Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf...

33
N.T.M. · :– DOI ./s--- Online publiziert . November © Springer International Publishing AG Artikel/Articles Das Big Data Game Zur spielerischen Konstitution kollaborativer Wissensproduktion in der Hochenergiephysik am CERN Anne Dippel The Big Data Game. On the Ludic Constitution of the Collaborative Production of Knowledge in High-Energy Physics at CERN This article looks at how games and play contribute to the big data-driven production of knowledge in High- Energy Physics, with a particular focus on the Large Hadron Collider (LHC) at the European Organization for Nuclear Research (CERN), where the author has been conducting anthropological fieldwork since 2014. The ludic (playful) aspect of knowledge production is analyzed here in three different dimensions: the Symbolic, the Ontological, and the Epistemic. The first one points towards CERN as place where a cosmological game of probability is played with the help of Monte-Carlo simulations. The second one can be seen in the agonistic infrastructures of competing experimental collaborations. The third dimension unfolds in ludic platforms, such as online Challenges and citizen science games, which contribute to the development of machine learning algo- rithms, whose function is necessary in order to process the huge amount of data gathered from experimental events. Following Clifford Geertz, CERN itself is characterized as a site of deep play, a concept that contribu- tes to understanding wider social and cultural orders through the analysis of ludic collective phenomena. The article also engages with Peter Galison’s idea of the trading zone, proposing to comprehend it in the age of big data as a Playground. Thus the author hopes to contribute to a wider discussion in the historiographical and social study of science and technology, as well as in cultural anthropology, by recognizing the ludic in science as a central element of understanding collaborative knowledge production. Keywords: Knowledge production, Collaboration, Competition, Play, Big data, Science and technology studies Der vorliegende Artikel widmet sich der Frage, wie Spiele und spielen zur Big-Data-basierten Wissensproduk- tion in der Hochenergiephysik beitragen. Als Beispiel dienen Detektorkollaborationen am Large Hadron Collider (LHC) der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN), in denen die Autorin seit 2014 kulturanthropolo- gische Feldforschung unternommen hat. Der ludische Aspekt der Wissensproduktion wird hier in drei verschie- denen Dimensionen analysiert: der symbolischen, der ontologischen und der epistemischen. Erstere verweist auf das CERN als Ort, an dem ein kosmologisches Wahrscheinlichkeitsspiel mithilfe von Monte-Carlo-Simulatio- nen durchgeführt wird. Die Zweite wird durch kompetitive Infrastrukturen in der Arbeitspraxis verschiedener Kollaborationsgruppen sichtbar. Die dritte Dimension entfaltet sich durch ludische Plattformen, wie etwa On- line Challenges und Citizen Science Games, die zur Entwicklung von machine learning algorithmen beitragen, deren Funktion notwendig ist, um die ungeheuren Mengen an Big Data verarbeiten zu können, die durch die Experimente gesammelt werden. Das CERN wird als Ort des Deep Play beschrieben, einem von Clifford Geertz entwickeltem Konzept, das dazu beiträgt, größere soziale und kulturelle Ordnungen durch die Analyse ludischer Kollektivphänomene zu begreifen. Der Artikel setzt sich darüber hinaus mit Peter Galisons Idee der Trading Zone auseinander und schlägt vor, diese in Zeiten von Big Data als Playground (Spielplatz) zu begreifen. Die Auto- rin hofft damit zu einer breiteren sozio-historiografischen Diskussion in den Science and Technology Studies (STS, Wissenschafts- und Technikforschung) und nicht zuletzt der Kulturanthropologie beizutragen, indem das Ludische in den Wissenschaften als zentrales Element für das Verständnis kollaborativer Wissensproduktion begriffen wird. Schlüsselwörter: Wissensproduktion, Kollaboration, Wettbewerb, Spiel, Big Data, Science und Technology Stu- dies K 485

Transcript of Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf...

Page 1: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

N.T.M. · :–DOI ./s---Online publiziert . November © Springer International Publishing AG

Artikel/A

rticles

�Das Big Data GameZur spielerischen Konstitution kollaborativer Wissensproduktion inder Hochenergiephysik am CERN

Anne Dippel

The Big Data Game. On the Ludic Constitution of the Collaborative Production of Knowledge in High-EnergyPhysics at CERN

This article looks at how games and play contribute to the big data-driven production of knowledge in High-Energy Physics, with a particular focus on the Large Hadron Collider (LHC) at the European Organization forNuclear Research (CERN), where the author has been conducting anthropological fieldwork since 2014. Theludic (playful) aspect of knowledge production is analyzed here in three different dimensions: the Symbolic,the Ontological, and the Epistemic. The first one points towards CERN as place where a cosmological gameof probability is played with the help of Monte-Carlo simulations. The second one can be seen in the agonisticinfrastructures of competing experimental collaborations. The third dimension unfolds in ludic platforms, suchas online Challenges and citizen science games, which contribute to the development of machine learning algo-rithms, whose function is necessary in order to process the huge amount of data gathered from experimentalevents. Following Clifford Geertz, CERN itself is characterized as a site of deep play, a concept that contribu-tes to understanding wider social and cultural orders through the analysis of ludic collective phenomena. Thearticle also engages with Peter Galison’s idea of the trading zone, proposing to comprehend it in the age of bigdata as a Playground. Thus the author hopes to contribute to a wider discussion in the historiographical andsocial study of science and technology, as well as in cultural anthropology, by recognizing the ludic in scienceas a central element of understanding collaborative knowledge production.

Keywords: Knowledge production, Collaboration, Competition, Play, Big data, Science and technology studies

Der vorliegende Artikel widmet sich der Frage, wie Spiele und spielen zur Big-Data-basierten Wissensproduk-tion in der Hochenergiephysik beitragen. Als Beispiel dienen Detektorkollaborationen am Large Hadron Collider(LHC) der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN), in denen die Autorin seit 2014 kulturanthropolo-gische Feldforschung unternommen hat. Der ludische Aspekt der Wissensproduktion wird hier in drei verschie-denen Dimensionen analysiert: der symbolischen, der ontologischen und der epistemischen. Erstere verweistauf das CERN als Ort, an dem ein kosmologisches Wahrscheinlichkeitsspiel mithilfe von Monte-Carlo-Simulatio-nen durchgeführt wird. Die Zweite wird durch kompetitive Infrastrukturen in der Arbeitspraxis verschiedenerKollaborationsgruppen sichtbar. Die dritte Dimension entfaltet sich durch ludische Plattformen, wie etwa On-line Challenges und Citizen Science Games, die zur Entwicklung von machine learning algorithmen beitragen,deren Funktion notwendig ist, um die ungeheuren Mengen an Big Data verarbeiten zu können, die durch dieExperimente gesammelt werden. Das CERN wird als Ort des Deep Play beschrieben, einem von Clifford Geertzentwickeltem Konzept, das dazu beiträgt, größere soziale und kulturelle Ordnungen durch die Analyse ludischerKollektivphänomene zu begreifen. Der Artikel setzt sich darüber hinausmit Peter Galisons Idee der Trading Zoneauseinander und schlägt vor, diese in Zeiten von Big Data als Playground (Spielplatz) zu begreifen. Die Auto-rin hofft damit zu einer breiteren sozio-historiografischen Diskussion in den Science and Technology Studies(STS, Wissenschafts- und Technikforschung) und nicht zuletzt der Kulturanthropologie beizutragen, indem dasLudische in den Wissenschaften als zentrales Element für das Verständnis kollaborativer Wissensproduktionbegriffen wird.

Schlüsselwörter: Wissensproduktion, Kollaboration, Wettbewerb, Spiel, Big Data, Science und Technology Stu-dies

K 485

Page 2: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

Wo das Spiel beginnt

Zwischen Genfer See und dem Jura liegt die Europäische Organisation fürKernforschung (CERN), die derzeit größte Forschungseinrichtung für Teil-chenphysik. Sie ist Schirmherrin eines Netzwerks von etwa . Men-schen, die vor allem in den Arbeitsbereichen Physik, Technik, Ingenieurs-und Personalwesen tätig sind. Hinzu kommen Zulieferer, Sicherheits- undServicekräfte, die auf dem CERN-Gelände ihre Arbeit verrichten. Es beher-bergt mehr als Experimente und Einrichtungen, an denen in kleinen,mittleren und großen Kollaborationen zwischen einigen wenigen bis zumehreren tausend Menschen zusammenarbeiten. Im Jahr gegrün-det, ist die internationale Institution heute Hüterin und Herrscherin überdas zweitgrößte Höhlensystem, das je von Menschen für wissenschaftlicheZwecke gebaut wurde. Hier befindet sich der Large Hadron Collider (LHC),ein Teilchenbeschleuniger, in dem Protonen gegenläufig rotieren und einekinetische Energie von bis zu , Elektronenvolt erlangen, um bei nahezuLichtgeschwindigkeit durch supraleitende Magneten gelenkt an vier spezi-fischen Stellen zu kollidieren, wo die Detektoren ATLAS (A Toroidal LHCAparatus), CMS (Compact Muon Solenoid), ALICE (A Large Ion ColliderExperiment) und LHCb (Large Hadron Collider beauty (LHCb) aufgebautsind. Die Informationen über die Kollisionen werden in Geschwindigkei-ten und Größenordnungen registriert, die für Menschen kaum vorstellbarsind. Mehr als Millionen Protonenpakete kreuzen sich pro Sekunde,aber nur ein Bruchteil der Ereignisse wird durch die verschiedenen Sub-systeme aufgezeichnet. ATLAS etwa filtert durch das Triggersystem auseiner Billionen Ereignissen während einer Kollision etwa einhundert her-aus. Das Data Acquisition-System leitet Informationen zu den Speichernweiter, die durch das Grid, einem globalen Cloudsystem, auf hundert Com-puterzentren weltweit verteilt werden, wobei das größte davon auf demCERN-Gelände selbst liegt. Das Dealen mit Big Data stellt somit eine derzentralen Aufgaben des LHCs dar.

Auch wenn physikalische Theorien innerhalb der einzelnen diszipli-nären Gebiete abgekoppelt von großen Modellen und der alles überschir-menden evolutionären Kosmologie der modernen Naturwissenschaftenformuliert werden, erfahren die Besucher_innen etwa auf der ausgeschil-derten Big Bang Tour, dass bei den Kollisionen nichts Geringeres als dieAnfänge des Universums simuliert werden. Schließlich besitzen die vonden Detektoren aufgezeichneten Kollisionen eine energetische Dichte, wiesie nach dem heutigen Stand physikalischer Theorie für die Zeit von etwaeinem Billionstel nach dem Urknall angenommen werden – und lernensomit auf der Tour Legitimation von und Verbindungen zwischen einemder teuersten Experimente der Wissenschaftsgeschichte und dem gängigs-

486

Page 3: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�ten kosmologischen Modell für die Entstehung des Universums kennen.Es geht von der Explosion einer Singularität aus, in deren Nachfolge sichdie Welt entfaltet hat, in der wir Menschen unsere Heimat haben. Bei derBetrachtung des Allerkleinsten geht es am LHC auf kosmologischer Ebeneim anthropologischen Sinn um das große Ganze.

Während der ersten Laufzeit, zwischen und wurden experi-mentelle Messungen vorgenommen, die zum Nachweis des Higgs-Bosonsgeführt haben, einem zentralen Baustein des Standardmodells in der Phy-sik. Seit dem Zusammenbruch der atomistischen Weltsicht, die von ei-nem Unteilbaren kleinsten Baustein der Welt ausging, wurden mehr undmehr Teilchen im Inneren des Atomkerns entdeckt (die sich zugleich wieWellen verhalten). Das Higgs-Boson selbst wird als quantenmechanischerErregungszustand eines Feldes begriffen, das wiederum die Annahme desHiggs-Feldes bestätigt. Es erklärt, weshalb bestimmte Teilchen eine Massehaben, obwohl sie eigentlich keine haben dürften oder weshalb die schwa-che Wechselwirkung im Atomkern nur so eine kurze Reichweite besitzt.Seit und bis werden für die zweite Laufzeit des LHCs bei grö-ßeren Energien, besseren Aufzeichnungstechnologien und höherer Leucht-kraft sowohl Präzisierungen schon vorhandener Ergebnisse erlangt als auchneue physikalische Funde erhofft. Während im ersten Durchlauf ca. Petabytes an Daten angefallen sind, wurden in der zweiten Laufzeit be-reits im Juni aufgrund der Performance des LHCs und der erhöhtenLuminosität über Petabyte Daten gespeichert. Das CERN zählt da-mit zum größten Datenproduzent in der Wissenschaftswelt – und verfährtmit seinen ethisch unbedenklichen Daten, die nicht, wie etwa Datensätzevon Google oder Facebook, Auskunft über Menschen geben, sehr offen.Computerspezialisten aus der ganzen Welt können das CERN Open DataPortal besuchen und mit den dort zur Verfügung gestellten Datensätzenihre machine learning Algorithmen trainieren.

Wie werden die „Cernians“, oder „Cernies“, wie sie sich selbst gernescherzhaft nennen, mit diesen Massen fertig? Im Folgenden möchte ichanhand von Ergebnissen, die ich aus meiner laufenden ethnographischenFeldforschung seit gewinnen konnte, darlegen, dass das Big Datagetriebene CERN auf verschiedenen Ebenen durch ludische Elemente ge-kennzeichnet ist. Zunächst werde ich seine symbolische Rolle über dasKonzept des Deep Play beschreiben, an dem wie auf einer Bühne die Na-tur nachgespielt und sich dabei subatomaren Welten über Wahrscheinlich-keitsrechnungen angenähert wird. Im Anschluss werden die ontologischenBedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischenInfrastruktur beschrieben, in der agonale, das heißt, wettbewerbsorientier-te Dynamiken der Kollaboration sowohl euagonale, als auch dysagonaleKräfte entfalten, also produktive, wie destruktive Aspekte von Kompetiti-

487

Page 4: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

on aufweisen. Erst aus dieser Synthese, des synagonalen Zusammenspielsverschiedener Disziplinen wird ein Playground (Spielplatz) geschaffen, derdie Produktion von Wissen ermöglicht. Im letzten Teil des Aufsatzes sollder epistemische Einsatz von Spielformen, insbesondere ludischer Platt-formen analysiert werden, bei denen der LHC, durch Expert Challengesund Citizen Science Games, sich eine größere Öffentlichkeit zu Nutzemacht. Sie erlauben es, Machine Learning Algorithmen zu verbessern undproduktiver mit der Masse von Big Data umzugehen. Der Aufsatz trägtsomit insbesondere zur organisationstheoretischen Frage nach demWech-selspiel von Kollaboration und Wettbewerb in wissenschaftlichen Commu-nities bei, wie sie unter anderem in dieser Zeitschrift in einem Sonderheftjüngst diskutiert wurde (Nickelsen & Krämer ; siehe auch Hackett; Hagstrom ; Shrum ; Steingart ) und erklärt dabei, wiewissenschaftliche Innovation entsteht (Nowotny , ), dass sichder wechselseitige Aushandlungsprozess in den Wissenschaften (Felt et al.) immer wieder lokal ausgestaltet und die Balance von Vertrauen undSkepsis situativ ausgehandelt wird.

Die Beispiele zeigen, wie sich die von Peter Galison beschriebene Tra-ding Zone – ein Zwischenbereich in dem Wissensprozeduren lokal koordi-niert werden können, selbst wenn größere Bedeutungsvorstellungen dabeiaus gegensätzlichen Richtungen aufeinandertreffen (Galison : ) – inZeiten von Big Data am CERN in einen Playground verwandelt. Ähnlichden Aushandlungsprozessen von sozialen Hierarchien und lokal definiertenRegeln, Habitus und Codes auf Spielplätzen, arbeiten Physiker_innen, In-genieur_innen und Computerwissenschaftler_innen zusammen, teilen sich„Spielzeuge“, Tools und Toys, und kommunizieren mithilfe eines sich vonWerkzeugen her entfaltenden Vokabulars, auf der Basis geteilter globa-ler Sinn- und Bedeutungswelten. So entstehen die von Susan Leigh-Starund John Griesemer beschriebenen Boundary Objects (Star & Griesemer), durch das, was Sheila Jasanoff als Co-Production () bezeichnet.Die Architektur und Infrastruktur algorithmischer Wissenskulturen unter-scheidet sich von der klassischen Trading Zone durch Möglichkeiten, diesich etwa mit Hilfe des World Wide Web, leistungsstarken Servern undRechnern, gigantischen Datenfarmen und der Ubiquität des personalisier-ten Computers bieten. Die Infrastruktur bildet, mit Janet Vertesi gedacht,Seamful Spaces, da hier Menschen, Maschinen und Daten in multiplen, ko-existierenden Umwelten miteinander „versäumt“ werden und durch dieseinfrastrukturellen „Verpflichtungen“ kollaborieren (Vertesi ). Die un-glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird in solchen digitalenArbeitsumwelten somit hinfällig, das Zusammenspiel von Menschen, Ma-schinen, Algorithmen und Daten beschreibbar. Während in der TradingZone überschaubare Komplexität ausgehandelt wird, ist in Seamful Spaces

488

Page 5: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�die Komplexität der Kollaboration derart verdichtet, dass Spielförmigkeitüberhaupt Handlungsfreiheit erlaubt. Dabei entsteht weniger ein Kreol,als dass fachspezifische spontane Übersetzungen vorgenommen werden.„CERNglish“ wandelt sich von Generation zu Generation, von Playgroundzu Playground und erhält im Gegensatz zu Kreolsprachen seine Stabilitätaus materiellen Bedingungen und der physikalischen und informations-theoretischen Terminologie.

Auf den Playgrounds der Hochenergiephysik wird Wissen ausgehan-delt, das hohen Anspruch besitzt. Werbebroschüren, pädagogischen undpopulärwissenschaftlichen Vorträgen folgend, geht es um etwas Fausti-sches, nämlich, zu ergründen „was die Welt im Innersten zusammenhält“.Für die Physik haben solche Worte, entrissen der Schlüsselszene des Goe-the’schen Theaterstücks, in der Faust seine Seele an den Teufel verkauft,um Erkenntnis zu erlangen, keine größere Bedeutung. Aus kulturanthropo-logischer Sicht jedoch lässt sich hier, neben üblichen Marketingstrategien,viel über das Selbstverständnis der Physik ablesen. Sätze wie diese ge-ben den imperialen Anspruch der Physik preis, über soziale und kulturelleWelt- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft eine hegemoniale Deu-tungsmacht zu beanspruchen. Während nach der Beschaffenheit einfachs-ter Strukturen gesucht wird, geht es doch um nicht weniger als Wahrheitmit einem Konzept von Natur zu beanspruchen, die sich messen, mathe-matisch beschreiben und reproduzieren lässt.

Die Regeln des Playgrounds

Seit Jahrzehnten wird die Hochenergiephysik von Wissenschaftshistori-ker_innen, Kulturanthropolog_innen und Forscher_innen aus dem Bereichder Science and Technology Studies befragt. Während die historischen Be-dingungen aus organisationsgeschichtlicher Perspektive (Hermann et al., ; Krige et al. ), im Spannungsfeld von internationaler Wis-senschaftspolitik (Krige ) und nationalen Interessen (Carson ;Strasser ) sowie im Blick auf wissenschaftsgeschichtliche Entwick-lungen (Galison ) untersucht wurden, widmeten sich soziologischeStudien insbesondere dem Netzwerk von menschlichen und technischenAkteuren (Knorr-Cetina , ) oder der Organisation des Wissens(Graßhoff & Wüthrich ). Darüber hinaus wurde auch das Miteinan-der verschiedener Forscher_innen unterschiedlicher kultureller Herkunftam Beispiel nationaler Stile erforscht (Nothnagel ), der Habitus unddie Lebenswelt der Hochenergiephysik beschrieben (Traweek ) und diewissenschaftlichen Werkzeuge ebenso wie ihre epistemischen Möglichkei-

489

Page 6: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

ten und anthropozentrischen Beschränkungen (Roy , ) aus phi-losophischer und wissenssoziologischer Sicht befragt (Borelli ; Merz).

Die bisherigen Forschungen zur Wissensproduktion und Arbeitsorga-nisation am CERN haben sich der Betrachtung ludischer Elemente nurperipher gewidmet. Max Boisot und Michael Nordberg zum Beispiel ver-weisen auf die Implementierung von spieltheoretisch basierten Nash-Equi-libria für kollektive Managementstrategien in der ATLAS-Kollaboration,wenn es darum geht, Richtlinien auf der Basis von Spieltheorie zu ent-wickeln. So verweisen die Autoren darauf, dass die ATLAS-Kollaborationflache Hierarchien etabliere und einen demokratischen Prozess, der ratio-nale Entscheidungen für Konflikt- und kooperative Situationen favorisiere.Sie führen aus, wie für ein reibungsloses Funktionieren am CERN Ma-nagementstrukturen etabliert wurden, die Mitarbeiter_innen als „Player“begreifen, deren Strategien individualisiert und verdeckt werden (Boisot &Nordberg : ). Der wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtete Blickverdeckt jedoch die Frage nach Dynamiken, die sich mit dem ökonomi-schen Denkstil bloß unzureichend erklären lassen. Hier rückt die regu-lierende und kontrollierende Funktion von Spielen, die funktionale Rela-tion von Kosten und Nutzen, in das Zentrum der Aufmerksamkeit undverdeckt den Überschuss an Energie und Imagination, der das CERN zudem magischen „Mekka der Physik“ macht, als dass es von vielen subjek-tiv beschrieben und wahrgenommen wird. Diese Elemente sind indessentypisch für das, was ich als Playground bezeichne. Auch die Wissensso-ziologin Karin Knorr-Cetina greift die kontrollierende Seite des Spiels aufund verweist auf die Bedeutung von Kriegs- und Planspielen als Vorlagefür Laborforschungen (: –, –). In ihrer Studie zur Arbeittheoretischer Physiker_innen am CERN verzeichnen Martina Merz undKarin Knorr-Cetina Interviewpassagen, in denen Informant_innen auf dieKreativität und imaginative Kraft des Ludischen verweisen, indem sie ihrealltägliche Arbeit an den Gleichungen als „herumspielen“ bezeichnen undihre Disziplin als einen „unendlichen Spielplatz“ der Mathematik (Merz& Knorr-Cetina : ) beschreiben. Die Autorinnen verfolgen diesesPhänomen jedoch nicht weiter, sondern widmen sich in ihrem Aufsatz denfunktionalen Formen theoretischer Wissensprozesse.

Die Größe einer Gemeinschaft besitzt zentrale Bedeutung für den Ge-genstand der Erkenntnis, wie unlängst die Anthropologin Nurit Bird-Davisdargelegt hat () – ebenso wie der Einsatz von „sociotechnical imagi-naries“ (Jasanoff & Kim ), die es überhaupt erst ermöglichen, dassKosmologien (Sahlins ) entstehen können. Das CERN kann mit sei-nen etwa . Mitgliedern zwar als eine medium-scale Community be-griffen werden. Ihre Konzepte und ihr Habitus aber werden dadurch, dass

490

Page 7: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�viele Cernies später gar nicht in der Wissenschaft arbeiten, sondern inanderen globalen Communities, vor allem in die Welt der datenanaly-tischen Marktwesens getragen. Und doch bildet die Hochenergiephysikeinen Mikrokosmos in dem kulturelle und soziale Phänomene zu einemkosmopolitischen Ideal amalgamiert sind, an dem seit seinem Bestehendie imaginativen Kräfte nationaler Identitäten ebenso wie soziale Herkunftvon der Identität des Ortes ausgeglichen werden, selbst wenn diese im All-tag und für jedes Individuum weiterhin eine besondere Rolle spielen undoft durch kulturelle Gruppenbildungen ausgelebt werden. Sharon Traweekhat argumentiert, dass insbesondere die Hochenergiephysik eine Trennungvon Wissenschaft und Gesellschaft vorantreibe, indem sie eine „Kulturder Nichtkultur“ propagiere, die danach strebe, eine Welt ohne Tempe-rament, Gender, Nationalismus und Unordnung, außerhalb von menschli-cher Raum und Zeit zu fördern (: ). Im Gegensatz dazu scheint mirjedoch, dass von Physiker_innen im Allgemeinen und Cernies im Beson-deren von einer transnationalen und kosmopolitischen Kultur gesprochenwerden kann (Pheng & Robbins ; Beck ), deren Alltagssprachesich zwar – wie jede orale Sprache – rasant wandelt, aber deren seit Gene-rationen weitergegebene soziale Codes und epistemische Wissensbeständeeinen spezifischen Wertekanon und eigenen kulturellen Habitus heraus-gebildet hat. Dabei unterscheiden sich die gelebten Codes von gesetztenNormen und wissenschaftlichem Verhalten im Alltag. Eine kulturanthro-pologische Analyse dieser Kultur erscheint daher ebenso fruchtbar, wie dieAuseinandersetzung mit „Kulturklassikern“ wie zum Beispiel etwa den Ara-wete, den Berbern, den Deutschen, Griechen, Nuern oder Trobriandern.Für das digitalisierte Zeitalter liefert insbesondere die Kultur der PhysikErkenntnisse, schließlich wird hier seit den er-Jahren die Automati-sierung von Arbeit vorangetrieben (Galison ) und an wenig anderenOrten hat sich der Personal Computer derart früh als ubiquitärer Arbeits-gegenstand etabliert wie hier.

Während meiner Arbeit unter Physiker_innen, die mir die Möglichkeitbietet sowohl in virtuellen Gruppen als auch im realen Alltag inmitten dertechnischenWelt und an den Arbeitsplätzen der Cernies „herumzuhängen“(Schwanhäußer ), konnte ich aus der teilnehmenden Beobachtung all-täglicher Praxis (Knecht ; Niewöhner et al. ) die vorherrschendenAnnahmen in der Wissenschaftsforschung über die Arbeitsweise in derHochenergiephysik um den Aspekt des Ludischen erweitern. Die bishe-rige Forschung betrachtet wissenschaftliches Arbeiten überwiegend vonden Konzepten der epistemischen Kulturen, der Akteur-Netzwerk-Theo-rie, der Co-Production und dem Konzept der Trading Zone, in der interdis-ziplinäres Wissen ausgehandelt wird und sich reziprok konstituiert. In denvergangenen Jahren ist insbesondere das Konzept der Akteur-Netzwerk-

491

Page 8: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

Theorie aufgrund seiner liberalen Logik in Kritik geraten, die funktiona-listische Aspekte und Nutzenrechnungen in den Vordergrund stellt sowiedie Agency von Menschen in einem größeren soziotechnischen Apparaterscheinen lässt, ohne Machtverhältnisse in den Blick zu nehmen. Desglei-chen entbehrt auch das Konzept der Trading Zone nicht a priori gesetztenGrundannahmen gegenwärtiger liberaler Ökonomien, wird doch der Han-del essentialisiert und mit der sprachlichen Kreolisierung verknüpft, einemKonzept, das seinen Ursprung in von Kolonialismus geprägten Machtver-hältnissen verortet. Das „Laboratory Life“ (Latour & Woolgar ) stelltmehr als bloßes Netzwerk von nichtmenschlichen und menschlichen Ak-teuren einer Wissensfabrik dar: Wo Menschen am Werk sind und Vor-stellungskraft gefragt ist, kommt das Spiel zum Tragen. Unvorhersehbareswird gefunden, indem das Vorhergesehene widerlegt wird. Erfolgreich zusein im „Spiel der Wissenschaft“ (Popper : ), wie Popper seine Lo-gik auch umschrieb, heißt somit, individuell zu agieren und sich dochkollektiven, spezifischen Sprachen, Ritualen, Regeln sowie auch Habitus zuunterwerfen. Spielen ist einer der effizientesten Wege schnell, effektiv unddabei überzeugend Ergebnisse nach Zeitplan zu liefern, denn Spiel ver-stärkt die sowieso schon durch gemeinsame Praxis, Ideen und Zeitregimesproduzierten Bindekräfte und den dadurch ausgelösten Vergemeinschaf-tungsprozess. Die wissenschaftliche Wirklichkeit als Spiel zu begreifen,hilft innerlich Abstand zu nehmen, schafft den Raum für Imagination undFalsifikation ebenso wie sie den gesellschaftlichen Druck mildert, der aufMitgliedern einer Arbeitskollaboration wie dem CERN lastet, das pro Jahrin etwa eine Milliarde Euro an öffentlichen Geldern kostet.

Arbeit im Labor und Wissenschaft zu machen ist beides: Ein kreativerProzess der Wahrheitsfindung und eine Organisationskultur. Experimen-te und wissenschaftliches Arbeiten sind, ebenso wie Spiele, von VictorTurner als „liminoide“ Situation beschrieben worden, also freiwillig ge-wählte Schwellensituationen (Turner ). Wissenschaften erhalten, wieJohan Huizinga in seiner Studie Homo Ludens bemerkte, durch ihre Ab-geschlossenheit und Regelhaftigkeit Spielcharakter (Huizinga [] ).Sie schaffen Realität in Realität. Wurde in der Wissenschaftsforschung au-ßer beispielsweise in den Arbeiten von Paula Findlen () sowie einigenRandüberlegungen von Mara Beller () und Paul Forman () zurBedeutung von Ironie, dem Ludischen bloß geringe Aufmerksamkeit bei-gemessen, so hat sich auch die anthropologische Forschung zum Spiel inden vergangenen dreißig Jahren nur schleppend entwickelt. Arbeiten undSpielen werden im Alltag häufig als oppositionelle Tätigkeiten definiert, dieden Menschen existentiell und ontologisch bestimmen: Während durchArbeit die Welt zum Gegenstand gemacht und das Selbst überhaupt imZusammenhang mit Anderen durch Arbeit entsteht (grundlegend hierzu:

492

Page 9: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�Marcuse ), befreit sich der Mensch mit dem Spiel von den Zwän-gen der Notwendigkeit (Bally ) und enthebt sich der Bedingungendes Existentiellen. Wurde das Spiel somit lange Zeit als Gegensatz zurArbeit oder zum Kampf begriffen, konnte in der Kulturanthropologie un-ter anderem durch Philipp Stevens das Verhältnis als falsche Dichotomie(Stevens ) beschrieben werden, da das erste ein „Modus menschlicherErfahrung“, während Letzteres eine „Form der Aktivität“ (Malaby :) darstellt. Zugespitzt gefasst: Spiel ist eine ontologische, Arbeit eineexistentielle Praxis. Auch Casey O’Donnells () Ethnographie über diewechselseitige Verschränkung von Arbeit und Spiel in kollaborativen Ar-beitspraxen von AAA-Videospiel-Entwicklern sowie T.L. Taylors Beobach-tungen von „Arbeit/Spiel-Überlagerung“ im Kontext der Professionalisie-rung von digitalem Spiel auf der E-sport Bühne (Taylor ) verfolgeneine ähnliche Stoßrichtung, ebenso die anthropologischen Überlegungenvon David Graeber (, ). Die vorliegende Forschung stellt somitein Desiderat dar, das in Zeiten der Gamification und der rasanten Etablie-rung einer neuen Disziplin mit Namen „Game Studies“ nach dringlicherBearbeitung fragt.

Deep Play @ CERN: Symbolische Variation

Das CERN ist unbenommen ein Ort der Superlative, der Forscher_innen,Student_innen, Journalist_innen und Tourist_innen aus aller Welt anzieht.Allein . Schüler_innen besuchen pro Jahr das CERN. Die meistenbegegnen zunächst einem kugelförmigen, ikonischen Gebäude, dem Globeof Science and Innovation, blicken zu den im Wind aufgereihten Mitglieds-flaggen hoch, hinter denen ein unscheinbar wirkender Fußgängereingangliegt, der die Tore zu einem Labyrinth von Laboren, Büros und Unterkünf-ten freigibt, in funktionellen, grauen Gebäuden und Hallen aus den letztenfünfzig Jahren untergebracht. Der streunende Blick einer Anthropologinjedoch versucht hinter die Fassaden zu blicken und bleibt zu Beginn an be-kannten Klischees hängen, so etwa der Shiva-Skulptur, die unter Verschwö-rungstheoretiker_innen berüchtigt ist (Abb. ). Sie steht auf dem SquareEldorado, eingepasst zwischen dem Housing Service und Gebäude , dasdie ATLAS und CMS Geschäftsstellen beherbergt, die zwei „Vorzeige-Kollaborationen“ und Geschwisterexperimente des LHC. Am Tage throntsie zwischen grünen Weinbergen auf der einen und der CERN Cafeteriaauf der anderen Seite. In der Nacht vollführt ihr von Scheinwerfern ver-größerter Schatten an der Schwelle zwischen Licht und Dunkelheit auf dengegenüberliegenden Wänden ein theatralisches Spiel, während die Strom-

493

Page 10: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

Abb. 1 Shivas Schatten am Gebäude 42 (Foto A. Dippel)

leitungen surren. Der Schöpfer und Zerstörer wird in der Nataraya-Posedargestellt. Shiva tanzt den Tandava. Der Hinduphilosophie folgend, ver-körpert er die Quelle für den Zyklus von Werden, Erhalten und Vergehen.Shiva, von dem ein anderer Mythos erzählt, dass er mit seiner Frau Parvatiunendlich lang ein Würfelspiel spiele, ist die einzige Manifestierung einerWeltreligion die es ans CERN geschafft hat.

Aber warum überhaupt steht die Skulptur dort, schwer zu übersehenund scheinbar irrelevant? Ursprünglich war sie ein Geschenk des indi-schen Ministeriums für Atomenergie, das übergeben und feierlichaufgestellt wurde. Die meisten Cernies schenken der Statue keine großeAufmerksamkeit, denn Religion spielt in ihrem Arbeitsalltag kaum eineRolle. Ihnen geht es um Teilchenphysik, um Begriffe wie Machine Learn-ing, Luminosität oder Pile-up von Daten. Für manche ist die Statue daherbloß „eine Möglichkeit das tote Ende einer Einbahnstraße zu verdecken,weil es für die Wissenschaft hier nicht weitergeht“, oder „ein Zeichen, dassCERN kein Geschenk zurückweisen kann“. „Es passt gut in das Bild“, sagenandere und, „es ist eine gute Metapher für das, was wir Physiker hier jedenTag tun.“ Insbesondere in den letzten beiden Kommentierungen lassen sichinteressante Verbindung zwischen Shiva, dem kosmischen Tänzer und ei-ner Kollaboration tausender Cernies herstellen, die in ihren Theorien undExperimenten die Anfänge des Universums inszenieren. Denn sie tun das

494

Page 11: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�vor allem, indem sie rechnen und kodieren und ganz so wie Shiva, demdie Materie zum Spielen zur Verfügung steht, verrichten Physiker_innendiese Arbeit auf der Basis eines Wirbeltanzes von Teilchen, durch Monte-Carlo Simulationen von Big Data. Im Grunde „spielen“ Physiker_innen, sowie Shiva und Parvati, ein imaginäres Würfelspiel, wenn sie „fundamen-tale“ Eigenschaften von Natur mit „Monte-Carlo-Methoden“, „Pseudo-Zu-fallszahlen“ und Toy Simulations vorhersagen. Ihre Datenmassen sammelnsie durch die gezielte Zerstörung von Protonenpaketen, die dabei Spurenin Siliziumlagen und Teilchenkammern sensibler Detektoren hinterlassen,welche „einem Mandala gleichen. Wunderschön, aber im Grunde weißniemand wirklich was sie bedeuten oder was damit anzufangen ist“, wieMichael, ein älterer Hochenergiephysiker, meint.

Physiker_innen am CERN erzeugen, erhalten und zerstören so wie Shi-va Materie und Antimaterie, modellieren und simulieren Ursprung undEssenz des Kosmos, mit anderen Worten, sie machen Physik. In seineneigenen Werbetexten existiert das CERN, um das „Mysterium der Natur“zum „Nutzen der Menschheit“ zu „verstehen“. Die Forschungsstätte wur-de deshalb auch als ein „Projektionsort“ bezeichnet (Houdart ): DasCERN bietet durch die hier zu beobachtende Verdichtung unterschied-lichster Kulturen und gemeinsam geteilter Wertvorstellungen, die alle ander Arbeit an einem Weltbild mitwirken, einen Ort auf den sich Hoff-nungen, Ängste von Menschen projizieren und sich die moderne Weltreflektieren lässt. Kann das CERN nicht auch als ein Ort des Ludischenbegriffen werden, an dem ein kulturelles Deep Play (Geertz ) exer-ziert wird, weil sich Wünsche und Träume einer Gesellschaft nach einerfriedlichen transnationalen Welt – gleichgültig durch welche internatio-nalen politischen Entwicklungen hervorgerufen (Krige , ) – da-durch verwirklichen, dass gemeinschaftlich an ungeheuerlichem Wissengeforscht wird und tagtäglich mühsam kulturelle Gräben auf der Basis desSpiels der Wissenschaft (Bourdieu : ) überwunden werden?

Clifford Geertz’ Konzept des Deep Play beschreibt den traditionellen ba-linesischen Hahnenkampf, bei dem Hähne in einer als ausnehmend fried-lich bekannten Gesellschaft stellvertretend für die Männer selbst kämpfen,als „metasocial commentary upon the whole matter of assorting humanbeings into fixed hierarchical ranks and then organizing the major partof collective existence around that assortment“ (: ). Ganz ähn-lich wie der balinesische Hahnenkampf liefert der Ringbeschleuniger desCERN einen metasozialen Kommentar über das friedfertige, kulturspezi-fische Unterfangen in liberalen Zeiten, nicht-menschliche Entitäten nachfixen, stratifizierten und symmetrisierten Systemen anzuordnen, um da-durch die kollektiven Vorstellungen über den Kosmos zu organisieren. Inseiner Ethnographie Negara erweitert Geertz seine Spielrhetorik auf das

495

Page 12: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

gesamte politische System Balis. Er beschreibt es als eine Form des sozia-len und kulturellen Mimikrys:

[S]tate ceremonials of classical Bali were metaphysical theatre: theatredesigned to express a view of the ultimate nature of reality and, at thesame time, to shape the existing conditions of life to be consonant withthat reality; that is, theatre to present an ontology and, by presentingit, to make it happen – make it actual (Geertz : ).

Um das Gemeinschaftswesen der Balinesen zu verstehen, konzentriertsich Geertz auf Spiele und Rituale. Jedes soziale Mimikry wird hier zurkulturellen Mimesis, ein Begriff, der nach Plato einen „Akt der Kompo-sition“ bezeichnet, der in einem „Akt der Schöpfung mündet, und voneinem Schauspieler, der Sprachrohr oder Rezitator ist, vorgeführt wird“(Havelock : , Übs. d. A.). So wie beim Hahnenkampf in Bali gesell-schaftliche Rollen und Werte ausgehandelt, bzw. vorgeführt werden – istdas CERN eine transnationale Arena, in der sehr viel mehr „auf dem Spiel“steht, als „Physik“. Es geht um einen kosmopolitischen Traum, um Ideenwie „Europa“, „Völkerfrieden“ und „Grundlagenforschung“. Zugleich ist dasCERN eine idealisierte Gemeinschaft. Hier werden managementbasierteStrukturen und ökonomische Theorien soziale Wirklichkeit. Im Umgangmit Big Data, der Konstitution von Open Platforms und der Arbeit mitneuronalen Netzen spiegeln sich soziale Hierarchien und die Wertigkeitvon Wissen in einer posthumanistischen Kultur, die Technik und Natur-wissenschaft über den klassischen Bildungskanon stellt. Oder der gerne imCERN kolportierte Mythos, demzufolge Papst Franziskus bei einem Tref-fen zum damaligen Generaldirektor des CERN Rolf-Dieter Heuer gesagthaben soll: „Herr Heuer, ich weiß gar nicht, wo das Problem liegt: Siebeschäftigen sich mit allem, was nach dem Big Bang passiert ist, wir mitallem, was davor kommt.“ Das Naturverständnis der Experimentalphysikproduziert eine Gemeinschaft von Akteuren, die Werte, Handlungs- undDenkweisen vereint. Habitus und Arbeitsstil werden von den Kulturtechni-ken hier erst hervorgebracht und durch das disziplinäre Selbstverständnis(Traweek ) verstärkt.

Wir haben gerade gemeinsam im Restaurant ein dreigängiges Mit-tagsmenü gegessen, Salat und Joghurt inklusive. Es ist inzwischen Zeitzurück an den Arbeitsplatz im Building zu gehen, wo wir kurz vor derRückkehr noch einen Espresso holen wollen. Achtlos laufen wir an derShiva-Skulptur vorbei. Sebastian, der inzwischen seit über zehn Jahren amCERN arbeitet, dessen Arbeit an Algorithmen in der ganzen ATLAS-Kol-laboration bekannt ist, erklärt euphorisch: „Mit Simulationen haben wirendlich die Möglichkeit, wirklich etwas zu schöpfen. Für ihn ist seine Ar-beit „Gott spielen mit Hilfe des Computers“. Wieder einmal verrät das, was

496

Page 13: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�so daher gesagt ist, doch etwas über das Selbstverständnis und lässt den„Gottkomplex“, der sich mit der technischen Beherrschung vonWelt in dasnaturwissenschaftliche Denken und Ingenieurswesen eingeschrieben hat,durchscheinen. Der Zusammenfall von „Gott“ und „Spielen“ steht hier zurDiskussion, denn nur den Göttern ist es erlaubt, ohne Rücksicht auf Ver-luste zu spielen, egal ob sie gewinnen oder verlieren, sie sind unsterblich(Graeber : ). Regel, Anfang und Ende, sowie alles was dazwischenzählt, ist Menschenspiel – nur in diesem Rahmen verlieren Handlungenihre existentielle Bedeutung. Cernies spielen wie Götter, schaffen, erhalten,modellieren und zerstören Teilchen, wobei sie Erkenntnisspiele vollführen,um Muster zu entdecken. „Simulationen des Detektors etwa, dienen dazu,die Messung zu optimieren. Sie ist ein Mittel, um die Natur nachspielen zukönnen. Durch Simulation wissen wir mehr über die Natur,“ sagt Christi-an, ein erfahrener Post-Doc, der an der Simulation vom ATLAS-Detektorarbeitet, „es ist ein Parallelsystem von Natur.“

Die am CERN ausgeführten Experimente wurden bisher als Deep Playbeschrieben, weil sie einen symbolischen Schauplatz für die naturwissen-schaftliche Kosmologie darstellen, indem sie eine Miniatur physikalischerKosmogonie repräsentieren und von Steuergeldern finanziert dem öffent-lichen Interesse ausgesetzt sind. Da in der Wissenspraxis Physiker_innengleich Göttern mit einer Welt in einem liminoiden Zustand spielen, in demes um alles geht, aber nichts existentiell zählt. Zweiundzwanzig Europäi-sche Mitgliedsstaaten sowie Universitäten und Nationen aus der ganzenWelt unterstützen die Organisation. Der Ort ist ein gelebtes Beispiel derkosmopolitischen, globalisierten, internationalisierten und liberalen Ge-sellschaft mit ihrer kulturellen Ausrichtung auf Mathematik, Informatik,Naturwissenschaft und Technik (MINT) als Antriebskräfte gesellschaftli-cher Entwicklung. Auf der Basis dieser Quadrarchie zielt das CERN darauf,mit Hilfe seiner technologischen und organisationalen Infrastruktur, über-prüfbare Modelle zur Natur der Natur zu liefern.

Ludische Infrastrukturen: Ontologische Variation

Der Physiker Harald Lesch sagte in einer Fernsehshow über den Erfolgder Organisation am Fuße des Jura: „Wieso das CERN so gut funktioniert?Einfach weil dort alle spielen“. Das Wort „spielen“ wird von den Physi-ker_innen alltäglich und selbstverständlich benutzt. Es ist ins Unbewusstedes Vokabulars der hochenergiephysikalischen Alltagssprache eingebettetund wirkt wie ein Kontrastmittel zum technischen, computerwissenschaft-lichen und in seinen Ursprüngen vielfach ballistischen Vokabular, das den

497

Page 14: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

Alltag beherrscht. Während „Spielen“ am CERN auf der ontologischenEbene wie oben dargelegt wurde dank der imaginären Möglichkeiten derSimulation in einen gottähnlichen Modus versetzt, erscheint es auf der all-täglichen Ebene als ontologischer „Erfahrungsmodus“ (Malaby : )insbesondere als Ort des Agon, des Wettkampfes. Götter spielen um desSchicksals willen, auf Verluste müssen sie keine Rücksicht nehmen. Ge-sellschaften investieren in Experimente um Wahrheit zu finden, und wiees so schön heißt, hat jede Wahrheit ihren Preis, der in diesem Fall durchSteuergelder bezahlt wird.

Ludische Arbeitspraxen können in vielen Bereichen der Kollaborationbeobachtet und entdeckt werden, gerade weil die Physiker_innen ihr Tunmit „heiligem Ernst“ im Sinne Johan Huizingas betreiben ( []:–, ). Insbesondere die Fähigkeit enorme Massen an Big Data zuverwalten und eine Vielzahl von Menschen und Maschinen miteinander zuverknüpfen, lässt die Trading Zone zum Playground werden. Auf dem bei-spielsweise von Karin Knorr-Cetina diagnostizierten Wissenschaftsmarkt,in demWissenschaftler_innen als „economic reasoner“ erscheinen (Knorr-Cetina : ), müssen sie heute als „ludic reasoner“ auftreten, die Her-ausforderungen suchen, Risiken eingehen und deren individuelles Gewinn-streben eben nicht von materiellem Profit getrieben ist (aber materiellenZwängen unterworfen ist), sondern davon zu erkennen, das Spiel des Wis-sens zu spielen und die eigene Sache so gut wie möglich zu machen.

Wettbewerb erscheint heutzutage für Wissenschaftskulturen im Beson-deren wie für die Gesellschaften einer liberalen, globalisierten Marktwirt-schaft im Allgemeinen emblematisch und wird insbesondere aus wirt-schaftswissenschaftlicher Perspektive analysiert. Aus kulturanthropologi-scher Sicht kann Wettbewerb in vielen Sphären beobachtet werden undmuss von den Ergebnissen der Spielforschung her besehen zunächst alseine Spielform begriffen werden. Die „agonistische Struktur“ (Caillois :–), lässt sich nicht bloß auf der Mikroebene als „Konkurrenz“ zwischenrivalisierendenWissenschaftler_innen beobachten, sondern ist konstitutio-neller Bestandteil der Kollaborationen selbst. Am Deutlichsten lässt sichdas anhand der Zwillingskonstitution von ATLAS und CMS am LHC ver-anschaulichen, deren Produktivität als Teil einer Wissensmanufaktur be-schrieben wurde (Knorr-Cetina ), deren ludischer Elan und die in derKollaboration akkumulierte individueller Lust und Hingabe ans Forschennach genauerer Betrachtung fragt.

Auch wenn ein ökonomischer Grund für die Implementierung des Dop-pelexperiments ausschlaggebend war, da die Experimente so teuer undenergieaufwändig sind, dass ein paralleler Aufbau von Experimentalkolla-borationen viel kostengünstiger und effizienter wird, trägt diese Arbeits-architektur zur Wettbewerbssituation bei und soll bewirken, dass die Ex-

498

Page 15: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�perimente schneller zu verwertbaren und präsentierbaren Forschungser-gebnissen gelangen. Jedes Experiment vermag die Ergebnisse des ande-ren unmittelbar zu überprüfen und zu falsifizieren. Erst wenn beide dasGleiche bestätigen, hat die Messung Anspruch auf Faktizität. Und schondeshalb bekommt die Frage, wer von beiden Kollaborationen warum alserstes etwas aus den Datenmassen gefischt hat, einen Stellenwert zuge-schrieben. Der Wettkampf um die Beantwortung hunderter spezifischerwissenschaftlicher Fragestellungen im Blick auf Energie, Masse, Form undZerfallszeit von kollidierenden Teilchen versetzt die Menschen in einenimmersiven Rausch, der gerade durch das gemeinsame Zusammenarbei-ten im Wettlauf mit einer anderen Gruppe verstärkt wird. Nur im Scherznennen sich Physiker_innen aus rivalisierenden Kollaborationen „Feinde“:In der Realität floriert der Austausch zwischen den Gruppen und sie neh-men den Wettkampf „sportlich“, wie Valentina sagt, die eine hohe Positionbei ATLAS bekleidet. So bleibt die Arbeit „spielerischer Ernst“ und wirdnie zu „bitterem Ernst“, der die produktive Dynamik der Zwillingsstrukturzerstören würde.

Physiker_innen möchten „innerhalb der strengen Beschränkungen vonFormeln und technischen Randbedingungen Wissen. Spielen ist für uns dieGrundlage für Vorstellungskraft“, sagt die Doktorandin Marlene auf einerParty zu mir, während sie einen Flaschenöffner in der Hand hält – einekleine Muskelmannfigur, bei der anstelle eines primären Geschlechtsmerk-mals einen Korkenzieher sitzt, den man aus- und einklappen kann – „Habeich mal von einer Kollegin geschenkt bekommen. Ist total lustig, oder?“ Sielacht. „Ein nützlicher Mann.“ Dann führt sie weiter aus: „Wir müssen zumBeispiel sehen, dass die Algorithmen funktionieren, aber welche Physik diefür ihre Berechnungen verwenden, wissen wir nicht. Die sind nicht-inter-pretierbar. Sie funktionieren. Das zählt. Und dass sie gut sind, lässt sich da-ran überprüfen, dass bei ATLAS und CMS ähnliche Fragen gestellt werdenund sie zu gleichen Ergebnisse durch unterschiedliche Herangehensweisen,Software, Algorithmen, sogar Programmiersprachen – C++ und Python –gelangen. Sie tun ihren Job.“ Sebastian sieht das im Gegensatz zu vielenanderen nicht so. Er meint: „Natürlich wissen wir, wie das da funktioniert.Die Neuronen und Parameter haben wir ja selbst hineingegeben, die sindja nicht im Area vom irgendwelchen Aliens hinterlassen worden. JederPunkt hat eine Aktivierungsfunktion – und die ist bekannt.“ Die LHC-Experimente sind so komplex, dass für die meisten Physiker_innen weiteTeile der Apparatur zur Black Box wird. Die simulierten Daten erscheinenihnen im Alltag nicht, wie von Merz beschrieben als „Antwortmaschinen“,die sich in „Fragemaschinen“ umwandeln (: ), sondern werdenunter dem Blickwinkeln der Praktikabilität und Funktionalität behandelt,fast schon mit einer post-positivistischen Resigniertheit als das akzeptiert,

499

Page 16: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

was sie über Jahrzehnte hinweg geworden sind: Verlässliche Größen, andie man glauben muß, und an deren Glaube man am Besten nach demFeierabend zweifeln darf und sollte, weil es das perfekte Experiment perdefinitionem nicht geben und man nach ihm nur streben kann.

Die Konkurrenz schläft nie, erst recht nicht in den Seamful Spaces, worund um die Uhr gearbeitet wird. „Wenn ich morgens aufwache und inmeine Emails schaue ist oft eine Arbeit vorangegangen, dann weiß ich,dass während ich geschlafen habe, auf der anderen Seite der Welt weiter-gearbeitet wurde“, sagt Sebastian. In den Meetings, insbesondere aber inden Approval Meetings und Status Reports taucht immer die Frage auf, woATLAS oder im umgekehrten Fall CMS gerade steht und wie die Quali-tät des Projekts im Vergleich mit der Konkurrenz abschneidet. Durch dieInstallation des „gleichen Anderen“ wird die Arbeitsleistung an der Per-formance der gegnerischen Gruppe ablesbar. Eine leitende Managerin vonATLAS sagt im Interview: „Deshalb ist das Verraten von Forschungsergeb-nissen so ein Problem für uns. Es ist einfach unfair und unethisch. Wiebetrügen beim Spiel.“ Das Deep Play der Wissenschaft kennt nur ein Ziel:„Wahrheit“ – bewusst in Anführungsstrichen gesetzt, denn sie schließt dasWissen um ihre mögliche Vergänglichkeit mit ein. Wer versucht Abkür-zungen zu nehmen, gefährdet nicht bloß seinen eigenen Status, sondernhier in diesem Fall das Ansehen, Wohl und Wehe ganzer Kollaborationen.

So verwandelt sich die von Wissensaustausch und Informationspolitikgeprägte Arbeitsorganisation in einen Playground, auf dem sich Menschentreffen und ebenso produktiv wie destruktiv, gleichsam eu- wie dysagonalmiteinander arbeiten. Wie beim Deep Play in Bali, wo die Hähne stell-vertretend für ihre Besitzer und für ganze Familien miteinander kämpfen,treten am CERN Menschen in den Arbeitsring, die symbolisch das Idealder massenbasierten Bestengesellschaft verkörpern und dabei ebenso oftVerletzungen erleiden, wie sie Erfolg haben. Die Ungleichheiten werdenzwar in einer Trading Zone ausgehandelt, aber diese Zone gleicht, sobaldman sich die Arbeit in den Gruppen anschaut in der Praxis einem Play-ground auf dem es, wie auf jedem Spielplatz, alle möglichen Figuren gibt,vom Alphatier über den Blender, den Klassenclown bis hin zum Außensei-ter. Welche Position die Spieler haben, wie lange er oder sie schon dabeiist, bleibt entscheidend, selbst wenn alle im gleichen Sandkasten sitzen undnach den gleichen Regeln spielen. „Eigentlich ist hier Platz für jeden“, sagtValentina, „auch wenn es manchmal schwierig ist, bestimmte Leute unter-zubringen. Abgesehen vom Vollkoffer, der mit niemandem spielen kann,haben wir hier eigentlich für jeden etwas zu tun, wenn er gut ist.“

Die meisten Aufgaben stellen modulare Bestandteile einer größerenGruppenarbeit dar und setzen sich aus verschiedenen Tätigkeiten zusam-men: Zunächst einmal sind Internet Communication Technologies (ICTs)

500

Page 17: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�anzuwenden, um alltägliche Korrespondenzen per Email sowie insbeson-dere via Video und Skype zu erledigen, die oftmals verlangen Arbeiten einerGruppe zu koordinieren. Ein weiterer Bestandteil bildet insbesondere beiDoktorand_innen das Programmieren (alleine oder gemeinsam mit ande-ren). Die erfahreneren Physiker_innen koordinieren Gruppen, managen dieAnalysen oder die Entwicklung von Software, ordnen dabei die Arbeit vonanderen und bringen im Fall von Aufsätzen etwa das Gemeinschaftswerk indie richtige Form, damit die Ergebnisse in den Meetings produktiv disku-tiert werden können. Eine wichtige Aufgabe in der informationsbasiertenArbeit der experimentellen Hochenergiephysik besteht darin, die kollektiveArbeit von Physiker_innen an Codes zu koordinieren. Zu diesem Zweckwerden Logistik-Tools eingesetzt, die es ermöglichen, die Arbeit zu verein-heitlichen oder Aufgaben zu verteilen. Alle paar Jahre wieder wird dabeidas Codemanagement grundlegend überarbeitet. Bei ATLAS wurde vorKurzem von svn (Subversion) auf Git umgestellt. Git vereinigt die Arbeits-leistung von vielen Menschen, die gemeinsam an Codes arbeiten. Durchdas Ticketsystem JIRA, einem Issue Tracker werden die Gruppenarbeiterüber laufende Arbeitsprozesse informiert. Bei den Softwareentwicklungenwird auch Jenkins eingesetzt, eine Anwendung, die plattformübergreifend,„continuous integration and continuous delivery“ ermöglicht und somitdas Bauen und Testen von Softwareprojekten erleichtert, bevor die Codes„gemerged“, also miteinander verwoben werden. Dabei kommt es im-mer wieder zu Fehlschlägen. Gregor kommentiert aus seiner Erfahrung:„Fehlgeschlagene Tests sind Teil des Workflows. Jeder macht Fehler undniemand muss sich schämen, wenn ein Test fehlschlägt.“ Ein Nebeneffektvon Git ist, dass alle Gruppenmitglieder über die (Fehl-)Arbeiten der an-deren informiert sind. Nach einem Merge, werden die vorherigen Arbeits-schritte, die „Geschichte“ des Codes und der Veränderungen gelöscht. „DieGeschichte wird umgeschrieben“, sagt Sebastian, der sich mühselig in dieneue Software einarbeitet und an den neuen Arbeitsstil mit seinen AtomicCommits, das heißt sehr kleinen Tasks, die nun in alle Verzweigungen desAlgorithmus übertragen werden können, erst noch gewöhnen muss: „Ichneige oft dazu, Monster Branches zu machen, das heißt ich ändere Files,benenne Kategorien um und Merge das alles auf einen Schlag in den Mas-ter Branch, was dann zu Problemen für die anderen führt, die erst einmalwieder gelöst werden müssen“, gesteht er selbstironisch. Die DoktorandinMarlene erklärt: „Wenn einer in Files eingreift, ist die Wahrscheinlich-keit einfach groß, dass die anderen an ähnlichen Files gearbeitet habenund Konflikte bekommen, die aufgelöst werden müssen.“ Bei den vorhereingesetzten Plattformen war die Arbeitsweise linearer. Sie führt aus: „Jetztwird die Wahrheit umgeschrieben, weil man durch dasMergen einen Reba-semacht, das heißt in allen Branches die Änderungen durchGit vornehmen

501

Page 18: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

lässt und die Konflikte, die man bei sich ausgelöst hat, klärt.“ Die Geschich-te erscheint immer unwichtiger, die Praxis immer verwobener, sobald dieMaschinen rechnen. Hauptsache das Programm läuft fehlerfrei und die anhermeneutische Verfahren erinnernde algorithmische Rekonstruktion derEreignisse funktioniert (Dippel & Mairhofer : –).

Einige der älteren Physiker_innen beschweren sich über das neue Code-management, das sie nicht verwenden können, was „vielleicht nur denJungen nützt, die später bei Google arbeiten.“ Die meisten versuchen ehermühselig auf dem neuesten Stand zu bleiben. „Ich verstehe oft nicht einmalmehr, was die Jungen sagen“, beschwert sich ein älterer Physiker, „obwohlich früher besonders im Programmieren drinnen war, solange wir nochSubversion hatten. Mit Git wird alles schwieriger, weil lauter Begriffe ver-wendet werden, die ich einfach nicht kenne.“ Sebastian findet jedoch: „Dumusst schon immer am Ball bleiben, wir Älteren haben uns an die jungeGeneration anzupassen, nicht jeder wird schließlich später hier arbeitenkönnen und braucht dann die Tools draußen.“ Dass es für die erfahrenerenPhysiker_Innen nicht leicht ist, bringt die Jungen zuweilen zum Tratschenund gibt ihnen Selbstbewusstsein: „Die Älteren tun sich etwas schwer mitder Umstellung auf Git,“ findet auch die Dotorandin Marlene und schmun-zelt dabei über ihren Gruppenleiter, der sich noch an die neue Form derDokumentierung gewöhnen muss und gerne mit Jenkins testet, anstelle lo-kale Tests vorzunehmen, wodurch dann alle Teilnehmer_innen zwei Emailserhalten, was zu Verdruss führt. Testsuites nehmen Zeit in Anspruch undverlangsamen die Arbeit der gesamten Gruppe. „Nur Bugs suchen dauertlänger“, sagt Marlene, „die Sicherheit geht vor.“ Gregor überlegt: „MeineErfahrung ist: lokal testet man das, was man gerade selbst entwickelt, bzw.verbessert hat. Wenn das alles passed, dann commited man und onlineläuft dann die gesamte Testsuite die alles testet. Die checkt dann auch,ob meine Code-Änderungen anderes Zeug kaputt machen.“ – „Wenn jedesMal ein Test fehlschlägt ist das nicht zielführend und kostet zu viel Zeit“,kommentiert Robert lakonisch, ein Doktorand der ebenfalls in der glei-chen Gruppe arbeitet, über die Umstellungsschwierigkeiten seines älterenGruppenleiters. An diesem Dialog lässt sich beobachten, dass Anglizis-men am CERN im Deutschen, ebenso wie in vielen anderen Sprachen, diehier gesprochen werden, selbstverständlich sind – das Alltagsenglisch er-scheint nicht als Kreol, wie von Peter Galison vorgeschlagen, sondern alsein Fachdialekt, der von Termini geprägt ist, die sich durch das jeweiligeExperiment ergeben, der sich mit jedem neuen Programm entwickelt undsogar von Generation zu Generation ändert.

Oft tauschen sich die Gruppenmitglieder über die Funktionsweise derPlattformen und Anwendungen so aus, als ob es sich dabei um lebendeWesen handelt: „Jenkins loggt sich auf GitLab ein“, sagt Robert. Er hat agen-

502

Page 19: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�cy. Einmal fragt Marlene: „Der Jenkins kompiliert schon den komplettenMerge Request?“ Robert meint: „Uff, der hat einen Cache, wenn Jenkinsmerkt, dass sich da nichts geändert hat, wird es nicht neu kompiliert.Oder wie meinst du? Ich muss zugeben ich kenne mich damit eigentlichzu wenig aus um der Admin davon zu sein.“ Robert hat die Aufgabe geradeerst von einem anderen übernommen, der das CERN verlassen hat undinzwischen bei der Schweizer Post arbeitet. Marlene überlegt: „Naja, nor-malerweise sollte er, wenn man schon einmal einenMerge Request gemachthat, wenn man dann neu pusht, automatisch neu kompilieren. Da hat es dieletzten Wochen Probleme gegeben, aber ich glaube das geht jetzt wieder?Und sonst, wollte ich fragen, ob es eh so ist wie vorher, also wenn manzum ersten Mal einen Merge Request aufmacht, dass der komplette MergeRequest kompiliert wird und nicht die Commits einzeln?“ Gregor sagt da-raufhin: „Also die Jenkins Settings sind jetzt so wie vorher. Es kamen dieletzte Woche alle Jenkins-Nachrichten doppelt, deshalb hast du das viel-leicht gedacht, weil der Jenkins-Server geklont war und beide Clone Testslaufen gelassen wurden und dann kommentiert haben. Und die Klone ha-ben seltsamerweise um viele Stunden unterschiedlich lang gebraucht, umeinen Job anzufangen. Ausführen war gleich schnell.“ Marlene fragt her-ausfordernd: „Welcher war schneller, deiner oder der Alte von John?“ DerAgon hat kein Anfang und kein Ende. Robert meint: „Ich glaub mal somal so. Heute kam eine Jenkins Message vom Server der schon seit Freitagkeine Webhooks mehr bekommt.“ Und beide lachen über die Maschinen.Git wird von den Jüngeren als vorteilhaft beschrieben, weil es modernesProgrammieren ausmache, man gemeinsam besser an Codes arbeitet undes die Kommunikation und Kollaboration erleichtert „auch wenn die Kon-trolle des Einzelnen größer ist“, meinen Gregor und Marlene unabhängigvoneinander.

In dieser Passage lässt sich, neben der Anthropomorphisierung vonAlgorithmen und Tools, das hochspezialisierte und an den informatischenGegenständen ausgerichtete Vokabular der Hochenergiephysiker_innenbeispielhaft veranschaulichen. Die Sprache hat längst das Feld der Physikverlassen und liegt ganz im Bereich der Informatik. Während es für jün-gere Physiker_innen kaum Probleme bereitet, von einem Plattformsystemins nächste zu wechseln und sich neuen Verfahrensweisen anzupassen,erfordert diese Umstellung für Ältere eine längere Anpassungszeit, die zuFehlern und Häme der untergebenen Jüngeren führen. „Jedes Jahr kommtetwas Anderes. Irgendwann wird der Aufwand neben dem Managementeinfach zu groß und man kommt nicht mehr so leicht mit, und dochmuss man eben am Ball bleiben“ sagt Sebastian. Die älteren Mitgliederder Kollaborationen müssen primär Konzepte umsetzen und entwerfen,garantieren die Produktivität in ihren Arbeitsgruppen ebenso wie die grö-

503

Page 20: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

ßeren Entwicklungen der Experimente. „Erst aus dem Zusammenspiel vonErfahrung der Älteren und aktuellen Techniken entsteht hier das Neue“resümiert Marlene. „Trotzdem,“ sagt Johannes als erfahrener Gruppenlei-ter, „halte ich mich auf dem Laufenden, was das Coden anbelangt. WennDu nicht hands on bist und mit einem Fuß in der Tür bleibst, verpasst Duden Anschluss und verstehst nicht mehr, was Deine Gruppe macht.“

Auch wenn sich aufgrund unterschiedlicher Wissensbestände, Erfah-rungswerte und Aufgabenbereiche eine Hierarchie ergibt, betonen dieMitarbeiter_innen am CERN immer wieder die im Vergleich zu anderengroßen Forschungseinrichtungen, wie etwa Max-Planck-Instituten oderklassischen Lehrstühlen deutlich flachere Hierarchie vor Ort. „Mir ist esegal, ob ich mit einem Professor rede, oder mit einem wissenschaftlichenMitarbeiter, Hauptsache die Physik stimmt. Den meisten ist das egal,“sagt ein Gruppenleiter – und fügt hinzu: „Wenn sie gut sind.“ Wie diePhysikerin Corinne Pralavorio in ihrem CERN-Blog schreibt: „Die Leiterdes Experiments, als ,Spokespersons‘ bekannt, sind in Wirklichkeit keineLine Manager weil sie hier für ein Institut arbeiten und Rechenschaftablegen müssen (Pralavorio , Übs. d. A.).“ Macht und Einfluss in derKollaboration zeigt sich also weniger durch klare Befehlsstrukturen undPositionen im Arbeitsgefüge, als durch innere Vernetzung, Informations-vorsprung und die „Kürze des Drahts“ im Kontakt mit einflussreichenMitgliedern der Kollaboration, die öffentliche Positionen wie etwa die Lei-tung eines Experiments oder ähnliche administrative Aufgaben bekleiden:„Wenn ich eine E-Mail an Fabiola [Fabiola Gianotti, die Generaldirektorindes CERN; Anm. d. A.] schreibe, dann antwortet sie mir noch am gleichenTag“, sagt Sebastian und gibt damit seinen Kolleg_innen am Mittagstischzum Ausdruck, dass er einen schnelleren Weg zu einflussreichen Figu-ren besitzt und wichtige Meetings über ihn laufen, Hierarchien also imUmkehrschluss doch eine zentrale Bedeutung besitzen.

Physiker_innen am CERN spielen in Teams, wobei sie die Arbeit ande-rer auf die Probe stellen müssen, weil sie wissen, dass auch sie einen Fehlermachen können. Niemand würde von sich behaupten, er habe nie einenBug in ein System gesetzt. Das Wissen um die eigenen Fehlerhaftigkeit unddie Fragilität des Experiments selbst verstärken somit das wechselseitigeÜberwachen und die Notwendigkeit immer mit anderen zu interferieren.Die Experimente sind viel zu komplex, als dass man Experte aller Gebietesein könnte, immer verändert sich irgendwo der Wissensstand und stetsmuss daher auch ein „Update“ mit einkalkuliert werden, was die Fachge-spräche auf den Gängen vervielfacht.

In diesem Comic sieht man viele bisher angedeutete Aspekte verdichtetin drei Bildern (Abb. ). Einerseits wird deutlich, dass die hierarchischeOrganisation gerade leitenden Figuren oft den Spielraum gibt, Arbeit, die

504

Page 21: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

Abb. 2 Bugs fixen (Foto A. Dippel)

andere erledigt haben, als die ihre auszugeben. Deutlich wird auch derDruck, der von der Führungsebene auf die einzelnen Teilbereiche der Ex-perimente ausgeübt wird. Am Ende des Tages geht es vor allem darum,dass die „Sache läuft“. Wie es geschieht, wer es macht, ist dabei zweitran-gig. Und nicht zuletzt wird in diesem Comic auch die stets gegenwärtigeUngerechtigkeit in solchen Kollaborationen thematisiert. Dabei verweistder Comic selbst auch auf existierende Geschlechterhierarchien, die imAlltag oft dazu zu führen scheinen, dass gerade Frauen besonders viel ar-beiten, ihre Arbeit aber weniger Anerkennung erfährt, sondern oft voneinem männlichen Kollegen sogar für sich vereinnahmt wird. Wer durch-setzungsfähig ist, muss am CERN seine Qualitäten ausspielen, denn nur soist eine langfristige Position garantiert. Deshalb spielen viele mit „schmut-zigen Karten“, wie ein Cernie erzählt, der frustriert von einigen seinerKollegen resümiert: „Das CERN ist ein Schlangennest. Und wer besonderspushy ist, der wird hier überleben und hat größere Chancen eine Dauer-stelle im Management zu bekommen. Manche sind so pushy, sie pushenin alle Richtungen. Wie ein Esel. Sie haben keine Ahnung, aber Einfluss.Und wir müssen dann versuchen alles zu retten. Achte mal darauf, obdie CERN-Dauerstellen nicht insbesondere von solchen Management-Ty-pen besetzt werden, die dann vor allem Macht ausüben und Druck inder Kollaboration aufbauen, während die meisten Forscher_innen auf denschlechtbezahlten Dauerstellen der Nutzeruniversitäten sitzen.“ Wann im-mer solche Aussagen von Mitgliedern der Kollaborationen kommen und

505

Page 22: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

ich daraufhin nachfrage, ob sie nicht selbst der Meinung seien, dass hier aufhohem Niveau gejammert wird, reagieren alle sofort mit nachdrücklichemKopfnicken. Und geben gleich zu bedenken, dass die Funktionsweise derOrganisation überragend sei, doch die Experimente und vor allem auch dieDatenanalyse noch „besser“ funktionieren könnten, wenn einiges hier eben„professioneller“ geregelt und das Human Resource Management nicht zuviele bürokratische Regulierungen in die Kollaborationen implementierenwürde. Johannes meint: „Die HR [Human Resource Abteilung] hat in denletzten Jahren einfach zu viel Einfluss bekommen. Das Department wächstdie ganze Zeit und damit fällt ihnen auch immer mehr ein, wie sie uns regu-lieren können.“ Deep Play im Neoliberalismus trägt hier selbstverständlichbürokratische Züge und selbst die Open Data und Open Platform Policydes CERN fügt sich trotz bester Absichten in das gegenwärtige Paradigma.

Wissenschaftliches Arbeiten verlangt nach Neugierde und Determiniert-heit. Durch die steile Lernkurve sind Kollaboration und Konkurrenz ge-koppelt: „Wenn Du am CERN ankommst, dann sagen sie Dir: ,Weißt Du,die Meisten lernen hier C++ in sechs Wochen. Du wirst es in drei schaf-fen. Du bist besser, ich weiß es.‘“ Von der Führungsebene her besehen istso eine Aussage als Ansporn gedacht, der im besten Fall aus dem Team„mehr als einen Monat Arbeitsleistung herausholt, die sie bei geringererForderung nicht erfüllt“ hätten, erfahre ich von einem Physiker aus einerHiggs-Analysegruppe.

Von dem Moment an, wo Physiker_innen sich in den if-then-while-Grammatiken des Programmierens bewegen können, sind sie dazu ge-zwungen, sich vorzustellen was sie zu programmieren haben, müssen sieüber Dinge sprechen, die nicht visualisier-, nur kodierbar sind, um mathe-matische Hypothesen zu testen. Und damit hat das Spiel der Erkenntnisbegonnen, das eben immer auch ein sozialer Agon ist, gerade bei der Ent-wicklung von evolutionären Algorithmen zur Analyse von Big Data.

Ludische Plattformen: Epistemische Variation

In diesem Abschnitt werden systematische Auslagerungen von Forschungs-problemen auf ludische Plattformen beschrieben, die spezifisch durch denUmgang mit Big Data entstehen und durch Spiele gelöst werden können,indem wissenschaftliche Probleme in Challenges ausgelagert werden. Ne-ben diesen Formen des Spiels dient das Spiel auch der Simulation und demBegreifen von informatischen Problemen für die Physiker_innen selbst. Sogibt es einen Playground für Experten, der sich in der von Google entwi-ckelten Open Source Software Library TensorFlow befindet und vermittelt,

506

Page 23: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

Abb. 3 Playground, Tensor Flow Platform (Foto A. Dippel)

wie neuronale Netze funktionieren (Abb. ). Er wirbt mit dem Slogan:„Tinker with a Neural Network Right here in your Browser.“ Hier konver-gieren Name und Praxis physikalischen Arbeitens in Zeiten von Big Datavollends.

Verbreiteter sind Spiele als Werkzeuge, die unter der Bezeichnung Citi-zen Science Games oder Online Crowdsourcing Games und Expert Challen-ges bekannt sind. Ihr Ziel ist vor allem die Verbesserung der neuronalenNetze, und dient den Machine Learning Algorithmen. Big Data-spezifischeProbleme werden gelöst, indem Code und Daten online gestellt, Teamszu Wettbewerben aufgerufen werden, um die hier anfallenden Problemezu lösen. Challenges bilden inzwischen integralen Bestandteil des an BigData orientierten Forschungsprozesses. Die von Hintergrundrauschen undFake Tracks übersättigten Proton-Proton-Experimente des CERN stelleneine große Herausforderung für algorithmische Mustererkennung dar. UmAlgorithmen zu entwickeln, die mit dieser Menge an Big Data umgehenkönnen, werden Datensets in zwei Teile gesplittet, wobei ein Teil dazudient, Algorithmen zu trainieren und der andere dazu dient, Algorithmenzu testen. Die Rechenleistung dieser Algorithmen ist hoch, die Datenmen-gen sind so groß, dass sie nicht auf einem Computer berechnet werdenkönnen, weshalb ein ganzes Netz von Computern im LHC-Grid parallel-geschaltet werden muss, in denen Algorithmen miteinander verschmolzenwerden, damit das beste Modell zur Vorhersage eines Ereignisses entwi-ckelt werden kann. Es setzt sich aus verschiedenen Algorithmen zusammenund emergiert evolutionär in einem Netzwerk. Die erforderlichen evolu-

507

Page 24: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

tionären Machine LearningAlgorithmen stellen eine Grenze der Arbeit fürviele Physiker_innen dar: Sie sind schließlich keine Informatiker_innen,sondern bloß Laien, wie sie selbst sagen. Christian meint: „An anderenOrten wird sehr viel professioneller programmiert als bei uns. Das frus-triert mich manchmal schon.“ Um die Mustererkennung und Modellbe-schreibungen zu verbessern, setzen die Physiker_innen in den Großkolla-borationen ATLAS und CMS daher auch Expert Challenges ein, bei denenTeams an Algorithmen arbeiten, die eine valide digitale Mustererkennungaus der Big Data Masse überhaupt erst ermöglichen. Generelle künstli-che Intelligenzen sind für unterschiedlichste Datensets einzusetzen, auchwenn es viele verschiedene „Familien“ von Machine Learning Algorithmsgibt. Die Probleme, die am LHC bei der Mustererkennung ihrer Daten-massen anfällt, sind vergleichbar mit den Herausforderungen, die Firmenwie Facebook oder Google zu bewältigen haben und die zur Entwicklungneuraler Netzwerk-Intelligenzen wie „Alpha Go“ beitrugen, der denachtzehnmaligen Weltmeister Lee Sedol in dem komplexen Spiel Go ge-schlagen hat.

Die meisten Physiker_innen lernen erst am CERN, mit Python oder C++zu arbeiten. Lange Zeit entwickelten Hochenergiephysiker_innen ihre Al-gorithmen für die bei den Experimenten am LHC anfallenden Algorithmender so genannten MVA (Multi-Variable-Analysis) vollständig selbst. kam auf der Internetplattform Kaggle, die sich auf solche Programmier-und Big-Data-Challenges spezialisiert hat, eine von ATLAS initiierte Ma-chine Learning Challenge zum Einsatz, die der Kollaboration helfen soll,in ihrem Gebiet eingesetzte generelle künstliche Intelligenz zu verbessernund dabei auf das Wissen von Informatiker_innen aus der ganzen Weltzurückgreift (Abb. ). Für Teams, die sich an solchen Wettbewerben be-teiligen, stellt der bereitgestellte Datensatz ein perfektes Übungsfeld imUmgang mit Big Data dar. Während die Physiker_innen also ihr Probleman Fachleute auslagern, werden im Gegenzug die selbstlernenden Algo-rithmen in der Mustererkennung verbessert. Das CERN spart dadurchArbeitsleistung, die Teilnehmer der Challenges sammeln dabei Erfahrungund gewinnen symbolisches Kapital. Stolz erzählt mir etwa ein Informa-tiker vom MIT im Februar , dass er mit einem CERN-Datensatz ar-beitet, der in die Arbeit des CERN einfließen wird. Die erste Higgs BosonMachine Learning Challenge war indes von Mai bis September aufKaggle ausgeschrieben. Das Spiel brachte . Teams, . individuel-le Spieler und . Eingaben aus der gesamten Welt zusammen. DenTeilnehmer_innen war die Möglichkeit gegeben, mit einem Trainingssetvon . Daten zu operieren und einem Testset von . Ereig-nissen zu arbeiten. Die größte Herausforderung, sagt David Rousseau,einer der Initiatoren, „war sicherzustellen dass der Reichtum an Ideen,

508

Page 25: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

Abb. 4 HiggsML Challenge, Kaggle Platform

Software und Algorithmen, den die Teilnehmer_innen zusammengetragenhaben, die Hochenergiephysik und den gelebten Physikalltag durchdrin-gen.“ Neuere Challenges, wie eine aktuell erarbeitete Machine LearningChallenge von ATLAS, bei der mehr als eine Millionen Datenereignissezur Verfügung gestellt werden, zeigen aber auch eine andere Seite des heißumkämpften Marktes im Umgang mit Big Data und zeugen von dem hoch-kompetitiven Wettrennen, das von führenden Unternehmen ausgetragenwird. Johannes erklärt mir: „Es nehmen auch Teams von Google und Face-book oder aus dem Silicon Valley an der Challenge teil. Bei uns hat sich

509

Page 26: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

noch kein Team zurückgezogen, in Berkeley gab es mal eine Challenge,wo sich Facebook und Google einen Stellvertreterkrieg geliefert haben.Kurz vor Ende der Challenge haben sich die Teams aus dem Wettbewerbzurückgezogen. Es ist also nicht notwendigerweise der beste Code, derbei solchen Challenges gewinnt.“ Die Teams von Facebook oder Googleziehen sich deshalb aus Challenges zurück, weil ihr Code Teil des Be-triebsgeheimnisses darstellt und in einer marktbasierten Wirtschaft ebenkeiner Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden soll. Die Möglichkeitihre generellen künstlichen Intelligenzen mithilfe Open Source gestellterBig Data zu verbessern, lassen sich die Teams des Silicon Valley ebenso wiewissenschaftliche Gruppen an Universitäten nicht entgehen. Als öffentli-che Organisation ist das Wissen des CERN jedoch als ein CosmopolitanCommon (Disco & Kranakis ), ein kosmopolitisches Allgemeingut an-gelegt und unterliegt damit spezifischen Lizenzregelungen, so etwa derGNU General Public License. In einer Welt, deren Kulturen sich überla-gern wird Wissen medial vermittelt, weit über die staatlichen Interessenhinaus rechtlich geregelt, in deren Interessenrahmen der Ursprung dieserAllgemeingüter oftmals lag. ATLAS etwa hat sogar seinen Code als OpenSource der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Das CERN profitiert beiden Challenges von dem Einsatz der Citizen Scientists und Experten durchden Wissenstransfer. Auch wenn die Implementierung der Algorithmenselbst wiederum viel Arbeit bereitet, fließen die Ergebnisse derOutsourcingGames in die Mustererkennung am CERN ein.

Online-Citizen-Science-Spiele wie das auf menschliche Mustererken-nung ausgerichtete Spiel Higgs Hunters (), bei dem die Spieler die vor-handenen künstlichen Intelligenzen verbessern, und oben beschriebeneExpert Challenges, die für die Verbesserung und Erneuerung von Algorith-men eingesetzt werden, sind gerade deshalb im Umgang mit Big Data soerfolgreich, weil sie die „produktiven Handlungen von miteinander verbun-denem menschlichem Geist“ (Terranova : ; Übs. d. A.) ermöglichen(Abb. ). Während die Expert Challenges von den Teilnehmer_innen ho-he Programmierkenntnisse vorrausetzen, stellt das von den UniversitätenOxford, Birmingham und der New York University erarbeitete und aufder Plattform Zooniverse bereitgestellte Higgs Hunters das erste Spiel dar,das für eine breitere Öffentlichkeit ausgerichtet ist. Es spekuliert darauf,dass Laien ihre Freizeit am Computer zur Verfügung stellen, damit Pro-ton-Proton-Kollisionen simuliert werden können. Bis Oktober habensich insgesamt . Citizen Scientists an dem Spiel beteiligt, wobei diemeisten nur „eine Hand voll“ von Bildern klassifizierten, während zehnTeilnehmer_innen je . Bilder und ein besonders „hingebungsvoller“Teilnehmer . Bilder klassifizierte. In allen Fällen waren sie ebensostark wie die Algorithmen von ATLAS und in einigen Fällen übertrafen sie

510

Page 27: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

Abb. 5 Higgs Hunters, ein Online-Citizen-Science-Projekt das auf der Zooniverse-Platt-form angeboten wird

sogar die digitalen Rekonstruktionen in der Mustererkennung (Barr et al.: –).

Im Wissensspiel der Citizen Science Games gewinnen alle: Die Spie-ler_innen tragen auf ihre Art zur Wissensökonomie des CERN bei. AlsCitizen Scientists haben sie die Möglichkeit am „highest profile scientificproject of our time“ teilzuhaben (Barr et al. : ). Als Spielexperten kön-nen sie ihre eigene Stärke testen und wenn sie nicht durch Schweigepflichtgebunden sind, fließt ihre Arbeit in selbstlernende Algorithmen, die inden Detektorkollaborationen für die Auswertung und Simulation von Da-ten genutzt werden, mit ein. Während also die individuelle Motivation beiSpieler_innen, die sich an Citizen Science beteiligen von idealistischen Zü-gen und der Lust an einem Spiel mitzumachen geprägt ist, das außerhalbseiner selbst noch ein weiteres Ziel in sich trägt, profitieren die Expertenin den Challenges und die Cernies selbst von Big Data, weil das Spiel indiesem Fall eine konkrete Verbesserung künstlicher Intelligenzen bewirkt.Die Wissenschaftler_innen erkennen die Bemühungen der Expert ScienceCommunity an und laden die Gewinner_innen dazu ein, an CERN-Work-shops teilzunehmen, damit ihr Wissen in den Kollaborationen überhauptaktiv wirksam werden kann. Die Ergebnisse der Spieler_innen finden darü-ber hinaus in akademischen Veröffentlichungen Anerkennung. Und nichtzuletzt profitiert langfristig die Forschung an der generellen künstlichenIntelligenz von diesem Deal. Die Trading Zone hat diese Plattformen undOpen-Data-Portale des CERN am offenkundigsten in einen Playgroundverwandelt, auf dem Menschen und Algorithmen zu Playbouring Cyborgs

511

Page 28: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

(Dippel & Fizek ) verschmelzen, um Wissen herzustellen und zum„Produser“ (Kasperowski & Hilman ) werden.

Zurück auf Los

Im Jahr wurde das World Wide Web Protokoll am CERN entwickelt(Gillies ). Heute tragen Netzwerkstrukturen wie das hier verwende-te Cloud-System Grid, die Open Data Policy oder die eingesetzten evolu-tionären Machine Learning Algorithms zur Weiterentwicklung informati-onstechnologischer Innovationen bei. Big Data trägt zur Popularität derForschungsinstitution bei. Mitglieder der Vorzeigekollaborationen ATLAS(A Toroidal LHC Apapratus) und CMS (Compact Muon Solenoid) eine„Assemblage“ von Menschen, Daten, Maschinen und Plattformen (Deleu-ze & Guattari : , , ; Collier & Ong ), an der sich die Fragenach dem Menschen ebenso stellen lässt, wie der Einfluss von neuen Tech-nologien auf wissenschaftliche Forschungspraxen. Das CERN ist zum DeepPlay geworden, in dem sich eine technologiebasierte Kultur wiederspiegeltund ihre Werte repräsentativ ausgehandelt werden, von der symbolischenKonzeptualisierung über wettbewerbsorientierte Arbeits- bis hin zu Platt-formstrukturen, die Datenmassen verarbeiten.

Hier lässt sich beobachten, wie die von Donna Haraway beschriebenen„Grenzkriege“ zwischen Organismen und Maschinen (Haraway ) ver-antwortungsvoll ausgehandelt werden – indem sie in eine ludische digitaleInfrastruktur eingebettet sind, wo Arbeit und Spiel miteinander fusionie-ren. Die „Wissensfabrik“ (Knorr-Cetina ) wird zu einem ludischenGrund, die Trading Zone verschränkt sich durch digitale Infrastruktur inSeamful Spaces zu einem Playground, ökonomisches Argumentieren trägtspielerische Züge. So entstehen Boundary Objects wie etwa (simulierte)Teilchen durch mediale Infrastrukturen und „socio-technical imaginaries“,halten „partizipatorische“ technologische Systeme (Shrum et. al. ) füreine Wissensgemeinschaft zusammen, deren spezifische Signatur durch siemit entsteht. Spiel wird hier Dynamik der Reflexion und Modus der Re-laxion, tariert das Wechselspiel von Kollaboration und Wettbewerb zumZweck der Erkenntnis aus und gibt dem Zufall Raum.

Welche spezifischen historischen Umstände und kulturellen Besonder-heiten dazu geführt haben, dass die Hochenergiephysik zur Modellwis-senschaft für kollaboratives Handeln werden konnte und infolgedessenKontrolle und Spiel so eine prominente Rolle in dieser Wissenschaft ein-nehmen, möchte ich an anderer Stelle genauer untersuchen. Ein zu be-fragendes Desiderat bleibt auch, welche Position die Big Data-orientierte

512

Page 29: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�Grundlagenforschung mit ihrer Ausbildung tausender Arbeitskräfte für diefreie Wirtschaft und insbesondere das digitalisierte Marktwesen, die Da-tenanalyse und das Silicon Valley besitzt; welche Verknüpfungen sich alsozwischen scheinbar ethisch freier und interessenloser Forschung mit einemneoliberalen Wirtschaftssystem herstellen lassen.

Das Ludische muss als eines der zentralen Charakteristika Big Data-orientierter Wissenschaft begriffen werden. Wenn die Natur nachgeahmtund auf einer Bühne zur Schau gestellt wird, spielen Menschen: Sie model-lieren theoretische Kalkulationen, üben sich in logischem Argumentierenund freiem Assoziieren, suchen nach algorithmischen Lösungen im Be-reich der Informatik und rechnen auf den „unendlichen Spielfeldern“ derMathematik, spielen und dealen in ludischen Infrastrukturen mit Big Da-ta. Physik in Zeiten von Big Data ist dazu verpflichtet, vertrauenswürdige,experimentell falsifizierbare Wahrheit zu erzeugen. Der Komplexitätsgradführt zu spielförmigen Strategien, um gemeinsam Wissen zu produzieren.Ob systematisch eingesetzt oder durch unvorhergesehene Selbstorganisa-tion hervorgerufen, induziert Spiel eine produktive Dynamik, befreit vonstrikter Rationalität und Funktionalität und verstärkt die Leistung wissen-schaftlicher Kollaboration. Sei es bei der Arbeit oder in den Pausen: Womit großen Datenmengen Träume der Menschheit gesponnen und kultu-rell Natur modelliert wird, ist Spiel am Werk.

Danksagung

Mein spezieller Dank gilt Sonia Fizek und Ursula Rao für hilfreiche Kom-mentare zu einer früheren Version dieses Aufsatzes. Des Weiteren möchteich Markus Rautzenberg danken, der mir durch frühen Einblick in meineForschungsdaten half, das Verhältnis von Komplexität in Arbeitsprozes-sen und Spielförmigkeit zu durchdenken. Nicht zuletzt möchte ich michfür die Gastfreundschaft von David Kaiser bedanken, der mich währendmeines Aufenthalts als Visiting Assistant Professor im STS Departmentam MIT auf die inhärenten Machtkonstellationen in Kreolsprachen auf-merksam machte, ein Umstand, der schon in seiner Zeit als Doktorandam History of Science Department in Harvard im Blick auf das von PeterGalison entwickelte Konzept der Trading Zone diskutiert wurde und einwichtiges Argument für die Entwicklung des Playgrounds darstellt.

513

Page 30: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

Anmerkungen

http://atlas.cern/discover/detector/trigger-daq (..). https://home.cern/about/computing (..). https://phys.org/news/--cern-centre-petabyte-milestone.html (..). http://opendata.cern.ch (..). Umdie Persönlichkeitsrechteder Informant_innen zu achtenwerden für alleMitglieder

des CERN Pseudonyme verwendet und Situationen so dargestellt, dass nicht erkennbarist, um wen es sich dabei handelt. Ich möchte mich an dieser Stelle bei meinem Feldherzlich für das Vertrauen bedanken.

ProduktiveErkenntnisse über den Begriff Synagonismus wird inZukunft aus demDFG-Netzwerk „Synagonismus in den Bildenden Künsten“ zu erwarten sein, an dem YannisHadjinicolaou, Joris van Gastel, Markus Rath, Lena Bader, JasminMersmann undMau-rice Saß mitwirken (https://www.kulturtechnik.hu-berlin.de/de/content/erfolgreicher-antrag-fur-das-dfg-netzwerk-synagonismus-den-bildenden-kunsten/, ..).

Ein Nash-Equilibrium ist ein Terminus aus der Spieltheorie, der rationale Entscheidun-gen für Konflikt- und kooperative Situationen favorisiert, während die Strategien allerSpieler individualisiert und verdeckt werden.

ATLAS (A Toroidal LHC AparatuS) ist – zusammen mit CMS (Compact Muon Sole-noid) – einer von zwei general-purpose detectors am CERN, der ein weites Spektrumvon Physik untersucht, von der Suche nach demHiggs-Boson über Extra-Dimensionenund Teilchen, sowie Ereignissen, die Rückschlüsse auf dunkle Materie liefern.

https://press.cern/backgrounders/cern-answers-queries-social-media (..). Sternstunde Philosophie mit Harald Lesch, SRF , ... (http://www.srf.ch/

sendungen/sternstunde-philosophie/-jahre-cern-harald-lesch-ueber-die-raetsel-der-physik, ..).

https://wiki.jenkins.io/display/JENKINS/Meet+Jenkins (..). Webhooks erteilen über eine Server-Software die Nachricht über den Eintritt eines Er-

eignisses, und können eine Reaktion auslösen. http://playground.tensorflow.org (..). The HiggsML Challenge , Blogpost (https://higgsml.lal.inp.fr, ..).

Literatur

Bally, Gustav . Vom Spielraum der Freiheit. Die Bedeutung des Spiels bei Tier undMensch. Stuttgart: Schwabe.

Barr, Alan J., Andy Haas und CharlesW. Kalderon . „That looks weird“ – Evaluating Ci-tizen Scientists’ Ability to Detect unusual Features in ATLAS Images of LHCCollisions.ATL-COM-OREACH--, arXiv:.v.

Beck, Ulrich . Power in the Global Age. Cambridge: Polity Press.Beller, Mara . Jokular Commemorations: The Copenhagen Spirit.Osiris (): –.Bird-Davis, Nurit . Before Nation: Scale-Blind Anthropology and Forager’s Worlds of

Relatives. Current Anthropology (/): –.Boisot, Max, Michael Nordberg, Saïd Yami und Bertrand Nicquevert . Collisions and

Collaboration. The Organization of Learning in the ATLAS Experiment at the LHC.Oxford: Oxford University Press.

514

Page 31: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�Borrelli, Arianna . Was Sie schon immer über das CERN wissen wollten, aber bishernicht zu fragen wagten – Eine philosophische und soziologische Perspektive. In: Chris-toph Kommer (Hg.). Großforschung in neuen Dimensionen. Berlin: Springer: –.

Bourdieu, Pierre . Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main:Suhrkamp.

Caillois, Roger []. Man, Play and Games. Chicago: University of Illinois Press.Carson, Cathryn . Heisenberg in the Atomic Age. Science and the Public Sphere. New

York: Cambridge University Press.Cheah, Pheng und Bruce Robbins, Bruce . Cosmopolitics: Thinking and Feeling beyond

the Nation. Minneapolis: University of Minnesota Press.Collier, Stephen J. und Aihwa Ong . Global Assemblages, Anthropological Problems.

In: Stephen J. Collier und Aihwa Ong (Hg.). Global Assemblages. Technology, Politics,and Ethics as Anthropological Problems. New York: Wiley: –.

Deleuze, Gilles und Felix Guattari . A Thousand Plateaus. Minneapolis: University ofMinnessota Press.

Dippel, Anne und Sonia Fizek . Playbouring Cyborgs@CERN. Renegotiating Human-Machine Ensembles. Vortrag auf der Konferenz der American Association of Geogra-phers, Boston.

Dippel, Anne und Lukas Mairhofer . Traces and Patterns. Pictures of Interferences andCollisions in the Physics Lab. A Dialogue Between Dr. Anne Dippel and Lukas Mairho-fer. In: Bettina Bock vonWülffingen (Hg.). Traces. Generating What WasThere. Berlin:De Gruyter: –.

Disco, Nil, und Eda Karanakis (Hg.) . Cosmopolitan Commons. Sharing Resources andRisks across Borders. Cambridge, MA: MIT Press.

Felt, Ulrike, Helga Nowotny and Klaus Taschwer .Wissenschaftsforschung. Eine Einfüh-rung. Frankfurt am Main: Campus.

Findlen, Paula . Between Carnival and Lent. The Scientific Revolution at theMargins ofCulture. Configurations (/): –.

Forman, Paul . Social Niche and Self-Image of the American Physicist. In: MichelangelodeMaria,Mario Grilli und Fabio Sebastiani (Hg.).TheRestructuring of Physical Sciencesin Europe and the United States –. Singapore:World Scientific Press: –.

Galison, Peter . Image and Logic. A Material Culture of Microphysics. Chicago: Univer-sity of Chicago Press.

Geertz, Clifford . Deep Play. Notes on the Balinese Cockfight. In: Selected Essays. NewYork: Basic Books: –.

Geertz, Clifford . Negara: TheTheatre State in Nineteenth-Century Bali. Princeton, NJ:Princeton University Press.

Gillies, James und Robert Caillau .How theWebWas Born.The Story of theWorldWideWeb. New York: Oxford University Press.

Graeber, David . It is Value that Brings Universes into Being. In: HAU (/): –.Graeber, David . The Utopia of Rules. On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of

Bureaucracy. London: Melville House.Graßhoff, Gerd undAdrianWüthrich (Hg.) .MetaATLAS. Studien zur Generierung, Va-

lidierung und Kommunikation von Wissen in einer modernen Forschungskollaboration.Bern: Bern Studies.

Hackett, Edward J. . Introduction: Special Guest-edited Issue on Scientific Collabora-tion. Social Studies of Science (/): –.

Hagstrom, Warren O. . The Scientific Community. New York: Basic Books.Haraway, Donna . A CyborgManifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in

the Late Twentieth Century. In: Donna Haraway (Hg.). Simians, Cyborgs and Women:The Reinvention of Nature. New York: Routledge: –.

Havelock, Eric A. . Preface to Plato. Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard Univer-sity Press.

Houdart, Sophie . The Noise of the World: The Apocalypse and the Crazy Farm Scena-rio. Limn, .. URL: http://limn.it/the-noise-of-the-world-the-apocalypse-and-the-crazy-farm-scenario/ (..).

Huizinga, Johan []. Homo Ludens: A Study of the Play-element in Culture. Boston:Beacon Press.

515

Page 32: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Anne Dippel

Jasanoff, Sheila . States of Knowledge. The Co-production of Science and Social Order.New York: Routledge.

Jasanoff, Sheila und Sang-Hyun Kim . Sociotechnical Imaginaries and National EnergyPolicies. Science as Culture (/): –.

Kasperowski, Dick und Thomas Hilman . The Culture of Contribution in CitizenScience: Programs and Anti-Programs. Vortrag auf der Konferenz der Society forSocial Studies of Science, Boston.

Knecht,Michi .NachWritingCulture,mit Actor-Network:Ethnographie/Praxeographieim Feld derWissenschafts- und Technikanthropologie. In: SabineHess,Maria Schwertlund Hannes Moser (Hg.).Neue Perspektiven volkskundlicher/ethnologischer Methoden.Berlin: Reimer: –.

Knorr-Cetina, Karin . Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Natur-wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Knorr-Cetina, Karin . Epistemic Cultures. How the Sciences Make Knowledge. Cam-bridge, MA: Harvard University Press.

Krige, John (Hg.) .History of CERN. Volume III. The Years of Consolidation –.Amsterdam: Elsevier.

Krige, John . American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe.Cambridge, MA: MIT Press.

Krige, John . Sharing Knowledge, Shaping Europe. US Technological Collaboration andNonproliferation. Cambridge, MA: MIT Press.

Hermann, Armin, John Krige, Ulrike Mersits und Dominique Pestre . History of CERN.Volume I. Launching the European Organisation for Nuclear Research. Amsterdam:North Holland.

Hermann, Armin, John Krige, Ulrike Mersits und Dominique Pestre . History of CERN.Volume II. Building and Running the Laboratory –. Amsterdam: North Hol-land.

Latour, Bruno und Steven Woolgar . Laboratory Life. The Construction of ScientificFacts. Princeton NJ: Princeton University Press.

Lederman, Leon .TheGod Particle. If the Universe is the Answer, what is the Question?New York: Houghton Mifflin.

Malaby, ThomasM. . Anthropology and Play: The Contours of Playful Experience.NewLiterary History (): –.

Marcuse, Herbert []. Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswis-senschaftlichen Arbeitsbegriffs. Frankfurt am Main: Suhrkamp: –.

Merz, Martina . Kontrolle – Widerstand – Ermächtigung: Wie SimulationssoftwarePhysiker konfiguriert. In: Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.). KönnenMaschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik.Frankfurt am Main: Campus: –.

Merz, Martina und Karin Knorr-Cetina . Deconstructing in a „Thinking Science“: Theo-retical Physicists at Work. Cern Theory Division (CERN-TH./).

Nickelsen, Kärin und Fabian Krämer . Introduction: Cooperation and Competition inthe Sciences. NTM (/): –.

Niewöhner, Jörg, Estrid Sørensen und Stefan Beck . Science and Technology Studiesaus sozial- und kulturanthropologischer Perspektive. In: Jörg Niewöhner, Estrid Søren-sen und Stefan Beck (Hg.). Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologischeEinführung. Bielefeld: transcript: –.

Nothnagel, Dethlev .ThePhysics way. Nationale Stile, Geschlechter und kommunikativePraxis einer internationalen Wissenschaftskultur. Frankfurt am Main: Campus.

Nowotny, Helga .Cultures of Technology and theQuest for Innovation.New York: Berg-hahn Books.

Nowotny, Helga . Insatiable Curiosity. Innovation in a Fragile Future. Cambridge, MA:MIT Press.

O’Donnell, Chris .TheDeveloper’s Dilemma.The Secret World of Video Game Creators.Cambridge, MA: MIT Press.

Parkman, Anna . The Imposter Phenomenon in Higher Education: Incidence and Im-pact. Journal of Higher Education Theory and Practice (/): –.

Popper, Karl. . Logik der Forschung. Wien: Springer.

516

Page 33: Das Big Data Game - Home - Springer · 2017-11-09 · Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens auf der Basis einer ludischen ... glückliche Dichotomie von virtuell und analog wird

Das Big Data Game

Artikel/A

rticles

�Pralavorio, Corinne . In Practice. Are Physicists Architects of Science? CERN Home-page.URL: http://home.cern/about/updates///practice-are-physicists-architects-science (..).

Roy, Arpita . Science and the Large Hadron Collider: A Probe Into Instrumentation,Periodization and Classification. Dialect Anthropology (): –.

Roy, Arpita . Ethnography and Theory of the Signature in Physics. Cultural Anthropo-logy (/): –.

Sahlins, Marshall . The Sadness of Sweetness. The Native Anthropology of WesternCosmology. Current Anthropology (/): –.

Schwanhäußer, Anja . Herumhängen. Stadtforschung aus der Subkultur. Zeitschrift fürVolkskunde (/): –.

Shrum,Wesley . Reagency of the Internet. Or, How I Became a Guest of Science. SocialStudies of Science (/): –.

Shrum, Wesley, Joel Genuth und Ivan Chompalov . Structures of Scientific Collabora-tion Cambridge, MA: MIT University Press.

Star, Susan und James Griesemer . Institutional Ecology, „Translations“ and Bounda-ry Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology,–. Social Studies of Science (/): –.

Steingart, Alma . A Group Theory of Group Theory: Collaborative Mathematics andthe „Uninvention“ of a -Page Proof. Social Studies of Science (/): –.

Stevens, Phillipps . Play and Work: A False Dichotomy? In: Helen B. Schwartzmann(Hg.). Play and Culture. Westpoint NY: Leisure Press: –.

Strasser, Bruno . The Co-Production of Neutral Science and Neutral State in Cold WarEurope: Switzerland and International Scientific Cooperation, –. Osiris ():–.

Taylor, T.L. . Raising the Stakes. E-Sports and the Professionalization of Computer Ga-ming. Cambridge, MA: The MIT Press.

Terranova, Tiziana . Free Labor. In: Trebor Scholz (Hg.). Digital Labour. The Internetas Playground and Factory. New York, NY: Routledge: –.

Traweek, Sharon . Beamtimes and Lifetimes. The World of High-Energy Physics Cam-bridge, MA: Harvard University Press.

Turner, Victor []. The Ritual Process: Structure and Anti-Structure. Chicago: Al-dine.

Turner, Victor . Vom Ritual zumTheater: Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurta.M.: Campus.

Vertesi, Janet . Seamful Spaces: Heterogeneous Infrastructures in Interaction. Science,Technolgy & Human Values (/): –.

Anne DippelLehrstuhl für Volkskunde (Empirische Kulturwissenschaft), Institut fürKunst- und KulturwissenschaftenFriedrich-Schiller Universität JenaZwätzengasse [email protected]

517