFAHRUNGEN

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TAGESLICHT PHILIPPE RAHM:DAS UNBEWUSSTE UND DAS LICHT

Der Schweizer Architekt Philippe Rahm ent-wirft Installationen und Gebäude, die den Tag zur Nacht machen oder auf Meereshöhe ein künst-liches Hochgebirgsklima erzeugen. Indem Rahm nicht Funktion oder Form, sondern die Wirkung des Raumes auf die menschliche Physis in den Vorder-grund stellt, holt er Vorgänge ans Licht, die sich üb-licherweise im Unbewussten abspielen.

VELUX EINBLICKE SPÜRBARE SCHWERE

Was tun mit den in die Jahre gekommenen Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg? Eine Wohnanlage im Kölner Stadtteil Nippes gibt hierauf Antwort: An-statt den hier bestehenden Hochbunker fortzu-räumen, integrierten Luczak Architekten seine massiven Mauern in die neuen Stadthäuser und Lofts. Deren Innenräume sind geräumig und hell – und doch bleibt die Vergangenheit darin mit allen Sinnen spürbar.

VELUX IM DIALOG DER EIGENSINN DER ARCHITEKTUR

Studenten der Architektur- und Designhochschule Oslo (AHO) haben elf ‚Lichtmaschinen‘ entworfen und – mit Unterstützung von VELUX – gebaut. „Sie tun nichts weiter, als Emotionen off en zu legen“ schreibt der betreuende Professor Rolf Gerstlauer über die Licht- und Rauminstallationen. Doch eben dadurch werfen die Lichtmaschinen Fragen über die traditionellen Grenzen der Architektur und Raumwahrnehmung auf.

REFLEKTIONEN FENSTER ZUR WELT

Moderne Hochleistungs-Tomographen ermögli-chen es den Hirnforschern, dem Menschen buch-stäblich in die Seele zu schauen. Auch darüber, wie das Sehen ‚funktioniert‘, haben sie neue Erkennt-nisse gewonnen. Doch hat sich unsere Sicht auf die Welt dadurch wirklich verändert? In seinem Bei-trag beschreibt Nicholas Wade die Mysterien des räumlichen Sehens, mit denen sich Künstler und Forscher seit der Renaissance befasst haben.

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Was Architektur bewegt: Veranstaltungen, Wettbewerbe und ausgewählte Neuentwicklungen aus der Welt des Tageslichts.

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Der Kölner Dom, drittgrößtes go-tisches Gotteshaus der Welt, ist um ein Kunstwerk bereichert wor-den, das Kontroversen schürt und Widerspruch herausfordert: Mitte August wurde das 106 Quadratme-ter große Südquerhausfenster von Gerhard Richter eingeweiht. Richter, der selbst in Köln lebt, gilt als einer der teuersten lebenden Maler welt-weit und war der Einzige, dem das Domkapitel zutraute, für eines der größten Fenster der Kirche einen an-gemessenen, zeitgenössischen Aus-druck zu fi nden. Mit dem Auftrag verbunden waren konkrete Vorstel-lungen der Bauherren bezüglich des Bildprogramms: Die Fenster sollten sechs deutsche Märtyrer des 20. Jahrhunderts zeigen. Doch der 1932 geborene Maler überraschte mit einem völlig eigenständigen Entwurf

– einem abstrakten Pixelmuster aus 11.263 Farbquadraten in 72 Farben. Pate für den Entwurf stand Richters Gemälde „4096 Farben“ von 1974, dessen Farbfelder der Maler seiner-zeit nach dem Zufallsprinzip aus-füllte. Das neue Fenster ist jedoch kein reines Zufallsprodukt: Gerade die Farbverteilung in den kleintei-ligen Maßwerkscheiben arbeitete Richter manuell nach, um einen har-monischen Gesamteindruck zu erzie-len. Bevorzugt verwendete er dabei dunklere Farbtöne, da das Querhaus-fenster direkt nach Süden ausgerich-tet ist und zu keiner Zeit des Tages durch Strebepfeiler oder andere Ge-bäude verschattet wird.

Anders als bei historischen Kir-chenfenstern sind die einzelnen Qua-drate nicht durch Bleistege getrennt. Sie wurden stattdessen mit einem nicht härtenden Silikongel auf eine Trägerscheibe geklebt und auch un-tereinander durch Silikon verbunden. Auf diese Weise wirkt die Vergla-sung fi ligran und selbst große Tem-peraturunterschiede führen nicht zum Bruch der Scheiben.

PIXEL STATT HEILIGENBILDERN

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San José del Valle, eine 4200-Seelen-Gemeinde unweit von Cádiz im Süden Spaniens: Am Abhang des Monte de la Cruz, leicht oberhalb des Ortskerns, hatte der Orden der Karmeliterinnen 1695 ein Kloster gegründet und be-reits Mitte des 19. Jahrhunderts wie-der aufgegeben. Nach zahlreichen Umbauten und langem Leerstand hat der ehemalige Nonnenkonvent nun eine neue Nutzung erhalten: 32 Sozialwohnungen sind nach Plänen von Ramón González de la Peña und seines Büros RGP Arquitectos auf dem abschüssigen Areal entstanden. Typologie und Anordnung der Neu-bauten – größtenteils zweigeschos-sige Reihenhäuser – orientieren sich am Charakter des ehemaligen Klo-sters. Mehrere Höfe, aus denen sich Ausblicke in die umliegende Land-schaft öff nen, bilden die gemeinsame Mitte des Gebäudekomplexes. Stütz-mauern aus Beton und Bruchsteinen grenzen die unterschiedlichen Gelän-deniveaus gegeneinander ab.

Am der nördlichen, dem Tal zu-gewandten Ende des Areals über-ragt die ehemalige Klosterkirche die übrigen Gebäude. Sie dient heute als Mehrzwecksaal für das ganze Dorf; hier sollen Theater- und Musikvorfüh-rungen sowie Ausstellungen statt-

WOHNEN IM KLOSTER

fi nden. Zu diesem Zweck wurden im Westen drei fast gebäudehohe An-bauten mit Nebenräumen neu errich-tet. Zwischen ihnen fällt Tageslicht durch drei hoch gelegene Fenster ins Kirchenschiff . Das Dach der Kirche ist komplett neu; es wurde als eine ein-zige, gefaltete Stahlbetonscheibe gestaltet, auf den bestehenden Au-ßenwänden verankert und an der Unterseite weiß gekalkt. Die dicken Außenwände, die asymmetrische Dachform und die unregelmäßig verteilten Tageslichtöff nungen sor-gen dafür, dass im Inneren der Kirche eine fein nuancierte und doch ständig wechselnde Lichtstimmung herrscht. Durch die beiden Eingänge fällt Sei-tenlicht ins Kirchenschiff ; drei Fenster belichten den Raum durch gaubenar-tige Dachausschnitte aus Westen. Die Haupt-Tageslichtquelle ist ein lang gestrecktes Fensterband im Osten, das die stark strukturierte Dachun-tersicht mit seinem Streifl icht er-hellt und den Mehrzweckraum in ein sanftes, indirektes Licht taucht. Ramón González de la Peña entschied sich bewusst für die für einen Kirchen-bau unübliche Dachform: Sie verleihe, schreibt er, dem Raum einen „zivilen Ausdruck, der seiner neuen Nutzung angemessen ist“.

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Zweieinhalb Wochen lang stand der Madrider Parque del Retiro im Früh-jahr 2007 ganz im Zeichen des Le-sens: Im Rahmen der Feria del Libro de Madrid, der madrilenischen Buch-messe, präsentierten 362 Aussteller ihre Programme, Lesungen fanden statt und ein Preis für das beste Buch des Jahres wurde verliehen.

Zweieinhalb Wochen sind eine kurze Lebensdauer für ein Gebäude. Zelte und wieder verwendbare Con-tainerbauten bestimmen daher über weite Strecken das Bild der Bücher-schau. Eine Ausnahme bildet der Pa-villon des Stadtrats von Madrid: Die Architekten Nomasdoce aus Se-villa entwarfen ein schlichtes Holz-haus mit Satteldach und glänzend schwarz lackierter Außenhülle. Seine wenigen Glasfenster und -türen sind mit ornamentalen, verschlungenen Buchstabenmustern bedruckt, die im Gegenlicht einen lebhaften Kon-trast zu den glatten Oberfl ächen bilden. Im Gebäudeinneren weicht das geheimnisvolle Schwarz strah-lendem Weiß und die schlichte Ge-samtform einer diff erenzierten Abfolge von drei Räumen: Eingangs-bereich, Buch-Informationsstand und Vortragsraum. Die Räume sind nicht direkt an die Außenwände ge-

rückt, sondern folgen ihrer eigenen Geometrie. Dadurch entstehen zwi-schen Innen- und Außenwand raum-haltige Zwischenzonen, die durch ‚Lichtkamine’ und tiefe Fensterlai-bungen durchbrochen werden.

Zum Vorbild ihres Entwurfs er-klärten Nomasdoce den Roman ‚The Paper Palace’ von Paul Auster. Er erzählt die Geschichte des Schrift-stellers Sydney Orr, der bei einem chinesischen Schreibwarenhänd-ler ein geheimnisvolles Notizbuch erwirbt und später die Erfahrung macht, dass vieles, was er darin no-tiert, Auswirkungen auf die Realität zu haben scheint. Auch im Madrider Pavillon zeigen die Buchstaben un-verkennbar Wirkung. Die ornamen-tierten Fenster und Türen füllen den Raum wie schmiedeeiserne Gitter mit Licht- und Schattenmustern, die im Tagesverlauf an den Wänden entlangwandern. Die Durchgänge zwischen den Räumen sind eben-falls durch Textmotive gerahmt, die weiß auf schwarzem Grund ge-druckt wurden und damit gleichsam eine Umkehrung der ‚Fensterbilder’ darstellen.

LITERARISCHER SCHATTENWURF

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Ein notdürftiges Holzdach schützte jahrzehntelang die Ruinen von St. Kolumba, jener Kirche, die noch im Mittelalter Mittelpunkt der größten Kirchengemeinde in Köln gewesen und später dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen war. Nun ist das Provisorium einer viel beachteten Dauerlösung gewichen: ‚Kolumba’, das nach Plänen von Peter Zum-

FILTER AUS STEIN thor errichtete Kunstmuseum des Erzbistums Köln, ist Museum, ar-chäologischer Schutzbau und An-dachtsraum in einem. Es integriert Bauteile aus drei Jahrtausenden in seinem Inneren, darunter eine Ka-pelle, die nach Plänen von Gottfried Böhm über einem Teil der zerstörten Kirche errichtet worden war.

In seinem Entwurf für ‚Kolumba’, entschied sich Peter Zumthor für ein komplettes Überbauen aller bis-herigen Zeitschichten inklusive der Böhm-Kapelle. Rund 3700 Quadrat-meter Gesamtfl äche stehen in den drei über- und zwei unterirdischen

Geschossen des Neubaus zur Verfü-gung. Massive, 60 Zentimeter dicke Außenwände aus fl achen, grünlich-grauen Ziegeln tragen ihren Teil zu einem ganzjährig konstanten In-nenraumklima bei. In den beiden Obergeschossen werden sie immer wieder durch geschosshohe Fenster durchbrochen, die den Museumsbe-suchern Ausblicke über die Stadt er-öff nen. Im großen, hallenartigen Raum über der Kirchenruine dage-gen sollte Außenklima herrschen. Hier wurden die Steine ‚auf Abstand’ versetzt und erzeugen so einen licht- und luftdurchlässigen Filter, der den

Raum während der längsten Zeit ins Halbdunkel taucht. Peter Zumthor beschreibt das Konzept für diesen Raum folgendermaßen: „Nicht das lichtdurchfl utete Museum war Ziel des Neubaus, vielmehr ist Kolumba ein Licht- und Schattenmuseum, das sich im Wechsel der Tages- und Jah-reszeiten entfaltet und auch das Zwielicht kennt.“

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MENSCH UND ARCHITEKTUR

Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur: Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.

GREIFBARES LICHTArchitektur und die Integration der Sinne

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Von Juhani Pallasmaa

Die Dominanz des Sehens ist allgegenwärtig: Wer einmal nachforscht, wie unsere Gesellschaft Wissen speichert und weitergibt, wie Menschen miteinander kommunizieren und wie Medien heute funktionieren, stellt rasch fest, wie stark das Visuelle unser Leben bestimmt. Doch unser Körper ‚sieht‘ nicht nur mit den Augen; auch Licht und Farbe sprechen nicht allein unseren Sehsinn an. Es ist Zeit, Architektur vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis neu zu denken.

Wir leben in einer logozentrischen Kultur, die vom Sehsinn dominiert wird. Auch die Architektur wird theoretisiert und überwiegend als rein visuelle Disziplin gelehrt und praktiziert. Dieses visuelle Verständnis der Baukunst beschreibt Le Corbu-sier in seinem poetischen Credo: „Architektur ist das kluge, kor-rekte und herrliche Spiel vereinter Körper im Licht.“ Vor allem in den letzten Jahrzehnten zielte die Architektur zunehmend auf die Erzeugung überraschender, unvorhergesehener und im Gedächtnis haftender visueller Bilder ab.

Die Weltsicht des „naiven Realismus“ gründet auf der Über-zeugung, dass die menschlichen Sinne biologisch bedingte, autonome Funktionen sind, die Wahrnehmungen einer verge-genständlichten Welt vermitteln. Und dennoch sind die „Rea-lität“ selbst und die Art, in der wir Dinge wahrnehmen und diese Wahrnehmungen interpretieren und priorisieren, Pro-dukte unserer Kultur.

Der Begriff der fünf Sinne geht auf Aristoteles zurück, der auch die hierarchische Ordnung der Sinne vom höchsten bis zum niedrigsten einführte: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Seit Aristoteles wurde der Tastsinn stets als der unwich-tigste und primitivste Sinn angesehen. Seine Geringschätzung resultierte aus der Erkenntnis, dass alle Tiere über ihn verfügen. Auch die Tatsache, dass sich das Wesen haptischer Erfahrungen nur schwer mit Worten beschreiben lässt, trug zu dieser Herab-stufung bei. Nach Ansicht Aristoteles‘ ist der Tastsinn für das Sein unerlässlich, während die anderen Sinne für das Wohlsein notwendig sind. Noch im Mittelalter, in der Renaissance und im Zeitalter der Aufklärung erachteten die Gelehrten den Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn als bloße tierische Eigenschaften.

Der Sehsinn wurde nicht nur als der wichtigste Sinn betrach-tet, sondern auch mit Denken und Wahrheit in Verbindung gebracht, was ihm eine noch höhere Gewichtung einbrachte. Bereits im Denken der antiken Griechen gründete Gewissheit auf Sehen und Sichtbarkeit. „Die Augen sind zuverlässigere Zeu-gen als die Ohren“, schrieb Heraklit. Plato sah im Sehen sogar den Ursprung der Philosophie, und für ihn war die Philosophie

„das größte Geschenk, das die Götter den Sterblichen jemals gegeben haben oder geben werden“. Den Einfl uss des Sehens auf die Philosophie fasst Peter Sloterdijk zusammen: Die Augen sind der organische Prototyp der Philosophie. Ihr Mysterium ist, dass sie nicht nur sehen, sondern auch ihr Sehen selbst sehen

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können. Dies rechtfertigt ihre Vorrangstellung unter den kogni-tiven Körperorganen. Ein Großteil des philosophischen Den-kens ist eigentlich nur Augenrefl ex, Augendialektik, sich selbst beim Sehen zusehen.

Infolge der visuell geprägten westlichen Weltsicht gründet unsere Kenntnis vergangener Kulturen überwiegend auf visu-ellen Berichten; die Geschichte der Menschheit „existiert in Mate-rie und Raum und weniger in Zeit und Klängen“. Kein Zweifel, dass die zahllosen wissenschaftlichen Instrumente und Erfi n-dungen der heutigen Zeit ebenso wie das moderne digitale Uni-versum die Dominanz des Sehsinns noch verstärkt haben.

die wiederentdeckung der sinneIn den letzten Jahrzehnten allerdings führten die lange Vernach-lässigung des sensorischen und sinnlichen Wesens des Menschen und die Nichtbeachtung verinnerlichter Prozesse bei unseren existenziellen Erfahrungen und Wahrnehmungen zu einer wah-ren Flut an Schriften, die sich mit den Sinnen und den verschie-denen Dimensionen der menschlichen Physis beschäftigen. Die Bedeutung des Körpers wurde auf die Denkprozesse ausgedehnt. Diese zunehmend kritische Einstellung wird exemplarisch von dem Philosophen David Michael Levin formuliert: „Meines Erachtens ist es an der Zeit, die Vorherrschaft des Sehens – den Okularzentrismus unserer Kultur – in Frage zu stellen. Es besteht dringender Bedarf an einer Diagnose der psychosozialen Patho-logie des alltäglichen Sehens – und an einem kritischen Ver-ständnis unserer selbst als visionäre Geschöpfe.“ Körper und Sinne gewinnen heutzutage auch in architektonischen Abhand-lungen und erziehungswissenschaftlichen Ansätzen zunehmend an Bedeutung.

Ich bin der Meinung, dass viele Aspekte moderner Architek-tur durch eine erkenntnistheoretische Analyse der Sinne und die Infragestellung der okularen Ausrichtung unserer Kultur besser beurteilt werden könnten. Die heutzutage herrschende Atmo-sphäre von Entfremdung, Distanz und Kälte in Gebäuden und Städten ist auf eine Missachtung der physischen und sinnlichen Bedürfnisse des Menschen zurückzuführen – auf ein Ungleich-gewicht der sensorischen Systeme und die Vernachlässigung der existenziellen Dimension der Architektur.

Ein bislang kaum erforschtes Merkmal des Sehsinns ist des-sen implizite Fähigkeit, mit anderen Sinneswahrnehmungen

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Gegenüber: James Turrell: Wide Out, 1998. „Ich verwende Licht als Materie“, sagt James Turrell über seine Arbeiten. Licht und Farbe scheinen bei dieser Installa-tion regelrecht ‚greifbar‘ zu sein. Andererseits tritt der Betrach-ter, sobald er sich der Lichtfl ä-che dicht genug nähert, in einen ‚Lichtnebel‘ ein, in dem Raumtiefe und Raumkanten verschwinden und sogar der Gleichgewichts-sinn gestört werden kann.

lichen Körper auf erstaunliche Weise: „Durch unser Sehen berüh-ren wir die Sonne und die Sterne“, sagt etwa David Michael Levin. Maurice Merleau-Ponty formuliert das Prinzip der Berührung bei Kunstwerken eindrucksvoll: „Ein Maler oder Dichter kann nur von seiner eigenen Begegnung mit der Welt berichten.“

Wichtiger noch als die Grenzziehung ist jedoch die Tatsa-che, dass wir durch Tastsinn und taktile Sensorik die Welt und uns selbst erfahren. Sogar visuelle Wahrnehmungen verschmel-zen und verbinden sich mit dem haptischen Kontinuum unseres Ichs: Mein Körper weiß, wer ich bin, und erkennt meine Position in der Welt. „Die erste Gefühlswahrnehmung muss das Tasten gewesen sein. Unsere gesamte Entstehungsgeschichte basiert auf dem Tastsinn. Aus dem Wunsch nach einem noch innigeren Tastempfi nden entwickelte sich die Sehkraft. Zu sehen bedeu-tete schlichtweg, konkreter zu ertasten“, sagt Louis Kahn.

Die wundersame Beständigkeit und Dauerhaftigkeit der Welt kann nicht auf fragmentarischen visuellen Bildern beru-hen – die Welt und unser Persönlichkeitssinn werden durch Haptik und Erinnerung zusammengehalten. Mein empfi nd-samer, sensibler Körper ist für mich Nabel der Welt, aber nicht im Sinne einer zentralen Perspektive, sondern als alleiniger Ort der Integration, Positionierung, Erinnerung und Imagination.

„Ich bin das, was mich umgibt“, behauptet Wallace Stevens. „Ich bin der Raum, wo ich bin“, so Noel Arnaud, und Ludwig Witt-genstein sagt: „Ich bin meine Welt.“

In seinem wichtigen, erstmals 1934 veröff entlichten Buch Art as Experience weist John Dewey auf die Bedeutung von Zusam-menspiel und Wechselwirkung der Sinne hin: „Die Sinne wie Tasten, Schmecken, Sehen und Hören haben eine ästhetische Komponente, allerdings nicht in ihrer Isolation, sondern in ihrer Verbindung als interaktive, nicht als einzelne separate Entitäten. Solche Verbindungen beschränken sich nicht auf den gleichen Typus […] wie Farbe mit Farben, Töne mit Tönen […]. Augen und Ohren zum Beispiel sind nur die Kanäle, durch die die gesamte Reaktion erfolgt […]. Wenn wir durch unsere Augen als kausale Hilfsmittel die Flüssigkeit von Wasser, die Kälte von Eis, die Härte von Stein oder die Kahlheit der Bäume im Win-ter wahrnehmen, ist gewiss, dass neben den Augen auch andere Sinne die Wahrnehmung bestimmen und lenken.“

Ebenso hebt Merleau-Ponty die grundlegende Integration der einzelnen Sinnesbereiche hervor: „Meine Wahrnehmung ist

zu interagieren und auf diese zu reagieren. Schon Goethe sagte: „Die Hände möchten sehen, die Augen liebkosen.“

Nachdem der aristotelische Begriff der fünf Sinne in der westlichen Kultur allgemein anerkannt wurde, gilt es nunmehr, sich genauer mit Wesen, Funktion und Interaktion der sinn-lichen Wahrnehmung zu befassen. Anstelle von fünf unabhän-gigen und isolierten Sinnen kategorisiert der Psychologe James J. Gibson fünf sensorische Systeme: das visuelle System, das audi-tive System, das Geschmacks-/Geruchssystem, das Orientie-rungssystem und das haptische System. In der mittelalterlichen Philosophie unterschied man noch einen sechsten übergreifen-den Sinn, den Persönlichkeitssinn. Die Steinersche Philosophie geht noch weiter, denn ihr zufolge nutzen wir nicht weniger als zwölf Sinne.

Die Sinne sind nicht einfach nur passive Rezeptoren von Stimuli; sie erweitern, suchen, erforschen und formen aktiv die Ganzheit der Welt und des Ichs. Unter Einbeziehung unseres gesamten physischen Seins bilden die Sinne Zentren stillschwei-genden Wissens; sie strukturieren und speichern das existenzielle Wesen eines Subjekts. Alle Sinne ‚denken‘ insofern, als sie erlebte und äußerst komplexe Situationen erfassen können.

Die Rolle eines jeden Sinnes wird auch durch die Kultur beeinfl usst. Es gibt signifi kante Unterschiede bei der Gewich-tung der einzelnen Sinne in unterschiedlichen Kulturen. In eini-gen Kulturkreisen haben zum Beispiel unsere privaten Sinne eine soziale Funktion. Im westlichen Denken erkennt man in zuneh-menden Maße die Bedeutung des Tastsinns, dem mehr als zweit-ausend Jahre lang nur geringe Bedeutung beigemessen wurde. Mittlerweile wissen wir, dass sich dieser vermeintlich niedrigste Sinn letztendlich vielleicht als der wichtigste erweist, da wir durch ihn unser gesamtes existenzielles Bewusstsein erfassen.

fühlen mit den augen – sehen mit der hautAlle Sinne – auch der Sehsinn – sind eine erweiterte Form des Ertastens; schon Aristoteles beschrieb das Schmecken und Sehen als eine Art der Berührung. Demnach sind alle Sinne spezielle Verfeinerungen des Hautgewebes, und alle sensorischen Erfah-rungen sind grundsätzlich mit haptischer Wahrnehmung ver-bunden. Unser Kontakt mit der Welt spielt sich an der Grenze zum eigenen Selbst ab, durch spezielle Teile der Haut bzw. ihrer Extensionen und Projektionen. Die Sinne erweitern den mensch-

S. 8: Herbert Bayer: Einsamer Großstädter, 1932. Die Foto-montage illustriert die bei vie-len Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitete Ent-fremdung von der großstäd-tischen Architektur. Der Mensch – und dies wird im Alltag immer wieder spürbar – ‚sieht‘ seine Umwelt nicht nur mit den Augen, sondern ebenso mit dem Tast-sinn. .

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nicht die Summe aus visuellen, taktilen und akustischen Gege-benheiten. Vielmehr nehme ich mit meinem ganzen Wesen wahr: Ich erfasse die bestimmte Struktur eines Dings, eine bestimmte Form des Seins mit all meinen Sinnen gleichzeitig.“ Gaston Bachelard bezeichnet diese sensorische Vermischung und Interaktion als „Polyphonie der Sinne“.

Die Synästhesie, also die Übertragung von Stimuli von einem Sinn auf einen anderen (wie z. B. Musik als Farben zu „sehen“ und umgekehrt), wird als außergewöhnliche Fähigkeit angese-hen. Doch die Kooperation und Kommunikation unserer Sinne untereinander ist durchaus üblich. Zu den wichtigsten senso-rischen Interaktionen gehören die haptischen Wahrnehmungen beim Sehen. Wenn wir die Oberfl äche eines Materials betrach-

ten, erspüren wir sofort dessen Gewicht, Dichte, Temperatur und Feuchtigkeit. Die Fühlbarkeit ist eine Art Unterbewusstsein des Sehens – ohne dieses sensorische Wechselspiel wäre unsere visu-elle Welt ein lebloses bloßes Abbild und keine Projektion einer gelebten und zusammenhängenden Welt.

die taktilität des lichtsDie menschliche Haut zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, Licht und Farbe zu fühlen und zu erkennen. Diese normaler-weise unterdrückten sensorischen Funktionen werden off enbar bei Verlust des Augenlichts bzw. bei schwacher Sehkraft akti-viert. Im Normalfall sind wir uns der starken haptischen Aspekte unserer alltäglichen visuellen Wahrnehmungen nicht bewusst.

„Seit Worte wichtiger geworden sind als Physis und Materie, die zuvor unschuldig waren, bleibt uns nur der Traum von den paradiesischen Zeiten, als der Körper noch frei war und Gefühle mit Muße empfi nden und genießen konnte. Jede Revolte wird künftig von den fünf Sinnen ausgehen müssen!“ Michel Serres1

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Luis Barragán: Casa Gilardi, 1975–77. In Luis Barragáns Bau-ten wird Licht durch farbige Gläser oder die Refl ektion an far-bigen Wandscheiben gleichsam materialisiert. Juhani Pallasmaa beschreibt dieses Licht als ‚far-bige Flüssigkeit‘, die die Raum-konturen verschwimmen lässt. In diesem Fall verstärkt das Was-serbecken am Fuß der Wand-scheibe den Eff ekt zusätzlich.

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Prof. Juhani Pallasmaa (geb. 1936), Architekt SAFA, Hon. FAIA, gründete 1983 sein eigenes Architekturbüro Juhani Pallasmaa Architects in Helsinki. Er hat an Hochschulen in Europa, Nord- und Südamerika, Afrika und Asien ge-lehrt und Bücher und Aufsätze über Architekturphilosophie und –kritik in 25 Sprachen veröff entlicht. Juhani Pallasmaa war Professor und Dekan der Tech-nischen Universität in Helsinki (1991-97) und Direktor des Finnischen Architek-turmuseums (1978-83). 1999 wurde der mit dem Preis für Architekturkritik der Union Internationale des Architectes (UIA) ausgezeichnet.

Bei Nacht aber verschwindet die uns umgebende Welt nicht, son-dern existiert erfahrungsgemäß in gleichem Maße weiter. Ein Raum oder Ort bleibt in unserer Erinnerung also vollständig als räumliches, verinnerlichtes und multisensorisches Phänomen und nicht nur als Abbild auf der Netzhaut unseres Auges beste-hen. Es steht daher außer Frage, dass der gesamte Körper durch die Augen sieht und mit ihnen zusammenwirkt.

Auch die moderne Neurowissenschaft liefert zunehmend Informationen über die außergewöhnliche Verbundenheit der einzelnen Sinnesbereiche im Gehirn. Die unerwartete Flexibilität des sensorischen Systems wurde vor allem bei Untersuchungen an blinden Menschen festgestellt. „Die Welt der Blinden bzw. Seh-geschädigten scheint an solchen intersensorischen, metamoda-len Zwischenstadien besonders reich zu sein, die sich kaum in Worte fassen lassen“, so Oliver Sachs.

Obgleich die Architektur seit jeher – und nach wie vor – als primär visuelle Disziplin betrachtet wird, ist den multisen-sorischen Aspekte von Räumen, Orten und Gebäuden zuletzt immer mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden. Ein Gebäude ist heute nicht mehr bloßes visuelles Abbild; vielmehr konfron-tieren wir es sofort mit all unseren Sinnen. Wir erleben es als wichtigen Teil unserer Welt und nicht als ein von uns losgelöstes Objekt. Das Gebäude besteht aus dem gleichen „Weltstoff “ wie wir selbst. Jedes Bauwerk hat spezielle auditive, haptische, olfak-torische und sogar geschmackliche Eigenschaften, die seiner visu-ellen Wahrnehmung ein Gefühl von Vollständigkeit und Leben verleihen, ebenso wie uns auch Gemälde alter Meister mit all unseren Sinnen ansprechen.

Der Lichtkünstler James Turrell spricht von der ‚Dinglich-keit des Lichts‘: „Ich schaff e grundsätzlich Räume, die das Licht einfangen und für unser physisches Empfi nden festhalten […]. Es ist […] eine Erkenntnis, dass die Augen berühren und füh-len. Wenn man die Augen öff net und diese Empfi ndung zulässt, kommt die Berührung aus den Augen wie ein Gefühl.“ James Turrell zufolge sind die heute üblichen Beleuchtungsstärken so hoch, dass sich die Pupillen verengen. Doch „off ensichtlich sind wir nicht für dieses Licht, sondern für die Dämmerung geschaf-fen. Dies bedeutet, dass sich unsere Pupillen erst bei sehr gerin-ger Lichtstärke erweitern. Erst, wenn das geschieht, beginnen wir das Licht tatsächlich ähnlich einer Berührung zu spüren.” James Carpenter, ein anderer Lichtkünstler, stellt eine ähnliche

Behauptung wie Turrell auf: „Dass etwas Immaterielles fühlbar ist, fi nde ich höchst außergewöhnlich. Obwohl das Licht nur eine elektromagnetische Welle ist, die durch die Netzhaut geht, ist es dennoch spürbar, wenngleich nicht in dem Sinne wie bei einem Gegenstand, den man aufnehmen oder greifen kann […]. Unser Auge interpretiert das Licht und verleiht ihm eine gewisse Substanz, die in Wirklichkeit gar nicht da ist.“

Licht ist für die menschliche Erfahrung nicht existent, bis es von einem Raum umgeben ist, von dem Gegenstand, den es beleuchtet, konkretisiert wird oder durch ein Medium wie Nebel, Dunst, Rauch, Regen, Schnee oder Frost in eine Substanz oder farbige Luft verwandelt wird. „Die Sonne weiß nie, wie groß sie ist, bis ihr Strahl auf eine Wand oder in ein Gebäude fällt“, for-muliert Louis Kahn poetisch. Der emotionale Eff ekt des Lichts intensiviert sich deutlich, wenn man es als imaginäre Substanz wahrnimmt. Alvar Aaltos Bauten refl ektieren das Licht häu-fi g durch gekrümmte weiße Flächen, deren chiaroscuro dem Licht Plastizität, Körperlichkeit und erhöhte Präsenz verleiht. Die engen Dachschlitze von Tadao Ando und Peter Zumthor zwingen das Licht in dünne gerichtete Streifen, die mit der rela-tiv dunklen Umgebung kontrastieren. In den Bauwerken Louis Barragans wie der Kapelle für die Capuchinas Sacramentias ver-wandelt sich das Licht in eine warme, gefärbte Flüssigkeit mit nahezu klangvollen Eigenschaften, die man fast wie einen ima-ginären Summton hören kann – der Architekt selbst beschreibt dies als „inneres, sanftes Murmeln der Stille“. Die farbigen Fen-ster der Kapelle von Henry Matisse in Vence und viele der Licht-werke James Turrells verwandeln das Licht in ähnlicher Weise in farbige Luft und evozieren ein Gefühl sanfter Hautberührung, so als tauche man in eine transparente Substanz ein.

Wir leben zugleich in zwei Welten: derjenigen der Kultur, der Ideen und Absichten und in der physischen Welt der Mate-rie und der Sinneswahrnehmungen. Die mentale und die phy-sische Welt bilden ein Kontinuum, eine existenzielle Singularität. Es ist die grundlegende Aufgabe der Architektur, „sichtbar zu machen, wie uns die Welt berührt“, wie Merleau-Ponty über die Gemälde Paul Cézannes schreibt. Von allen Materialien und Möglichkeiten, dieser Berührung der Welt Ausdruck zu ver-leihen, ist Licht die emotionalsten und sinnlichste; Licht und Schatten können Melancholie und Trauer ebenso kommunizie-ren wie Freude und Ekstase.

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TAGESLICHT Ein Geschenk der Natur: Tageslicht und wie es in der Architektur genutzt wird.

DAS UNBEWUSSTE UND DAS LICHTDie Arbeiten von Philippe Rahm

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Wenn die übliche Klassifi zierung eines außer-gewöhnlichen Werks oder Autors proble-matisch wird, schwindet die Fähigkeit der Künste, Inhalt und Zeitgeist übergreifend zu erfassen. Von größter Bedeutung bleibt in diesem Moment entstehender Leere, dass Details ihre Grenzen überschreiten und Sinn-bild des Gesamten werden. Werk und Künst-ler treten in den Hintergrund, um etwas viel Existenzielleres freizugeben, das die Kultur in ihrer Gesamtheit belebt. Häufi g manifestiert sich eine Verbindung, in der Gattungen und Kategorien an Bedeutung verlieren, graduell

– durch scheinbar marginale Phänomene und fast immer nahezu unmerklich in Bereichen, wo das Ungewöhnliche die Herrschaft über-nimmt und ganze Epochen für neue Erfah-rungen öff net.

Philippe Rahm ist ein zeitgenössischer Künstler, der sich nur schwer einordnen lässt: Als Verfechter freier Selbstbestimmung verfolgt er unbeirrt eigene Ausnahmere-geln, arbeitet mit großer Schaff ensfreude auf unterschiedlichsten Gebieten und ist daher bei all jenen umstritten, die eine Tren-nung und Klassifi zierung der Künste befür-worten. Viele betrachten Philippe Rahm als

Architekten, andere als Künstler und wie-der andere als Theoretiker. Dies ist sicherlich kein seltenes Phänomen, denn vielen Autoren widerfuhr ein ähnliches Schicksal: Ist die maß-gebliche Schaff enskraft in einer bestimmten Fachrichtung anerkannt, bewegt man sich in anderen Bereichen zunächst auf dünnem Eis und wird mit Skepsis betrachtet. „Er ist kein Filmemacher, sondern Schriftsteller“, urteilten beispielsweise Filmexperten über Alain Robbe Grillet, so dass dieser großartige Autor, einem ausgewählten Publikum durch-aus bekannt, seine Bestimmung in der Lite-ratur fand.

Mit Hingabe und Obsession versucht Philippe Rahm seit vielen Jahren, seine eigene Position in der Architektur zu festi-gen, obgleich viele diese für undefi nierbar halten. Für uns von vorrangigem Interesse sind die Beharrlichkeit Rahms, mit der er sich stereotypischen Architekturformen wider-setzt, und die Reaktion der Architektur auf seine interdisziplinären Ansätze in Theorie und Praxis. Als Ausgangspunkt dieser Ana-lyse dient uns das Lichtverständnis Rahms, das sich in einigen seiner jüngsten Werke off enbart.

Von Federico Nicolao

In seinen Entwürfen und Installationen erforscht der Schweizer Architekt Philippe Rahm die Beziehungen zwischen architektonischem Raum, physikalischen Phänomenen und der menschlichen Physis. Er verrin-gert den Sauerstoff gehalt der Atemluft und setzt den Betrachter extremer Helligkeit aus, um ihn in rauschhafte Zustände zu versetzen; er gliedert Gebäude in „Klimazonen“ statt nach funktionalen Aspekten, und er konzipiert Apparaturen, die den Tag zur Nacht und den Winter zum Sommer werden lassen. Durch seine Arbeit öff net Philippe Rahm sich und anderen neue Sichtweisen auf die scheinbar festgefahrenen Rahmenbedingungen der Architektur.

S. 14-16: Diurnisme, Installa-tion im Musée National d’Art Moderne – Centre Pompidou, Paris 2007. In dieser Installa-tion macht Philippe Rahm buch-stäblich den Tag zur Nacht: Die Leuchtstoff röhren strahlen ein orange-gelbes Licht mit Wellen-längen über 570 Nanometern ab, das die innere Uhr des Menschen auf ‚Schlaf’ programmiert. Der Raum lebt von seinem inneren Widerspruch: Die Lichtfarbe ent-spricht dem natürlichen Licht bei Nacht, die Lichtintensität dage-gen derjenigen bei Tag.

Die Grenzen des Sichtbaren und der Beginn des UnbewusstenWir können ein Gebäude nur so exakt wahr-nehmen, wie unsere teilweise Rekonstruktion seiner mentalen und physischen Räumlich-keit reicht. Dies zu akzeptieren und zu zeigen sollte die Hauptaufgabe der Architektur sein, um so die willkürliche Größe von Raum und Grenzen zu off enbaren. Was bedeutet diese Festlegung für die Gebäude, künstlerischen Installationen und Studien dieses jungen Schweizer Architekten? Stößt er durch sie an seine Grenzen? Der Name Rahm ist unweiger-lich mit der Erneuerung und Weiterentwick-lung architektonischer Regeln verbunden, die für ihn keine Zielsetzung mehr, sondern mysteriöser Ausgangspunkt sind.

Das Potenzial eines Raums lässt sich nie-mals durch das Auge allein erfassen, weder durch reale Wahrnehmung seiner Maße noch durch geistige Vorstellungskraft, die im Wirken des Architekten eine Welt ent-stehen lässt. Die visuelle Wahrnehmung gilt in der Architektur allgemein als dominanter Faktor und kann für das Verständnis der fundamentalen Rolle von Körper und Raum durchaus hilfreich sein. Andererseits führt

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eine Beschränkung allein auf das Sichtbare zur Unterminierung der Identität und zum Verlust der sinnlichen Wahrnehmung in der Architektur. Die Architektur kann sich nicht länger – und konnte sich nie – damit zufrie-dengeben, allein mit ihrer unmittelbaren und off ensichtlichen Seite identifi ziert zu werden. Vielmehr gilt es, die Architektur neu zu defi -nieren und zu ihren Ursprüngen und Grund-lagen zurückzukehren. Ist es vielleicht das, was das traditionelle Architektendenken an Rahms Werken stört? Die Grundlagen dieses Fachgebiets werden regelmäßig neu erarbei-tet, sei es durch grundsätzliche Erkenntnisse, abenteuerliche Denkanstöße oder notwen-dige Veränderungen bei der Beurteilung der Art und Weise, wie der Mensch einen Raum erleben und mental erfahren kann. Häufi g setzt das Überschreiten anerkannter Regeln eine Rückbesinnung auf den schöpferischen Ursprung einer Disziplin voraus.

„Der König ist nackt”: Die Werke Rahms verdeutlichen auf verblüff ende Weise, dass die direkte und zentrale Bedeutung von Temperatur, Luftfeuchte und Licht für die Architektur in der Praxis immer noch nicht ausreichend berücksichtigt werden, auch

wenn sich jede Baukunst seit der Antike an diesen Parametern orientiert. Diese Aspekte werden eher als technische Details betrach-tet denn als wesentliche architektonische Grundlage – das lässt zumindest die heutige Architektur in ihrer Umsetzung vermuten.

Eine Architektur, die sich auf diese ihre Grundlagen rückbesinnt und so neue Impulse für die Gestaltung des Architekturstudi-ums liefert, würde das Leben der Menschen unmittelbar und entscheidend beeinfl ussen. Dennoch beschäftigen sich Theoretiker und Praktiker in der Architektur nur selten mit diesen Kriterien als solchen, und so gut wie nie sind diese Themen Gegenstand der tech-nischen Architekturlehre. Warum aber nicht die Uhr zurückdrehen und die Studenten von heute dazu bewegen, spezifi sche Analysen dieser Faktoren als Ausgangsbasis für ihre Arbeiten zu nehmen? Von diesem Ansatz überzeugt, leitet Philippe Rahm als Dozent seine Schüler dazu an, das paradoxe schöp-ferische Wesen des Realen und das myste-riöse Verhältnis zwischen Sichtbarem und Unbewusstem zu erforschen.

Ausgangsthese ist, dass quasi alles, was die konkrete Erfahrung eines Raums aus-

macht, in einer propädeutischen Randstudie darstellbar ist, dass sich aber das existen-zielle Wesen all dessen, was in der Architek-tur nicht unmittelbar ersichtlich ist, niemals wirklich erfassen lässt. Werden sich somit womöglich – nicht zuletzt dank Philippe Rahm – endlich die notwendigen Forschungs-felder in der Architektur auftun, um diese Dis-ziplin langsam, aber sicher von innen heraus zu erneuern? Wird die Tatsache, dass jeder Architekt seine Aufmerksamkeit künftig von einer allgemeinen Analyse eines Gebäudes und seines Umfelds abwenden und sich statt-dessen mit seinen existenziellen Daseinsbe-dingungen befassen sollte, zur Entstehung neuer utopischer und provokanter Denkan-sätze führen?

Tag zur Nacht und Nacht zum Tag: Philippe Rahm und das LichtDie Einführung des elektrischen Lichts im 19. Jahrhundert führte durch die Beleuchtung der Städte bei Nacht zu einer grundsätzlich veränderten Raumwahrnehmung. Ähnlich einem immerwährenden Tag drang Licht in alle Ecken, Boulevards entstanden, und das Konzept von Arbeit und Zeit verwandelte

Links: Jour Noir, Projekt für die Straßen Szopy und Kamienna, Danzig 2006. Wie bereits in

‚Diurnisme‘ lässt Philippe Rahm auch hier den Tag zur Nacht wer-den. Straßen‚leuchten‘ mit über-großem, auf Temperaturen nahe 0°C gekühltem Schirm sondern eine unsichtbare elektroma-gnetische Strahlung ab, deren Charakteristik der des Nacht-himmels ähnelt. Zugleich ent-zieht die Temperaturdiff erenz dem Körper Strahlungswärme, so dass ein mit allen Sinnen spür-bares ‚Nachtgefühl‘ entsteht.

S. 20/21: Ghost, Ausstellungs-installation im Frac Centre, Orléans, 2005. Bei dieser Aus-stellungsinstallation spielt Philippe Rahm mit der unter-schiedlichen Sichtbarkeit von Objekten bei verschiedenen Lichtfarben. Das Konzept basiert auf Philippe Rahms Idee für eine Wohnung, deren drei Räume sich teilweise durchdrin-gen und jeweils nur innerhalb eines eng umgrenzten Licht-spektrums sichtbar (und nutz-bar) werden.

S. 22: Eternal Spring, 2005 (Philippe Rahm mit Michael Ter-man, Stephen Fairhurst und M. Raynault). Eine künstliche Jahreszeit, oder genauer: einen mehrere Monate währenden 15. Mai schuf Philippe Rahm 2005 mit dieser Installation. Die tägli-che Leuchtdauer und -intensität der Scheinwerfer entspricht genau der durchschnittlichen Sonnenscheinmenge an jenem Frühlingstag. Die Ausstel-lung begann am 12. März; die Besucher konnten beobachten, wie die Pfl anzen im Scheinwer-

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ferlicht früher austrieben als ihre Artgenossen außerhalb der Ausstellung.

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sich mit den uns allen bekannten Folgen im 20. Jahrhundert. „Rund um die Uhr” wurde zum Motto unserer Zeit. Nicht nur unsere Gewohnheiten, sondern auch die Funktionen und Prinzipien der Architektur haben sich in der Folge radikal verändert. Die Erschließung bestimmter Räume, die veränderte Nutzung anderer Räume, die präzise Verwendung von Materialien, das Ersinnen neuartiger Orte – all dies haben wir schlichtweg dem Einsatz des Lichts zu verdanken, wie Rahm betont..

Ausgehend von Refl exionen über die heutige Zeit und die künstliche Kontrolle der Lichtquellen gestaltete Philippe Rahm mit ironischer Provokation und wahrem Pionier-geist einen Saal im Centre Georges Pompi-dou: Die Installation Diurnisme versetzt den Besucher am helllichten Tag in eine künst-liche Nacht und vermittelt ihm durch von ihr ausgesandte Strahlung ein Gefühl der Schläf-rigkeit.

Rahms Stadtplanungsprojekt Jour noir (Vers un diambulisme) in den Straßen Szopy und Kamienna in Danzig (Polen) setzt Zeichen für die Architektur der Zukunft, indem sie den Tag mithilfe spezieller elektromagnetischer Strahlen gleichsam zur Nacht macht. Rahm

propagiert hiermit eine Konzentration auf die Wirkung des Lichts, aber nicht als archi-tektonisches Symbol oder Gestaltungsmit-tel, sondern um die Grenzen der Zeitlichkeit zu überwinden.

Wie kann das Licht als Grenzfaktor ein-gesetzt werden – nicht im Sinne räumlicher Beschränkung, sondern durch Öff nen und Schließen eines Raums, nicht als neben-sächliches Phänomen, sondern als unend-licher und immerwährender Eintritts- und Fluchtpunkt? Das Licht, sei es natürlich oder künstlich, durchdringt einen Ort und verän-dert ihn in Form, Dichte, Zweck und Struk-tur. Es wäre daher ein unverzeihlicher Fehler, sich auf den ersten Eindruck zu verlassen. Für die wachsende Erkenntnis, dass das Licht die Architektur nicht nur in rein visuellem Sinne beeinfl usst, waren mehrere Werke Rahms jüngeren Datums bahnbrechend.

Wie zufällig und häufi g unbemerkt defi -niert Rahm auf durchaus provokative Weise das künstliche Licht neu, um die Grenzen unseres von Natur aus eingeschränkten Sichtfelds zu überwinden. In der Architek-tur kann durch Leere eine Welt in der Welt geschaff en werden; eine minimale Verände-

rung genügt, um innerhalb eines Raums einen anderen Raum zu schaff en, eine gewisserma-ßen unwiderrufl iche Transformation hervor-zurufen und ein neues, andersartiges Gefühl für den Raum zu entwickeln. Bereits seit den ersten mündlich oder schriftlich überliefer-ten Anfängen der Architektur neigen wir zu einer übermäßigen Abstraktion aller fl üch-tigen, nicht greifbaren Phänomene, obgleich diese zweifellos für das konkrete, absolute Erfahren und Erleben eines Raums von ent-scheidender Bedeutung sind.

Grenzüberschreitungen: Eine neue Sichtweise auf die ArchitekturWarum ist es eigentlich so schwierig, die Werke Philippe Rahms zu beschreiben? Warum sie nicht einfach als architektonische Kunst verstehen?

Weder in mündlicher noch in schriftlicher Form, weder durch Fotografi e noch Zeich-nung lässt sich die physische Erfahrung der von ihm geschaff enen Räume adäquat wie-dergeben – ein Kriterium, das für jede Form der Architektur gelten sollte. Bei ausschließ-licher Beschäftigung mit dem Lichtverständ-nis Rahms besteht allerdings die Gefahr, die

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kel nur beiläufi g berücksichtigten Aspekte könnten somit zu Bestimmungsfaktoren in der modernen Architektur werden. Rahms scheinbar utopischer Forschungsansatz ist in Wirklichkeit eine Forderung nach neuen Möglichkeiten in der Zukunft.

Raum-Utopien und die Rückkehr zum KonkretenWie aber soll ausgerechnet die Architektur vermitteln, wie viel Verborgenes, wie viel Bewegung und wie viel nicht auf die Theorie Reduzierbares in jedem realen Ansatz steckt? Diese Frage bleibt off en und ist keinesfalls leicht zu beantworten. Die Antworten Rahms hierauf sind nicht universal, sondern betref-fen Teilaspekte; sie sind persönlich, fundiert und durchaus geeignet, gewisse Prinzipien in der Architektur ins Wanken zu bringen.

Die Unmittelbarkeit und Schnelligkeit architektonischer Studien, die überwie-gend auf Form und Zuschnitt und somit auf der Abstraktion des Raums basieren, haben in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung verloren. Die Architektur darf sich nicht mehr ausschließlich dem Urteil des Auges aussetzen; vielmehr gilt es, in die unbegrenzten Gebiete der Forschung vorzu-dringen, um die Wahrnehmung eines Raums neu zu erfi nden – eine der größten Herausfor-derungen für die moderne Architektur.

Die Analyse des Unbewussten (das, wie schon die antiken Völker wussten, den Din-gen nicht nur Form und Struktur gibt, son-dern vielmehr all jenes umfasst, das ihnen Energie, Zeitlichkeit und Vergänglichkeit verleiht) ist das zentrale Anliegen Philippe Rahms. Sich dieser Herausforderung mit Iro-nie und Intuition zu stellen, bedeutet aller-dings auch, vorsichtig – aber nicht minder bestimmt – hervorzuheben, dass das von der

direkte Begegnung mit seinen Werken zu banalisieren, die bei unmittelbarer Betrach-tung eine schwer zu erfassende, lebhafte und mysteriöse Wirkung auslösen. Ist es nicht zunächst das Sehvermögen, das beim Betrachten der Werke Rahms in Zweifel gezogen wird?

Gründliche Analysen von Phänomenen wie Luftfeuchte und Licht in der Architek-turgeschichte könnten und würden sicher-lich belegen, dass viele Häuser, Viertel und manchmal gar ganze Städte heute völlig anders aussähen bzw. das Schicksal ganzer Länder oder der Zeitgeist ganzer Epochen hätten beeinfl usst werden können. Auch die Temperatur wirkt sich seit jeher auf die For-men menschlichen Wohnens aus und eröff net hierbei immer wieder neue, überraschende Möglichkeiten. Wie aber kann man festle-gen, inwieweit sich die Architektur anhand solcher Faktoren defi nieren lässt, ohne den Aspekt des Sichtbaren zu vernachlässigen und gleichzeitig neue Fragen und Entwick-lungsideen aufzuwerfen?

Philippe Rahm widmet sich mit Pas-sion, gleichzeitig aber auch mit scheinbarer Naivität, Muße, Leichtigkeit und Ironie der Erforschung des Raums. Dabei beharrt er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen darauf, sich nicht von allgemeinen Prinzipien ein-schränken zu lassen, die sein Wirken und Schaff en unwiderrufl ich erstarren ließen. Die Idee, Faktoren wie Licht, Luftfeuchte und Temperatur ließen sich auch anders als in der gewohnten, technisch-funktionalen und

„dienenden“ Form einsetzen, führt Rahm zu der Überzeugung, dass alle innovativen Ent-wicklungen und belegbaren Erkenntnisse in diesem Bereich Denkanstöße für neuartige Gebäudeformen und Lösungen sein können. Solche derzeit unter technischem Blickwin-

internationalen Architektengemeinschaft gegenüber fundamentalen Neuerungen bezeugte Interesse allzu häufi g auf Zweck-mäßigkeit bedacht ist und vielfach Modeer-scheinungen unterliegt.

Solche Aspekte sind nicht nur für den Planungsprozess, sondern auch für unser Leben von grundsätzlicher Bedeutung und werden dennoch von vielen gerne auf einen politisch korrekten Inhalt reduziert. In den Werken Rahms werden sie – mit Ironie insze-niert – unvermittelt zu zentralen Themen. Er begegnet ihnen mit einem gleichsam litera-rischen, manchmal gar utopisch anmutenden Ansatz, lässt sie aber genau hierdurch ihre realistische Wirkung erzielen. Denn es ist kei-neswegs sein Ziel, das Angst und Schrecken erregende Bild einer Stadt der Zukunft zu entwerfen, in dem sich die von Rahm ledig-lich als Provokation verstandene Nutzung des Lichts (mit all ihren Folgen) tatsächlich manifestiert.

S. 23: The medium is the message, Luxemburg 2007. Mit Raumgren-zen der besonderen Art setzt sich Philippe Rahm hier auseinander: Bei Peep-Shows sind Betrachter und Objekt der Begierde meist durch Glasscheiben getrennt. Rahm schlägt vor, diese durch eine durchlässige Barriere aus Licht zu ersetzen, die einerseits das Sehbedürfnis befriedigt und andererseits den Melatoninaus-stoß im Gehirn blockiert, was wiederum die Libido anregt.

Gegenüber: 18 Diurnes for the piano (nach John Field), 2007. Der Ire John Field (1782-1837) gilt als ‚Erfi nder‘ der Nocturnes, eines Musikgenres, das später von Frédéric Chopin weiter per-fektioniert wurde. Für ‚Diur-nisme‘ (S. 14-16) verwendete Philippe Rahm eine Inversion der Partitur von Fields ‚Nocturnes‘ als Begleitmusik.

Federico Nicolao, Schriftsteller und Philosoph, ge-boren 1970 in Genua, lebt abwechselnd in Paris und Italien. Er war Programmdirektor im Museum für mo-derne Kunst der Stadt Paris 2004 sowie im Picasso-Museum in Antibes 2005. Als Ausstellungskurator oder Diskussionsleiter arbeitete er mit zahlreichen in-ternationalen Institutionen zusammen, unter ande-rem mit dem Nationalmuseum Marc Chagall in Nizza, der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart, dem CCA im japanischen Kitakyushu und dem Internationalen Zentrum für Kunst und Landschaft in Vassivière. Er leitet die von ihm gegründete Zeitschrift ‚Chorus una costellazione‘ und übersetzte zahlreiche Autoren ins Italienische.

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Interior Weather, Installation am Canadian Centre for Archi-tecture, 2006. In dieser Installa-tion entwirft Philippe Rahm eine

‚Mikro-Geographie‘ aus künst-lichen, sich ständig ändernden Wettereinfl üssen: Die Raum-temperatur, Ort und Intensität der Lichtquelle sowie die Luft-feuchtigkeit sind in stetigem Fluss. Im Raum entstehen – wie beim ‚richtigen‘ Wetter in der Natur – kleine Tiefdruckzonen, Luftturbulenzen und Tempera-turunterschiede.

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Eine Camera obscura ist nichts anderes als ein völlig dunkler Raum beliebiger Größe mit nur einer kleinen Öff nung nach außen. Die winzige Lichtmenge, die in diesen geschlossenen Raum ein-dringt, erzeugt auf dessen Wänden ein auf dem Kopf stehendes Abbild der Außenwelt. Je kleiner die Öff nung, umso schwächer, aber auch umso schär-fer erscheint die Projektion. Eine größere Öff nung erzeugt ein helleres, gleichzeitig aber unschärferes Bild.

Abelardo Morell

Camera Obscura-Aufnahme der Kirche Santa Maria della Salute im Schlafzimmer eines Palazzo, Venedig, Italien

Foto: Abelardo Morell www.abelardomorell.net

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FENSTER ZUR WELT

REFLEKTIONEN Neue Perspektiven: Ideen abseits der Alltagsarchitektur.

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Von Nicholas Wade

Sind unsere Augen ‚Fenster’ zur Außenwelt? Senden sie Sehstrahlen aus, die von den Objekten unserer Umwelt refl ektiert werden? Und warum ergeben zwei Bilder, im Gehirn miteinander kombiniert, eine Vorstel-lung vom Raum? Jahrhundertelang rätselten die Forscher über die Funktionsweise unseres Sehsinns, und selbst in Zeiten der modernen Neurowissenschaft sind einige Fragen, die sie aufwarfen, von unverän-derter Aktualität.

Als Leonardo da Vinci das Auge ein ‚Fenster zur Seele’ nannte, wusste er nur wenig über den Vorgang einer solchen spirituellen Illumination. Wie Leonardos Zeichnungen zeigen, konnte er die optische Funktionsweise des Auges in der Tat nicht einschät-zen. Zwar verglich er das Auge mit einer camera obscura, inver-tierte die Richtung der Strahlen aber zweimal, um – wie unser Auge – ein aufrechtes Bild zu erzeugen. Leonardo ließ sich von zwei Aspekten der Sehkraft täuschen – ein Irrtum, dem auch heute noch viele unserer Zeitgenossen unterliegen: Er dachte, das Sehen fände im Auge, nicht im Gehirn statt. Licht fällt durch die transparenten Teile des Auges ebenso wie durch Fen-sterglas oder eine Kameralinse, bevor es auf die Netzhaut triff t. Vergleichbar mit der Glaslinse einer Kamera, fokussiert die kri-stalline Linse in unserem Auge das Licht. Die Oberfl ächen aber, welche die fokussierten Bilder refl ektieren, unterscheiden sich deutlich. Während es sich bei der Netzhaut um eine dynamische und komplexe biologische Struktur handelt, ist jeder Film (oder der Sensor einer Digitalkamera) statisch und einfach struktu-riert. Durch das Licht wird die chemische Zusammensetzung von Stäbchen- und Zapfenrezeptoren in der Netzhaut umge-wandelt, so dass sich das Ionengleichgewicht der nachgeschal-teten Zellstrukturen verändert und einen Nervenimpuls auslöst, der über den Sehnerv ans Gehirn weitergeleitet wird.1 Im Auge gibt es keine Blende; es agiert vielmehr dynamisch und konti-nuierlich, nicht in Zeitsequenzen. Das Bild in einer Kamera bedarf einer chemischen oder elektronischen Bearbeitung, um es sichtbar zu machen – abgesehen davon aber muss unser Auge es auch erfassen können.

Die Funktion der Rezeptoren im Auge ist uns heute recht genau bekannt. Dieses Wissen basiert auf Untersuchungen der elektrischen Aktivität in den Sehbahnen. So hat zum Beispiel Ragnar Granit (der im Jahre 1967 mit dem Nobelpreis ausge-zeichnet wurde) nachgewiesen, dass es drei verschiedene Arten von Zapfenrezeptoren gibt, die auf kurz-, mittel- und langwel-liges Licht reagieren. Dennoch ‚sieht’ das Auge nicht wirklich, sondern übermittelt neurale Signale an das menschliche Gehirn zur Weiterverarbeitung. Auch über die Abläufe im visuellen Kor-tex wissen wir heute dank ähnlicher Messtechniken, die die elek-trische Aktivität einzelner Nervenzellen ermitteln, weit besser Bescheid als zu Leonardos Zeiten. Pioniere dieser Aufnahme-techniken waren David Hubel und Torsten Wiesel, die hierfür

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Wenn das Heft hin und her geneigt wird, entsteht im Bild links eine scheinbare Wellenbe-wegung. Wie das menschliche Gehirn auf diese Moiré-Eff ekte (und auf andere Eigenschaften von Mustern wie Farbe, Bewegung und Richtung) reagiert, hat Semir Zeki, einer der Pioniere der visuellen Neurowissenschaften, unter-sucht. Zekis Porträt ist dem Bild als Schattenriss hinterlegt.

1981 den Nobelpreis erhielten. Ihnen gelang der Nachweis, dass einzelne Zellen auf einfache Lichtmuster reagieren, die auf die Netzhaut fallen – zum Beispiel auf Linien in einem spezifi schen Winkel, die sich in bestimmten Richtungen bewegen. Somit werden die komplexen auf die Netzhaut treff enden Lichtmu-ster off enbar in simple Linienstrukturen bzw. einzelne Elemente zerlegt, um deren Verarbeitung im Gehirn zu ermöglichen.2 .

blick ins gehirn: methoden der neurowissenschaftDas Spektrum der Neurowissenschaft hat sich seit den Tagen, in denen einzelne Zellen bei narkotisierten Tieren untersucht wurden, beträchtlich erweitert. So wurden nicht nur raffi niertere Techniken entwickelt, um die Aktivität von Gehirnzellen zu messen, sondern auch neue bildgebende Verfahren zur Regis-trierung neuraler Ströme wie die Positronen-Emissions-Tomo-graphie (PET) und die Magnetresonanztomographie (MRI) gefunden. Beide Methoden wandeln lokale Hirnsignale in ein Hirnmodell um, das anschließend am Computer ‚in Scheiben geschnitten’ und gedreht werden kann. Auf diese Weise lassen sich die Aktivitäten unterschiedlicher Hirnbereiche der Wahr-nehmung und Erkennung zuordnen. Weil bei PET-Aufnahmen kurzzeitig radioaktiv markierte Substanzen eingesetzt werden müssen, kann an einer Person nur eine begrenzte Anzahl von Messungen vorgenommen werden. Bei MRI-Aufnahmen gibt es diese Einschränkung nicht: Hier wird die Person einem starken Magnetfeld ausgesetzt, das die atomaren Teilchen in den Gehirn-zellen abgleicht. Zellen, die unter experimentellen Bedingungen aktiv sind, verbrauchen mehr Sauerstoff und können erkannt und dargestellt werden. Eine Alternative zur Registrierung der Gehirntätigkeit besteht darin, diese teilweise zu unterbinden – beispielsweise durch Transkraniale Magnetstimulation (TMS). Hierbei wird eine Magnetspule über einem bestimmten (normalerweise durch vor-herige MRI-Messungen ermittelten) Schädelbereich positioniert, die kurzzeitig unter Strom gesetzt wird. Das so erzeugte Magnet-feld ‚schockt’ eine bestimmte Hirnregion. Die Zeitsteuerung einer solchen TMS ist äußerst präzise und wird nach der Erken-nung gewisser visueller Stimulationen in bestimmten Interval-len ausgelöst. Da die Aktivität der betroff enen Hirnregionen nur kurzzeitig unterbrochen wird, behandelt man mit dieser Methode sozusagen ‚virtuelle’ Patienten.

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von euklid bis leonardo: die entdeckung der perspektiveKehren wir zu Leonardo Da Vinci zurück: Er unterschied zwi-schen natürlicher und künstlicher Perspektive – zwischen Wahr-nehmung und bildhafter Darstellung. Diese Unterscheidung traf vor ihm bereits Piero della Francesca. Anders als Leonardo beschäftigte Piero sich nicht mit Auge und Wahrnehmung, son-dern mit Bild und Perspektive. Er vermittelte Perspektivität durch mathematische Genauigkeit und stellte so in seinen Gemälden dreidimensional rekonstruierbare Räume dar.3

Sowohl Piero als auch Leonardo beschäftigten sich mit funda-mentalen Aspekten der räumlichen Darstellung in den Bereichen Wahrnehmung, Kunst und Architektur. Wie lassen sich drei

Dimensionen auf eine Ebene reduzieren? Hierzu bedienten sich die beiden Künstler der optischen Wissenschaft, insbeson-dere der Erkenntnisse des griechischen Mathematikers Euklid. Euklids Optik wies sowohl physikalische als auch psychologische Ansätze auf; die in seinen Skizzen dargestellten Strahlen reprä-sentieren nicht nur das Licht, sondern auch die Sicht. Den visu-ellen Raum beschrieb er mit Hilfe von Sichtwinkeln, um die räumliche Wahrnehmung geometrisch zu analysieren. Der Sicht-winkel eines Objekts verringert sich mit zunehmender Distanz zum Auge. Deshalb können Objekte unterschiedlicher Größe im Auge demselben Winkel entsprechen. Euklid zufolge müssten in der Abbildung alle Buchstaben und auch der Pfeil gleich groß erscheinen. Allerdings wusste Euklid nur wenig über die Funk-

dem berühmten Satz: „Ein Gemälde, selbst wenn es mit höchster Kunst und Perfektion hinsichtlich Kontur, Licht, Schatten und Farbe hergestellt wurde, kann niemals ein Relievo darstellen, wie dies natürliche Objekte zu tun vermögen.“ Mit anderen Wor-ten: Die Andeutung von Relief oder Tiefe beim Malen einer Szene – ungeachtet ihrer kunstfertigen Darstellung – wird sich immer von der wahrgenommenen Tiefe unterscheiden, welche die tatsächlichen Objekte im Bild voneinander trennt. Diesen Unterschied erkannte Leonardo, die Lösung dieses Problems erschloss sich ihm allerdings nicht. Schlüssel hierfür ist die Tat-sache, dass wir Szenen mit zwei Augen wahrnehmen, während ein perspektivisches Gemälde den Sichtwinkel nur von einem einzigen stationären Punkt einfängt. Leonardo setzte sich lange

tion des Auges. Er teilte die damals verbreitete Auff assung, dass das Auge Licht ausstrahlt und nicht empfängt – denn schließ-lich sähe man ja nichts mehr, wenn man die Augen schließt, weil dann kein Licht ausströmen könne! Der Pfeil durchdrang also nicht das Auge, sondern wurde von ihm projiziert.

In seiner Lehre der Optik defi nierte Euklid die Prinzipien der linearen Perspektive, und es verwundert kaum, dass seine Erkenntnisse von Piero und Leonardo so eifrig übernommen wurden. Leonardo erkannte aber auch den Unterschied zwischen natürlicher Perspektive (Wahrnehmung) und künstlicher (line-arer) Perspektive. Unsere Wahrnehmung folgt nicht dem Seh-winkel: Objekte scheinen nicht zu schrumpfen, wenn wir uns von ihnen entfernen. Diese Erkenntnis formulierte Leonardo in

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und intensiv mit dem Kontrast zwischen monokularer und bino-kularer Sicht auseinander.

‚albertis fenster’ und das räumliche sehenSo übernahm er das Konzept von Albertis Fenster, das eine mono-kulare Übereinstimmung zwischen Abbild und Ansicht einer Szene von einem bestimmten Standpunkt schuf. Was aber pas-siert bei zwei Betrachtungspunkten? Leonardo überprüfte dies viele Male anhand eines kleinen Gegenstands, den er vor einem bestimmten Hintergrund positionierte. Die zahlreichen Zeich-nungen, die er hiervon anfertigte, zeugen von seinem nachhal-tigen Interesse an diesem Phänomen. In jeder dieser Skizzen unterscheidet sich die Sicht mit zwei Augen optisch deutlich von

der Wahrnehmung durch nur ein Auge. Das von ihm genutzte Beispiel – das Betrachten einer Kugel mit einem kleineren Durch-messer als der Augenabstand – griff eine Untersuchung Euklids wieder auf, erweiterte sie jedoch um die Betrachtung des gesam-ten Hintergrunds.4

Leonardo widmete sich einem Anliegen, das bis heute noch in der virtuellen Realität (verstanden als Simulation der visuell wahrgenommenen Welt) aktuell ist. Wieder und wieder beschäf-tigte er sich mit diesem Problem und kam immer zum gleichen Schluss: Das, was er mit zwei Augen sah, konnte er nicht adä-quat auf Leinwand bannen. In der heutigen Terminologie vir-tueller Wirklichkeit ausgedrückt heißt das: Er konnte das, was er mit zwei Augen sah, nicht simulieren. Albertis Verfahren zur

Umsetzung von Sichtwinkeln auf gemalter Ebene simuliert die monokulare, nicht aber die binokulare Weltsicht auf einer Lein-wand.

Es liegt in der Ironie der Geschichte, dass sich ein Künst-ler, der die Zukunft wesentlich klarer voraussah als seine Zeit-genossen, durch Erkenntnisse der Vergangenheit beeinfl ussen ließ. Bei seinen binokularen Studien griff Leonardo auf eine Kugel zurück – ein Objekt, das auch Euklid bei seinen fl üch-tigen Betrachtungen zur Sicht mit zwei Augen nutzte. Mehr als dreihundert Jahre später vermerkte Charles Wheatstone: „Hätte Leonardo da Vinci anstatt einer Kugel ein komplexeres Objekt wie z. B. einen Kubus für seine Illustrationen genutzt, hätte er nicht nur erkannt, dass aus Sicht jedes einzelnen Auges nicht nur

ein anderer Teil des Gegenstands im weiter entfernten Blickfeld verborgen bleibt, sondern dass der Gegenstand als solcher sich jedem Auge als anderes Erscheinungsbild präsentiert. Dieses Versäumnis hat meines Wissens kein Gelehrter in der Folgezeit behoben.“ Im Jahr 1838 füllte Wheatstone selbst diese Lücke durch die Erfi ndung des Stereoskops, das in der Darstellung zusammen mit einem Porträt Wheatstones abgebildet ist. Das Stereoskop ist ein Instrument, mit dem sich geringfügige Unter-schiede bei der Betrachtung eines Gegenstands mit jeweils nur einem Auge nachweisen lassen. Weisen Darstellungen die Cha-rakteristika der Betrachtung durch das linke und das rechte Auge auf, gewinnt man den räumlichen Eindruck eines drei-dimensionalen und nicht mehr nur fl achen Bildes. Zur Erzie-

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4. Leon Battista Alberti (1404–1472) formalisierte die Prinzipien linearer Perspektive in seiner Schrift ‚Über die Malkunst’(1435). Zudem erfand er eine Methode zur Konstruk-tion von Perspektive mittels Betrachtung einer Szene durch ein Fenster: Die Konturen spiegeln sich im Glas wider.

1. Piero della Francesca (ca. 1412–1492) war nicht nur Mathemati-ker, sondern auch ein Meister der linearen Perspektive. Er entwickelte die hier abgebildete Distanzmethode, um die Dimensionen einer perspekti-visch gezeichneten Fliesenfl äche zu defi nieren.

2. Charles Wheatstone (1802–1875) erfand um 1830 das Stereoskop. Seine Erfi ndung bestand aus zwei zur Betrach-tungslinie im 45°-Winkel aus–gerichteten Spiegeln; auf zwei seitlichen Platten wurden Zeichnungen mit kleinen hori–zontalen Abweichungen angebracht. Ein einzelnes Objekt (wie z. B. die abgefl achte Pyra–mide) konnte so in räumlicher Tiefe gesehen werden.

3. Bildansichten einer kleinen Kugel durch zwei Augen anhand von Leonardos Skizzen. Hat die Kugel einen kleineren Durchmes-ser als der Augenabstand, kann mit beiden Augen zusammen der gesamte Hintergrund wahrge-nommen werden.

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Nicholas Wade ist Professor für Visuelle Psychologie an der schottischen Universität Dundee. In seinen Forschungsstudien beschäftigt er sich mit drei Hauptthemen: der Darstellung von Raum und Bewegung im mensch-lichen Sehen, der Forschungsgeschichte der visuellen Wissenschaft und dem Verhältnis zwischen visueller Wissenschaft und visueller Kunst.

lung dieser optischen Wirkung gibt es diverse Möglichkeiten. Wheatstones Stereoskop bestand aus zwei rechtwinklig ange-ordneten Flachspiegeln, welche die auf zwei Seitenarmen mon-tierten Figuren refl ektierten.5

Mit seiner Erfi ndung des Stereoskops konnte Wheatstone die binokulare Betrachtungsweise simulieren und eine virtuelle Realität schaff en, die dem Wunsch Leonardos nach einer bino-kularen Imitation der Natur sicherlich Genüge getan hätte. Mit Hilfe der Fotografi e gelang es Wheatstone, Sehwinkel exakter einzufangen und dreidimensionales Sehen zu simulieren.

Leonardos ‚Fenster zur Seele’ off enbarte eine einseitige Welt-sicht – eine Tatsache, die ihn nachweislich frustrierte. Warum bloß unterschieden sich die natürliche und die künstliche Per-spektive voneinander? Dieses Problem erschien ihm wie die Quadratur des Kreises. Die Lösung lag damals noch in weiter Ferne, aber endlich gefunden, revolutionierte sie unser Verständ-nis des Sehens. Wheatstone veränderte nicht nur unsere Sicht-weise von Bildern, sondern auch unser Bild der Sichtweise. Er etablierte räumliche Tiefe als fundamentales Phänomen bino-kularer Betrachtung und erkannte auch, dass bei der visuellen Wahrnehmung komplexe Prozesse im Gehirn ablaufen. Der Sehwinkel ist ein nützliches Hilfsmittel zur Erforschung der optischen Funktionsweise des Auges, kann aber allein nicht das defi nieren, was wir sehen.6 Heute wissen wir ein wenig mehr darüber, wie sich uns die Welt durch das Zusammenwirken zweier Fenster perspektivisch eröff net.

S. 32/33 Der ‚Pfeil im Auge’ ist eine Metapher für Perspektive und Wahrnehmung. Die Darstellung basiert auf Euklids Analyse von Licht und Sicht durch Sichtwinkel.

Unten Ragnar Granit (1900–1991) entwickelte die Mikroelek-trode zur Messung elektrischer Entladungen einzelner Zellen in der Netzhaut. Mit ihrer Hilfe konnte er unterschiedliche Aktivitäten für alle drei Zapfenarten im Auge (für kurz-, mittel- und langwelliges Licht) registrieren.

1 Nicholas J Wade: A Natural History of Vision. MIT Press Cambridge MA 1998. Nicholas J Wade: Image, eye, and retina. Journal of the Optical Society of America A 24 1229–1249 2007 2 David H Hubel und Torsten N Wiesel: Brain and Visual Perception. Oxford University Press Oxford 20043 Judith V Field: Piero della Francesca. A Mathematician’s Art. Yale University Press New Haven 20054 Nicholas J Wade, Hiroshi Ono und Linda Lillakas: Leonardo da Vinci’s struggles with representations of reality. Leonardo 34 231–235 20015 Nicholas J Wade: Brewster and Wheatstone on Vision. Academic Press London 19836 Nicholas J Wade: Perception and Illusion. Historical Perspectives. Springer New York 2005

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LICHT, RAUM UND ARCHITEKTURInterview mit Ahmet Gülgönen

TAGESLICHTIM DETAIL

Genauer hingesehen: Wie Tageslichtin Gebäude gelangt

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Interview von Frédéric Nantois

Unsere Wahrnehmung von Raum, Licht und Schatten hängt von der Kultur ab, in der wir aufgewachsen sind. Doch auch das Gegenteil triff t zu, wie der türkisch-französische Architekt Ahmet Gülgönen im folgenden Gespräch mit Daylight&Architecture erläutert: Licht und Schatten bestimmen, wie wir Raum wahrneh-men, ihn uns aneignen und ihn bewohnen. „Für mich“, sagt Gülgönen, „sind Raum und Licht Synonyme.“

Herr Gülgönen, das Thema unseres Gesprächs werden die Wahrnehmung von Raum, Licht und Schatten und deren kul-turelle Hintergründe sein. Zunächst einmal würde ich gern einen wich-tigen Punkt klarstellen. All die Dinge, über die ich in Bezug auf Raum sprechen werde, haben wir im Laufe der Jahre in unserer Arbeit ent-wickelt. Sie sind Teil unserer Wahrnehmung von Architektur. Ich arbeite seit 30 Jah-ren gemeinsam mit meiner Frau Florence Gülgönen in meinem Architekturbüro. All unsere Projekte spiegeln unseren Glauben an Architektur wider. Für die Räume, die wir entwerfen, sind konzeptuelle Hilfsmittel und Theorien notwendig. Aber umgekehrt müs-sen wir auch Räume entwerfen, um Theorien zu entwickeln und zu überprüfen.

Als nächstes möchte ich einige Defi niti-onen klarstellen. Sie haben gesagt „die Wahr-nehmung von Raum, Licht und Schatten“. Ich würde vorschlagen, dass wir das Thema ein wenig anders formulieren: es könnte von der Wahrnehmung von Raum als Licht und Schatten handeln.

Sind Licht und Schatten verschiedene Aspekte von Raum, oder ist der Raum Licht und Schatten?Ich bin der Ansicht, dass wir, um die Bedeu-tung dieser Begriff e zu erfahren, die Spra-che der einfachen Menschen berücksichtigen sollten, die Art und Weise, wie sie fühlen und über Dinge sprechen. Die Menschen verwenden das Wort ‚Raum’ nicht; dieser Begriff ist mehr oder weniger Teil des Fach-jargons der Architekten. Stellen Sie sich bei-spielsweise einen wunderbaren Ort wie die Hagia Sophia in Istanbul oder das Pantheon in Rom vor. Menschen, die sich an einen sol-chen Ort begeben, sagen: ‚Was für ein wun-

derbares Licht!’. Niemals würden sie sagen: ‚Was für ein außergewöhnlicher Raum!’ Nur ein Architekturkritiker würde sich so ausdrü-cken. Der Reichtum dieser Orte liegt in der Beschaff enheit ihres Lichts, neben anderen Eigenschaften, die wir durch das Licht wahr-nehmen: Oberfl ächen, Volumen, Strukturen und Farben.

Ich möchte damit hervorheben, dass Raum ein sehr weit gefasster und abstrakter Begriff ist. Außerdem ist es schwierig, den architektonischen Raum zu defi nieren. Für mich ist er nicht das Gegenteil eines Kör-pers. Raum ist nicht Leere, und eine Leere ohne Licht ist kein schwarzer Raum. Erst das Licht, das durch eine Öff nung hineinge-langt, verwandelt die Leere in einen Raum. Denn der Raum ist das Licht. Für mich sind Raum und Licht Synonyme; Lichtwahrneh-mung und Raumwahrnehmung entsprechen einander. Selbstverständlich spielen bei der Organisation eines Gebäudes andere Begriff e, wie Sequenzen, Übergänge und vieles mehr, eine Rolle. Doch selbst Raumfolgen können als Lichtsequenzen und als Lichtübergänge angesehen werden.

Der andere Aspekt der Defi nition von Raum als Licht besteht darin, dass Raum und Licht manipuliert werden können, um szenische Wirkungen zu erzielen, wie es bei-spielsweise in Verkaufsräumen oder Nacht-clubs geschieht. Dekoratives Licht ist je nach den Zwecken, zu denen es eingesetzt wird, veränderbar und vergänglich. Licht als Raum hingegen besitzt eine gewisse Beständig-keit, die auch seine Zyklen bei Tag und Nacht sowie im Laufe der Jahreszeiten einschließt. ‚Echtes‘ Licht ist gleichsam lebendig. Und weil es lebendig ist, verändert es sich in Abhän-gigkeit von den klimatischen Gegebenheiten von Stunde zu Stunde. Diese Veränderungen

beeinfl ussen wiederum die menschliche Psy-che und das Verhalten der Menschen.

Aber jetzt sprechen Sie von natürlichem Licht, wohingegen wir bei Gebäuden oft-mals künstliches Licht einsetzen.Es gibt kein künstliches Licht. Man könnte es allenfalls ‚künstlich erzeugtes’ Licht nennen. Je nach der Art und Weise, wie es erzeugt wird, kann es eine andere Dimension anneh-men. Es gibt Übergänge im Raum, und es gibt Übergänge im Licht, und künstlich erzeugtes Licht kann diese Übergänge deutlich machen. Dies ist also ein weiterer Aspekt des Lichts.

Andererseits sollten wir ebenso wenig von ‚natürlichem Licht’ sprechen, wie wir von ‚natürlichem Raum’ sprechen. Ich würde lieber die Begriff spaare ‚Außenraum/Außenlicht’ und ‚Innenraum/Innenlicht’ verwenden.

Ist Architektur künstlich erzeugter Raum? Fügt Licht dem Raum eine Dimen-sion hinzu?

Für mich ist Architektur existenziell. Es gibt einen Unterschied zwischen existen-ziellem Raum und dekorativem oder manipu-liertem Raum. Sie besitzen unterschiedliche Zyklen der Veränderung. Existenzieller Raum ist der Raum, der Teil der Menschen ist, Teil ihres Lebens, ihrer Existenz; dies gilt für jede Kultur. Er ist Teil der kosmischen Ordnung und daher wichtig für unsere Welt. Deshalb ist Architektur für mich kein künstlich erzeugter Raum. Raum existiert von sich aus, ebenso wie Licht existiert. Die Menschen können ihn lediglich verändern, neu defi nieren, neue Beziehungen zwischen Außen und Innen erschaff en und individuelle oder gemeinsame Teile davon mit unterschiedlichen Lichtdich-ten gestalten.

S. 36 Licht defi niert Räume, und erst durch Licht wird eine dunkle Leere zu Raum: Dieses Grundphä-nomen der Wahrnehmung lässt sich nicht nur in der Architektur beobachten, sondern auch in der Natur.

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Wie nehmen Menschen im Alltag Raum und Licht wahr, und wie wird in der all-täglichen Architektur mit Raum und Licht umgegangen?Auf existenzieller Ebene sind sie ein und das-selbe. Ein gutes Gebäude ist wie eine Sinfo-nie. Es besitzt eine bauliche Struktur und eine Struktur des Lichts. Teile davon können ver-änderlich sein und andere beständig, und das künstlich erzeugte Licht kann sogar weitere Dimensionen hinzufügen. Natürliches Licht lebt, und wenn wir diese lebendige Kraft auf kreative und durchdachte Weise einsetzen, werden wir in der Lage sein, Räume als Licht-sinfonien wahrzunehmen.

In unserer westlichen Welt tendiert die Industrie dazu, die Dinge zu vereinheitlichen. Sie bietet jedermann die gleiche Helligkeit. Elektrische Lampen sind in Bezug auf das Licht, das sie abgeben, ziemlich identisch geworden, da sich auch die Beleuchtungsin-dustrie in Richtung Vereinheitlichung bewegt. Diese Art der Produktion lässt sich leichter kontrollieren und ist fi nanziell lukrativer. Die Produkte werden standardisiert, es gibt Nor-men, die mehr oder weniger überall auf der Welt für jedermann gelten. Ich bin der Ansicht, dass diese Situation Architektur zerstört, da sie ihre Vielfalt verringert. Für mich besteht die Aufgabe der gegenwärtigen Architektur darin, Besonderheiten zu identifi zieren, Viel-falt zu erhalten und geeignete Räume mit geeignetem Licht ausfi ndig zu machen. Dies gilt auf allen Ebenen, von der Architektur bis hin zu städtischen Räumen.

Erkennen Sie in der Art und Weise, wie Architektur in einen Dialog mit Licht tritt, kulturelle Unterschiede?Licht ist Architektur, und Architektur ist Licht. Im Gefühl des Wohnens liegt eine existen-

zielle Kraft, Wohnen ist etwas Existenzielles. Selbstverständlich gibt es Gesellschaften auf verschiedenen Wohlstandsniveaus, deren Lebensgewohnheiten variieren. Doch wenn wir die grundlegende Frage stellen: „Was ist Licht, und was ist Raum?“, dann erkennen wir, dass wir ein und dasselbe Licht teilen, uns einen Teil davon zu Eigen machen und ihn neu defi nieren.

Ein Gebäude ist ein konkreter Gegen-stand; es wird erbaut, um Innenräume zu erschaff en und Außenräume neu zu gestal-ten. Es gibt zwei grundlegende Arten des Bauens; die eine ist durch massive Wände gekennzeichnet und die andere durch Ske-lettkonstruktionen. Bei der Massivbauweise ist die Hülle oder ‚Haut’ des Gebäudes Teil der tragenden Struktur. Beim Skelettbau kann

Agence APRAH: Sozialer Wohnungsbau am Boulevard de Charonne, Paris

„Innenhöfe sind Übergangsräume, sie fangen das Licht ein und fi ltern es, sie bieten eine gewisse Intimität und eine Art der Dichte“, sagt Ahmet Gülgönen im Interview. Sichtbar wird dieser Prozess an diesem Wohnungsbau, den Gülgönen 1989 mit seinem Büro Agence APRAH entwarf.

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die Hülle dagegen unabhängig von der last-tragenden Struktur sein.

Innerhalb dieser beiden Konzepte wen-den wir zwei verschiedene Prozesse an, um eine Öff nung in der Hülle herzustellen. Bei der Massivbauweise kämpfen wir mehr oder weniger darum, die Natur zu kontrollieren. Zunächst stellen wir einen geschlossenen Kubus her und schaff en so einen dunklen Raum oder eine Leere. Anschließend wird ein Loch in die Raumhülle gebrochen, eine Öff -nung, gerade so groß wie nötig. Diese Bau-weise führt zu Gebäuden, die Schutz und introvertierte Räume bieten.

Bei der Skelettbauweise befi nden wir uns stärker im Einklang mit der Natur, und wir erzeugen Grenzen des Raumes und des Lichts. In diesem Fall dienen die leichten Wände (die nur ihr eigenes Gewicht tragen) als Abgren-zungen, Filter oder Refl ektoren. Die Bezie-hungen zwischen Außen- und Innenräumen lassen sich kontinuierlicher gestalten, und es gibt einen weniger deutlichen Bruch zwi-schen beiden.

Den beiden Konstruktionsmethoden ent-sprechen also zwei Konzeptionen von Licht und der Symbolik, die mit dem Licht verbun-den ist – und, wenn man den Gedanken wei-terverfolgt, auch zwei unterschiedlichen kulturellen Herangehensweisen. Massivbau wird traditionell eher in Ländern angewandt, in denen Bäume selten sind und das Klima zu den Extremen neigt, wie beispielsweise in den Mittelmeerländern. Die Skelettbau-weise hingegen wurde in Ländern entwickelt, in denen Holz zur Verfügung stand und die klimatischen Schwankungen weniger aus-geprägt waren. Diese Unterschiede sind existenziell. Sie sind in der Architektur des einfachen Menschen, in seinen Häusern und Tempeln oder Kirchen erkennbar.

Ist Architektur eine Methode, Schatten zu erzeugen?Wir erzeugen ebenso wenig Schatten, wie wir Licht erzeugen. Indem wir Baumateri-alien auf die eine oder andere Weise nutzen, richten wir das Licht aus und kontrollieren es, wir lassen es ins Innere eines Gebäudes gelan-gen oder nicht. Mit Hilfe von Oberfl ächen und Volumen erzeugen wir Filter und Hindernisse für das Licht. Doch das Licht ist da, es tritt in einen Dialog mit den Oberfl ächen. Indem es dies tut, wird es Teil unseres Daseins, Teil unserer Freude oder Traurigkeit.

Architektur ist Licht und Schatten. Schat-ten und Licht sind zwei Seiten einer Medaille. Man kann Licht nicht ohne Schatten defi nie-ren. In dieser Hinsicht kommt der Architek-tur eine Art Vermittlerrolle zu; sie schaff t die Voraussetzungen dafür, dass Licht und Schatten auf harmonische Weise zusammen-wirken. Sowohl Licht als auch Schatten bedin-gen unser Leben; Schatten erzeugt Intimität, um Ruhe zu fi nden, wohingegen das Licht die Menschen zusammenbringt, um das Leben zu teilen.

Architektur ist eine Synthese aus Licht, Raum und Struktur. Die Architektur, der wir unser Schaff en widmen, wird aus die-ser Synthese heraus geboren. Unsere Mate-rialien sind das lebendige Licht und die Dinge, die wir wahrnehmen, wie beispielsweise Oberfl ächenstrukturen, Materialien und Farben. Auf dynamische Weise empfi nden wir Architektur als Abfolge von Übergangs-räumen, in denen Schatten und Licht auf unterschiedlichen Ebenen – von der architek-tonischen bis hin zur städtebaulichen Ebene – zusammentreff en.

Ahmet Gülgönen hat an der METU in Ankara sowie an der University of Pennsylvania in Philadel-phia Architektur und Städtebau studiert. Anschlie-ßend arbeitete er im Büro von Louis Kahn. Vor fast 30 Jahren gründete Ahmet Gülgönen das Archi-tekturbüro APRAH (Atelier de Projet et de Recher-che en Architecture) in Paris, das er gemeinsam mit seiner Frau Florence leitet. Seit 1972 ist Ahmet Gülgönen als Dozent an der École d‘Architecture Paris-Belleville tätig. Er hat Vorlesungen an zahl-reichen Universitäten in Europa, in den USA und in Entwicklungs¬ländern gehalten und war Gast-dozent am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge/USA.

„Ein Fenster ist ein Übergangs-raum, ein Ort zwischen Innen und Außen.“ (Ahmet Gülgönen). Gerade die orientalische Archi–tektur hat diesen Übergang mit ihren ornamentalen Fenstergit-tern – hier am Grab des Humayun in Delhi – thematisiert.

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VELUX EINBLICKE Architektur für Menschen – Bauen mit VELUX.

SPÜRBARE SCHWEREUmbau eines Bunkers in Köln

S.41/42: Rund 5000 Tonnen Material verlor der Bunker während des Umbauprozesses. Der zum Hofi nneren gewandte Gebäudefl ügel lässt sein einstiges Volumen noch erahnen.

Im Tonnendach des Vorder-hauses sind zweigeschossige Maisonnette-Wohnungen mit eingehängten Emporen entstanden, die von beiden Seiten durch Dachfenster belichtet werden.

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Von Jørgen SøndermarkFotos von Constantin Meyer

Ein massiver Hochbunker in Köln-Nippes ist zu luxuriösen Wohnungen umgebaut worden. Wie aber lebt es sich in einem Bunker? Dieser Frage ist Jørgen Sønder-mark vor Ort nachgegangen und wurde positiv überrascht: Die Wohnungen inner-halb dieses Betonmassivs bieten optimale Lichtbedingungen und vermitteln ein Gefühl von Lebendigkeit und Urbanität – eine mit allen Sinnen greifbare Atmosphäre.

Wie der letzte Eisbrocken eines schmel-zenden Gletschers war der 45 Meter lange, 15 Meter tiefe und 7,5 Meter hohe Hoch-bunker nach dem Zweiten Weltkrieg im beschaulichen Kölner Stadtteil Nippes zurückgeblieben. Der mit Graffi tis übersäte, triste und fensterlose Klotz war den Anwoh-nern lange ein Dorn im Auge, bis sie began-nen, ihn gefl issentlich zu übersehen.

Heute hat sich dies geändert. Vor fünf Jahren kaufte ein Jungunternehmer den Bunker und schrieb einen Wettbewerb zu seiner Umgestaltung in Wohnungen aus. Den Zuschlag bekamen Luczak Architekten aus Köln für ihr Umbaukonzept, das eine über-raschend helle und freundliche Wohnatmo-sphäre entstehen lässt. An die Kopfseite des ehemaligen Bunkers fügten die Architekten ein neues Quergebäude an, das sich harmo-nisch ins Straßenbild einpasst.

Katalysator für das StadtquartierBeim Gang durch die Straße fällt nur ein Neu-bau auf – von einem Bunker ist keine Spur zu sehen. Der Mut der Architekten, sich von der ‚Bunkeridee’ zu lösen, ist wahrlich beein-druckend: Sie konzentrierten sich auf klas-

sische Entwurfsaspekte wie die Einfügung ins Stadtbild und optimale Wohnbedin-gungen. Almut Skriver, Partnerin bei Luczak Architekten, erklärt, dass das Gebäude die gleichen Vorzüge bieten sollte wie ein kom-pletter Neubau. „Bei der Fassadengestaltung fühlten wir uns frei“, sagt sie. „Die Häuser-fronten in dieser Straße sind alles andere als homogen. Hier fi ndet man kleine Werkstät-ten neben Wohnungen und traditionelle Gie-belhäuser neben einer off enen, begrünten Wohnanlage im Stil der fünfziger Jahre. Ein Tonnendach war für uns eine interessante Ergänzung; zudem entsprach es unseren innenräumlichen Vorstellungen.“

Das neue Wohnhaus hat die Umgebung komplett verändert. Ein zufällig gewach-senes Stadtviertel scheint mit dem neuen Bauwerk sein natürliches Zentrum gefunden zu haben. Bei jedem anderen Neubauprojekt wäre die schäbige Bunkerfassade abgeris-sen worden. Hier jedoch fanden die Archi-tekten eine Alternative, die nicht nur optisch anspricht, sondern auch den Nerv und das Lebensgefühl der Menschen im Quartier triff t. Das gesamte Stadtviertel wird durch die Baumaßnahme aufgewertet.

Eine gefällige Straßenfront mit vie-len Dach- und Fassadenfenstern ist an die Stelle der tristen, abweisenden Bunkerfas-sade getreten. Dennoch erinnert die Archi-tektur in keiner Weise an einen traditionellen Blockrand mit Lochfenstern, sondern über-zeugt durch Objekthaftigkeit und spiele-rische Herangehensweise. Bemerkenswert ist vor allem die große, asymmetrische Öff -nung, die sich wie ein Schnitt durch das Gebäude zieht und das Betonmassiv radikal verwandelt. Der Bunker ist als solcher nicht mehr erkennbar. Doch bevor wir auf dieses Thema zurückkommen, schlägt Frau Skriver vor, eine der Wohnungen von innen in Augen-schein zu nehmen.

Licht im InnerenChristoph, einer der Hausbewohner, lädt uns in seine Wohnung inmitten des Bunkers ein. Das erste, das beim Eintreten auff ällt, ist das Tageslicht, das die Vorstellung von Kerkern und höhlenähnlichen Verliesen schnell ver-drängt. Nahezu alle Wohnungen unterschei-den sich voneinander. Im Erdgeschoss und auf der ersten Etage wurden zum Garten hin große Einschnitte in die Betonmauer gefräst.

Nach Süden öff nen sich die Dachgeschosswohnungen durch große, in die Dachhaut einge-schnittene Terrassen.

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Sie sind die radikalste Maßnahme und der Hauptgrund für den Erfolg des Umbaus im Gegensatz zu früheren, gescheiterten Umnutzungsplänen. Entscheidend war für diese Lösung die Länge der Einschnitte. Hierzu einige Fakten: Die Wände sind 1,10 m dick, die Decken bis 1,40 m stark, alle aus bewehrtem Massivbeton – daraus wird leicht ersichtlich, dass bei dem aufwendigen Diamantschnitt jeder Zentimeter zählte, um in einem halbwegs vernünftigen Kostenrah-men zu bleiben.Licht und Kosten waren daher die entschei-denden Faktoren in dem Bemühen, die Schnittlänge zu reduzieren. Der Einschnitt folgt auf der einen Seite der Trennwand zur Nachbarwohnung, während auf der anderen Seite eine Nische über die gesamte Wanddi-cke entsteht. Der Einschnitt läuft an der Fas-sade hoch, bricht an der Dachkante ab und durchzieht das Dach, bevor er in die Fassa-denebene zurückkehrt. Diese Herangehens-weise lässt viel Licht in die Wohnungen strömen und korrespondiert mit dem an Le Corbusier erinnernden Innenraumkonzept: Die obere Wohnetage ist von der Fassade zurückversetzt, so dass hinter der Fenster-

öff nung ein zweigeschossiger Luftraum ent-steht. Eine elegante, zum Licht orientierte Holztreppe verbindet die beiden Ebenen hin-ter einer Wandscheibe.

In Christophs Wohnung blieben die impo-santen Mauereinschnitte unverputzt und geben den Blick frei auf die Spuren der Dia-mantsäge, mit deren Hilfe die Lichtöff nungen ausgeschnitten wurden. Andere Wohnungs-eigentümer bevorzugen einen ‚reineren’ Stil mit weiß verputzten Wänden. Manch einer mag die Verkleidung dieses geschichtsträch-tigen Orts bedauern; ich aber denke, dass diese Umbauplanung gerade durch die Frei-heit im Umgang mit unserer immanenten Geschichte besticht. Die Architekten bau-ten auch nicht auf die Bunkergeschichte als verkaufsförderndes Mittel. Ihr Entwurf, so komfortabel und geschichtslos wie ein Neu-bau, ist auch für sich gesehen ausdrucksstark genug – die Bunkergeschichte wird zu einem Extra, das man für die Innenraumgestaltung nutzen kann oder auch nicht.

Spürbare SchwereInmitten der Wohnung stehend, will ich wissen, ob sich die extrem schwere Bunker-

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konstruktion physisch wahrnehmen lässt. Natürlich ist sie in meiner Vorstellung ver-haftet, und vor meinem inneren Auge habe ich das Bild, wie sich die Diamantsäge durch das Mauerwerk fräst. Doch was nehmen die übrigen Sinne wahr?

Die Ohren registrieren weniger als sonst. Es herrscht eine bemerkenswerte Stille; die Akustik wird stark durch die Mauern beein-fl usst, die sämtliche Geräusche zu schlucken scheinen. Die kleine Straße vor dem Haus ist ohnehin wenig befahren und geräuscharm; daher beruht mein Urteil allein auf diesem speziellen Empfi nden im Ohr, wenn sich das Trommelfell in der Stille quasi nach innen zu wölben scheint.

Auch mein Geruchssinn ist aktiviert. Es liegt eine gewisse Kühle in der Luft, ein Gefühl von Kirche oder Keller. Ich kann nicht genau sagen, ob es ein Geruch oder ein Tem-peraturempfi nden ist, vielleicht aber auch eine subtile Mischung aus beidem. Dies ist durchaus erklärlich, denn die enorm dicken Mauern speichern die Wärme und reagieren nur sehr langsam auf den äußeren Tempe-raturwechsel. Die Wohnung wirkt daher an diesem Herbsttag recht kühl, und der Tempe-

raturunterschied zwischen Innen und Außen erklärt auch die leicht veränderte Luftfeuch-tigkeit. Die massive Bauweise macht sich – wenn auch nicht auf den ersten Blick – doch bemerkbar.

Christoph gibt mir auf meine Nachfrage zum Klima eine unerwartete Antwort: Nicht Kälte, sondern Hitze ist das Problem, da die großen Fenster nach Westen zeigen. Durch das off ene Dach dringt zusätzliche Sonnen-strahlung ein, die die massiven Mauern lang-sam, aber eff ektiv erwärmt. Normalerweise verursacht dies keine Probleme, doch an sehr heißen Sommertagen hat Christoph ein spe-zielles Phänomen festgestellt: „Wir saßen den ganzen Abend draußen; und als wir dann in die Wohnung kamen, war es dort so warm, dass wir die großen Schiebetüren öff neten, um die Nachtkühle hereinzulassen. Nach zehn Minuten fi el die Temperatur merklich ab, und wir schlossen die Türen. Nach nur fünf Minuten aber mussten wir alle Türen wieder aufreißen. Die massiven Betonwände und Decken hatten so viel Wärme gespei-chert, dass sie die gesamte Wohnung bis zum nächsten Morgen wärmten.”

S. 44: Zwischen die stehen gebliebenen, L-förmigen Betonvolumina des Bunkers wurden Glasfenster und -dächer eingefügt, die die Wohnungen auch von oben belichten.

Links: In einigen Wohnungen haben die Bewohner die Bunkermauern unverputzt gelas-sen. Um den 1,20 Meter starken Beton zu durchtrennen, wurden bis zu 20 Meter lange, diamant-bestückte Seile verwendet, deren Schleifspuren auf dem Beton teils noch sichtbar sind.

S. 46: Der viereinhalbgeschos-sige Neubau an der Straße überragt seine Nachbarn zum Teil deutlich und betont auch durch das mit Aluminium gedeckte Tonnendach seine Eigenständigkeit.

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FaktenGebäudetyp Wohngebäude mit 17 Lofts und StadthäusernBauherr Hohr Immobilien GmbH, Köln, DEntwurf Luczak Architekten, Köln, DStandort Werkstattstraße 9, 50733 Köln, DFertigestellung 2004

VergleichZum Vergleich besuchen wir eine der Dach-geschosswohnungen im Neubau an der Straßenseite. Der Balkon überragt die Gär-ten vor den Bunkerwohnungen, die ein wei-teres Resultat der eigentümlichen Position des Bunkers sind. Das solide Bunkermassiv unterteilt das Bauprojekt in zwei Teile – ein Entwurfskonzept, das bei einer völligen Neu-planung sicherlich nicht erste Wahl gewesen wäre. Luczak Architekten machten jedoch das Beste daraus: Abgesehen von den Gär-ten verfügen die rückwärtigen Wohnungen über einen privaten Hof, der genügend Platz zum Grillen oder Spielen bietet.

Die hohe und helle Dachgeschoss-wohnung besitzt eine kleine Empore unter dem Tonnendach, die dem Apartment eine besondere Atmosphäre verleiht. Doch ist die Geräuschwahrnehmung hier anders als zwi-schen den dicken Bunkermauern? Was ist mit der Kühle, die ich zuvor durch die Nase zu spüren glaubte? Obwohl ich weiß, dass ich mich jetzt in einer leichteren Baukonstruk-tion befi nde, registrieren meine Sinne den Unterschied deutlich: Die Geräusche erschei-nen wieder ‚normal’, off ener und näher, und

meine Nase nimmt nur den für moderne Wohnungen typischen Geruch nach leicht feuchter, eingeschlossener Luft wahr.

Dies bestärkt meine Vermutung, dass die tonnenschweren Betonmauern im Inne-ren des Bunkers tatsächlich mit den Sinnen spürbar sind. Die meisten Besucher werden diesem Gefühl keinerlei Beachtung schen-ken. Dennoch werden sie unweigerlich eine besondere Atmosphäre wahrnehmen, die den Gesamteindruck der ‚Bunkerwohnungen’ bestimmt.

Zurück auf der Straße erinnere ich Frau Skriver an ihr Versprechen, die Fassaden-gestaltung des Bunkers näher zu erläutern. Sie deutet auf die großen Fensterfronten:

„Sehen Sie, dass die Decke in der Wohnung auf der Fassadenseite viel höher ist als nur wenige Meter weiter innen? Wegen der extremen Deckenstärke liegen die Geschoss-decken außerhalb der Bunkergrenzen fast anderthalb Meter höher. Das Ende des Bun-kers ist somit leicht zu sehen, ein Eff ekt, der sich bei Nacht und erleuchteten Fenstern noch besser erkennen lässt.“

Subtilität ist wahrhaft ein Kennzeichen des Kölner Bunkerumbaus.

Gegenüber (oben links): Blick in einen der zweigeschossigen Wohnräume im früheren Bunker. Das Glasdach verleiht dem Raum Leichtigkeit und erzeugt ein Gegengewicht zu den schweren, rauen Betonmauern.

Gegenüber (oben rechts): Die Fenster im Erdgeschoss sind oft mehr als einen Meter hinter die äußere Fassadenebene zurück–gesetzt. Sichtbar wird so die Dicke der Bunkermauern, die in diesem Fall mit verschieden farbigen Klinkerriemchen verkleidet sind.

Gegenüber (unten) Nichts an dem zur Straße gewandten Querriegel lässt ahnen, dass im Inneren dieses Gebäudes ein Hochbunker steckt. Doch die Bunkermauern setzen in den unteren beiden Geschossen schon wenige Meter hinter der Fassade an. Lediglich das zweite Obergeschoss und das Alumini-umdach wurden komplett neu errichtet.

Jørgen Søndermark studierte an der Architek-turhochschule in Aarhus (Dänemark). Seit 1996 arbeitet er bei 3XN Architects, die letzten neun Jahre als Leiter für Kommunikation. Er hält Vor-träge, schreibt Artikel über Architektur und nach-haltige Bauweise und ist Mitverfasser eines neuen Buchs über 3XN Architects (erscheint im Novem-ber 2007).

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VELUX IM DIALOG Architekten im Dialog mit VELUX.

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Fotos von Torben EskerodText: B3 Teaching Unit / Architektur- und Designhochschule Oslo

Ist Tageslicht ein Material wie andere Materialien in der Architektur auch? Ausge-hend von dieser Frage haben Studenten des Programms B3 an der Architektur- und Designhochschule Oslo (AHO) eine Reihe einzigartiger Raum- und Lichtinstallationen entworfen. Elf dieser ‚Lichtmaschinen’, von denen jede in einen Kubus von einem Meter Kantenlänge einbeschrieben ist, wurden mit Unterstützung von VELUX Norwegen gebaut und wurden in den kommenden Jahren in Ausstellungen in ganz Skandina-vien gezeigt.

DER EIGENSINN DER ARCHITEKTURDie B3-Lichtmaschinen

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Die Lichtmaschinen, die von den Studenten im Rahmen eines Wahlfachs 2004 entworfen wurden, haben keinen andern Zweck als ihre eigene Logik und die Fähigkeit, Licht zu speichern und umzuwandeln. Ihr einziger wirklicher Nutzen ist die Wahrnehmung ihrer Dreidimensionalität und der Räumlichkeit, die sie durch ihre Wandlung des Lichts erzeugen. Die Schönheit liegt darin, die Grenzen der Maschinen anzuerkennen: Sie tun nichts weiter, als Emotionen off en zu legen. Zum ersten Mal, zumindest seit die Akademien auf den Plan getreten sind, kann die Architektur als vollkommen off en gelten. Sie hat weder ein klares Programm noch eingeübte Gebräuche, und sie entbehrt auch jedes moralischen Regelwerks. Es existiert möglicherweise überhaupt kein anderer Anhaltspunkt als das bloße Erschaff en-Werden. In diesem Sinn ist Architektur eigentlich nur eine Sache der Wahrnehmung. In der Architekturausbildung wird derzeit oft die Frage gestellt, ob es noch einen wahren und allgemei-nen Begriff der Produktion und Rezeption von Archi-tektur gibt. Ihre Motivation bezieht die Ausbildung noch immer aus der Diskussion über den physischen, virtuellen und/oder mentalen Raum oder aus der Konzentration auf die neuen Potenziale fortschritt-licher Technologien. Diese beiden Diskussionsstränge haben eines gemeinsam: Sie stellen die überlieferten Grenzen der Architektur infrage. Nicht nur ist der architektonische Raum in Bewegung geraten – virtuelle und physische Orte können auch zur gleichen Zeit miteinander koexistieren. Diese unterschiedlichen Raum-Zeit-Aspekte und Interpretationen von Dauer-haftigkeit und Kommunikation haben einen Komplexi-tätsgrad erreicht, der unsere Raumwahrnehmung beeinfl usst.

Diese Erweiterung der traditionellen Grenzen der Architektur hat in der Ausbildung zur Vorstellung geführt, dass jedem Individuum ein neues Potenzial innewohnt und dass dieses im Laufe der Zeit zu einem ‚persönlichen’ Architekturbewusstsein heranreifen kann. Dieser Reifungsprozess ist noch immer eine der größten Herausforderungen für die Akademien, und dies wirkt sich wiederum auf den Begriff der ‚mensch-lichen Wahrnehmung’ aus. Wir entwickeln uns gegenwärtig von einer auf Ideen basierten Gesellschaft hin zu einer prozessori-entierten Gesellschaft, in der traditionelles chronolo-gisches Wissen durch komplexe Felder der Information ersetzt wird. Wie können wir in dieser Situation sicher sein, dass die ‚menschliche Wahrneh-mung’ noch ein brauchbares Werkzeug für die Verhandlung und Diskussion über den architekto-nischen Raum ist? Ist es in der Komplexität der Zeitabläufe und Kommunikationsebenen überhaupt noch möglich, einen gemeinsamen Nenner der Raum-wahrnehmung zu fi nden?

Das Wahlfach „Licht/Schatten. Tageslicht als Material der Archi-tektur“, in dessen Rahmen die Lichtmaschinen entworfen und reali-siert wurden, wurde von Per Olaf Fjeld, Neven Fuchs-Mikac, Lisbeth Funck und Rolf Gerstlauer initiiert und geleitet.

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Die Lichtmaschinenim Detail

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3. Eivind Tandberg

Eine geringe Lichtmenge wird in Längsrichtung durch eine Glas-scheibe geleitet und an ihrem Ende an ein gegenüberliegendes Stück des gleichen Materials weiterge-geben. Indem man alle Glasschei-ben so anordnet, dass der Output einer Scheibe gleichzeitig der ‚Input’ einer anderen ist, lassen sich Räume jenseits der physikalischen Grenzen der Maschine defi nieren.

2. Preben Bie

Die Lichtmaschine ruft Bewegung und Veränderung im Raum hervor, und sie erzeugt einen beweglichen und veränderlichen Raum. Entfer-nungen, Licht und Refl ektionen haben Einfl uss auf die Kunststoff -streifen, die ihrerseits die räumliche Licht- und Schattenwirkung beein-fl ussen. Der Kontrast zwischen ihnen ist veränderlich und die Dynamik des Lichts erzeugt unterschiedliche drei-dimensionale Tiefenwirkungen.

bricht sich das Licht und erreicht die Grundplatte in konzentrierter Form. Eine scharfe Grenze zwischen Licht und Schatten entsteht; das Wasser bildet eine Wand, die in den Raum eingreift und ihn zunehmend kompri-miert. In dem Maße, wie der Wasser-spiegel steigt, wird die beleuchtete Fläche größer und die Lichtintensi-tät schwächer. Die Nebelmaschine erzeugt Bewegung über und unter dem Wasser und sendet ein fl a-ckerndes Licht in den Raum hinaus.

platte der Maschine defi niert zu-gleich ihren Aktionsradius.Die Maschine wird durch die Wech-selwirkung von Zeit, Schwerkraft und Temperatur angetrieben. Sie benötigt zwar elektrischen Strom, bewegt sich jedoch von selbst. Das Abschmelzen des Eises lässt den Wasserspiegel im Inneren der Wiege steigen. Das Wasser fl ießt zum tiefsten Punkt der Wiege, dort-hin, wo sich die Nebelmaschine be-fi ndet. Diese wird durch den Kontakt

mit Wasser aktiviert und erzeugt Nebel, der sich wiederum über die Wasseroberfl äche ausbreitet. Indem die Nebelmaschine Wasser in Dampf verwandelt, sinkt der Wasserspiegel wiederum, bis die Nebelmaschine de-aktiviert wird und die Bewegung der Maschine aufhört. Das Eis streut das Licht gleichmäßig und schwächt es zugleich ab. Sein Gewicht verleiht dem Raum sein ma-ximales Volumen. Das Wasser leitet das Licht gut; an seiner Oberfl äche

11. Marit Skarstøl

Die Maschine besteht aus einer Wiege aus transparentem Plexiglas und einer neutralen Grundplatte. Der Boden der Wiege ist entlang einer Spirale gekrümmt. An der Wiege ist eine Lichtquelle befestigt, die ein gleichmäßiges Licht ins Innere der Maschine strahlt. In ihrer Nähe ist die Wiege so geformt, dass sie einen 15 Kilogramm schweren Eis-block aufnehmen kann. Eine Nebel-maschine ist im Gravitationszentrum der Wiege angebracht. Die Grund-

6. Mathilde Herdahl

Die Wände der Lichtmaschine haben Öff nungen, deren Breite durch be-wegliche Scheiben verändert werden kann. Diese Öff nungen regulieren die Menge des Lichts, das die Lichtma-schine erzeugt, und sie bestimmen, wie weit es in den Raum eindringt. Eine schmale Öff nung erzeugt bei-spielsweise ein scharfes, klar umris-senes Licht, das den Eindruck einer größeren Raumtiefe entstehen lässt, als dies bei einer breiteren Öff nung der Fall wäre.

Refl exionsgrad unterschiedlicher Materialien bedingt sind. Dies ge-schieht, indem man einen Filter an einer Öff nung anbringt und die mitt-lere Öff nung ganz verschließt. Der Refl ektionsgrad hängt dann stark von dem an dieser Öff nung verwen-deten ‚Kassettenmaterial’ ab. Die Eff ekte, welche verschiedene Refl exions- und Transluzenzgrade auf das (innere) Raumvolumen der Maschine ausüben, können auch von außerhalb der Maschine stu-

diert werden. Dies bedingt jedoch, dass das Licht vorher die Maschine durchwandert.Die Filter, die der Maschine beilie-gen, wurden wegen der Farbwir-kung ausgewählt, die sie erzeugen. Es lassen sich jedoch auch andere Fil-ter verwenden, je nachdem, welche Lichteff ekte eines Materials man un-tersuchen möchte.

5. Morten Hosen

Die Lichtmaschine erlaubt es, Licht mit unterschiedlichen Filtern abzu-blenden. Hierfür ist an jeder der drei Öff nungen der Maschine eine Halte-rung für ‚Kassetten’ aus unterschied-lichen Materialien angebracht. Man kann zum Beispiel je einen Filter an zwei der Öff nungen anbringen und die Eff ekte, die sie hervorrufen, an der dritten Öff nung beobachten. Mithilfe der Maschine lassen sich auch Lichtsituationen in Raumse-quenzen untersuchen, die durch den

1. Anna Nilsson

Die Lichtmaschine ermöglicht es, auf abstrakte Weise das Zusammen-spiel von Licht und Schatten räum-lich zu übersetzen und dadurch neue Wechselwirkungen zwischen beiden zu provozieren. Sie ‚verarbeitet’ un-terschiedliche Arten von Medien und variiert deren Themen, oder variiert ein Thema innerhalb eines Mediums. Die Maschine funktioniert als Basis mit einem konstanten Regelwerk, auf dem die Medien die unterschied-lichen Lichtsituationen erzeugen.

4. Øystein Olsen

Ein Raumwürfel von einem Meter Kantenlänge. Die Decke des Raums ist eine Maschine, deren Zweck darin besteht, Raum mittels Licht zu ver-ändern. Die Maschine besitzt ein Sy-stem aus beweglichen Paneelen in drei Ebenen, in dem unterschiedlich perforierte Scheiben ihre Position ändern und sich gegenseitig über-lappen. Dabei lassen sich die Paneele der mittlere Ebene in der entgegen-gesetzten Richtung verschieben wie die beiden äußeren.

9. Pau Fernandes Canals

Die Maschine basiert auf der Idee, das in ihr enthaltene Licht zu kon-trollieren, zu steuern und dadurch unterschiedliche Eff ekte entstehen zu lassen. Wenn man den Deckel der Kiste beiseiteschiebt, verändert sich die Größe der Öff nung und infolge-dessen das Licht innerhalb der Ma-schine. Wir sehen, wie Licht aus ihren Öff nungen austritt. Dennoch wird ein Teil des Lichts zurückge-halten, und wir wissen, dass es sich nach wie vor im Inneren der Ma-schine befi ndet.

10. Emelie Tornberg

Die Intention der Lichtmaschine ist es, Licht zu absorbieren, Material zum Verschwinden zu bringen und selbst Licht zu werden. Die Fähigkeit des Lichts, Material aufzulösen und selbst als Masse in Erscheinung zu treten, ist eine ihrer Funktionen. Das Material fungiert als Lichtempfän-ger und -refl ektor, seine eigene Form tritt dabei in den Hintergrund.

„Ich suche nicht nach Licht. Licht ist ein Teil des Materials und manife-stiert sich selbst durch das Mate-rial.“ (Eva Hesse)

8. Ingrid Kirkerud

Beharrliche Annäherung

Das Licht sprengt sich hereinLichtstrahlen recken sich dir entgegen,sie stechen,rieseln,fallen,schlagen, liebkosen und enthüllen, informieren und zertrümmern.

Beharrliche Annäherung des Lichts.

7. Christine Eng

Zwischen zwei Platten gespannte Fäden bilden zwei sich gegenseitig durchdringende, gekrümmte For-men. Diese treten an ihren Kreu-zungspunkten miteinander und mit ihren Schattenrissen in eine Wech-selwirkung. Wenn direktes Licht aus einer Lichtquelle in die Licht-maschine fällt, sind die Schatten der Fäden klar umrissen, doch die Unter-scheidung dessen, was ein Faden ist und was ein Schatten, wird diff us.

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47°40’48“N/13°8’12“E: Die Koordi-naten des Wohnhauses in Adnet bei Salzburg sind zugleich der inoffi zielle Name des Gebäudes. Dieser wiede-rum lässt Rückschlüsse auf das Bau-herren-Ehepaar zu: Friedrich Ebner und Heike Kröpelin sind berufl ich viel zwischen Deutschland und Ös-terreich unterwegs; sie verkörpern den viel beschriebenen Typus der

„modernen Nomaden“ in besonders ausgeprägter Form. Die Wahl ihres Wohnorts war zumindest nicht aus-schließlich von dem Bergpanorama des Tennengaus beeinfl usst, das sie nun täglich von der Terrasse aus ge-nießen können. Sondern zunächst auch dadurch, dass die nächstgele-gene Autobahnausfahrt nur zwei Ki-lometer entfernt liegt. Kehrseite der verkehrsgünstigen Lage und des in-tensiven Naturbezugs ist eine ge-wisse Isolation im Bezug auf das dörfl iche Leben: Von dem Wohnhaus aus ist kein Geschäft oder Lokal fuß-läufi g zu erreichen; für alle Besor-gungen sind die Bauherren auf das Auto angewiesen. In den Worten der Architekten Maria Flöckner und Hermann Schnöll ist Haus 47°40’48“N/13°8’12“E nicht

„für einen bestimmten Ort gemacht“. Es könne genauso gut „sonst wo ste-hen“, betonen sie. Und tatsächlich wirkt es auf den ersten Blick wie zu-fällig auf der Wiese abgestellt und mit sanftem Druck in die Horizontale ge-bracht. Der Baukörper ist an der süd-lichen Ecke rund einen Meter in den Hang eingesenkt, im Norden dage-gen löst er sich über eine Länge von rund acht Metern vom Erdboden ab. Er besticht auf den ersten Blick durch seine Einfachheit: eine Bodenplatte und ein betoniertes Flachdach, zwi-schen denen sich der Wohnraum als

„Unterstand mit Glasvorhang“ (Maria Flöckner & Hermann Schnöll) auf-spannt. Doch wie oft stecken hinter der scheinbaren Simplizität ausge-feilte Detaillösungen: Das Dach kragt

an der Nordwestecke um acht Meter aus. Bewältigt werden konnte diese Spannweite nur mit einer ‚umge-drehten’ Verbunddecke, bei der ein Stahlträgerrost oben auf einer 16 Zentimeter dicken Stahlbetonplatte verdübelt wurde. Der Wohngrundriss basiert gleich-sam auf einer Vervielfältigung des Farnsworth-Typus: Neun je 2,4 x 2,4 Meter große Kuben aus Holz glie-dern den Raum. Sie beinhalten Stau-räume und Installationskerne sowie die Stahlstützen, die das Dach tra-gen. Vier von ihnen (drei Bäder und die Garderobe) werden durch Dachwohn-fenster belichtet, die über eine Fern-steuerung geöff net und geschlossen werden können und so auch die Durch-lüftung der Räume unterstützen. Für die Fenster wurden Lichtkamine aus gedämmten Dreischichtplatten auf dem Flachdach geschaff en, die die Silhouette des Hauses auch äußerlich als spielerisches Element beleben. Die Fenster sind einheitlich um 30 Grad gegen die Horizontale geneigt; ihre Ausrichtung variiert jedoch mit der Raumnutzung: Die Dachwohnfenster im Bad zeigen nach Osten, Richtung Morgensonne, das Garderobenfen-ster ist nach Norden geneigt, um den Raum vor Überhitzung zu schützen. Ein fünftes Fenster über dem off enen Küchenbereich weist nach Westen, der Abendsonne entgegen. Rings um die Kuben bewegen sich die Bewohner in einem nur durch Glaswände unterteilten, über 300 Quadratmeter großen Raum. Er um-fasst Wohn- und Schlafbereich, Ga-rage, Küche und Terrasse. Anders als in Mies van der Rohes Glashaus sind der Wohnraum und die Einbauten, die ihn gliedern, jedoch nicht linear orga-nisiert, sondern zu einem Halbkreis zu-sammengefasst, dessen Krümmung dem Landschaftspanorama drau-ßen folgt. Die innere Off enheit des Hauses und die oft dunklen Raumoberfl ächen

VELUX PANORAMA Architektur mit VELUX aus aller Welt.

WAHRNEHMUNGSMASCHINEWOHNHAUS IN ADNET/ÖSTERREICH

geben den Innenräumen eine eigen-tümliche Lichtstimmung: Von überall im Haus bilden sich Aus- und Durch-blicke in die Landschaft mit ihrem ta-geszeitbedingten Wechsel des Lichts. Ins Innere des großen Raums dringt di-rektes Sonnenlicht dagegen nur punk-tuell durch das Dachwohnfenster über dem Küchenblock sowie frühmorgens und spätabends, wenn die Sonne tief am Himmel steht und die Bewohner mit ihren Strahlen wärmt.Die Inneneinrichtung von Haus 47°40’48“N/13°8’12“E ist ebenso auf ein Minimum reduziert wie die Zahl der Sinnesreize, um die Wahr-nehmung für die Umgebung zu schär-fen. So bunt die Außenwelt mit ihren Weiden und Wäldern, so monochrom sind die Raumoberfl ächen im Inneren. Abstrahierte, auf den Kopf gestellte Abbilder von Baumstämmen überzie-hen die Wände der Kuben und des Kü-chenblocks. Die auskragenden Boden- und De-ckenplatten halten die Natur ringsum auf Distanz, fokussieren aber zugleich den Blick auf den Landschaftsaus-schnitt. Kanalisiert vom unbehandel-tem Sichtbeton der Decke und vom fugenlosem, geschliff enem Gussas-phaltboden schweift der Blick un-gehindert in die Ferne. Das wenige, fi ligran gebaute Mobiliar stellt sich ihm ebenso wenig in den Weg wie die Glaswände: Sie sind nur Klima-, aber keine echte Raumhülle und fol-gen auch einer anderen Geometrie als die Boden- und Deckenplatten. Seitlich gefasst wird das Raumkonti-nuum lediglich durch schwarze Vor-hänge, die in Schienen entlang des Dachrandes (und damit außen vor der Fassade) verlaufen. Sind sie geschlos-sen, weicht der Panoramablick einem bewegten Bild aus Lichtrefl exen und Halbschatten, erzeugt durch die vom Wind bewegten Gewebebahnen.

Wohnhaus für 2 PersonenFriedrich Ebner & Heike Kröpelin, Adnet, AMaria Flöckner & Hermann Schnöll, Salzburg, ARiedl 79, Adnet bei Salzburg, AJuni 2006

FaktenGebäudetypBauherrenEntwurfStandortFertigstellung

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Wie vorübergehend auf der Wiese abgestellt wirkt Haus 47°40’48”N/13°8’12”E von der Straße aus. Seine fl ache Silhouette wird lediglich durch die Lichtkamine mit den schräg gestellten Dachfenstern unterbrochen.

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Unten: Die nahezu halbkreisför-mige, raumhohe Glasfassade tritt deutlich hinter den auskragenden Decken- und Bodenplatten zurück. So entstehen zwei große Terrassen als Puff erzone zwischen Innenraum und Landschaft.

Oben links: Grundriss

Oben rechts: Detailschnitt durch das Dachfenster

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Oben rechts: So vielseitig die Aussicht nach draußen, so minimalistisch ist das Innere des Hauses. In den Wohnraum fällt Licht fast ausschließlich von der Seite. Eine Ausnahme bildet das Dachfenster über dem Küchen-block.

Unten: Die außen entlang des Dachrands angebrachten Vorhänge fl attern im Wind und bereichern die Wahrnehmung mit ständig wechselnden Licht- und Schattenrefl exen.

Oben links: Viele Nachbarn hat Haus 47°40’48”N/13°8’12”E nicht – sieht man einmal von einem nahe gelegenen Bauernhof ab. Dennoch lassen sich die Innenräume mit schwarzen Vorhängen vor neugierigen Blicken schützen.

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LOUISIANA AND BEYONDThe work of Vilhelm Wohlert

Autor: John PardeyEdition BløndalISBN 978-87-91567-07-0

Der Däne Vilhelm Wohlert gehört zu jenen Architekten, deren Name in der öff entlichen Wahrnehmung stets hinter ihrem wichtigsten Werk zurücktritt. Wohlert selbst war – so John Pardey in der Einleitung zu sei-nem Buch – „außerhalb Dänemarks kaum bekannt [...] und wenn, dann nur unter Architekten“ Dagegen gelangte das Museum Louisiana in Humlebaek nördlich von Kopenha-gen, das Wohlert gemeinsam mit Jør-gen Bo 1957–58 baute und bis 1991 immer wieder erweiterte, zu Welt-ruhm. Als „Anfang vom Ende der Ar-chitektur“ bezeichnete der dänische Akademieprofessor Christian Elling das Gebäude einmal, und dies war als Kompliment gedacht: Anders als viele Zeitgenossen träumten Wohl-ert, Bo und ihr Bauherr, der Molke-reibesitzer und Kunstliebhaber Knud W. Jensen, nicht von der städtebau-lichen ‚tabula rasa’, und sie wollten

auch kein Monument für die Kunst schaff en. Ganz im Gegenteil: Eines von vielen Zitaten im Buch han-delt davon, wie Jensen ein Gemälde nimmt, es an einem uralten Baum im Garten von Louisiana aufhängt und sagt: „Diese Art von Licht möchte ich im Museum haben. So muss das Ge-mälde gesehen werden.“

John Pardey wollte, wie er sagt, „nicht einfach ein weiteres Buch über Louisiana schreiben“. Ihn interes-sierte Wohlerts gesamtes Lebens-werk: seine Möbel, Leuchten und Interieurs, die von seinen Lehrjah-ren bei dem berühmten dänischen ,Möbelarchitekten’ Kaare Klint be-einfl usst waren, das Gästehaus für den Physiker Niels Bohr, das Wohl-ert 1957 realisierte, seine Kirchen aus den 60er- und 70er-Jahren, sowie seine Schulbauten in Nordafrika und der (nie ausgeführte) Entwurf für das Nationalmuseum in Kabul. Wohlert reiste viel und gern, und in den letzt-genannten Projekten zeigt sich, wie meisterhaft er sich darauf verstand, sein genuin modernes Formenvoka-bular an klimatische Gegebenheiten und regionale Bautraditionen anzu-passen.

‚Louisiana and Beyond’ ist ein zeitloses, um nicht zu sagen konven-tionelles Architekturbuch: Die Fo-tografi en stammen ausschließlich aus der Entstehungszeit der Bauten, sind meistens schwarzweiß und men-schenleer. Zahlreiche Originalpläne und Detailzeichnungen verraten die Handschrift des Architekten, der in-teressanterweise auch in diesem Buch wieder hinter seinem Werk zu-rücktritt: Wann immer Pardey Wohl-ert zitiert, geht es darin um dessen Bauten und deren Entstehungspro-zess. Die Person Vilhelm Wohlert bleibt dagegen auch bei der Lektüre von ‚Louisiana and Beyond’ im Dun-keln. Es ist geradezu symptomatisch, dass der Leser nicht einmal Wohlerts

Geburtsjahr erfährt und sich die bio–graphischen Angaben im Buch auf ein Werkverzeichnis beschränken. So fehlt dem Band trotz der minutiösen Beschreibung aller Bauten letztlich ein wenig die Lebendigkeit. Wer da-rauf keinen Wert legt, darf von ‚Loui-siana and beyond’ eine umfangreiche Werkmonographie erwarten, die im Hinblick auf gestalterische Präzision und Sorgfalt Maßstäbe setzt.

UNDER THE EAVES OF ARCHITECTUREThe Aga Khan: Builder and Patron

Autor: Philip JodidioPrestel VerlagISBN 978-3-7913-3781-4

Er ist Religionsführer und Geschäfts-mann, Stifter eines der wichtigsten Architekturpreise und einer der ein-fl ussreichsten Philanthropen der islamischen Welt. Der Aga Khan, geistiges Oberhaupt von 15 Milli-onen ismailitischen Muslimen, hat sich einem höchst weltlichen Ziel verschrieben: der Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Ent-wicklungsländern, insbesondere den islamisch geprägten. Den Architek-turpreis, der seinen Namen trägt, sieht er ebenfalls in diesem Licht:

„Eine Veränderung der Lebensquali-tät ist nicht ohne Berücksichtigung der physischen Lebensumgebung möglich. Schließlich lebt man jeden Tag unter einem Dach.“

Anlässlich des fünfzigjährigen Amtsjubiläums des Aga Khan por-trätiert der amerikanische Kunst-historiker Philip Jodidio den 1936 geborenen Imam und sein weit ver-zweigtes Netzwerk aus Stiftungen in einem neuen Buch. Jodidio hat für ‚Under the Eaves of Architecture’ ei-genen Angaben zufolge mehr als

50 Weggefährten des Aga Khan in-terviewt. In acht Kapiteln zeichnet er ein Bild von dessen vielfältigen Aktivitäten: Sie reichen vom Aga Khan Award for Architecture über das Aga Khan Historic Cities Pro-gramme (einen Fonds zur Restau-rierung historischer Baudenkmale in der arabischen Welt), Stiftungs-professuren in Harvard und am MIT, die Website www.archnet.org und die Aga Khan University in Karachi bis zum Aga Khan Museum, das in den kommenden Jahren nach Plänen von Fumihiko Maki in Toronto ent-stehen soll.

Warum dieses außerordentliche Interesse an der Architektur? Der Aga Khan begründet es in einem äu-ßert lesenswerten Interview mit Jo-didio so: „Der wichtigste Indikator für die Armut einer Gemeinschaft [...] ist der physische Kontext, in dem diese lebt. Mein Interesse an der Architek-tur ging daher [...] von der Frage aus, was man tun könne, um die Lebens-bedingungen der Ärmsten zu ver-bessern.“

„This book is not about architec-ture“, lautet Jodidios erster Satz im Buch. Das stimmt so natürlich nicht, doch zunächst macht der Autor tat-sächlich einen weiten Bogen um die Architektur. Er beginnt mit einer etwas langatmigen Abhandlung über die Historie der ismailitischen Muslime und den Werdegang des Aga Khan, die durch zahlreiche Zi-tate aus offi ziellen Verlautbarungen gelegentlich in unangenehme Nähe zur ‚Hofberichterstattung’ gerät. Le-bendig wird die Darstellung immer dann, wenn Jodidio einstige Weg-gefährten des Aga Khan – oder ihn selbst – zu Wort kommen lässt. Dann erweist sich der Aga Khan mitun-ter als Vordenker gegen den Main-stream, der zum Beispiel bei seinen Neubauprojekten in Dubai bewusst den Unsitten der örtlichen Architek-

BÜCHERREZENSIONENZum Weiterlesen: Aktuelle Bücher, präsentiert von D&A.

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empfängt, spiegelt sich auch im In-halt des Buchs wider: Sieben Kapi-tel handeln vom Sehsinn, drei vom Hören und je eines vom Tast-, Ge-schmacks- und Geruchssinn. ‚Sen-sation & Perception’ ist eigentlich als Lehrbuch für Studenten konzi-piert, die sich mit der menschlichen Wahrnehmung befassen. Doch davon sollte sich niemand abschre-cken lassen, denn das Buch liegt di-daktisch voll auf der Höhe der Zeit: Unzählige Abbildungen und teils erstaunliche Experimente machen den ‚Lehrstoff ’ verständlich. Weil der Umfang all dessen, was die Au-toren vermitteln wollten, den Rah-men des Buchs gesprengt hätte, legten sie eine begleitende Web-site an (www.sinauer.com/wolfe), die weiterführende Essays und in-teraktive Tests enthält. ‚Sensation & Perception’ verknüpft Erkennt-nisse aus der Physik, der Neurophy-siologie und der Psychologie – und holt gelegentlich auch in Richtung Philosophie aus. Die Einleitung des Buchs etwa behandelt Grundfra-gen wie: Was ist Anschauung, und welche Vorstellung von der Welt ist auch ohne Anschauung denkbar? Wie können wir sicher sein, dass, was uns unsere Sinne vermitteln, auch tatsächlich existiert? Knapp und präzise, schreiben die Autoren, wollten sie sich ausdrücken, ohne dabei am wissenschaftlichen An-spruch Abstriche zu machen. Das Interesse des Lesers wecken, ohne ihn mit allumfassendem Wissen zu ‚erschlagen’. Dieser Spagat ist ihnen zweifelsfrei gelungen. ‚Sen-sation & Perception’ ist eine auch für den Laien fesselnde Einführung in die Welt der Sinneswahrnehmung – sofern der Leser willens ist, selektiv zu lesen und den einen oder anderen, sehr ins (anatomische oder physio-logische) Detail gehenden Abschnitt einfach zu überspringen.

‚Lessons from Bernard Rudofsky’ zeigt Rudofsky als Meister auf vielen Feldern: der Fotografi e, der Architek-tur, der Grafi k und des prägnanten Formulierens. Welches nun die ‚Leh-ren’ (die der Buchtitel ja erwähnt) von Bernard Rudofsky sind, wird jeder Leser für sich selbst entschei-den müssen. Eine Option, als Auff or-derung formuliert, lautet: Reist, und lernt durch eigene Anschauung! Denn wie heißt es doch in einem der vielen Rudofsky-Zitate im Buch: „Fremde kennenzulernen ist ein Weg, sich selbst kennenzulernen; etwas über die Architektur anderer Länder zu lernen, erlaubt uns, unsere eigene Ar-chitektur im neuen Licht zu sehen.“

SENSATION & PERCEPTION

Autoren: Jeremy M. Wolfe, Keith R. Kluender, Denis M. Levi et al.Sinauer AssociatesISBN 0-87893-938-5

Warum haben wir zwei Augen, sehen aber nur ein Bild? Welche Phänomene ziehen unsere Auf-merksamkeit auf sich, welche nicht? Welches ‚Aufl ösungsvermögen’ hat unser Tastsinn? Warum erkennen wir Gesichter wieder? Dies sind nur vier von vielen hundert Fragen, die der Band ‚Sensation & Perception’ aufgreift – und deren Beantwor-tung für den Laien teils erstaunliche, neue Erkenntnisse bringt. Syste-matisch und leicht verständlich erläutert das siebenköpfi ge Auto-renteam aus Psychologen und Neu-rowissenschaftlern, wie unsere fünf Sinne funktionieren – und wie sie im Gehirn zu dem ‚Bild’ zusammenge-führt werden, das wir uns von der Welt machen. Die Tatsache, dass der Mensch die überwiegende Zahl der Sinnesreize durch die Augen

ckend. Zeitlebens war Rudofsky auf der Suche nach einer zeitlosen, hu-manen Bauweise für menschliche Behausungen, die auf den Gewohn-heiten des Alltags aufbauen sollte:

„Das Haus muss wieder werden, was es früher einmal war: ein Lebens-instrument statt einer Lebensma-schine“, sagte er in einem Vortrag 1982. Sein gebautes Oeuvre ist eher spärlich: einige Wohnhäuser in Ita-lien und Brasilien, wohin er 1938 vor den Nationalsozialisten fl oh. In seinen Bauten vermischen sich – wie bei vie-len seiner Zeitgenossen – Einfl üsse der klassischen Moderne mit denen der traditionellen Architektur Japans und des Mittelmeerraums.

„Es ist müßig, über die Wohnarchi-tektur zu fachsimpeln, so lange wir uns nicht Rechenschaft geben, wie der Bewohner sitzen, schlafen, essen, baden, sich reinigen und sich kleiden soll.“ Dieses Zitat Rudofskys erklärt sein tief verwurzeltes Interesse an den Kleidungsgewohnheiten des Menschen, das ihn 1944 in die Aus-stellung ’Are Clothes Modern?’ am New Yorker Museum of Modern Art kuratieren und zwei Jahre spä-ter die nach ihm benannten ’Ber-nardo Sandals’ entwerfen ließ, die über 20 Jahre lang ein Verkaufs-schlager waren. Bei der Ausstellung im MoMA stellte Rudofsky die Ent-würfe zeitgenössischer Couturiers den traditionellen Gewändern frem-der Kulturen gegenüber. Eine ähn-lich ikonoklastische Haltung nahm er bei seiner wohl berühmtesten Aus-stellung ’Architecture without Ar-chitects’ ein, einer Hommage an die Fertigkeiten anonymer Baumeister in aller Welt. Rudofsky selbst sagte da-rüber: „Meine Auseinandersetzung mit stammbaumloser Architektur ist vor allem eine Parabel. Eine Parabel unserer Selbstgefälligkeit – und un-serer Unfähigkeit, befriedigend mit unserer Umwelt zurechtzukommen.“

tur zuwiderhandelt: „Die ganze De-batte über das höchste Gebäude der Welt dreht sich um Ehrgeiz, Eitelkeit, Stolz, nennen Sie es, wie Sie es wol-len. All dies sind in unserem Wertesy-stem keine besonders starken Kräfte. Ich wollte dort ein Gebäude errich-ten, das historisch korrekt ist, und das sich zweitens auf den mensch-lichen Maßstab bezieht.“ Trotz man-cher Längen ist ‚Under the Eaves of Architecture’ das letztlich gelungene Porträt eines Menschen, der neben Hospitälern und Hochschulen vor allem immer eines bauen wollte: Brü-cken der Versöhnung zwischen Men-schen und Kulturen.

LESSONS FROM BERNARD RUDOFSKY

Herausgeber: Architekturzentrum Wien / The Getty Research Institute, Los AngelesBirkhäuser VerlagISBN-13: 978-3-7643-8359-6 (deutsche Ausgabe)

Achtzehn verschiedene Berufe, so heißt es, hat Bernard Rudofsky (1905–88) im Laufe seines Lebens ausgeübt. Der gebürtige Österreicher war Architekt und Designer, Ausstel-lungsmacher, Autor, Wissenschaft-ler, Maler, Fotograf und vieles mehr. Vor allem jedoch war er ein rastloser Reisender, weshalb dieses Buch auch den Untertitel ‚Das Leben eine Reise’ trägt. In Zitaten, Bildstrecken und Es-says sowie in Faksimile-Drucken aus der Zeitschrift ‚Domus’, an der er 1937 kurzzeitig als Redakteur mitwirkte, präsentiert es Rudofskys Wirken in seiner ganzen schillernden Vielfalt. Er habe kurz nach seinem Studium

„beschlossen, meine Leistungsfähig-keit nicht mit einer sogenannten Kar-riere zu verplempern, sondern meine besten Jahre zu genießen“, sagte Ru-dofsky kurz vor seinem Tod rückbli-

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DAYLIGHT & ARCHITECTUREAUSGABE 082008

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